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Geschichte der Philosophiehistorie: Einleitung (Vorlesung von Franz M. Wimmer, Wien, Version WS 2014 ) Themen: Begriffliches: Perspektivität | Philosophiebegriff Thesen zum Gegenstand: Inhaltliches | Individuelles Denken | Empirizität | Historizität | Periodisierungen | Klassifikation | Interpretamente Gattungen, Beschreibungsformen, Funktionen: Unterscheidung nach dem Gegenstand: Bibliographie | Doxographie | Biographie | Problemgeschichte | Institutionengeschichte Unterscheidung nach der Beschreibungsform: chronologisch | entwicklungsgeschichtlich | kanonisch | systematisch Unterscheidung nach der Funktion: Traditionsbildung | Heuristik | Wissenschaftsplanung | Wertorientierung Literaturhinweise Wenn wir uns mit der Geschichte der Geschichtsschreibung der Philosophie befassen, so ist es nicht nur nützlich, sondern notwendig, vorweg einige begriffliche Überlegungen darüber anzustellen, was mit den einzelnen Ausdrücken bezeichnet werden soll, also mit "Philosophie", mit deren "Geschichte" und mit der Beschreibung dieser Geschichte. Wir haben es hier mit einer akademisch-wissenschaftlichen Disziplin zu tun und wollen wissen: ist diese historische Disziplin, deren Gegenstand die Geschichte oder Abschnitte aus der Geschichte der Philosophie sind, überhaupt eine Wissenschaft? Wenn ja, was macht sie dazu, das heißt: aufgrund welcher Daten, Erklärungen oder Theorien bringt sie Erkenntnisse und wie zuverlässig sind diese? Aufgrund welcher Probleme und Fragestellungen befassen wir uns mit der Geschichte der 1

Wimmer Einletung

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Einleitung in der Geschichte der Philosophiehistorie

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Page 1: Wimmer Einletung

Geschichte der Philosophiehistorie: Einleitung

(Vorlesung von Franz M. Wimmer, Wien, Version WS 2014)

Themen: Begriffliches: Perspektivität | Philosophiebegriff 

Thesen zum Gegenstand: Inhaltliches | Individuelles Denken | Empirizität | Historizität | Periodisierungen | Klassifikation | Interpretamente

Gattungen, Beschreibungsformen, Funktionen: Unterscheidung nach dem Gegenstand: Bibliographie | Doxographie | Biographie | Problemgeschichte | Institutionengeschichte Unterscheidung nach der Beschreibungsform: chronologisch | entwicklungsgeschichtlich | kanonisch | systematisch Unterscheidung nach der Funktion: Traditionsbildung | Heuristik | Wissenschaftsplanung | Wertorientierung

Literaturhinweise

Wenn wir uns mit der Geschichte der Geschichtsschreibung der Philosophie befassen, so ist es nicht nur nützlich, sondern notwendig, vorweg einige begriffliche Überlegungen darüber anzustellen, was mit den einzelnen Ausdrücken bezeichnet werden soll, also mit "Philosophie", mit deren "Geschichte" und mit der Beschreibung dieser Geschichte. Wir haben es hier mit einer akademisch-wissenschaftlichen Disziplin zu tun und wollen wissen: ist diese historische Disziplin, deren Gegenstand die Geschichte oder Abschnitte aus der Geschichte der Philosophie sind, überhaupt eine Wissenschaft? Wenn ja, was macht sie dazu, das heißt: aufgrund welcher Daten, Erklärungen oder Theorien bringt sie Erkenntnisse und wie zuverlässig sind diese? Aufgrund welcher Probleme und Fragestellungen befassen wir uns mit der Geschichte der Philosophie, wozu hat man sich in anderen Epochen damit befasst, in ähnlicher oder auch in anderer Weise als in der Gegenwart? Derartige Fragen stehen hinter den einleitenden methodologischen Überlegungen, auf deren Hintergrund wir uns dann mit einigen wichtigen Stationen in der Geschichte der Philosophiegeschichtsschreibung befassen werden.

Es gibt zunächst einmal die Möglichkeit, da von einer historiographischen Disziplin die Rede ist, diese mit anderen ähnlichen Disziplinen zu vergleichen. Eine ganze Reihe davon könnte in Frage kommen: die Geschichte der Literatur, der Wissenschaft, der Kunst, die Sozialgeschichte, Religionsgeschichte, aber vielleicht auch die Staatsgeschichte oder die Geschichte der Lebensformen bis hin zur Geschichte der Arten. Insgesamt sind diese und andere einschlägige Disziplinen sowohl in der Gegenwart als auch in ihren historischen Entwicklungen so weitreichend voneinander verschieden, dass sie nicht nur in der Verwaltungspraxis von Universitäten oft getrennt sind, sondern auch in ihren Terminologien, ihren Theorieansätzen und Gegenstandsbestimmungen wenig Gemeinsamkeiten aufweisen. Wenn das so ist: können oder sollen wir die Philosophiehistorie dann überhaupt mit einer dieser Disziplinen vergleichen? Ist es nicht vielleicht so, dass diese Disziplin einen ganz

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eigenartigen Gegenstand, eine besondere Terminologie und eigene Fragestellungen hat, die für die anderen historischen Disziplinen so nicht gegeben sind? Oder anders gefragt: sollte die Geschichtsschreibung der Philosophie sich denn überhaupt mit Fragen befassen, wie sie etwa von der Geschichte der Kunst, der Architektur, der Literatur oder auch der Politik behandelt und zu klären gesucht werden? Sollte sie womöglich auch die Geschichte der Kulturformen oder der biologischen Arten berücksichtigen? Ist nicht der Entwicklungsgang der Philosophie von all diesen Gegenständen so unabhängig, dass seine Geschichte gleichsam in einer autonomen Weise beschrieben werden muss?

Zumindest ein Sachverhalt spricht gegen ein derart autonomistisches Verständnis der Geschichte des philosophischen Denkens, nämlich der Umstand, dass dieses Denken stets mit den Mitteln einer Zeit, Kultur, Sprache vor sich geht und sich auch nicht anders äußern kann als mit solchen besonderen Mitteln. Es ist aber auch auffallend, dass immer wieder so etwas wie Familienähnlichkeiten zwischen den Ausdrucksformen der Philosophie und denjenigen anderer geistiger Tätigkeiten, etwa der Musik, der Architektur, der Literatur, oder auch der Kochkunst vorkommen - sodass es nicht einfach absurd klingt, von einer byzantinischen oder chinesischen Küche und Dichtkunst ebenso zu sprechen wie von einer byzantinischen oder chinesischen Philosophie.

Ein zweiter Umstand zwingt uns außerdem noch dazu, ein allzu autonomistisches Verständnis von "Philosophie" und deren "Geschichte" abzulehnen: es sind nicht einfach nur die Ausdrucksmittel des Denkens verschieden - das könnte man vielleicht noch als Frage des Stils für nebensächlich halten -, sondern auch dessen Objekte, dasjenige, worauf sich die Aufmerksamkeit des Denkens gerichtet, was es überhaupt als aufklärungsbedürftig, als problematisch erfasst hat. Nicht nur das: es gibt durchaus auch Unterschiede darin, was jeweils als selbstverständlich und unproblematisch angesehen wird. In diesem Sinn könnte man sagen, dass es so etwas wie byzantinische und chinesische philosophische Fragestellungen oder Probleme gibt, die etwa von US-amerikanischen oder afrikanischen philosophischen Fragestellungen der Gegenwart verschieden sind. 

Perspektivität

Befassen wir uns etwas näher mit den literarischen Formen von Arbeiten, die Titel tragen

wie „Geschichte der Philosophie“ oder ähnliche, und beschränken wir unsere

Aufmerksamkeit dabei nicht auf die unmittelbare Gegenwart, so werden wir bemerken, dass

diese Versuche, „die“ Geschichte „der“ Philosophie zu beschreiben, ganz und gar kein

einheitliches Bild liefern: Sie grenzen ihren Gegenstand auf unterschiedliche Weise ab; sie

verwenden unterschiedliche Erklärungsmuster und Begriffe, um ihren Gegenstand zu

erfassen; immer wieder ändern sich die Namen, aber auch die Abgrenzungen für Perioden, für

Schulrichtungen oder auch für spezielle Bereiche der Philosophie; sie berichten auch nicht

immer über dieselben AutorInnen, Werke oder Fragestellungen.

Da solcherlei nicht nur eine Frage des Sprachgebrauchs ist, da es vielmehr das Verständnis

der Problemformulierung wie der formulierten Theorien, und letztlich das Verständnis davon

betrifft, welche Art von Problemen die Philosophie behandeln oder lösen soll oder kann, ist es

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notwendig, sich über einen Begriff von Philosophie zu verständigen, der aus der Geschichte –

oder zumindest aus der Geschichtsschreibung – dieser Disziplin allein nicht zu gewinnen ist,

jedenfalls dann nicht, wenn man dem Rat nicht folgt, den Mephisto dem Schüler bezüglich

des Theologiestudiums gibt: „Am besten ist's auch hier, wenn Ihr nur einen hört / Und auf des

Meisters Worte schwört.“ (Goethe, Faust 1)

Damit jetzt nicht der Eindruck entsteht, die Normalität, das normale Bild von Philosophie,

das uns die Philosophiehistorie schildert, sei doch trotz aller Unterschiede in Details

insgesamt einheitlich und recht plausibel, möchte ich einen Fall erwähnen, der zeigt, was

einem „Schüler“ zustoßen kann, wenn er mehr als einen „Meister“ liest: Es kann ihm schlicht

zweifelhaft werden, ob sich hinter dem Namen „Immanuel Kant“ nicht doch vielleicht

mehrere Personen verbergen. Dieser Name eignet sich für den fraglichen Punkt deshalb sehr

gut, weil bei seinem Träger keine Kontroversen darüber zu erwarten sind, ob er in der

Geschichte der Philosophie eine Rolle spielt und darum auch in jeder allgemeinen

Beschreibung dieser Geschichte vorkommen sollte. Dass Immanuel Kant ein Philosoph sei,

kann man nun schon seit seiner Lebenszeit und überall auf der Welt behaupten. Man braucht

nicht zu befürchten, dass diese Zuordnung angezweifelt wird. Dasselbe lässt sich noch für ein

paar andere Namen sagen, aber nicht für allzu viele. Bleiben wir nur bei Kandidaten aus dem

deutschsprachigen Raum, so wären beispielsweise Wittgenstein, Carnap, Nietzsche, Marx

prominente Beispiele dafür, dass die Zugehörigkeit eines Werks zur Philosophie durchaus

nicht unumstritten war oder ist. Weder das allgemeine Urteil der Mitwelt eines Denkers, noch

das der Nachwelt ist da immer unwiderruflich. Zwei Beispiele aus unterschiedlichen

Kulturtraditionen können diesen Punkt verdeutlichen.

Der Konfuzianer Mencius gilt als Klassiker in seiner Tradition; wer sich nur etwas mit dem

Konfuzianismus befasst, in China oder im Westen, wird ihm begegnen. Er war für sechzig

Generationen von Konfuzianern vergessen und wurde erst im Neokonfuzianismus der Song-

Zeit zum Klassiker, der er seither geblieben ist. Es kommt auch vor, dass ein prominenter

Philosoph – oder eine ganze Gruppe davon – seinen Titel verliert, weil er einem

Wissenschaftsideal nicht (mehr) entspricht. Er kann ihn dann später wieder erlangen. Die

Absenz und Präsenz neuplatonischer Autoren bietet Beispiele dafür. So gliederte Pierre Bayle

den Porphyrius aus der Reihe ernstzunehmender Philosophen aus, weil dieser sich einiger

Künste – der Bilokation, der Elevation – gerühmt hatte, was mit einem geordneten

Vernunftgebrauch nicht vereinbar sei. Bei Kant jedoch können wir uns zumindest bislang für

diesen Punkt jede Argumentation sparen – er ist ein Philosoph. Aber: Was macht ihn

eigentlich dazu, was ist Kants hauptsächliche Leistung als Philosoph? Die Antworten auf

diese Frage sind nicht nur im Detail, sondern sehr weitreichend verschieden.

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Ich nehme also an, Mephistos „Schüler“ beachtet den Rat nicht, er liest auch nicht selbst

Kants Arbeiten, sondern orientiert sich an verschiedenen Darstellungen von „Meistern“, die

dieses Werk darstellen: an Bertrand Russells „Philosophie des Abendlandes“1, an der

„Geschichte der Philosophie“ von einem Autorenkollektiv der Akademie der UdSSR2, an

dem von Theodor Haering3 herausgegebenen Band „Das Deutsche in der Deutschen

Philosophie“ und schließlich an Frederick Coplestons „A History of Philosophy“4. Die

genannten Darstellungen haben den Vorteil, dass sie einigermaßen gleichzeitig, um die Mitte

des 20. Jahrhunderts, geschrieben wurden und wir daher einen etwa gleichen Wissensstand

annehmen dürfen. Sie haben den Nachteil, dass zwei davon aufgrund ihrer Nähe zur

nationalsozialistischen bzw. zur marxistisch-leninistischen Ideologie inzwischen nicht mehr

nachgedruckt und kaum mehr gelesen werden. Zu ihrer Zeit waren deren Autoren in ihrem

jeweiligen Kontext aber durchaus ebenso autoritativ wie es Russell in der analytischen und

Copleston in der neuthomistischen Philosophie nach wie vor sind. Darum bezeichne ich sie

alle als „Meister“ in ihrer Zeit, die mich über „Kant“ informieren können, zumal mir nicht

bekannt ist, dass die beiden Ausgeschiedenen dieses Schicksal aufgrund ihrer Einschätzung

von Kants Werk ereilt hat.

Mir erscheint aber nach dieser Lektüre Kant nicht mehr als gefestigte Denkpersönlichkeit,

und es ist mir auch nicht mehr klar, was eigentlich den Philosophen Kant ausmacht. Russell

schildert mir „Kant“ als einen großen Erkenntnistheoretiker. Sein Hauptwerk sei die „Kritik

der reinen Vernunft“, das vorkritische Werk Vorbereitung dafür, die späten Arbeiten seien

nicht mehr recht ernstzunehmen. Nach Auffassung der sowjetischen Akademie habe „Kant“

seine großen Leistungen in der vorkritischen Periode als Theoretiker der Naturwissenschaften

erbracht. Später habe er sich mehr und mehr in Widersprüche verstrickt, er habe damit die

Situation des deutschen Bürgertums im Feudalstaat widergespiegelt; diese Widersprüche

seien fundamental und für „Kant“ nicht lösbar gewesen: zwischen dem Ding an sich und der

Erfahrungswelt; zwischen der Unmöglichkeit einer natürlichen Theologie und der

notwendigerweise vorausgesetzten Existenz Gottes, usw. Das Spätwerk sei ein Rückfall in die

Metaphysik. Der deutsche „Kant“ hingegen habe die Vernunftkritik zwar anstellen müssen

aus der „Artung“ des Deutschen heraus, überall bis an die Grenze zu gehen, aber er sei, als

preußisch-protestantischer Heros, dem damit verbundenen französischen Zeitgeist doch nicht

auf Dauer verfallen. Sein ganzes Denken laufe auf die „Kritik der Urteilskraft“ hinaus, das

Alterswerk sei die Krönung, wofür die „Kritik der reinen Vernunft“ lediglich eine später

entbehrliche Vorstufe gewesen sei. Ein wieder anderer „Kant“ begegnet mir bei dem

Neothomisten Copleston: nun steht doch wieder die „Kritik der reinen Vernunft“ als das

zentrale Werk da, aber dies sei weniger eine Theorie der Erkenntnis, als vielmehr der

missglückte, weil verkürzte Versuch einer Metaphysik. „Kants“ Unklarheiten und

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Widersprüche (hier ganz ähnlich wie von der sowjetischen Akademie aufgezählt) seien auf

seine Unkenntnis der philosophischen Tradition zurückzuführen.

Ich will mit diesem (gewiss sehr verkürzten) Exzerpt zum Thema „Kant“ aus vier Meistern

keineswegs sagen, dass ich meinerseits klar wisse und sagen könne, was Kant gedacht hat und

was daran warum wichtig und bleibend sei. Worauf ich aufmerksam machen will, ist nur: Das

Ergebnis dessen, was Philosophiehistorie tut, ist jeweils auch eine „story“. Selbst wenn

manche dieser stories so gut erzählt sind, dass es den Zeitgenossen fast unmöglich erscheint,

sie anders zu erzählen, so verflüchtigt sich dieses Vertrauen in die story-teller mit gewissem

zeitlichem Abstand. Es kann aber auch, wie der vierfache „Kant“ zeigt, mit ideologischen

Abständen zu tun haben, was eine Darstellung plausibel oder unplausibel macht.

Im gegensätzlichen Fall, wenn Philosophen diesen Titel verlieren, sind ähnliche

Beobachtungen zu machen. Das kann die Denkleistungen einzelner AutorInnen und

Schulrichtungen, aber gelegentlich auch ganze Epochen, Kulturregionen oder des gesamten

weiblichen Teils der Menschheit betreffen. Dass solche Exkommunikationen nicht immer

unwiderruflich sind, haben wir an den Fällen von Mencius und Porphyrius schon gesehen.

Eine ganze Epoche, der dies widerfahren ist, kennen wir heute immer noch unter dem Namen

„Mittelalter“, der zwar als verdeutlichendes Beiwort manchmal als „finster“ erweitert wird,

der aber doch lange schon nicht mehr so abfällig klingt, wie er einmal gemeint war. Was in

der frühen Neuzeit „Mittelalter“ genannt wurde, würden wir heute, wenn der Name nicht so

gebräuchlich wäre, besser als „Zwischenzeit“ benennen – eine Epoche ohne nennenswerte

eigene Leistungen zwischen einer antiken Hochkultur und der modernen Zeit.

Für zahlreiche stories über die Philosophie des Mittelalters, wie sie uns aus der frühen

Neuzeit und der Zeit der Aufklärung überliefert sind, kann als ein (heute sicher für die

meisten LeserInnen unplausibel klingendes) Beispiel die Darstellung des Abbé Batteux in der

Zeit der Aufklärung stehen, der in einem einzigen kurzen Absatz mehr als ein Jahrtausend

zusammenfasst, indem er mit einer rhetorischen Frage von der Spätantike zu Descartes

übergeht:

„... sollten wir uns in die Philosophie der Kirchenväter einlassen, die ... kaum etwas anderes gesucht haben, als den Plato mit dem Glauben zu vereinigen, oder den Glauben durch den Aristoteles zu erklären? Oder sollten wir uns lange bey den Scholastikern aufhalten, die bloß der Philosophie der Kirchenväter eine barbarische Gestalt gegeben, und einen Haufen unnützer, oft lächerlicher Fragen hinzugethan haben? Der Leser wird uns vielmehr Dank wissen, wenn wir ihn auf einmal in die glücklichen Zeiten versetzen, in welchen der menschliche Geist, nach einer Unwissenheit von zwölf Jahrhunderten, gleichsam von vorne wieder angefangen und frey von vorgefaßten Meynungen eine ganz neue Philosophie auf die Bahn gebracht hat.

Man erräth schon, daß ich hier von dem Jahrhunderte des Cartesius rede...“5

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Batteux musste sein Publikum damals nicht groß überzeugen, das hatten Andere vor ihm

längst getan. Es wäre sicher nicht hinreichend, wenn einem ein solches Urteil oder eine solche

story unplausibel erscheint, lediglich zu sagen: Wir wissen es heute eben besser. Viel

wichtiger ist, danach zu fragen, was wir wissen wollen und warum, beziehungsweise was

Batteux und seine Zeitgenossen nicht wissen wollten und warum. Die Texte des Thomas von

Aquin oder des Wilhelm von Ockham und vieler anderer wären auch ihnen zugänglich

gewesen, und wenn sie es nicht waren, hätten die Philologen sie edieren können, wenn sie

daran interessiert gewesen wären. Das spezifische Interesse hinter einer bestimmten

Blickweise auf vergangenes Philosophieren ist daher entscheidend für die Auswahl dessen,

was der Erinnerung und des Berichts wert erscheint.

Bis heute kann man für das Ausschließen eines anderen regionalen Bereichs des

philosophischen Denkens dem Argument begegnen, darüber sei eben noch zu wenig bekannt,

um es in ein allgemeines Bild der Philosophie einzuordnen. Ich meine nicht-okzidentale

Traditionen. In den meisten allgemeinen Darstellungen der Philosophiegeschichte kommen

solche ja nur marginal, meist in einer separaten Abteilung und nur in einer zeitlich entlegenen

Gestalt vor. Das kann man jedenfalls von philosophischem Denken feststellen, wie es in Ost-

und Südasien entwickelt worden ist. Darstellungen von philosophischem Denken in Afrika

südlich der Sahara finden sich in allgemeinen Philosophiegeschichten jedoch meines Wissens

überhaupt nicht.

Terminologie und Philosophiebegriff

Ich treffe nun zuerst eine sprachliche Festlegung, die ich schon bisher verwendet habe: es

gibt eine historiographische Disziplin, die ich Philosophiehistorie nenne; deren Gegenstand

ist (ein Teil der) Geschichte der Philosophie bzw. der Philosophiegeschichte. Die getroffene

Unterscheidung hat ihre Parallelen in anderen historischen Wissenschaften:

Kriegsgeschichtsschreibung ist nicht selbst eo ipso ein kriegerisches Unternehmen, die

Wirtschaftsgeschichte ist nicht ein Zweig der Wirtschaft, die Kunstgeschichte muss nicht

selbst Kunst produzieren und so fort. In der Philosophiegeschichte und bei ihrer

Historiographie könnte Ähnliches zutreffen: es gibt da die Philosophie, sie hat ihr Entstehen,

Sich-Verändern, Einflussnehmen, Vergehen, wie alles, was in der Zeit ist. Diese Sich-

Verändernde interessiert nun den Historiker, und wenn er dann interpretiert, übersetzt,

zusammenfasst oder erklärt, was im Denken von Philosophen vor sich gegangen ist, so

philosophiert er damit nicht schon selbst. Gegen diese einfache und scheinbar auf der Hand

liegende Unterscheidung ist ein Einwand von einem Autor vorgebracht worden, der auf

beiden Gebieten, in der Philosophie wie in deren Historiographie, außergewöhnlich

schöpferisch war. Hegel sagt einleitend zu seiner Vorlesung über die Geschichte der

Philosophie:

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"Der Gedanke, der uns bei einer Geschichte der Philosophie zunächst entgegen kommen kann, ist, daß sogleich dieser Gegenstand einen inneren Widerstreit enthalte. Denn die Philosophie beabsichtigt das zu erkennen, was unveränderlich, ewig, an und für sich ist. Ihr Ziel ist die Wahrheit. Die Geschichte aber erzählt solches, was zu einer Zeit gewesen, zu einer anderen aber verschwunden, und durch Anderes verdrängt worden ist. Gehen wir davon aus, daß die Wahrheit ewig ist: so fällt sie nicht in die Sphäre des Vorübergehenden, und hat keine Geschichte. Wenn sie aber eine Geschichte hat, und indem die Geschichte dieß ist, uns nur eine Reihe vergangener Gestalten der Erkenntniß darzustellen: so ist in ihr die Wahrheit nicht zu finden; denn die Wahrheit ist nicht ein

Vergangenes."6

Dass Hegel in der Formulierung des Dilemmas schon dessen Lösung andeutet, die er darin

sehen wird – dass es nämlich in der Geschichte des Denkens eben nicht „nur eine Reihe

vergangener Gestalten der Erkenntniß“ gebe, sondern dass im Grunde nichts, was je

Philosophie war, vergangen sei, wird uns später beschäftigen. Hier steht einmal nur die

Behauptung: Von einer „Geschichte“ der „Philosophie“ zu reden sei so ähnlich, als wolle man

von einem „viereckigen Kreis“ reden. Es wäre dem gegenüber zu einfach, darauf zu

verweisen, dass es doch immerhin ein Entstehen und Vergehen von Schulen und

Terminologien, Methoden und Problemformulierungen gebe, dass es förderliche und

hinderliche Bedingungen für das Philosophieren zu verschiedenen Zeiten und in

verschiedenen Gesellschaften gebe usw. All das sieht Hegel so gut wie jeder und sagt darüber,

dass es „zu interessanten Fragen Veranlassung“ gebe. Aber er bleibt dabei: Von all dem – von

der Sprachgeschichte, der Soziologie, der Untersuchung politischer oder weltanschaulicher

Bedingungen – sei doch lediglich die „äußerliche“, nicht aber die „innere“ Geschichte der

Philosophie betroffen – und nur diese letztere sei für die Philosophie von Bedeutung.

Wir brauchen nicht mit Hegel anzunehmen, es gebe so etwas wie eine (einzige) „innere“

Geschichte der Philosophie überhaupt, um aus der „äußerlichen“ Geschichte der

Philosophiehistorie etwas zu lernen über die Voreingenommenheiten jedes Blicks auf die

Geschichte; auch zu lernen, dass mit dem Wort „Voreingenommenheit“ – wie mit dem älteren

Wort „Vorurteil“, das die Aufklärung gern verwendet hat – zwar etwas Wertendes, aber nicht

eindeutig die Richtung der Wertung gegeben ist. Man kann zu Unrecht voreingenommen sein:

dann wird man enttäuscht oder bleibt in der Illusion. Man kann zu Recht voreingenommen

sein: dann bemerkt man mehr und genauer.

Was ist Philosophie?

Wir müssen nun als Voraussetzung jeder Analyse, auch einer bloß historischen Darstellung

philosophiehistorischer Richtungen, etwas über den Begriff dessen sagen, wovon

Philosophiehistorie handelt. Wir können diesen Begriff nicht aus der Philosophiehistorie

selbst gewinnen, sonst befänden wir uns in einem Zirkel. Woher wollen wir uns eine Meinung

bilden, was unter „Philosophie“ zu Recht verstanden werden soll?

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Ein einfacher Weg läge darin: Nennen wir all das und nur das „Philosophie“, was unter

dieser Bezeichnung an Universitäten unterrichtet wird oder wurde. – Das wäre leider nur dem

Wortlaut, nicht der Sache nach eine einfache Regel, denn darunter fiele Unvereinbares,

Widersprüchliches, und zwar auch dann, wenn wir nur die Universitäten eines Landes in einer

gegebenen Epoche untereinander vergleichen, aber erst recht dann, wenn wir unterschiedliche

Länder oder Epochen vergleichen. Ganz ähnlich würde es uns ergehen, wenn wir etwa die

Regalbeschriftung von Buchhandlungen oder Verlagskataloge zur Orientierung benutzen

wollten. Obwohl es sich also um eine sicher unbrauchbare Regel handeln würde, wenn wir

uns den Begriff der „Philosophie“ auf diese Weise klarmachen wollten, so entspricht faktisch

die Situation von Studierenden des Faches häufig weitgehend dieser Regel: was ihnen unter

diesem Namen begegnet, das und nichts anderes ist „Philosophie“. Aus dem genannten Grund

können wir uns damit aber leider nicht zufriedengeben.

Ein zweiter Weg läge darin, sich auf bestimmte Traditionen zu stützen. Am auffallendsten

ist das dann der Fall, wenn Eigennamen eine Richtung der Philosophie bezeichnen – wie z.B.

Platonismus, Aristotelismus, Konfuzianismus, Thomismus, Kantianismus, Hegelianismus,

Marxismus etc. Aber auch dann, wenn stattdessen methodologische Orientierung zur

Benennung dient – kritischer Rationalismus, Konstruktivismus, Dekonstruktivismus usf. –

ändert sich die Situation nicht. Der springende Punkt bei einer derartigen Begriffsbestimmung

von „Philosophie“ nach einer Tradition liegt darin, dass die jeweils eigene Option als die

eigentlich einzig richtige angesehen wird. Das hat für einen historischen Vergleich dann den

Nachteil, dass alle anderen Richtungen entweder als Vorstufen oder als Abirrungen

qualifiziert werden müssen. Es hat allerdings den Vorteil, dass damit jeweils ein

verhältnismäßig einheitliches und entwickeltes begriffliches und terminologisches System zur

Behandlung aller Fragen zur Verfügung steht. Der in der Philosophiehistorie entscheidende

Nachteil dieser Option liegt jedoch darin, dass ein außer Frage stehender Kanon von

Problemen und Begriffen angenommen werden muss, ohne dass doch irgendeiner dieser

Kanones jemals tatsächlich historisch außer Frage gestanden wäre.

Ein dritter Weg wäre es daher, formale oder methodologische Kriterien zur Abgrenzung

von Philosophie und Nicht-Philosophie anzulegen. In der akademischen Praxis scheint ein

solches formales Kriterium etwa darin zu liegen, dass bestimmte Äußerungsformen von

Gedanken nicht als akzeptabel gelten, damit etwas „Philosophie“ heißen darf. Beispielsweise

sind ein Lied, ein allegorisches Bild, eine architektonische Struktur für gewöhnlich keine

Kandidaten für die Kategorie „philosophisches Werk“, hingegen können Textinterpretationen

dann darunter fallen, wenn die Verfasser der interpretierten Texte ihrerseits als Philosophen

anerkannt sind. Im allgemeinen ist die Voraussetzung unwidersprochen, dass ein

„philosophisches Werk“ jedenfalls etwas Schriftliches sein müsse. Wie die Diskussion

Platons über die Rolle des Schreibens beim Philosophieren, oder auch der Streit um die

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sogenannte Ethnophilosophie unter afrikanischen Philosophen der Gegenwart zeigen, ist diese

Voraussetzung nur scheinbar unbezweifelt.

Viertens ließe sich philosophisches von nichtphilosophischem Denken auch noch auf eine

kulturtheoretische oder rassistische Weise unterscheiden. Man könnte etwa sagen (und hat das

auch gesagt): „Philosophie“ im eigentlichen (oder „strengen“) Sinn des Wortes sei die

Errungenschaft (oder auch: das „Geschick“) einer einzigen Kultur (der „abendländischen“

oder „westlichen“) oder einer einzigen Rasse (der „arischen“). Ob dies dann als Bürde (wie

von Heidegger), als wertneutrales Merkmal (wie von Rorty) oder als Vorzug (wie von den

meisten Rassentheoretikern und Eurozentrikern) angesehen wird, macht wenig Unterschied

für die jeweils anderen, die damit jedenfalls aus der Philosophie hinauskomplimentiert sind,

was und wie immer sie denken mögen.

Keiner der vier genannten Wege orientiert sich in der Bestimmung des Begriffes der

Philosophie an einer philosophischen Sachfrage: Der erste tut dies am Stand von

Bildungsinstitutionen, der zweite an einer Art von kanonischen Büchern oder Autoren, der

dritte an der äußeren Form von Geistesprodukten und der vierte an der Zugehörigkeit von

Individuen zu bestimmten Kollektiven. Könnte man denn aber auch nach Sachfragen

abgrenzen?

Gibt es Fragen, die nur „die Philosophie“, wenn überhaupt eine Disziplin, behandeln und

vielleicht lösen kann? Das würde man am ehesten dann erfahren, wenn eine Frage, von der

dies angenommen wird, endgültig und mit solchen Mitteln entschieden wäre, die aus keiner

anderen Disziplin stammen als der Philosophie. Solche Fragen scheint es nicht zu geben. Was

als „ewige Fragen“ der Menschheit oder auch der Philosophie zuweilen genannt wird – wie:

Hat Leben Sinn? Existiert Gott? und ähnliche – so kommen sie nicht in Betracht, denn sie

wären nicht „ewig“, wenn sie jemals endgültig beantwortbar wären. Dass Philosophen sich

auch mit derartigen Fragen befassen, ist nicht zwingend, auch wenn sie in manchen

Traditionen von Philosophie eine wichtige Rolle spielen.

Streichen wir also eine der genannten Bedingungen – dass eine Frage endgültig gelöst sein

müsste – und suchen wir nach Fragen, die rational nur mit Mitteln der Philosophie zu

behandeln sind. Dann könnte folgende Frage von dieser Art sein: „Was ist Wahrheit?“ Die

Formulierung der Frage ist nicht eindeutig und daher missverständlich; insbesondere ist es

denkbar, dass aufgrund des verwendeten Substantivs so etwas wie eine Substanz oder Entität

„Wahrheit“ angenommen wird – und wenn wir Dergleichen mit der Frage im Sinn hätten, so

fänden wir durchaus Antworten, die nicht oder nicht nur mit philosophischen Mitteln

gefunden oder begründet würden. Und wir würden Auffassungen begegnen, nach denen etwas

wie „Wahrheit“ (und anderen ähnlichen Entitäten) etwas wie Existenz zukomme, was aber

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nicht alle, die sich mit dieser Frage befassen, annehmen würden. Dann könnten wir die Frage

in dieser Bedeutung nicht für eine Begriffsbestimmung von Philosophie überhaupt

verwenden. Wir könnten sogar auf die Aussage stoßen: „Ich bin … die Wahrheit ...“, wie sie

sowohl Jesus von Nazareth als auch Al-Halladsch zugeschrieben wird. Solche Aussagen

können in ihrem (religiösen) Zusammenhang einen Sinn ergeben, für eine Bestimmung des

Begriffs von Philosophie taugen sie nicht.

Formulieren wir die Frage anders: „Was bedeutet es, dass ein Satz wahr ist?“ Eine

mögliche Antwort auf eine solche Frage, die wir in Texten vorfinden, könnte z.B. lauten: „Ein

Satz ist wahr, wenn das in dem Satz Behauptete mit der Wirklichkeit übereinstimmt.“ Ob die

Aussage eines bestimmten Satzes tatsächlich „mit der Wirklichkeit übereinstimmt“, wäre

dann jeweils zu überprüfen und die Kriterien einer solchen Überprüfung würden wir

Wahrheitskriterien nennen. In der allgemeinen Aussage darüber, was ein wahrer Satz sei, geht

es aber nicht um solche Kriterien, sondern um den Begriff von „Wahrheit“ (eines Satzes). Die

Frage nach diesem Begriff wurde nun mit einer Definition beantwortet („Wahrheit ist

Übereinstimmung eines Satzes mit der Wirklichkeit“), die historisch eine von mehreren

gegebenen Formulierungen der sogenannten Adäquations- oder Korrespondenztheorie ist. Es

gibt andere Theorien darüber, z.B. die Konsens- und die Kohärenztheorie. Sie bestimmen den

Begriff von „wahr“ jeweils anders. Allgemein aber könnten wir in einem ersten Schritt sagen:

Immer, wenn die Bestimmung eines Begriffs von Wahrheit gedanklich reflektiert wird, haben

wir es mit Philosophie zu tun. Als definitorisches Abgrenzungsmittel können wir diese Frage

also immerhin verwenden, indem wir sagen: Philosophie sucht mit Hilfe von

Begriffsreflexion und -definition Antworten auf bestimmte Fragen. Eine solche Frage betrifft

das Verhältnis von Denken und dessen Gegenständen, also in einem weiten Sinn die

Erkennbarkeit von Wirklichkeit. Wo und in welcher Form immer uns eine derartige Suche in

Texten oder anderen Quellen begegnet, haben wir es mit Zeugnissen für philosophisches

Denken zu tun. Die Umkehrung trifft nicht zu: Nicht nur dann treffen wir auf Philosophie,

wenn erkenntnistheoretische Fragen im weitesten Sinn auftauchen.

Aber wir werden bei solchen Fragen feststellen, dass nicht jegliche Äußerung dazu auch

schon mit dem Prädikat „philosophisch“ belegt werden kann. Es handelt sich um

Denkäußerungen, die prinzipiell argumentierbar und in einer bewusst explizierten

Begrifflichkeit formulierbar sind. Dies trifft auf sehr viele Sachverhalte in unterschiedlich

entwickelter Form in mehreren kulturellen Traditionen zu. Allerdings sind die leitenden

Fragestellungen der einzelnen Traditionen verschieden. Wenn wir in griechischen und

indischen Traditionen der epistemologischen Frage sehr deutlich begegnen und diese in der

europäischen Neuzeit Priorität gewinnt, so ist dies in klassischer chinesischer Philosophie

anders. Die Frage spielt eine Rolle, noch viel wichtiger aber ist die Frage nach einem guten

Leben, einer guten Ordnung der Gesellschaft. Es liegt daher nahe, auch bei Zeugnissen für die

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Suche nach der Begründbarkeit von Normen von Philosophie zu sprechen. Eine dritte

Fragerichtung betrifft das Suchen nach der Grundstruktur von Wirklichkeit. In den Begriffen

der Tradition gesprochen, haben wir mit diesen drei Sachfragen die Erkenntnistheorie, die

Ontologie oder Metaphysik, und die Ethik oder Moraltheorie zur Definition eines weiten

Begriffes von „Philosophie“ gebraucht, der uns genügen sollte, um den Gegenstand zu

erkennen, um dessen Beschreibungen oder Erklärungen es Philosophiehistorikern insoweit zu

tun ist, als sie solche Beschreibungen und Erklärungen bei anderen, früheren Denkern

vorfinden. Der Gegenstand der Philosophiehistorie selbst ist nicht die Grundstruktur der

Wirklichkeit, deren Erkennbarkeit, oder die Begründbarkeit von Normen, sondern dasjenige,

was andere zu solchen Fragen gedacht haben oder denken. In welcher Weise und mit welchen

Mitteln diese anderen sich dazu geäußert haben, ist damit allerdings keineswegs festgelegt.

Thesen zur Philosophiehistorie als Wissenschaft

Die folgenden Thesen betreffen den methodologischen Status der Philosophiehistorie als

einer historischen Wissenschaft: was ist Geschichtsschreibung dessen, was nun als

Philosophie bestimmt worden ist?

These 1: Alle Gegenstände der Philosophiehistorie sind Sachverhalte, in denen Auffassungen

über die Grundstruktur der Wirklichkeit und/oder über deren Erkennbarkeit und/oder über

Werte oder Normen zum Ausdruck kommen.

Ich schlage vor, unter “Philosophie” solche denkerische Unternehmungen zu verstehen, die

zumindest eine von drei Fragestellungen betreffen, nämlich die Fragen: Was ist wirklich?

Oder: Was ist erkennbar? Oder: Was ist gültig? Philosophiehistorie hat demnach als ihren

Gegenstand sinnhafte Sachverhalte – Texte und auch andere Belege für Äußerungen des

Denkens – die Denken über Themen zum Ausdruck bringen, welche mindestens einer der

genannten Fragen zuzurechnen sind. Philosophiehistorie selbst entscheidet nicht über die

Wahrheit von Antworten auf diese Fragen, aber sie muss imstande sein, solche Fragen in

unterschiedlichen Formen von Äußerungen zu identifizieren.

Ein Vorbegriff von Philosophie sollte inhaltlich und nicht nur formal bestimmt sein, um

zweierlei zu leisten: Einerseits sollen damit Denkformen und -traditionen, die aus kulturell-

kontingenten Gründen zu Unrecht bisher nicht unter diesen Begriff gefasst worden sind, als

Thema einbezogen werden. Andererseits sollte damit die Abgrenzung gegen geistige

Produktionen möglich sein, die vielleicht zeitweise auf dem Markt der Bücher und Ideen in

dieser Rubrik firmieren, aber keinem reflektierten Begriff davon entsprechen.

Gerade wenn wir Bedingtheiten des Denkens in verschiedenen Kulturen berücksichtigen

wollen, werden wir notgedrungen auf unterschiedliche Weltbilder, Wertordnungen und

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Denkformen stoßen, wie sie nicht nur in explizit abstrakten Texten, sondern beispielsweise

auch in Mythen, Religionen, Bräuchen, Sprichwörtern oder Institutionen zum Ausdruck

kommen. Ob wir deren Gehalt dann unserem eigenen Begriff des Philosophischen zurechnen

wollen oder nicht, werden wir selbst zu entscheiden und zu begründen haben. Als Kriterium

dafür kann die Frage dienen, ob in einem denkerischen Projekt die Berufung auf eine

Tradition, auf religiösen Glauben oder auf andere über der menschlichen Vernunfttätigkeit

angesetzte Instanzen nicht als Argument gilt. Ein Merkmal dessen, was unter Philosophie

verstanden werden kann, ist demnach darin zu sehen, dass es sich um ein Denken handelt, das

keine übermenschlichen Autoren oder Autoritäten in Streitfragen bindend anerkennt.

Die hier getroffene Festsetzung soll zu einer Klärung und Abgrenzung des

Gegenstandsbereiches führen, sie führt aber auch zu einigen Schwierigkeiten, von denen mir

die wichtigsten folgende scheinen:

a) Ist mit den genannten drei Themenbereichen ein zutreffendes Bild von Philosophie zu

geben, sind andere Themenbereiche (bzw. philosophische Disziplinen) jeweils durch Thesen

über einen dieser drei oder über alle diese drei Fragebereiche hinreichend bestimmt? Dies

mag insbesondere im interkulturellen Diskurs als Schwierigkeit erscheinen, wobei man

vielleicht geneigt ist, hier einen methodologischen Eurozentrismus zu vermuten.

b) Ist eindeutig, welche Arten von Sachverhalten fähig sind, derartige Auffassungen zum

Ausdruck zu bringen? Handelt es sich letztlich doch nur um Texte oder kommen auch andere

Sachverhalte in Frage?

c) Reicht die gegebene Festsetzung denn hin, um "Philosophie" etwa von "Wissenschaft"

abzugrenzen? Kommen nicht auch in Thesen der Physik (etc.) Auffassungen über die

Grundstruktur der Wirklichkeit, in Thesen der Sinnesphysiologie solche über deren

Erkennbarkeit durch den Menschen, in Thesen der Ethnologie solche über Werte und Normen

vor? Ist darum diese zuletzt gegebene Festsetzung leer und unfähig, ihren Zweck als

Orientierungshilfe bei der Abgrenzung von Philosophie und Nichtphilosophie zu erfüllen?

These 2: Gegenstand von Philosophiehistorie sind Sachverhalte, die auf individuelle

menschliche Denktätigkeit rückführbar sind

Diese Bestimmung grenzt den Gegenstand in zweifacher Hinsicht ein. Erstens schließt sie

alles aus, was nicht durch menschliche Tätigkeit entstanden ist. Zweitens gehört nicht in ihren

Gegenstandsbereich, was einer anderen menschlichen Tätigkeit als der des Denkens zu

verdanken ist. Wir können den zweiten Punkt hier mit dem Hinweis so stehen lassen, dass er

lediglich besagt, dass bloße Akte des Fühlens oder des Wollens nicht als “Philosophie” zu

12

Page 13: Wimmer Einletung

verstehen sind, was allgemein akzeptiert sein dürfte. Der erste Punkt hingegen ist näher zu

untersuchen, denn seine Implikationen springen in interkulturell orientierten Untersuchungen

sofort ins Auge.

Wenn etwas – beispielsweise eine Lehre, eine Idee, ein Begriff – einer nichtmenschlichen

Quelle zugeschrieben wird, so kommen dafür theoretisch zwei mögliche Arten von Urhebern

in Betracht: Es kann sich um unpersonale oder aber um übermenschliche Urheber handeln. Es

scheint mir notwendig, beide Denkmöglichkeiten im Auge zu behalten, weil jede von ihnen

im Zusammenhang mit Philosophistorie immer wieder eine Rolle spielt.

Nehmen wir die erstgenannte Möglichkeit an – Philosophie oder philosophische Begriffe,

Ideen, Lehren seien durch unpersonale Faktoren hervorgebracht –, so können uns solche

Auffassungen tatsächlich begegnen. Eine derartige Auffassung liegt immer dann vor, wenn

der “Geist” einer “Sprache”, einer „Kultur“, eines “Volkes” oder “Stammes”, einer “Klasse”

oder gar einer “Rasse” oder auch eines “Geschlechts” für dasjenige verantwortlich gemacht

wird, was historisch als philosophisches Denken begegnet.

In solchen Fällen werden das Entstehen und die Besonderheit von philosophischen Ideen,

Thesen etc., und sogar deren “Gültigkeit” grundsätzlich mit einer “natur- oder

kulturgegebenen” Bedingung verknüpft, durch die das Denken determiniert sei. Von dieser

Bedingung wird dann angenommen, dass sie für dieses Denken, für dessen Entstehen, aber

auch für dessen Nachvollzug notwendig, aber auch hinreichend sei. Damit werden die so

verstandenen philosophischen Thesen und Ideen einer rational-diskursiven Begründung, einer

Diskussion und Kritik entzogen. Sie sind dann nicht allgemein verbindlich, sondern lediglich

für jene Menschen typisch oder auch einleuchtend, die dieser behaupteten Einheit einer

“Rasse”, eines “Volkes” einer „Kultur“ etc. angehören.

Eine derartige Auffassung ist in der Philosophiehistorie nicht so selten, wie man annehmen

sollte. Wir begegnen ihr in “ethnophilosophischen” Zusammenhängen ebenso, wie sie dann

vorliegt, wenn etwa aus der Eigenart der chinesischen Schrift und Sprache auf bestimmte,

scheinbar zwangsläufig folgende Ideen im philosophischen Denken von Chinesen geschlossen

wird.

Sie findet sich ebenso, wenn nach einem “weiblichen” Denken auf irgendeinem Gebiet

gefragt und damit einem ganzen Geschlecht oder auch einer Sozialisationsform derart

prägende Kraft zugeschrieben wird, dass lediglich die entsprechende Zugehörigkeit, nicht

aber die Leistung eines Individuums als entscheidend gilt. Es kommt vor, dass eine solche,

ursprünglich von der Unterscheidung der Geschlechter ausgehende Zuschreibung für ganze

“Kulturen” oder “Völker” behauptet wird, die “weiblich” seien. Damit wird in der Regel auch

13

Page 14: Wimmer Einletung

ein Mangel an philosophischer Kompetenz (z.B. keine entwickelte Logik, keine Metaphysik

etc.) behauptet.7

Die Zuschreibung einer “rassisch” bedingten Philosophie findet sich beispielsweise häufig

in Hinweisen nationalsozialistischer Lehrbücher auf die “jüdische” Denkweise von

Philosophen wie Spinoza, Cohen oder Husserl in ganz selbstverständlicher Weise.8 Die

Annahme ist aber auch in weniger deutlich rassistischen Auffassungen vorzufinden, etwa

dann, wenn ganzen Kulturen und Regionen eine lediglich “kollektive” und somit dem

Einzelnen nicht bewusste “Philosophie” zugeschrieben wird, was sehr deutlich im Fall von

Philosophie in Afrika häufig vorkommt. Was ist allgemein problematisch an Sichtweisen, in

denen etwas Kollektives, Anonymes, ein allgemeines kulturelles oder sogar ein genetisches

Merkmal zum eigentlichen Schöpfer von Gedanken, Vorstellungen, Begriffen erklärt wird?

Philosophische Inhalte tauchen in dieser Perspektive wie Naturdinge auf. Es ist zwar möglich,

dass eine These genau gleichlautend formuliert wird, ob sie nun als Naturprodukt bzw. als

kollektiv-anonyme Kulturschöpfung vorgestellt wird, oder ob sie als etwas gedacht wird, was

einer Diskussion unterworfen, was mit Argumenten kritisierbar und begründbar ist. Im ersten

Fall bleibt eine These jedoch unaufgeklärte Ideologie. Für die kritisierbare These übernimmt

jemand die Verantwortung aufgrund von Denk- und Urteilshandlungen, nicht aufgrund von

Herkunft, Gruppenzugehörigkeit oder aufgrund eines kollektiven Wollens. Wer die These

vertritt, muss auch bereit sein, sie aufzugeben, wenn sie anderen diskursiven Denk- und

Urteilshandlungen nicht standhält. Nur in einem solchen Fall kann von Philosophie die Rede

sein.

In diesem Sinn kann dann aber nicht nur, es muss von Philosophie die Rede sein, wo und

wann immer, in welchen Sprachen und Ausdrucksweisen immer Derartiges begegnet, im

achsenzeitlichen Griechenland ebenso wie in China in der “Zeit der Streitenden Reiche”, in

den Upanischaden, in frühislamischen “Kalam-Schulen”, bei den “philosophischen Weisen”

der Luo, in äthiopischen oder in aztekischen Texten. In allen diesen Fällen werden wir auf

explizite, bewusst argumentierende Reflexion grundlegender Fragen stoßen. Es ist Aufgabe

philosophiehistorischer Forschung in interkultureller Orientierung, solche Quellen zu

erschließen und zugänglich zu machen.

Hat also Philosophiehistorie mit kollektiven Denkweisen überhaupt nichts zu tun? Ist es

denn nicht illusorisch, eine gänzliche Unabhängigkeit des Denkens bei Einzelnen im

Verhältnis zu ihrer Herkunft, ihrer Gesellschaft und Zeit, oder auch zu ihrer Sprache

anzunehmen?

Marxistisch-leninistische Philosophiehistorie hat die Frage nach kollektiven Bedingungen

im Zusammenhang mit der These von einer gesetzmäßigen Entwicklung der Philosophie

14

Page 15: Wimmer Einletung

diskutiert, wobei zwischen “Gesetzmäßigkeit” und “Gesetz” terminologisch unterschieden

wurde. Wenn definiert wurde:

“Die Geschichte der Philosophie stellt einen sich gesetzmäßig entwickelnden Prozeß des ideellen Lebens dar, in dem die verschiedenen philosophischen Lehren und Ideen wechselseitig zusammenhängen, einander bedingen und sich im Kampf der

entgegengesetzten Richtungen entwickeln, […]9

so werden bestimmte “soziologische Gesetzmäßigkeiten” angenommen wie die

“entscheidende Rolle der materiellen Produktionsweise”, aber auch “eine gewisse relative

Selbständigkeit”, die für alle Bereiche des geistigen Lebens spezifisch sei. Für die Philosophie

insbesondere werden noch spezifischere Gesetzmäßigkeiten formuliert: Die “Entwicklung auf

der Grundlage des Kampfes des Materialismus gegen den Idealismus” im “Kampf der

Dialektik gegen die metaphysische Denkweise” und in Abhängigkeit “vom Klassenkampf

sowie vom Entwicklungsstand der Naturwissenschaften.” Diese Entwicklung hat eine “innere

Logik”, die darin liegt, “daß dieser Prozeß im wesentlichen vom Einfachen zum

Komplizierten, vom Niederen zum Höheren verläuft.”10

Insbesondere ist in unserem Zusammenhang die These von einer “relativen

Selbständigkeit” der Entwicklung philosophischen Denkens von Interesse, wie sie von

marxistisch-leninistischen Theoretikern vertreten wurde. Sie führte zu durchaus interessanten

Fragen. Sie führte jedoch nicht dazu, die Denkleistungen Einzelner hinter den Analysen

sozialer oder anderer Bedingungen verschwinden zu lassen. Der Sammelband Wie und warum

entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde?11, in der DDR entstanden, zeigt

deutlich, dass das Interesse an den Denkleistungen Einzelner durchaus stark ist. Hier werden

Yajnavalkya und Uddalaka genannt und vorgestellt, es ist nicht einfach von einem Denken

der Upanischadenzeit die Rede. Hier wird von Nkrumah, Oruka oder Hountondji gesprochen

und nicht, wie das sonst – bei nicht-marxistischen Autoren – oft der Fall ist, von einer

anonymen, kollektiven “afrikanischen Philosophie”. Die explizite Orientierung an der Frage

nach gesellschaftlichen Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten führt nicht dazu, die

Denkleistungen Einzelner auf kollektive Verhältnisse zu reduzieren.

Vergleichbares kann auch über einen wissenssoziologischen Zugang zur Weltgeschichte

des philosophischen Denkens gesagt werden, wie ihn in eindrucksvoller Weise Collins

vorgelegt hat. Kaum irgendwo erfährt man so viele Daten über einzelne Denker auf

vergleichbarem Raum wie in diesem Buch, obwohl der Autor in seiner methodologischen

Einleitung betont, es sei eines seiner Ziele, gegen Vorurteile zu argumentieren, die da lauten:

Ideen zeugen Ideen; Individuen zeugen Ideen und Kultur zeugt sich selbst.12 Insbesondere die

15

Page 16: Wimmer Einletung

zweite Vorstellung ließe vermuten, dass Individuen in einer solchen Untersuchung eine

untergeordnete Rolle spielen, denn die Geschichte der Philosophie, so betont Collins, sei zu

einem beträchtlichen Teil die Geschichte von Gruppen, deren interne und externe

Kommunikation.13 Geht man dem Entstehen, der Entwicklung und der Fortwirkung solcher

Gruppen und Netzwerke von Menschen, die “dekontextualisierte Ideen” mit dem Anspruch

auf allgemeine Geltung14 hervorbringen – was Collins für eine beeindruckend große Anzahl

von solchen Gruppen in China, Indien, Japan, Griechenland, dem neuzeitlichen und modernen

Europa tut – und sucht diese auf allgemeine Grundmuster des Verhaltens zu beziehen, so

entsteht dabei ein Bild mit lauter Einzelnen, die sich hier vernetzen. Dieses Bild ist sehr viel

dichter, als dies gewöhnlich der Fall ist, wenn Philosophie als gleichsam autonome Leistung

von einzelnen “großen Denkern” betrachtet wird. Für einen interkulturell orientierten Zugang

zur Geschichte des philosophischen Denkens kann darum eine derartige Sichtweise schon

deswegen von großer Fruchtbarkeit sein, weil sie nach den Vielen fragen und diese auch

benennen und entdecken lässt, deren Leistungen sonst oft gar keine Beachtung finden.

Der erste Teil der behaupteten These kann also in folgender Weise zusammenfassend

formuliert werden: Philosophiehistorie untersucht individuelle Denkleistungen, nicht bloß

kollektiv akzeptierte oder geltende Anschauungen, wenngleich die allgemein kulturellen oder

die spezifisch intellektuellen Kontexte der Individuen nicht außer Acht zu lassen sind. Wir

können nun zum zweiten Teil der These übergehen.

Die Gegenstände von Philosophiehistorie sind andererseits auch nicht als Schöpfungen

übermenschlicher Instanzen zu betrachten. Die Gegenstände der Philosophiehistorie sind

Hervorbringungen von Menschen, sie sind von Menschen gegebene Antworten auf von

Menschen gestellte Fragen. Darum gehört etwas wie “Offenbarungswahrheit” eindeutig nicht

zu ihrem Gegenstand und der junge Marx hatte Recht mit seinem Wort, dass die Philosophie,

wenn sie überhaupt einen “Schutzheiligen” hätte, den Prometheus dazu wählen müsste.15

Hingegen werden religiös geglaubte Sätze – “Dogmen” – so aufgefasst, als wären sie nicht

Menschenwerk. Wer sie religiös glaubt, für den stehen sie “außer Frage”. Eine bestimmte

Auffassung von dem, was „christliche Philosophie“ genannt werden sollte, vermischt die

beiden Sphären:

„Von Philosophen wie Max Scheler, Karl Jaspers (1883-1969) oder Martin Heidegger (mit dem Schlagwort vom „hölzernen Eisen“) abgelehnt und auch durch die protestantische Theologie, v.a. Karl Barth (1886-1968), in Frage gestellt, hatte der Begriff der „christlichen Philosophie“ im 20. Jahrhundert insbesondere durch Étienne Gilson eine Rehabilitierung und Neuinterpretation erfahren. Als „christliche Philosophie“ galt Gilson jede Philosophie, die unter Beibehaltung der Unterscheidung von Theologie und Philosophie die christliche Offenbarung als unabdingbare Hilfe für die Vernunft ansieht („révélation génératrice de raison“) und in der Hl. Schrift die

16

Page 17: Wimmer Einletung

Quelle philosophischer Inspiration findet. ... Überdies war Gilson der Überzeugung, daß eine durch christliche Offenbarung bereicherte Philosophie anderen Philosophien inhaltlich überlegen sei.“16

Man braucht nicht allzu viel Fantasie, um sich auszumalen, was für Kommentare eine

solche „Rehabilitierung und Neuinterpretation“ nach sich ziehen würde, wenn hier nicht von

„christlicher“, sondern von „islamischer“ Philosophie die Rede wäre: der Koran als

„unabdingbare Hilfe für die Vernunft“ hätte von der Sache her – wie auch aus der Geschichte

des islamisch geprägten philosophischen Denkens – um nichts weniger an Plausibilität als die

heiligen Schriften des Christentums. Vermutlich aber gälte den Meisten eine derartige

Position zumindest als „mittelalterlich“, wenn nicht als „fundamentalistisch“. In beiden Fällen

– wie auch im Fall anderer Dogmengeschichten – gilt: Philosophie fußt nicht auf diesem oder

jenem religiösen Glauben, sie ist Menschenwerk.

Damit soll natürlich nicht bestritten werden, dass religiöse Ideen und Schriften,

theologische Reflexionen u.Ä. für die Geschichte der Philosophie von Bedeutung sind. Ob

und in welchem Grad sie dies sind, hängt aber nicht von ihrer religiösen Überzeugungskraft

oder geglaubten Wahrheit ab, sondern davon, in welcher Weise sie im Verlauf der

Denkgeschichte einflussreich und/oder anregend geworden sind.

Es wäre ein Verlust für die Kenntnis der menschlichen Denkgeschichte, wenn man aus

irgendeinem Purismus heraus solche Begriffe, Probleme, Thesen aus dem Gegenstandsbereich

der Philosophiehistorie ausschließen wollte, die im Zusammenhang mit religiösen Lehren

oder als Ausdruck religiöser Überzeugungen entstanden sind. Das beträfe in christlich-

okzidentaler Tradition etwa Fragen, die mit der Personalität oder der Willensfreiheit

zusammenhängen, und noch eine Reihe anderer. Für Islam und Judentum, Buddhismus und

Hinduismus wie auch andere Religionen gilt Vergleichbares. Aber das besagt nicht, dass der

Verlust geringer wäre, wenn irgendeine bestimmte Glaubensauffassung von vornherein als

wahr angenommen und philosophische Reflexion ihr grundsätzlich untergeordnet würde. Im

ersten Fall würde die Philosophie amputiert, im zweiten würde sie abgeschafft.

These 3: Gegenstand von Philosophiehistorie sind Sachverhalte, die durch gegenwärtige

Zeugnisse, das heißt durch empirische Belege erschließbar sind

Diese Festsetzung besagt zweierlei:

Erstens, dass es überhaupt empirische Belege für vergangene Erzeugnisse im Bereich

der Philosophie gibt, und

zweitens, dass Philosophiehistorie nur dort und nur so weit möglich ist, als es eben

solche empirische Belege gibt.

17

Page 18: Wimmer Einletung

Keine dieser beiden Thesen ist unproblematisch. Man muss sich fragen, von welcher Art

solche empirischen Belege sein können; man muss sich zweitens fragen, in welcher Weise

und innerhalb welcher Grenzen die Philosophiehistorie über ihre Daten hinausgehen darf oder

sogar muss.

Fragen wir uns nach der ersten These. Sie besagt, dass es überhaupt empirische Belege für

philosophisches Denken gibt. Welcher Art solche sein können, ist bei näherem Hinsehen nicht

ganz leicht zu sagen.

Die wichtigste Überlegung in diesem Zusammenhang betrifft die Frage der Schriftlichkeit.

Es ist eine gewöhnliche Annahme, dass philosophisches Denken jedenfalls durch das

Vorhandensein von “Texten” zu belegen ist. Aber bereits dabei müssen wir eine große

Vielfalt an möglichen Textformen annehmen. Philosophie drückt sich nicht nur in Traktaten

oder wissenschaftlichen Abhandlungen aus, sie kann sich ebenso in einem Drama, einem

Roman oder in Aphorismen ausdrücken. Dies alles sind vertraute Formen unserer eigenen

Kultur, für die vermutlich vielen jeweils Beispiele einfallen, die sie als “philosophisch” oder

zumindest als “philosophierelevant” einschätzen würden: Lichtenbergs Sudelbücher, Goethes

Faust oder Musils Mann ohne Eigenschaften könnten z.B. hier in den Sinn kommen.

Auch andere Textarten kommen natürlich in Betracht: Gedichte, Lieder, Novellen, Fabeln,

Briefe etc. Nicht nur gibt es Lehrgedichte wie dasjenige des Lukrez, in dem eine

philosophische Theorie dargelegt wird; es gibt eine ganze Menge von sehr unterschiedlichen

Texten, in denen dies mehr oder weniger explizit ebenso der Fall ist. Beispielsweise ist einer

der Grundtexte der Philosophie in China, das Daodejing, zu einem großen Teil in Reimversen

abgefasst. Wichtige Texte der römischen Stoa sind der Form nach Briefe. Über das

philosophische Denken im lateinamerikanischen Kontext ist öfter mit Recht gesagt worden,

dass es sich besonders in jenen Texten ausdrücke, die man gewöhnlich der Belletristik, vor

allem dem Roman zuordnet.

Andererseits kann es legitim sein, auch Texte, die dem allgemeinen Verständnis nach

theoretisch-philosophisch sind, als mögliche Kunstwerke zu lesen. So ist Wittgensteins

Tractatus von Frege auf diese Weise aufgefasst worden. Die Tendenz, Texte

unterschiedlichsten Inhalts und eben auch solche, die gewöhnlich als “philosophische”

gelesen werden, als “literarische” Texte zu lesen, ist in den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. in

der Postmoderne nicht selten verfolgt worden.

Aus diesen Hinweisen wird klar: Ob ein bestimmter Text ein philosophischer Text ist oder

nicht, lässt sich nicht generell sagen. Eine derartige Zuordnung ist immer

18

Page 19: Wimmer Einletung

begründungsbedürftig. Das heißt aber auch, dass wir als Interpretierende die Freiheit haben,

das philosophisch Relevante aus den unterschiedlichsten Texten zu erheben.

Wir werden also nicht eine bestimmte literarische Form und nicht einmal eine bestimmte

Thematik zum Kriterium dafür annehmen können, ob ein Text als philosophischer Text

klassifiziert werden soll oder nicht. Wir begegnen aber auch “Texten”, die nur in einer

minimalen Weise oder sogar überhaupt nicht verschriftlicht worden sind, bei denen jedoch

dieselbe Frage zu stellen ist.

Wollen wir etwa von vornherein ausschließen, dass beispielsweise ein zen-buddhistischer

“Koan”, in seinem ganzen Kontext genommen, einen philosophischen Gedanken zum

Ausdruck bringen könnte? Der “Text” liegt im Koan in einer minimalisierten Form vor,

aufgrund derer der unmittelbar wahrnehmbare Wortlaut absurd oder auch nichtssagend

erscheinen kann. Sind “Sprichwörter”, die in manchen afrikanischen Gesellschaften eine sehr

bedeutende Rolle spielen, als philosophische Texte zu betrachten? Es kommen in vielen dieser

Sprichwörter Lebensregeln zum Ausdruck, wie wir das aus Volksweisheiten und

Weisheitssprüchen überall kennen; es sind darin andererseits aber auch Konzepte von

Gerechtigkeit, von Erkennen und Wissen, von Zeit und Ursächlichkeit zum Ausdruck

gebracht.

Können vielleicht auch nichtsprachliche Ausdrucksformen – wie etwa Architekturformen17

oder Tänze18 – auf ethische, ästhetische oder kosmologische Ideen hinreichend deutlich

schließen lassen?

Derartige Fragen sollten nicht generell, sondern jeweils im Einzelfall entschieden werden.

Sie verweisen auf die allgemeine Frage, welcher Status der Schriftlichkeit im Vergleich zur

Oralität zukommt. Es eröffnen sich mit dieser Frage vielleicht neue Möglichkeiten. Kimmerle

weist etwa auf Derridas “neuen Schriftbegriff als das Hinterlassen ‚lesbarer Spuren‘” hin,

“das ebenso alt ist wie die gesprochenen Sprachen”. In einer solchen Sichtweise werde “der

ganze Gegensatz von oralen und Schriftkulturen obsolet”. Er fährt fort: “Dies könnte Grund

genug sein anzunehmen, daß auch der Gegensatz von Kulturen, die Philosophie haben, und

anderen, die keine haben, zu überwinden ist. Diesen Schritt hat Derrida indessen nicht

getan.”19 Derridas Kritik am Logozentrismus und der von ihm entwickelte Begriff von

Sprache und Text könne jedoch hier weiterführen. Er führt ein merkwürdiges Paradox vor

Augen:

“Von Jacques Derrida und seiner Philosophie der Differenz lässt sich lernen, dass der Gegensatz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Denkweise der europäisch-westlichen Philosophie entstammt. Derrida zeigt, dass diese Denkweise, die vor allem in geschriebenen Texten dokumentiert ist, nicht nur durch Logozentrismus und

19

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Ethnozentrismus, sondern paradoxerweise auch durch Phonozentrismus, d.h. den Vorrang der gesprochenen Sprache, charakterisiert ist. Denn die vorherrschende westliche philosophische Tradition bevorzugt einerseits die gesprochene Sprache und bewertet die Schrift nur als äußerliches Mittel, als Gedächtnisstütze, um das gesprochene Wort nicht zu vergessen. Derrida bezieht sich in diesem Zusammenhang besonders auf Platon, Rousseau und Hegel. Andererseits beurteilt dieselbe philosophische Tradition Kulturen, welche die ‚Kunst des Schreibens‘ nicht kennen, als niedriger stehend.”20

Das hohe Ansehen, das “Schriften” in einigen traditionellen Kulturen – nicht nur in der

okzidentalen – hatten und haben, ist in mehreren Faktoren begründet und wir haben uns zu

fragen, ob diese Faktoren auf jeder Stufe der Schriftlichkeit in gleicher Weise wirksam sind,

wie wir uns auch die zweite Frage stellen müssen, ob dieselben oder analoge Faktoren nicht

auch in mündlichen Traditionen wirksam sein können.

Der erste Faktor, der hier zu nennen ist, ist die Buchstäblichkeit bzw. Wortwörtlichkeit. Bei

dem schriftlich fixierten Text ist es im Normfall nicht zweifelhaft, was da steht, auch dann

nicht, wenn Uneinigkeit darüber herrscht, was die Bedeutung oder der Sinn dessen ist, was da

steht.

Man kann sich zweitens fragen, ob der Grad der Gefährdung für orale Traditionen größer

oder kleiner ist als für schriftliche. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass mit dem

Tod etwa eines indischen Pundit oder eines afrikanischen Weisen “eine Bibliothek stirbt”21.

Wenn dieses Bild seine Berechtigung hat, so ist damit eine tatsächliche Überlegenheit

schriftlicher über mündliche Traditionen ausgesagt. In dieser Frage ist allerdings zu bedenken,

dass die bloße Erhaltung von schriftlichen Dokumenten der Denkgeschichte nicht bedeutet,

dass die in ihnen niedergelegten Traditionen weiterleben. Die Geschichte wissenschaftlicher

oder auch philosophischer Traditionen kennt immer wieder Brüche und Neuorientierungen,

die kaum etwas damit zu tun haben, dass Texte verloren gehen. Es gibt andere Gründe dafür,

dass etwas nicht mehr gelesen oder doch wieder gelesen wird.

Ein dritter Faktor ist die Öffentlichkeit schriftlich fixierter Aussagen. Aus einleuchtenden

Gründen sind selektive Verfahren bei mündlicher Weitergabe einer Tradition wesentlich

stärker als bei schriftlicher. Ist das “Publikum” einer schriftlichen “Veröffentlichung” virtuell

unbegrenzt und jedenfalls nicht individuell definiert, so sind die Partner in mündlichem

Gespräch dies nicht, ihr Kreis ist begrenzt. Berühmte Fälle von “Lehrern” oder “Meistern” in

der Geistesgeschichte – wie Konfuzius, Buddha, Sokrates oder Jesus – zeigen, dass deren

Gedanken, obwohl sie selbst aus unterschiedlichen Gründen nicht geschrieben haben, sehr

bald verschriftlicht und damit einem größeren Kreis von Menschen zugänglich gemacht

wurden.

20

Page 21: Wimmer Einletung

Der zweite Teil der hier besprochenen These – dass Philosophiehistorie nur dort und nur so

weit möglich ist, als es eben empirische Belege gibt – führt uns zu Themen der Hermeneutik:

In welcher Weise und innerhalb welcher Grenzen darf oder muss die Philosophiehistorie über

ihre empirischen Daten hinausgehen? Welche Selektion, welche Interpretation ist

angemessen? Nur nebenbei sei angemerkt dass dies nicht Fragen sind, die etwa nur die

Philosophiehistorie betreffen würden und auch nicht solche, die erst dann auftreten würden,

wenn kulturell differente Prägungen bei AutorInnen oder bei InterpretInnen von Gedanken

anzunehmen sind.

Diese Frage wird in ihren Dimensionen vielleicht dann klar, wenn wir an die Auffassung

des Kantianers Grohmann denken, dass aufgrund der von ihm angenommenen Ausarbeitung

einer endgültigen – der kantischen – Philosophie auch behauptet werden müsse, dass nunmehr

eine “systematische Darstellung der nothwendigen vorhandenen Systeme der Philosophie”

und damit das vollständige Bild aller menschenmöglichen philosophischen Richtungen

gegeben werden könnte.22 Nicht mehr nur die aus Vergangenheit oder Gegenwart bekannten

Denkformen könne man schildern und analysieren, sondern überhaupt alle, die für Menschen

denkmöglich sind, also auch solche, von denen bisher keine Spur sichtbar ist. Nicht häufig

stoßen wir auf so entschiedenen Apriorismus wie bei Grohmann; doch sind auch schwächere

Formen des Apriorismus kritisch zu beurteilen, etwa die gar nicht so seltene Praktik, einem

referierten oder kommentierten Philosophen Thesen zuzuschreiben, für die sich zwar keine

Belege finden, die er aber nach Auffassung des Kommentars vertreten haben müsste, um

seine expliziten Thesen begründen zu können.23

Wie in allen historischen Wissenschaften haben wir es auch hier mit der Schwierigkeit zu

tun, dass das empirische Material auf mehreren Ebenen der Subjektivität der Forscher

ausgesetzt ist. Die wichtigsten Sachverhalte in dieser Hinsicht sind die Notwendigkeit der

Auswahl bei Autoren wie bei Problemen, was beides bereits Wertungen voraussetzt, und die

Angemessenheit der Interpretation des Materials. Wir werden diesen Schwierigkeiten aber

überall begegnen, wo wir geistige Äußerungen anderer Menschen aufnehmen oder darstellen

wollen, es ist nicht eine Problematik, die für die Philosophiehistorie spezifisch wäre.

These 4: Alle Gegenstände der Philosophiehistorie sind vergangene Sachverhalte und somit

historisch zu beschreiben

Diese wiederum sehr allgemeine Festsetzung mag trivial erscheinen. Es ist jedoch nützlich,

sich ihrer bewusst zu sein, denn durch sie werden grundsätzlich systematische Arbeiten in der

Philosophie von historischen unterscheidbar. Es werden in der Philosophiehistorie wie in

jeder historischen Disziplin beschreibende Aussagen gesucht und begründet, wobei die

21

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beschriebenen Ereignisse und Sachverhalte zeitlich vor der Beschreibung liegen. Das besagt

aber nicht, dass sie in jeder Hinsicht “vergangen” sind.

Was an der Philosophie gehört mit Sicherheit der Vergangenheit an? Vergangen sind die

Akte, Ereignisse, Reflexionstätigkeiten oder Kontroversen, die zur Formulierung, Äußerung,

Veröffentlichung einer These als Rede, Text, Bild oder in welchem Medium immer geführt

haben. Vergangen sind auch die Lese-, Aufnahme-, Verstehensakte, die

Argumentationssituationen, alles, was zum Betrieb des Philosophierens gehört.

Sind aber auch Ideen, Theorien, Thesen, ihr Inhalt, ihre Implikationen vergangen? Im

strengen Sinn kann man das wohl nur dann sagen, wenn etwas eindeutig widerlegt worden ist,

wenn also ein Inhalt zu keinem Zeitpunkt das war, was er scheinen sollte und schien: ein

intelligibler Sachverhalt. Dies ist aber nicht der Normalfall in der Philosophie.

Der übliche Fall ist nicht die eindeutige Widerlegung und Entlarvung, sondern eher, dass

Thesen, Sprechweisen und Themen in einer bestimmten Gesellschaft und Tradition

auftauchen, einflussreich werden und dann auch wieder aus dem kollektiven Gedächtnis

verschwinden, sobald ihre Neuinterpretationen nicht mehr überzeugen. Sie können dann noch

in archivierter Form oder als Gegenstand von Kommentaren weiterbestehen. Philosophische

Ideen, Fragestellungen und Traditionen können für lange Zeit vergessen und somit

„vergangen“ sein24 und dann wieder zu großer Wirksamkeit gelangen. Sie können auch

“wandern” - sie können in anderen Gesellschaften als denjenigen, in denen sie zuerst

aufgetaucht sind und jetzt „vergangen“ sind, wieder aufgegriffen und weiterentwickelt

werden, somit gegenwärtig sein.25

Das Vergangene an den vergangenen philosophischen Theorien ist ihr Entstandensein in

einem anderen gesellschaftlichen Zusammenhang als dem gegenwärtigen; und genau in

diesem Sinn bilden sie den Gegenstand der Philosophiehistorie: Insofern eine These, die

überhaupt inhaltlich in den Bereich der Philosophie gehört, nicht gerade jetzt, in aktueller

philosophischer Diskussion entwickelt wird, kann sie als vergangen gelten und Gegenstand

philosophiehistorischer Forschung werden. Die Größe des zeitlichen Abstands ist dabei

theoretisch gar nicht von Belang. Was gestern gedacht, formuliert, geäußert wurde, ist heute

hinsichtlich seiner Entstehung „vergangen“.

Ob ein vergangenes Philosophieren aber tatsächlich Gegenstand von Philosophiehistorie

wird, hängt stets davon ab, ob es nach der Einschätzung von PhilosophiehistorikerInnen

geschichtswirksam ist oder sein sollte. Als “geschichtswirksam” können wir einerseits ein

Denken verstehen, das “folgenreich” in dem Sinn ist, dass es eine notwendige Voraussetzung

für späteres – gegenwärtiges oder zukünftiges – Denken darstellt26; oder andererseits ein

22

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Denken, das ohne Hinblick auf späteres Denken als “symptomatisch” für eine bestimmte

Epoche, Gesellschaft oder Gruppe angesehen werden kann. Letzteres ist allerdings nur dann

von Interesse, wenn aus irgendeinem Grund wiederum diese Epoche, Gesellschaft oder

Gruppe als wichtig, d.h. als folgenreich angesehen wird. Philosophiehistorie in interkultureller

Orientierung hat zunächst die Aufgabe, eine qualitativ und quantitativ breitere Kenntnis

solcher Vergangenheiten zu erschließen.

These 5: Periodisierungen der Philosophiehistorie sollen möglichst kulturübergreifend sein

Beinahe stereotyp begegnet in der Literatur zur interkulturellen Philosophie immer wieder

die Forderung nach einer Reorientierung der Philosophiehistorie, auch in Bezug auf deren

zeitliche und inhaltliche Kategorien. Besonders ärgerlich erscheint die verbreitete

Gewohnheit, auch in der Geschichte des menschlichen Denkens als drei große Perioden

Antike–Mittelalter–Neuzeit anzusetzen: “Das traditionelle Wort ‚Mittelalter‘ ergibt weder in

der buchstäblichen noch in einer übertragenen Bedeutung irgendeinen Sinn für eine

Universal- oder Weltgeschichte.”27 Es gibt etwas wie einen “Zwang zur Periodisierung der

Weltgeschichte, der so alt ist wie das systematische Nachdenken über Geschichte selbst”,

stellt ein Historiker fest28 und es ist zu betonen, dass jede dieser Periodisierungen

problematisch ist, indem sie etwas sichtbar macht, anderes wiederum verdeckt.29

Beispielsweise spielt in den Debatten darüber, was unter “Globalisierung” zu verstehen ist,

häufig auch die Frage eine Rolle, wann der Beginn eines solchen Prozesses anzusetzen sei.

Mit der jeweiligen Festsetzung ist auch ein je bestimmtes Vorverständnis angesprochen.

Bei jeder methodologischen Neuorientierung der Geschichtsschreibung tritt die Frage nach

einer angemessenen Periodisierung auf, mit deren Hilfe die jeweilige Sicht auf die

Vergangenheit erst beschreibbar wird. Dies trifft auch auf die Philosophiehistorie zu, die als

besondere Literaturgattung ein Produkt der europäischen Neuzeit ist. Noch Ende des 18. Jh.

finden wir in einem Schulbuch folgende Periodisierung der Weltgeschichte, die sich natürlich

auch in den damaligen Beschreibungen der Geschichte der Philosophie abbildet: Die erste

Periode geht von der “Schöpfung” bis zu Jesus Christus, die neue Geschichte beginnt hier.

Andere Autoren hatten mehr Perioden angesetzt (bis zur “Sintflut”, von da an bis zum

“Turmbau zu Babel” etc.), die sich jedoch auch vorwiegend an der Bibel und den aus ihr

berechneten Chronologien orientierten.30

In den meisten Fällen seither sind Periodisierungen getroffen worden, die sich auf ein auch

in allgemeinen Darstellungen der Weltgeschichte übliches europazentriertes Schema stützen

und insbesondere die hierfür konzipierte Dreiteilung von “Antike–Mittelalter–Neuzeit”

zugrunde legen.31 Dies scheint jedoch, wenn es überhaupt ein brauchbarer Gesichtspunkt ist32,

für eine Beschreibung globaler Entwicklungen auf dem Gebiet der Philosophie ganz

23

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unangemessen. Man braucht nur wenige Versuche, um herauszufinden, dass unter “antiker

Philosophie” in aller Regel nicht chinesische oder indische, sondern ausschließlich

griechische und römische Philosophie verstanden wird. Ähnliches lässt sich ebenso über

“mittelalterliche” und “neuzeitliche” Philosophie sagen. Das Schema, in dieser Form eine

Schöpfung des 17. Jh. in der allgemeinen Geschichtsschreibung, geht eindeutig von

europäischen Ereignissen aus und passt auch höchstens für diese. Nur in wenigen allgemeinen

Darstellungen der Geschichte der Philosophie wird dieser Sachverhalt bislang zum Anlass

genommen, neue und passendere Epocheneinteilungen in Erwägung zu ziehen. Darum will

ich einen dieser Vorschläge etwas näher vorstellen.

Im zweiten Band von Plotts Global History of Philosophy33 findet sich der Versuch, eine

angemessene Periodisierung der Globalgeschichte (nicht nur: der Philosophie) neu zu

entwerfen und zu begründen. Die Autoren dieses Entwurfs setzen sich dabei drei Ziele: Sie

wollen “ein eher anwendbares Schema” finden, “die Weltgeschichte der Philosophie enger

mit der allgemeinen Weltgeschichte zu verbinden, als dies bislang geschehen ist” und

schließlich dazu beitragen, “jene Fragen zu klären und/oder auf jene Verwirrungen genauer

hinzuweisen, die in jeder Periodisierung der Weltgeschichte zu bedenken sind” (33f.).

Die erste Periode, in der sie das Entstehen von “Philosophie im technischen Sinn”

ansetzen, ist die von Jaspers34 und anderen so genannte Achsenzeit (ca. 750–250 v.AZ), der sie

allerdings die Frage nach einer Prä-Achsenzeit irgendwann nach 3600 v.AZ vorangehen

lassen, in der “jene grundlegenden Mythologien ihre gegenwärtige Form angenommen haben,

die unseren unbewussten kulturellen Erbschaften in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt

Sinn gegeben haben”. Dies habe den gesamten asiatischen Raum betroffen. In der von den

Autoren so genannten mittleren Achsenzeit (500–325 v.) schließlich “kann man nicht

übersehen, wie nahe die Daten beisammen liegen: Buddha Sakyamuni (566–486),

Vardhamana Mahavira (599–527), Konfuzius (551–497), Zarathustra (660–583; obgleich er

nach den meisten jetzigen Datierungen etwas früher anzusetzen ist), Sokrates (470–399), der

am Höhepunkt der Begegnung zwischen der hellenischen und der persischen Kultur auftritt;

die mögliche Herausbildung der japanischen Kultur […] und das Zeugnis der besten

alttestamentlichen Propheten.” Die späte Achsenzeit wird hier mit Alexander (325 v.AZ)

angesetzt und reicht bis 250 v.AZ.

Nach dieser Periode der späten Achsenzeit werden hier folgende, stets auf den gesamten

eurasischen Raum und in der Neuzeit auch auf die beiden Amerika bezogenen

Epochenbezeichnungen vorgeschlagen

Han-Hellenistisch-Baktrische Periode (250 v.AZ–325 AZ): philosophisches Denken

in den Großreichen Rom (Hellenismus bis zum Konzil von Nicäa) und China (Han-

24

Page 25: Wimmer Einletung

Dynastie 206v-220 n.AZ) sowie den baktrischen Königreichen in Nordindien mit stark

griechischem Einfluss;

Patristik-Sutra-Periode (325–800): gekennzeichnet durch stark theologische

Tendenzen, durch die Entstehung und weiträumige Expansion des Islam und

Rezeption (z.B. Übersetzungen buddhistischer Schriften in das Chinesische, das sich

dadurch verändert);

Periode der Scholastik (800–1350): durch die Entwicklung von Techniken des

Abwägens von Argumenten und Gegenargumenten, und durch die Ausarbeitung von

Kommentaren und Handbuchtexten gekennzeichnet.

Periode der Begegnungen (1350–1850): unterteilt in eine Zeit “wachsender

Begegnungen: Synthesen und Verfeinerungen” (1350–1550), “erweiterte

Begegnungen: europäische Expansion, Entdeckung und Ausbeutung” (1550–1750)

und des “Rückzugs von der Begegnung: Nationalismus und Naturalismus” (1750–

1850). Ab 1550 ist die europäische Expansion und später die explizite

Auseinandersetzung insbesondere mit dem Denken von Chinesen, ab 1750 jedoch eine

Abwendung davon kennzeichnend.

Periode der vollständigen Begegnung (seit 1850): Hier wird das wichtigste Merkmal

in der Abtrennung der “Mittel der Kommunikation von den Transportmitteln” und der

damit gegebenen ungeheuren Beschleunigung der Zeit gesehen.

Als einer der wenigen zum verbreiteten Europa-Zentrismus “alternativen” Ansätze in einer

globalen Periodisierung der Philosophie ist dieser Vorschlag von Plott von großem Interesse.

Es zeigen sich aber dabei deutlich auch Schwierigkeiten, die nicht lediglich auf Schwächen

oder Lücken dieses Vorschlags zu reduzieren sind. Er ist, vom Ansatz her zu Recht, beinahe

überwuchert von Andeutungen von Ereignissen, Personen und Daten, deren Beurteilung und

Einordnung wohl nur äußerst wenigen universell historisch gebildeten LeserInnen überhaupt

möglich sein dürfte. Auch sind keineswegs alle unterschiedenen Perioden mit gleicher

Sorgfalt behandelt – auffallend vage bleibt etwa die Beschreibung der für die Gegenwart sehr

wichtigen Periode von 1550 bis 1750.

Auch ist klar, dass hier zwar übergreifende Parallelen in Eurasien als einem Gesamtraum

gesucht werden, dass aber Afrika und Amerika höchstens als periphere und rezeptive

Regionen einbezogen sind (etwa in der Erwähnung von Übersetzungen griechischer

Philosophie in das Koptische in Äthiopien, oder in der Darstellung von Transferprozessen

europäischer Philosophie nach den Amerikas).35 Die Frage etwa, ob in bestimmten

25

Page 26: Wimmer Einletung

Gesellschaften Zentralamerikas, bei den Mayas oder Azteken, eine Entwicklung expliziter

Philosophie nachweisbar ist, stellt sich in der Perspektive einer so gesehenen Weltgeschichte

ebenso wenig wie die Frage nach nichtislamischer oder nach präkolonialer Philosophie in

afrikanischen Gesellschaften. Die übergreifende Einheit der vorgeschlagenen Periodisierung

ist im Entwurf Plotts wesentlich, und in heuristisch anregender Weise, breiter als in den

meisten anderen Ansätzen. Aber sie gehorcht doch der Logik einer einzigen großen Ganzheit.

Man kann darum wohl sagen, dass ein wirklich überzeugendes Konzept einer nicht

eurozentrischen Periodisierung der Philosophie auch in der hier vorgestellten “Alternative”

nicht vorliegt. Doch meine ich, dass bedenkenswerte Anregungen daraus zu gewinnen sind.

These 6: Klassifikationen von philosophischen Positionen in der Philosophiehistorie sollen

möglichst kulturübergreifend sein

Klassifikationen philosophischer Positionen oder Traditionen sind in der

Philosophiehistorie unerlässlich, sie werden aber auch sonst in der Philosophie häufig

gebraucht, um bestimmte Schulen oder Richtungen auszugrenzen bzw. andere als klassisch

darzustellen; Klassifikationen dienen nicht nur der Ökonomie der Darstellung, sondern auch

der Merk- und Lernbarkeit des historischen Materials. Nun gibt es allerdings im Bereich der

Klassifikationen kaum so etwas wie eine systematische Behandlung des Stoffes, wenigstens

nicht, soweit umfassende Darstellungen gemeint sind. In erster Linie lässt die jeweilige

Klassifikation einen Schluss darauf zu, was unter Philosophie verstanden wird und welcher

Tradition jemand sich zuordnet.

Grob gesprochen kann man zwei Arten von Klassifikationsbegriffen in der Historiographie

der Philosophie vorfinden, die jeweils entweder von Fragestellungen der Philosophie selbst

ausgehen, also philosophieimmanent sind, oder diese Fragestellungen grundsätzlich

überschreiten. Zu den Ersteren zähle ich z.B. die Ausdrücke: “Realismus”, “Materialismus”,

“Idealismus”, “Nihilismus”, aber auch “Skeptizismus”, “Rationalismus”, “Empirismus”,

“Monismus” und ähnliche. Zur zweiten Gruppe gehören Ausdrücke wie “griechische”,

“abendländische”, “afrikanische” oder “chinesische Philosophie”. Auch solche Namen wie

“christliche” oder “buddhistische Philosophie”, “Scholastik” u.ä. gehören hierher. Deren

interpretatorischer Bezugsrahmen ist weniger als im ersten Fall die Philosophie selbst,

sondern etwas, worin die Philosophie eine vielleicht wichtige, aber eben doch nur eine

partielle Rolle spielt oder eine bestimmte Art der Organisation von Forschung und

Darstellung entwickelt.

Mischformen, die eigentümliche Lehren von Schultraditionen oder Schulgründern oder

auch bestimmte Wirkungszusammenhänge als klassifizierendes Merkmal annehmen, sind

etwa “Platonismus”, “Stoa”, “Neuplatonismus”, “Daoismus”, “Thomismus”, “Kantianismus”,

26

Page 27: Wimmer Einletung

“Deutscher Idealismus”, “Marxismus” u.ä. Wenn allerdings zuweilen noch der Deutlichkeit

halber unterschieden wird zwischen “thomasisch” und “thomistisch” oder zwischen

“marx'sch” und “marxistisch”, so wird dadurch jedenfalls eines deutlich: Es braucht geradezu

eine Initiation, um sich in solchen Klassifikationen zurechtzufinden. Und jede Erschließung

einer neuen kulturellen Tradition bringt auch neue, bisher unvertraute klassifizierende

Ausdrücke mit sich, wodurch sich Vertrautheit immer nur für Spezialisten in einem

bestimmten Bereich einstellt, dessen Grenzen meist rasch bewusst werden.

Nehmen wir an, es will sich jemand mit der Geschichte der Philosophie vertraut machen

und eignet sich dazu ein Verständnis davon an, was unter “Platonismus”, unter

“Aristotelismus” und “Hegelianismus” zu verstehen ist. Ihr oder ihm werden bei einer

Beschäftigung mit chinesischem Denken dann ein “Mohismus” und ein “Konfuzianismus”

begegnen, beides ebenfalls nach Eigennamen gebildete Bezeichnungen, aber auch ein

“Legalismus” und ein “Daoismus”, was nach einer zentralen These bzw. einem zentralen

Begriff gebildete Namen sind. Bei der Beschäftigung mit indischer Philosophie wird man sich

eher mit Hilfe tradierter Schulnamen wie „Vedanta“ oder „Yoga“ als an Eigennamen

orientieren. Wieder anders wird der Gegenstand sprachlich erfasst, wenn es sich um das

philosophische Denken in Japan, im islamischen Raum oder in Afrika handelt. Überall wird

man auf verhältnismäßig etablierte Selbstbenennungen stoßen, aber diese werden nichts oder

wenig über inhaltliche Ähnlichkeiten und Unterschiede sagen und sie werden sich mit jeder

neuen Begegnung vermehren, sodass ihre Funktion, der Orientierung und dem Überblick zu

dienen, nur sehr bedingt erfüllt wird. Wir haben daher zu fragen, ob die angesprochenen und

ähnliche andere Klassifikationsbegriffe überhaupt geeignet sind, bei einer interkulturellen

Orientierung der Philosophie und einer entsprechenden Behandlung der Geschichte des

philosophischen Denkens orientierend zu sein.

Die herkömmlichen Modi des Klassifizierens in der Philosophiehistorie sind von

bemerkenswerter Urwüchsigkeit und Unübersichtlichkeit. Dies ist schon dann kein Vorteil,

wenn sich jemand in den begrifflichen Bahnen und Formen einer etablierten Tradition

bewegt. Es wird aber vollends zu einem Hindernis für Verständigung, wenn der Versuch

unternommen wird, über hergebrachte kulturelle Grenzen hinaus Philosophie wahrzunehmen

und zu verstehen. Darum ist es sinnvoll, sich Gedanken über die Möglichkeit

klassifikatorischer Begriffe für philosophische Positionen überhaupt zu machen, in welchen

kulturellen Räumen diese auch immer anzusetzen sind. Hier scheint eines zunächst klar: dass

bei einer Klassifikation von Gegenständen der Philosophiehistorie Mengen von Sätzen zu

klassifizieren sind, die in philosophiehistorisch relevanten Quellen vorkommen oder aus

solchen rekonstruierbar sind. Ist so der Gegenstand der Klassifikation wenig problematisch,

so folgt die Frage nach dem Inhalt und nach dem Merkmal, wonach klassifiziert werden soll.

27

Page 28: Wimmer Einletung

Hierbei scheint es sinnvoll, von der Unterscheidung zweier Begriffe auszugehen, die zwar

in den verschiedenen Kulturtraditionen keineswegs univok gebraucht werden müssen, die

jedoch in vielen, wenn nicht in allen philosophischen Traditionen eine Rolle spielen. Der

Ausgang von zwei Begriffen, wovon jeweils der eine in einem negierenden Verhältnis zum

anderen steht, liegt aus logischen Gründen nahe: Nur auf diese Weise erhalten wir eine

Klassifikation, deren einzelne Positionen distinkt zueinander stehen und somit klar

unterschieden werden können. Welcher Begriff beziehungsweise welche Begriffe dafür in

Frage kommen, ist damit nicht festgelegt, jedoch sollte es sich um solche handeln, deren

Vorkommen in möglichst vielen philosophischen Traditionen erwartet werden kann. Es sollte

sich also nicht um Begriffe handeln, bei denen trotz langer und intensiver Übersetzungsarbeit

immer wieder festgestellt werden muss, dass sie zwar zentral in der einen, aber kaum

übertragbar in die Sprache einer anderen Philosophietradition sind, wie das beispielsweise

beim griechischen “lógos”, beim chinesischen “Dao” oder beim indischen “dharma” der Fall

ist.

Es sollte sich ferner unter der Voraussetzung des hier leitenden Philosophiebegriffs um

solche Begriffe handeln, mit deren Hilfe sowohl ontologische wie epistemologische und auch

ethische Aussagen in sinnvoller Weise formuliert werden können. Dies spricht dagegen, etwa

die Unterscheidung von Wissen und Meinen oder Glauben für diesen Zweck heranzuziehen.

Zwar ist anzunehmen, dass eine derartige Unterscheidung in jeder philosophischen Reflexion

eine wesentliche Rolle spielt. Aber es wäre mit dem Begriffspaar “Wissen–Glauben” wohl

kaum möglich, gleicherweise Thesen über alle drei Grundbereiche philosophischen Fragens

zu formulieren. Wir könnten jedoch beispielsweise versuchen, philosophische Positionen nach

ihren Implikationen in Bezug auf die Begriffe “materiell” und “immateriell” zu klassifizieren.

Es ist natürlich bestreitbar, dass diese Begriffe oder ihnen entsprechende Begriffe

durchgehend zur Erfassung aller unterschiedlichen Traditionen geeignet sind. Es handelt sich

aber immerhin um sehr allgemeine Begriffe, wofür „funktionale Äquivalente“ (siehe nächste

These) oder Entsprechungen wohl in sehr vielen Philosophien mehr oder weniger direkt

auffindbar sein werden

Die Anwendung der Klassifikation mit Hilfe dieser beiden Begriffe würde es zulassen, von

einem “ontologischen Materialismus” dort zu sprechen, wo aufgrund von Interpretationen

gesagt werden kann, dass eine ontologische These vertreten wird, die in den Satz übersetzt

werden kann: “Mindestens ein Materielles existiert und es ist nicht der Fall, dass ein

Immaterielles existiert.” Belege für eine solche Auffassung dürften sich in mehreren

Philosophietraditionen, jedenfalls aber in der griechisch-okzidentalen, der indischen und der

chinesischen Philosophie finden lassen. Bei Ersterer können wir an Demokrit ebenso denken

wie an La Mettrie; in der Geschichte der indischen Philosophie an Lokayata und einige

Richtungen des Buddhismus; in der chinesischen Denkgeschichte etwa an den Skeptiker

28

Page 29: Wimmer Einletung

Wang Chong. Von einem “ontologischen Idealismus” könnten wir bei einer derartigen

Klassifikation dort sprechen, wo eine Auffassung übersetzt werden kann in den Satz:

“Mindestens ein Immaterielles existiert und es ist nicht der Fall, dass ein Materielles

existiert.” In unterschiedlichen Traditionen zu verschiedenen Zeiten würden wir auch dafür

Belege finden, und wie im ersten Fall wäre es von Interesse, die Argumente für eine solche

Auffassung wie auch ihre praktischen Implikationen zu untersuchen. Als “ontologischer

Realismus” ließe sich eine Position bezeichnen, in der sowohl eine Seinsaussage über

Materielles, als auch über Immaterielles behauptet wird. Wo schließlich Seinsaussagen

sowohl über Materielles wie über Immaterielles geleugnet werden, läge ein “ontologischer

Nihilismus” vor.

Die gleichen Unterscheidungen lassen sich in Bezug auf erkenntnistheoretische Positionen

treffen: “Erkenntnistheoretischer Materialismus” behauptet, dass (mindestens ein) Materielles

Erkenntnisgegenstand ist, leugnet aber, dass Immaterielles Erkenntnisgegenstand sei. Trifft

die Umkehrung zu, so können wir von “erkenntnistheoretischem Idealismus” sprechen; bei

einer Kombination beider Thesen von “erkenntnistheoretischem Realismus” und bei einer

Leugnung beider Thesen von “erkenntnistheoretischem Nihilismus”. Auch unterschiedliche

ethische Positionen lassen sich, ausgehend von zwei Sätzen wie “mindestens ein Materielles

(oder: Immaterielles) ist gut” und deren Negationen, kennzeichnen.

Versucht man, jeweils ontologische, epistemologische und ethische Thesen, in denen eine

positive oder eine negative Aussage über Materielles bzw. über Immaterielles enthalten ist,

auf ihre logische Verträglichkeit im Sinn der Nicht-Widersprüchlichkeit hin zu bestimmen, so

erhält man eine große Anzahl von denkmöglichen Positionen, von denen wahrscheinlich nicht

alle in den historisch tatsächlich vorhandenen Quellen vertreten werden. Dies ist jedoch kein

Nachteil, weil mit einer solchen Feststellung die wichtige Frage verbunden ist, warum von

allen überhaupt denkmöglichen und nicht logisch widersprüchlichen Positionen in einer

bestimmten Tradition jeweils gerade die aus den Quellen rekonstruierbaren entwickelt werden

und andere nicht. So könnte die Klassifikation selbst heuristischen Wert haben.

Es ist beispielsweise eine in systematischer und auch historischer Hinsicht interessante

Frage, welche Implikationsbeziehungen zwischen ontologischen und erkenntnistheoretischen

oder auch zwischen ethischen und ontologischen Thesen in einer Tradition angenommen oder

vorausgesetzt werden. Hat sich etwa in einer philosophischen Tradition die Überzeugung

verfestigt, dass ontologische Thesen nur auf Grund von erkenntnistheoretischen Thesen

gerechtfertigt sein können, so sind andere Positionen logisch möglich bzw. unmöglich als bei

der gegenteiligen Überzeugung. Es ist auch denkbar, dass aus ethischen auf ontologische

Theoreme geschlossen wird usw. Die heuristisch interessante Frage ist, welche allgemeinen

gesellschaftlichen Bedingungen für oder gegen die Plausibilität solcher Implikationen

29

Page 30: Wimmer Einletung

verantwortlich sind. Eine in der angedeuteten Weise entwickelte Klassifikation36 hätte den

Vorzug, eine deutlichere Kennzeichnung inhaltlicher Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu

ermöglichen, als dies bei herkömmlicher Benennungsweise der Fall ist. Sie hat allerdings den

möglichen Nachteil, wiederum von den Begriffsfeldern einer einzigen philosophischen

Tradition auszugehen – was jedoch nicht der Fall sein muss.

These 7: Interpretamente der Philosophiehistorie sollen möglichst kulturübergreifend sein

Unabhängig davon, welche Periodengrenzen gesetzt und welche Klassifikationen getroffen

werden, sind jedenfalls Allgemeinbegriffe zu bilden, um philosophisches Denken beschreiben

zu können. Eine denkmögliche Alternative dazu, nämlich in Interpretationen ausschließlich

die Ausdrucksmittel dessen zu verwenden, was interpretiert wird – also beispielsweise über

Heideggers Denken nur in Wörtern zu sprechen, die Heidegger selbst verwendet hat u.ä. –

käme einer Privatsprache nahe und würde als methodische Regel schon die Zugänglichkeit

einer einzigen Tradition verunmöglichen. Philosophiehistorie muss interpretieren und sie

kann die dazu verwendeten Ausdrücke, die Interpretamente nicht einfach den Quellen selbst

entnehmen. Das zeigt sich bereits beim allgemeinsten dieser Begriffe, nämlich “Philosophie”

als Ausdruck aus griechischer Tradition.

Interkulturell orientierte Philosophiehistorie wird auch in der Frage nach angemessenen

Interpretamenten nicht exkludierend vorgehen, sondern nach Überlappungen suchen.

Panikkar hat dazu einen bemerkenswerten Vorschlag gemacht. Er schreibt:

“Vor Jahren führte ich den Begriff homöomorpher Äquivalente als einen ersten Schritt zur Interkulturalität ein. [Es] müssen sowohl die möglichen, der Philosophie in den anderen Kulturen äquivalenten Begriffe als auch jene Symbole (nicht notwendig Begriffe, noch weniger ein Begriff), die ihre homöomorphen Äquivalente ausdrücken, gesucht werden. Die homöomorphen Äquivalente sind nicht bloße wörtliche Übersetzungen, noch übersetzen sie einfach die Funktion, die das Wort (Philosophie in diesem Fall) auszufüllen vorgibt, sondern sie geben eine Funktion zu verstehen, die der vermeintlichen Rolle der Philosophie entspricht. Es handelt sich also um kein begriffliches, sondern um ein funktionales Äquivalent […] Es wird […] dasjenige Äquivalent gesucht, das dem entspricht, was der Originalbegriff in der entsprechenden Weltanschauung bedeutet.”37

Ich möchte nur ein Beispiel Panikkars anführen, das zeigen kann, wie dies gemeint ist.

Wenn etwa, ausgehend vom lateinischen Wort “Religion”, die “homöomorphe”38

Entsprechung – oder besser: die Entsprechungen – dazu in der indischen Philosophie gesucht

werden, so schlägt er vor, dafür “dharma” zu nehmen, wohl wissend, dass

“wir nicht ‚dharma‘ schlechtweg mit ‚Religion‘ übersetzen [können]. ‚Dharma‘ bedeutet auch Pflicht, Ethik, Element, Ordensregel, Kraft, Ordnung, Tugend, Gesetz, Gerechtigkeit und es ist sogar durch Realität übersetzt worden. “Religion” kann aber

30

Page 31: Wimmer Einletung

auch sampradaya, karma, jati, bhakti, mârqa, pûjâ, daivakarma, nimayaparam, punyasila usw. bedeuten. Jede Kultur ist eine Welt”.39

Das Wissen um die teilweise Nicht-Übereinstimmung verhindert nicht ein wechselseitiges

Gespräch, es macht dieses erst möglich. Es eröffnet einen

“Mittelweg zwischen der kolonialistischen Geisteshaltung, die glaubt, daß sie mit den Begriffen einer einzigen Kultur die Totalität der menschlichen Erfahrung ausdrücken kann, und dem entgegengesetzten Extrem, wonach man glaubt, daß es keine mögliche Kommunikation gibt zwischen den verschiedenen Kulturen. Solche Kulturen verdammten sich selbst zu einer kulturellen Apartheid, um ihre Identität zu wahren”.40

Damit ist ein konkreter Vorschlag gemacht, der sich dem Sinn nach in der Diskussion über

interkulturelle Philosophie immer wieder findet. So weisen einige der “Daumenregeln zur

Vermeidung interkultureller Missverständnisse”, die Holenstein formuliert, in dieselbe

Richtung.41 Paul verlangt “eine explizite Begründung für die Identifizierung (Auswahl,

Nennung, Charakterisierung, Namhaftmachung) bestimmter Sachverhalte (Fragen, Probleme,

Methoden, Philosopheme etc.) als Gemeinsamkeiten oder Unterschiede, insbesondere aber

eine explizite Erläuterung der Relevanz dieser Identifizierung”.42 Fornet-Betancourt spricht

von einer “Kommunikationspraxis” die “vor allem ein Bestreben nach Übersetzung ist. Die

kulturellen Welten werden übersetzt, und indem sie sich gegenseitig übersetzen, wird

Universalität erzeugt”43 und Mall sieht “die verschiedenen Philosophien als unterschiedliche,

aber nicht radikal verschiedene Wegweiser zur wahren Philosophie”.44

Wir sind in den sieben “Thesen zur Philosophiehistorie” zwar immer wieder auf Fragen

gestoßen, die sich aus der Realität kulturell differenter Traditionen ergeben. Aber man sollte

sich bewusst sein, dass vergleichbare oder sogar dieselben Fragen bei jeder, auch bei einer

intrakulturellen Auseinandersetzung mit der Geschichte des philosophischen Denkens

auftreten. Wenn wir uns jetzt der Frage nach möglichen Gattungen von Philosophiehistorie

zuwenden, so können wir dabei zunächst durchaus an jenen Formen ansetzen, die aus der

eigenen, der okzidentalen Tradition vertraut sind.

Gattungen von Philosophiehistorie

Entsprechend der jeweiligen Auffassung vom Gegenstand ist in der okzidentalen Tradition

von Philosophiehistorie zu unterscheiden zwischen Bibliographie, Doxographie,

Problemgeschichte, Biographie und Institutionengeschichte. Außer diesem Gesichtspunkt der

Gegenstandsauffassung ist bei einer Reflexion auf Philosophiehistorie zweitens die Frage

nach deren Darstellungsform und drittens nach deren Funktion zu stellen. Als typische und

differente Formen der Darstellung können wir chronologische, entwicklungsmäßige,

kanonische und systematische Darstellungen unterscheiden. Als Funktionen von

31

Page 32: Wimmer Einletung

Philosophiehistorie sind zu nennen: Heuristik, Traditionsbildung und -kritik,

Wissenschaftsplanung und schließlich Wertorientierung.

Ohne zunächst auf die Geschichte der Philosophiehistorie näher einzugehen, ist in

Erinnerung zu behalten: In Europa ist die Institutionengeschichte eine neuzeitliche

Errungenschaft, wogegen die anderen (Bibliographie etc.) in unterschiedlichen Spielformen

bereits in der griechischen Antike vorliegen45. In chinesischer Tradition finden sich bezogen

auf Philosophie ebenfalls Bibliographie, Doxographie und Biographie, in einzelnen Epochen

auch problem- und institutionengeschichtliche Ansätze. Ähnliches lässt sich für indische

Traditionen sagen – wenngleich etwa die Erstellung genauer Chronologien, die in

chinesischer wie in griechischer Tradition als sehr wichtig angesehen wird, dort kein

vorrangiges Interesse fand. Die Unterschiede zwischen diesen Literaturtraditionen bezüglich

der einzelnen Gattungen und ihre jeweiligen Entwicklungsstadien, ihre hermeneutischen

Stärken und Schwächen herauszuarbeiten, ist eine Aufgabe, die noch zu leisten ist. Auch für

die okzidentale Tradition liegen erst seit kurzer Zeit detaillierte Studien zur Geschichte der

Philosophiehistorie vor.

Die folgende Unterscheidung von Gattungen oder Typen der Philosophiehistorie geht also

zunächst von Typen aus, die sich bereits in der griechisch-antiken Literatur vorfinden, und

bringt demgegenüber lediglich eine gewisse Systematisierung und (wie im Fall der

Institutionengeschichte) Ergänzung. Es ist festzuhalten, dass reine Fälle nur sehr selten (streng

genommen wohl nur bei der Gattung der Bibliographie) vorkommen, dass wir in der Regel

also auf Mischformen treffen. Dennoch will ich eine Unterscheidung solcher Gattungen

versuchen, weil sich anhand dessen leichter über die Funktionen, die Vorzüge und die

Schwächen der einzelnen literarischen Möglichkeiten sprechen lässt, Geschichte der

Philosophie zu beschreiben.

Ich unterscheide drei Gruppen von Gattungen nach der Art der Gegenstandsbestimmung,

nach der Form der Darstellung sowie nach der intendierten oder der tatsächlichen Funktion.

(A) Gegenstandsbestimmung

(1) Bibliographie

Gegenstand von Bibliographie sind Texteinheiten, die dem Bereich der Philosophie

zugeordnet werden. Dabei wird das vorgegebene Material in einer funktional bestimmten

Weise ausgewählt (z.B. als Literatur zu einem Problem, zu einer Schule, zu AutorInnen, über

eine philosophische Disziplin u.Ä.) und geordnet oder klassifiziert. Die Bibliographie hat stets

theoretische oder systematische Voraussetzungen als Grundlage:

32

Page 33: Wimmer Einletung

Erstens wird relativ zu einem als wichtig beurteilten Thema eine Bibliographie erstellt;

dies trifft bei einer Bibliographie über die Frage der Unsterblichkeit ebenso zu wie bei

einer über österreichische PhilosophInnen der Gegenwart: Der Autor (oder das

intendierte Publikum) der Bibliographie hält sein Auswahlthema für wichtig.

Zweitens ist entweder vorausgesetzt, dass die schriftlichen, d.h. die veröffentlichten

oder zumindest schriftlich fixierten Auffassungen zu einem Thema auch die

wichtigsten (gewichtigsten) vorfindbaren historischen Quellen zu diesem Thema sind,

oder – stärker formuliert –, dass die wichtigsten Äußerungen zu einem Thema der

Philosophie eben auch schriftlich veröffentlicht oder zumindest fixiert sind.

Diese beiden Voraussetzungen sind jedoch nicht für das philosophische Denken aller

Gesellschaften in gleicher Weise zutreffend. Mag die erste noch für weite Bereiche des

Philosophierens in unserer Tradition zutreffen – obgleich es auch in Europa wichtige geistige

(eben auch philosophische) Strömungen gab und gibt, die kaum im offiziell-

wissenschaftlichen Publikationswesen dokumentiert sind –, so ist die zweitgenannte

Voraussetzung dazu angetan, die Sicht auf das geistige Erbe solcher kultureller Traditionen

eher zu verstellen, deren Medium nicht in einem vergleichsweise hohen Maß die Schrift war:

Sie erfasst nur veröffentlichte schriftliche Produkte.

(2) Doxographie

Den Gegenstand von Doxographie bilden überlieferte Formulierungen philosophischer

Thesen, wobei diese sowohl unkommentiert wiedergegeben (wie in den sogen. „Florilegien),

als auch in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden können (wie im Hauptwerk

Bruckers in der Zeit der Aufklärung). In der Regel werden solche formelhaften Thesen

bestimmten AutorInnen zugeordnet. Auf “doxographische” Weise wissen wir etwa, dass von

Descartes der Satz stammt “Cogito ergo sum” oder von Wittgenstein „worüber man nicht

sprechen kann, darüber muss man schweigen“, auch wenn wir uns nicht näher mit den

Argumenten befasst haben, aus dem solche Sätze gefolgert wurden. Derartige Sätze können

etwas wie Markenzeichen werden – sodass etwa „cogito“ automatisch Descartes in

Erinnerung ruft und man umgekehrt bei Descartes an „cogito“ denkt.

In so unterschiedlichen Textgattungen wie den Gesprächen des Konfuzius und dem

philosophiehistorischen Hauptwerk der europäischen Aufklärung, der Historia Critica

Bruckers, stoßen wir auf ein vorrangig doxographisches Interesse.

Das doxographische Interesse scheint in der Geschichte der Philosophiehistorie von

bemerkenswerter Bedeutung zu sein. Es tritt überall auf, wo sich Philosophie zum Zweck der

Einführung oder der Darstellung gegenüber einem breiten Publikum auf ihre vergangenen

33

Page 34: Wimmer Einletung

Leistungen berufen will. Es ist daher vorwiegend von einer appellativen, auf Zustimmung hin

ausgerichteten Haltung gekennzeichnet. Die Gedanken von PhilosophInnen werden dabei in

einer interpretierenden, klassifizierenden und meist auch ausdrücklich übersetzenden Weise

dargeboten, die dem vorausgesetzten Leserinteresse entspricht. In mehr oder weniger hohem

Grad sind wohl alle Darstellungen der Geschichte der Philosophie (zumindest auch)

doxographisch.

Doxographie hat eine Voraussetzung, die jener der Bibliographie vergleichbar ist: dass

nämlich klar sei, dass die “doxa”, die “Meinungen” von dem- oder derjenigen wert seien, im

Gedächtnis behalten zu werden. Es ist eine Weise des Darstellens und Aneignens von

Gedanken, die darauf beruht, dass die UrheberInnen der jeweils vorgestellten Meinungen in

einer als gesichert und wichtig erachteten Tradition gesehen werden. Insofern dient diese

Sicht des Gegenstandes eher der Selbstbestätigung der jeweiligen Tradition als einer

Ausweitung des Horizonts in argumentativer Weise.

(3) Biographie

Von den ersten Biographien der aristotelischen oder konfuzianischen Schulen bis zu

Erinnerungen an Wittgenstein und ähnlichen Werken der Gegenwart steht biographische

Literatur immer im Dienst einer Selbstverständigung mit Hilfe der Erinnerung an Vorbilder.

Biographien können sympathetisch oder kritisch-entlarvend verfasst sein, in jedem Fall

bilden sie Solidarität – indem sie die jeweils eigene Tradition stärken oder die gegnerische

angreifen. Ob sie freundlich oder feindlich mit den geschilderten Personen umgehen, stets

streben Biographien von PhilosophInnen danach, eine Einheit (eines Lebens sowie

Entsprechungen zwischen Leben und Denken) darzustellen und herzustellen. Gewiss ändern

sich manche Gesichtspunkte und auch methodische Voraussetzungen dabei.

In der pragmatischen Erklärung aufklärerischer Philosophiehistorie hat die Biographie

vorübergehend explizit systematische Züge angenommen: es ist nach Bruckers Auffassung

nur aufgrund der Lebensumstände eines Denkers zu erklären, wenn er irrige Auffassungen

entwickelt hat. Dieser Gedanke - überzeugend lediglich unter der Voraussetzung einer

Normalvernunft, die, unbehindert angewandt, zu wahren Erkenntnissen gelangen müsse - ist

implizit in vielen Phasen biographischer Beschreibungstradition vorhanden.

Biographische Aussagen beispielsweise über Konfuzius (im Lunyu) sind nicht rein

deskriptiv. Sie sind, deutlicher ausgedrückt, überhaupt nicht oder nicht in erster Linie als

Informationen intendiert, sondern als Appelle. Wenn gesagt wird, dass Konfuzius bei

bestimmten Gelegenheiten geschwiegen bzw. gefragt habe, so heißt das für LeserInnen, dass

34

Page 35: Wimmer Einletung

es bei derartigen Gelegenheiten angebracht ist, zu schweigen bzw. zu fragen; schwierig mag

es sein, jeweils zu wissen, welche Gelegenheiten von derselben Art sind. Biographische

Anekdoten können auch allgemein bekannte Thesen eines Philosophen illustrieren und damit

die praktische Anwendbarkeit dieser Thesen aufzeigen. Der biographische Bericht hat in

solchen Fällen erzieherische Funktion. Woher kommt ihm diese zu? Heumann, wohl der

wichtigste Autor der Frühaufklärung in der Frage einer Theorie der Philosophiehistorie, bringt

das auf den Punkt: Die lebendige Vertrautheit mit der Geschichte kann uns selbst

wahrheitsliebend und weise machen durch das Beispiel, das die Philosophen darin geben:

"longum iter per praecepta, breve et efficax per exempla" – weit ist der Weg über Regeln und

Vorschriften, kurz und wirksam über Vorbilder46.

Wir haben es bei dem Wunsch nach Solidarität, der der Biographie ihren Sinn gibt, mit

einem Autoritätsargument zu tun. Was aber ist es, das Lebensumstände und Verhaltensweisen

von PhilosophInnen autoritativ macht? Die Antwort ausschließlich im Rang oder im

Wahrheitsgehalt ihres Denkens zu suchen, wäre naiv. Gelegentlich lässt sich gerade im

Gegenteil der Eindruck nicht vermeiden, dass die Autoritätsvermutung bezüglich des Denkens

von Berichten über Handlungen und Lebensumstände getragen ist. Dies kann gerade dann

jedoch eine trügerische Neigung sein, wenn es sich um DenkerInnen aus fremden Traditionen

handelt. Dann nämlich ist beides möglich: dass der Bericht über ihre Lebensumstände und

Verhaltensweisen verhindert, sie als denkende Menschen ernst zu nehmen; oder auch: dass

dieser Bericht es erschwert, sich mit ihrem Denken kritisch auseinander zu setzen.

Zwischenüberlegung

Obgleich bibliographische, doxographische und biographische Arbeiten in Bezug auf

nichtokzidentale philosophische Traditionen nützlich und notwendig sind, plädiere ich im

Hinblick einer globalen Perspektive von Philosophiehistorie doch in erster Linie für problem-

und institutionengeschichtliche Projekte. Gründe dafür wurden für die drei erstgenannten

teilweise schon angesprochen, ich will nur für den Fall der Biographie den Punkt

verdeutlichen, der mutatis mutandis auch für die Bibliographie und Doxographie zutrifft.

Biographische Texte stellen den Lebenslauf einer Person dar, im Ganzen oder in Teilen.

Das Interesse an solchen Texten, wenn sie von philosophierenden Personen handeln, kann

letztlich nur darin liegen, deren Gedanken oder Ideen genauer zu verstehen. Dieses Verstehen

bezieht sich aber nur darauf, etwas darüber zu erfahren, wie sie zu ihren Ideen gekommen,

welche Anlässe und Umstände zu deren Entwicklung geführt haben. Biographische Kontexte

können auch verstehen helfen, was genau in Texten von Philosophen ausgesagt ist. All das

sind Gesichtspunkte, die das Entstehen und den Gehalt von Ideen betreffen, nicht deren

Gültigkeit oder Wahrheit. Biographische Nachrichten sagen letztlich nichts über die

35

Page 36: Wimmer Einletung

philosophische Relevanz oder die Überzeugungskraft einer These, eines Arguments, einer

Idee aus. Es klingt darum nicht einfach absurd, wenn Leibniz seinem Lehrer Jakob Thomasius

lobend zuschreibt, dieser habe „non Philosophorum, sed philosophiae historiam“ bearbeitet –

auch wenn die Reinform einer solchen Idee (nämlich eine Geschichte von Philosophie

gänzlich ohne biographische Daten) schwer vorstellbar ist.

Jedenfalls liegt das Kriterium dafür, wer als PhilosophIn gelten soll, nicht in irgend

welchen Merkmalen von Lebensläufen, es sei denn, es gäbe eine klare Vorstellung davon,

was ein philosophischer Lebenslauf sei – was für einzelne historische Perioden vielleicht der

Fall ist, aber sicher nicht im allgemeinen und für alle regionalen Kulturtraditionen zutrifft.

(4) Problemgeschichte

Als primärer Gegenstand von Problemgeschichte sind Fragestellungen und

Lösungsvorschläge anzusehen, die im Verständnis der HistorikerInnen als philosophisch zu

klassifizieren sind. Es handelt sich also um eine Zugangsweise, die in erster Linie von den in

den systematisch philosophischen Diskursen der jeweiligen Gegenwart leitenden

Gesichtspunkten und Fragestellungen bestimmt ist. Das rekonstruierte Denken der

Vergangenheit wird dabei entweder in einem Entwicklungsmodell oder im Rahmen der

gegenwärtigen Forschungssituation in systematischer Weise (s.u.) dargestellt.

Die problemgeschichtliche Zugangsweise in der Philosophiehistorie ist vor allem für

solche Traditionen kennzeichnend, die eine stark entwickelte Methodologie der Erkenntnis

aufweisen, im europäisch-neuzeitlichen Kontext also etwa für den Kantianismus, den

Positivismus und die Analytische Philosophie. In der indischen Tradition können die

Arbeiten, die zur Unterscheidung der sechs klassischen astika-Schulen geführt haben,

dazugezählt werden.

In allen diesen Fällen treten hinsichtlich der Philosophiehistorie Tendenzen auf, in einer

möglichst rein systematischen Weise die Ergebnisse, Missergebnisse und Fragestellungen der

vergangenen Philosophie zu der als gültig angesehenen gegenwärtigen Philosophie in Bezug

zu setzen. Nach meinem Verständnis des Projekts einer interkulturell orientierten Philosophie

ist darin deren zentrales Interesse zu sehen, auch im Hinblick auf die Geschichte: Die

differenten Traditionen miteinander ins Gespräch zu bringen, nicht nur zum Zweck des

Kennenlernens oder um einander besser zu verstehen, sondern letztlich um mit den Mitteln

des Philosophierens in Sachfragen gemeinsam weiterzukommen. Das schließt natürlich Kritik

und Selbstkritik ein, es lässt nicht einfach bestehen, was besteht.

36

Page 37: Wimmer Einletung

(5) Institutionengeschichte

Institutionen als Gegenstand der Philosophiehistorie können von unterschiedlichem Typ

sein. Grundsätzlich handelt es sich jeweils um kollektive Bedingungen, unter denen

Entwicklungen des philosophischen Denkens vor sich gegangen sind. Hierbei muss

unterschieden werden zwischen solchen Institutionen, die den akademischen oder

wissenschaftlichen Betrieb der „Philosophie“ (was in der älteren Literatur bedeutet: der

Wissenschaften) betreffen wie z.B. Akademien, Universitäten, Bibliotheken,

Kommunikations- und Organisationsformen etc. – einerseits, und andererseits Institutionen,

welche die allgemeine gesellschaftliche Organisation einer Epoche bestimmen (wie z.B. das

Rechtswesen, die Staatsorganisation, Religionen, Wirtschaftsformen, Sprachgeschichte etc.).

Der Gegenstand wird in der Institutionengeschichte mit dem Ziel bearbeitet, empirisch-

sozialwissenschaftliche Erklärungshypothesen für den Ablauf der Geschichte der Philosophie

zu finden oder Wissenschaftsplanung auf eine historische Basis zu stellen.

Die Geschichte des Denkens als eine Geschichte von Institutionen, eher denn als eine

Geschichte von individuellen Denkleistungen aufzufassen, ist in mehrerer Hinsicht eine

leitende Idee der europäischen Neuzeit geworden. Die Interpretation der Traditionen der

verschiedenen Völker ging zunächst von dem für entscheidend gehaltenen Unterschied im

Abstand zur (biblisch: an Adam) geoffenbarten Wahrheit aus: die barbarischen Völker

wurden in dieser Hinsicht ganz anders eingeschätzt, als dies bei antiken Autoren der Fall

gewesen war. Erst die Hinwendung zu einer von der Offenbarung unabhängigen, aber ebenso

endgültigen Erkenntnisinstanz in der frühen Neuzeit hat hier neue Fragerichtungen

geschaffen. Damit sind jene Institutionen in den Blick gekommen, mit deren Hilfe eine

überlegene Wissenschaftsplanung möglich erschien - die Akademien, Zeitschriften,

Kommunikationsformen etc. Die anderen Institutionen, wie die Sitten, Sprachen, Organisation

der Lebensformen u.dgl. gerieten hingegen aus dem Blick, wurden in die neuen

Kulturwissenschaften ausgegliedert, in Ethnologie oder allgemeine Geschichte.

Wenn ich meine, dass die Geschichte von Institutionen zusammen mit Problemgeschichte

wichtig für die Historiographie der Philosophie im Zusammenhang mit kulturellen

Differenzen ist, so ist dies keineswegs ein Plädoyer für Ethnophilosophie. Ein Projekt, in dem

eine gelungene Verbindung institutionsgeschichtlicher mit problemgeschichtlichen

Fragestellungen zugleich mit dem erstmaligen Bekanntmachen individueller PhilosophInnen

vorliegt, ist beispielsweise die Rekonstruktion der so genannten “sage-philosophy” von

DenkerInnen der Luo in Kenia durch Henry Odera Oruka.47 Hier werden die

Lebensumstände, die gesellschaftliche Organisation von Wissen und die Funktion der Weisen

zugleich mit deren Thesen und Argumentationen vorgestellt. Das ist dem kollektivistischen

Ansatz der Ethnophilosophie ebenso entgegengesetzt wie einem bloßen Verstärken von

37

Page 38: Wimmer Einletung

bereits etablierten Traditionssträngen. Es bringt Stimmen zu Gehör und zwar so, dass es bei

dem, was sie sagen und wie sie dies tun, wirklich schwer fällt, zu bestreiten, dass es sich dabei

im strikten Sinn um Philosophie handelt.

(B) Darstellungsformen

(1) Chronologie

Die Form der chronologischen Darstellung entspringt der Vorstellung, dass die Abfolge

von Systemen oder Schulen in ihrer Zeitfolge einen Erkenntniswert darstelle, weil schon

allein darin ein Fortschreiten der Philosophie gezeigt werden könne. Der hellenistischen Form

der Diadochographie48 liegt diese Vorstellung zugrunde. Für diese Darstellungsform sind

Fragen der zeitlichen Priorität natürlich von großer Bedeutung. Aber auch in einer modernen

“Soziologie der Philosophien” soll gezeigt werden: Die Geschichte der Philosophie ist in

beträchtlichem Ausmaß die Geschichte von Gruppen, mit gewissen, regelmäßigen Abläufen,

mit Lehrer-Schüler-Beziehungen und Beeinflussungen, die überall in ähnlicher Weise vor sich

gehen – in China und Indien wie in Griechenland, im neuzeitlichen Europa oder in der

islamischen Welt.49

Herrscht das chronologische Interesse vor, so wird die absolute wie die relative Datierung

von Texten eine wichtige Rolle spielen. Hier scheinen nun aber deutliche Unterschiede

zwischen den Traditionen der verschiedenen Schriftkulturen zu bestehen.

Aus indischer Tradition sind nur sehr wenige Werke50 bekannt, die ausdrücklich eine

Geschichte des philosophischen Denkens zum Inhalt haben; darin ist der Gegenstand

problemgeschichtlich aufgefasst und entsprechend die Darstellung nicht chronologisch,

sondern systematisch. Ein Desinteresse an Fragen der Chronologie ist für die indische

Geschichtsschreibung im Allgemeinen oft konstatiert worden51 und tatsächlich auffallend.

China hingegen hat eine hoch entwickelte historiographische Tradition seit früher Zeit.52

Auch die Geschichte der Denkschulen hatte darin bereits während der Han-Dynastie, eine

feste Stelle gefunden, wobei der chronologische Gesichtspunkt stets eine wichtige Rolle

spielte.

Wir müssen uns bei der Chronologie, wie bei den anderen Darstellungsformen, immer

auch fragen, welchem Interesse diese Form entspricht. Die Außerfragestellung einer

historischen Abfolge – und das ist das erste Ziel jeder Chronologie – ist auf das Interesse an

einer möglichst lückenlosen und zweifelsfreien Ahnenreihe zurückzuführen. Ein solches

Interesse konnte unter den allgemeinen Annahmen der frühen Neuzeit dazu tendieren, bis zum

Anfang der Menschen- und Erdgeschichte, zu den allerersten Ursprüngen, zum biblischen

38

Page 39: Wimmer Einletung

Adam zurückzugehen. Es fand seine Befriedigung dann darin, dass diese Ahnenreihe nicht

nur lückenlos, sondern auch möglichst rein dargestellt wurde. Die Etablierung der

vorsokratischen Denker als der ersten Philosophen im strengen Sinn im 17./18. Jh. führte hier

zu einer neuen Ahnenreihe, aber auch diese wurde in den meisten Fällen möglichst lückenlos

und möglichst geradlinig rekonstruiert.

Für eine interkulturelle Orientierung der Philosophiehistorie kann absolute Chronologie

schon darum nicht von ausschlaggebender Bedeutung sein, weil sie es mit Ungleichzeitigem

zu tun hat. Wenn sie sich aber der Herausforderung des Vielfältigen stellt – wie dies in der

erwähnten “Soziologie der Philosophien” von Collins der Fall ist –, so können die relativen

Chronologien durchaus aussagekräftig sein für die genaue Erfassung von Besonderheiten

einzelner Kulturregionen.

Collins spricht von “Netzwerken zwischen Generationen, Ketten von hervorragenden

Lehrern und Schülern”, in denen sich intellektuelle Diskurse rekonstruieren lassen:

“Kreativität ist bei Individuen nicht zufällig; sie baut sich in Ketten zwischen Generationen

auf” und noch die Abgrenzung bestimmter Positionen lässt sich im Generationenabstand

beobachten.53 Sein “intellektuelles Gesetz der kleinen Zahlen” fordert geradezu heraus, eine

möglichst genaue Analyse der Gleichzeitigkeit und relativen zeitlichen Nähe in der

Geschichte geistiger Produktionen zu unternehmen. Es lautet: ” […] the number of active

schools of thought which reproduce themselves for more than one or two generations in an

argumentative community is on the order of three to six”54, die sich gegeneinander

profilieren. Intellektueller Konflikt beschränkt sich stets durch Konzentration auf bestimmte

Themen und durch die Suche nach Verbündeten, wie Collins gleich zu Beginn schreibt: Nicht

Einzelkämpfer, sondern eine kleine Zahl von kämpfenden Lagern bilden das Muster der

Geistesgeschichte. Konflikt ist die Energiequelle des geistigen Lebens, und Konflikt ist durch

sich selbst begrenzt.55

In einer derartigen Sichtweise, für die vieles spricht, werden aber nicht nur die

allgemeinen, auch zeitlichen Muster erkennbar, die den Soziologen der Wissenschaft – und in

unserem Fall: der Philosophie – interessieren, es zeigen sich darin auch deutlich Motivationen

und Intentionen der einzelnen TeilnehmerInnen an Theoriedebatten.

(2) Entwicklungsgeschichte

Darstellung der Geschichte der Philosophie als einer Entwicklung setzt einerseits nicht

unbedingt und in jeder Einzelheit die Priorität der Chronologie voraus; andererseits kann sie

sicherlich nicht auf diese beschränkt bleiben. In einer entwicklungsgeschichtlichen

Darstellung ist der Gesichtspunkt wesentlich, dass etwas Identisches beschrieben wird, das

39

Page 40: Wimmer Einletung

sich in der Zeit fortschreitend verändert, sich in unterschiedlichen, aufeinander folgenden

Gestalten mehr und mehr verwirklicht hat. Es muss darin gezeigt werden, worin die

Unterschiede bestehen, aber auch, in welcher Weise diese Unterschiede doch innerhalb eines

Identischen bestehen. Entwicklungsgeschichte des Denkens besagt also, dass es ein

identifizierbares Etwas gibt, einen Kern des Geschehens, der als solcher unverändert bleibt;

dass es ferner Unterschiede, Entgegensetzungen, Abweichungen gibt, die indessen auf das

behauptete Identische zu beziehen sind.

Geschichte der Philosophie oder besser: Geschichte der okzidentalen Philosophie ist immer

wieder so beschrieben worden: als Entwicklung, Ausfaltung, oder sogar als Selbstentwicklung

eines von den Akteuren — den Philosophierenden — abgehobenen, “absoluten” Geistes. Sie

wurde 1715 von Heumann als Gang von der Kindheit (bei den Griechen) zur Reife (in der

Neuzeit) beschrieben56 , von Bachmann 1811 als unendliche Evolution, von Hegel schließlich

als das zwangsläufig Zum-Selbstbewusstsein-Kommen des Universums ganz im

Allgemeinen. Aber auch dort, wo für die Geschichte der Philosophie nicht ein so

zwangsläufig ablaufender Prozess angenommen wurde, konnte man durch die Kenntnis der

Geschichte wenigstens im Bereich der Vernunfttätigkeit die “erfreuliche Gewissheit” eines

beständigen Fortschritts gewinnen.57

Seit der Zeit der europäischen Aufklärung und Romantik sind in der Philosophie Versuche

häufig, den eigenen Geisteszustand als Ergebnis eines Prozesses der Selbstentwicklung zu

beschreiben, wobei dieses Ergebnis entweder als Zwischen- oder bereits als erkennbares

Endergebnis angesehen wird.

Einer solchen Prozess-Vermutung hält Kimmerle entgegen: “Späteres ist nicht besser als

Früheres, sondern zu allen Zeiten und in allen Kulturen gibt es gute und weniger gute Werke

der Kunst und der Philosophie.” Das würde allerdings auch ein Vertreter des

Entwicklungsgedankens ohne weiteres zugestehen, er würde nur eben hinzufügen: Die guten

späteren Werke sind in irgendeiner Weise höher stehend als die guten früheren. Aber auch das

bezweifelt Kimmerle und verweist u.a. auf die Veden und das Laozi: “Sehr alte Beispiele für

Kunst oder Philosophie sind bereits in sich vollendet und können von nichts in der

nachfolgenden Geschichte übertroffen werden.”58

Es lohnt sich, in diesem Punkt bei Hegel nachzufragen, denn dieser war es in erster Linie 59,

der die Leitidee verfochten hat,

“daß – indem der Fortgang der Entwickelung weiteres Bestimmen und dies ein Vertiefen und Erfassen der Idee in sich selbst ist – somit die späteste, jüngste, neueste

Philosophie die entwickeltste, reichste und tiefste ist”.60

40

Page 41: Wimmer Einletung

Den Gang dieser Entwicklung, einer einzigen Entwicklung, aufzuzeigen ist in Hegels Sicht

die Aufgabe von Philosophiehistorie, um die sich seine Vorlesung über die Geschichte der

Philosophie dreht. Hegels Rekonstruktion der Geschichte der Philosophie stellt damit den

paradigmatischen Fall einer entwicklungsgeschichtlichen Darstellung dar. Sie steht in einem

engen Zusammenhang mit seinen Ausführungen über den Gesamtverlauf der

Menschheitsgeschichte61 und soll hier nur in Bezug auf ihren Begriff der Entwicklung

vorgestellt werden. Dieser Begriff ist so zentral, dass Hegel in der Einleitung zur Vorlesung

über die Geschichte der Philosophie bereits klarstellt:

“Wir können das, worauf es hier ankommt, in die einzige Bestimmung der ‚Entwickelung‘ zusammenfassen. Wenn uns diese deutlich wird, so wird alles übrige sich von selbst ergeben und folgen.” (S. 26)

Damit sind aber nicht irgendwelche Ereignisse oder Ereignisfolgen angesprochen, sondern:

“Es geht vernünftig zu. Mit diesem Glauben an den Weltgeist müssen wir an die Geschichte

und insbesondere an die Geschichte der Philosophie gehen.” (S. 26)

Naturgeschichte, Kulturgeschichte, die Völker und Sprachen, die Bemühungen der

einzelnen Menschen, alles läuft nach Hegel darauf hinaus, in allem treibt der Geist “sein

Werk im Großen, er hat Nationen und Individuen genug zu dispensieren” (S. 49). Es berührt

ihn nicht, wenn bei einzelnen Völkern Stillstand eintritt, “wie dies etwa bei den Chinesen z.B.

der Fall zu sein scheint” (S. 10) oder wenn, wie bei den Indern, in einzelnen Fällen “ihre

Philosophie […] identisch mit ihrer Religion” (S. 119) bleibt, der “eine von Anfang an

festbestimmte Wahrheit als Inhalt zugestanden” (S. 17)62 wird. Im Ganzen schreitet der Geist,

nachdem zuerst “im Abendlande” die “Freiheit des Selbstbewusstseins” (S. 96) aufgegangen

ist, in einer “Reihe von Entwickelungen” voran,

“die nicht als gerade Linie, ins abstrakte Unendliche hinaus, sondern als ein Kreis, als Rückkehr in sich selbst vorgestellt werden muß. Dieser Kreis hat zur Peripherie eine große Menge von Kreisen; das Ganze ist eine große sich in sich zurückbeugende Folge von Entwickelungen” (S. 33).

Entwicklung, wie Hegel sie versteht, ist ein Höherschreiten durch Entgegensetzungen,

nicht nur eine Abfolge verschiedener Stadien. Was sich entwickelt, bleibt mit sich identisch

und verändert sich doch in grundlegender Weise.

Fassen wir die hegelsche Sichtweise zusammen, so lässt sich dies so ausdrücken: Es gibt

eine einzige Entwicklung des philosophischen Denkens in der Menschheitsgeschichte, die im

Wesentlichen abgelaufen und darum in ihren Grundzügen, Ergebnissen und Perspektiven

erkennbar ist; was nicht in diesen Entwicklungsgang passt und ihn befördert, ist wertlos, und

was ihn behindert, ist objektiv falsch.

41

Page 42: Wimmer Einletung

Knüpfen wir bei dem zuletzt aus Hegels Vorlesung zitierten, sehr eindrucksvollen Bild von

einem Kreis aus vielen Kreisen an, so können wir uns fragen, ob darin nicht die Möglichkeit

liegt, auch neue “Kreise” zu entdecken. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist, dass

unter diesen peripheren “Kreisen” bei Hegel weder Denkleistungen von Chinesen noch von

Indern vorkommen, was ja durchaus denkbar wäre – ein solcher kleiner, peripherer Kreis

könnte etwa mit dem Namen “Sextus Empiricus”, ein anderer mit “Nagarjuna”, ein dritter mit

“Wang Chong” angesprochen sein. Damit wären drei Erkenntnistheoretiker angesprochen, die

in ihren jeweiligen Kontexten eine Form der Skepsis entwickelt haben und es wäre wohl

lehrreich, nach Übereinstimmungen und Differenzen zwischen ihnen zu fragen.63 Hegel selbst

schließt diese Möglichkeit bekanntlich aber aus.64

Was es bedeuten könnte, auch in der Philosophiehistorie wie in der Entwicklungstheorie

im Allgemeinen “Entwicklungen nur noch in der Mehrzahl zu betrachten”65, diese aufeinander

zu beziehen und füreinander fruchtbar zu machen, ist eine Frage, die für Philosophie in

globaler Sicht von großem Interesse sein könnte.

(3) Kanonische Darstellung

Von einer kanonischen Darstellungsweise kann in der Philosophiehistorie dann gesprochen

werden, wenn entweder gemäß traditionell überkommenen Grundbegriffen, Themen oder

Philosophemen kategorisiert wird (z.B. nach solchen Begriffen wie ‚Leib–Seele‘,

‚Unendlichkeit‘, ‚Substanz‘ etc.) oder aber durch eine Zusammenstellung autoritativer

DenkerInnen, von denen Aussagen über derartige Begriffe überliefert sind.

Der früheste Versuch dieser Art ist wohl der des Hippias von Elis, eines griechischen

Sophisten aus der Zeit vor Platon und Sokrates, der eine doxographische, nach kanonischen

Themen geordnete Sammlung von Gedanken griechischer und nichtgriechischer Denkerinnen

und Denker verfasst haben soll, die jedoch “wohl schon im 3. Jahrhundert [v.AZ., FW] in

Vergessenheit geraten”66 ist. Für den philologischen Rekonstrukteur des Werks steht nicht nur

außer Frage, dass Hippias neben griechischen auch “barbarische” Denker in sein Werk

aufgenommen hat, sondern ebenso, dass er “über berühmte Frauen aus Mythos und

Geschichte eine Fülle von Beispielen und Zitaten beibringen konnte.”67 Dies alles habe

Hippias auf kanonische Weise unter Themen oder Lemmata geordnet, wovon einige

rekonstruierbar seien. Es handelt sich etwa um das Wasser; den Eros; “alles fließt”; das

Eine; “am Anfang war alles zusammen”; “es gibt keine Falschaussage”; Erde und Wasser;

Liebe und Streit; die Einteilung der Seinsprinzipien usw. So habe Hippias eine Linie von der

Lehre des Thales über den Ursprung aus dem Wasser zu der “in der ägyptischen Mythologie

weitverbreiteten Lehre vom Urgewässer Nun”68 gezogen. Platon und Aristoteles hätten das

42

Page 43: Wimmer Einletung

Werk sicher gekannt und wahrscheinlich ausgewertet (im Kratylos, Theaitetos, Timaios; in

der Metaphysik).

Eine lexikalische Behandlung der Geschichte der Philosophie kann als der klarste Fall

einer kanonischen Darstellung angesehen werden. Die Lemmata eines Lexikons bringen den

jeweiligen Kanon – der Begriffe wie der relevanten Autoritäten – zum Ausdruck. Ein

Vergleich beliebiger Wörterbücher der Philosophie, oder auch verschiedener Auflagen ein

und desselben Wörterbuchs zeigt sehr schnell, dass es in der Philosophie nicht einen Kanon

an Themen, Begriffen oder klassischen Texten und deren VerfasserInnen gibt, sondern viele,

die jeweils einen bestimmten Begriff von Philosophie zeigen und unter einander konkurrieren.

Wie bei jeder Darstellungsform, ist auch hier zu fragen, worin im Hinblick auf eine globale

Orientierung von Philosophiehistorie mögliche Verbesserungen zu sehen sind. Ein wichtiger

Gesichtspunkt scheint mir darin zu liegen, Entsprechungen von Begriffen aus möglichst allen

relevanten Philosophietraditionen gleichrangig zu behandeln. Dies scheint bisher eher in

nicht-okzidentalen Sprachen gängige Praxis zu sein. Wenn beispielsweise ein japanisches

Wörterbuch der Philosophie in ein und demselben Artikel “Seele” neben “psyche”, “anima”,

aber auch “atman” und entsprechende sino-japanische Termini bespricht69, so ist das in

okzidentalen Lexika kaum üblich: “atman” und ähnliche Begriffe aus nichtokzidentalen

Traditionen finden sich in der Regel gesondert angeführt. Es wird eine Aufgabe der

zukünftigen Zusammenarbeit von Philosophierenden aus vielen Traditionen sein, auch hier

eine weniger abgrenzende Sichtweise zu verfolgen.

(4) Systematische Darstellung

Eine systematische Darstellungsweise von Geschichte der Philosophie kann

chronologischen oder entwicklungsgeschichtlichen Fragestellungen ebenso zweitrangige

Bedeutung beimessen, wie sie auch traditionelle Kanones vernachlässigen kann. Sie

rekonstruiert oder konstruiert mehr, als dass sie referiert. Ihre Gliederung und ihre

Begriffssprache orientiert sich nach dem systematisch begründeten Stellenwert von

Problemen, den sie aus einer gegenwärtigen Position oder Diskussion bezieht; dabei wird sie,

was in der Darstellung entsprechend einem Kanon nicht geschehen muss, systematische

Zusammenhänge, aber auch Argumentationslücken nachweisen, die aus dem Wortlaut des

vorhandenen Materials nicht hervorgehen. Darin liegt zugleich die (heuristische) Stärke und

die (historisch-erklärende) Schwäche dieser Orientierung, die wir im 20. Jh. am deutlichsten

in der analytischen Philosophie ausgeprägt finden, in der “die Vergangenheit der Philosophie

als etwas Zeitloses, Nicht-Geschichtliches” und somit ohne “historisches Bewusstsein”70

behandelt wurde. Leitend war und ist dabei die Idee, dass ein Wissen über die Geschichte von

Philosophie stets und ausschließlich daran gemessen werden muss, ob und wie weit es für die

43

Page 44: Wimmer Einletung

Klärung oder Lösung systematischer Fragestellungen (in der Logik, Ontologie,

Erkenntnistheorie usw.) von Belang ist.71

(C) Funktion

(1) Funktion der Heuristik

Die am häufigsten ausdrücklich genannte Funktion von Philosophiehistorie ist sicherlich

die heuristische. Diese Funktion wird jedenfalls von Bibliographie und Problemgeschichte,

aber auch von der Doxographie angestrebt. Zwei Wege werden gewöhnlich genannt, auf

denen Philosophiehistorie für die Philosophie selbst von heuristischem Wert sein könne: Als

Mittel zur Vermeidung von bereits einmal begangenen Irrtümern könne die Kenntnis der

Geschichte dienen und zweitens als Vorrat von Hypothesen, die bei der Findung von neuen

Lösungsmöglichkeiten hilfreich sein können. Die entwicklungsmäßige und die systematische

Darstellungsform scheinen zur Erfüllung dieser Funktion am besten geeignet.

In der europäischen Geschichte der Philosophiehistorie ist diese heuristische Funktion

wohl zuerst von Francis Bacon formuliert worden, der Vorschläge machte, um die

biographischen und doxographischen Nachrichten aus der Vergangenheit der Philosophie

systematisch zu behandeln. Mit Ersterem kann er als Begründer einer

institutionsgeschichtlichen Methode angesehen werden.72 Der zweitgenannte Vorschlag73 hat

klar heuristische Intention: Sind erst einmal alle “Meinungen” zu irgendwelchen

Gegenständen möglichst komplett und übersichtlich gesammelt, so können sie nicht nur

untereinander verglichen, sondern auch auf ihre Wahrscheinlichkeit hin überprüft und die

unwahrscheinlichen oder falschen ausgeschieden werden.

Die Frage, auf Grund derer wir uns in heuristischer Absicht mit Geschichte der Philosophie

befassen, kann heute immer noch lauten: Was kann für die Lösung philosophischer Probleme

aus der Kenntnis früheren Denkens gewonnen werden, was auf andere Weise nicht gewonnen

werden kann? Dieselbe Frage ist abgewandelt noch weiter an Philosophiehistorie in

interkultureller Orientierung zu stellen und lautet dann: Was ist philosophisch aus der

Kenntnis nichtokzidentalen Denkens zu lernen, was aus der okzidentalen Denkgeschichte

nicht zu lernen ist?

(2) Funktion der Traditionsbildung

Weniger explizit, in der Praxis aber nicht zu übersehen ist eine zweite Funktion: Zum

Zweck der Etablierung oder Erhaltung von weltanschaulichen und schulphilosophischen

Traditionen wird die Geschichte des philosophischen Denkens beschrieben, wobei vor allem

die Typen der Doxographie, der Biographie und Problemgeschichte in Frage kommen; die

44

Page 45: Wimmer Einletung

geeignetste Darstellungsform dafür scheint eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung zu

sein.

In einer interkulturellen Orientierung sind philosophiehistorische Arbeiten bezüglich dieser

Funktion immer noch eher zur Etablierung und – teilweise – Entdeckung von philosophisch

relevanten Traditionen außerhalb der klassischen okzidentalen Bildungskanones notwendig.

(3) Funktion der Wissenschaftsplanung

Ebenfalls häufiger, als dies ausdrücklich gesagt wird, sind philosophiehistorisch fundierte

Orientierungen im Bereich der Wissenschaftsplanung und Wissenschaftspolitik (im Gebiet

der Philosophie) wirksam. Dies kann sowohl die Begründung von Lehrplänen als auch von

Forschungsprojekten, die Berufungspolitik von Universitäten oder auch die Verlagspolitik

betreffen. Für solche Zwecke wird hauptsächlich die Problemgeschichte, aber auch die

Institutionengeschichte zu verwenden sein.

(4) Funktion der Wertorientierung

Die Funktion der Wertorientierung geht über den rein wissenschaftlichen und

akademischen Bereich des Philosophierens hinaus. Diese Funktion wird überall dort verfolgt,

wo man aus dem Bildungsgut der philosophischen Traditionen Anregungen für eine

moralisch-weltanschauliche Orientierung angesichts lebenspraktischer Probleme zu gewinnen

sucht. Die angemessenste Form, diese Funktion zu erfüllen, scheint mir in unserer Zeit eine

entwicklungsmäßig betriebene Institutionengeschichte zu sein, wobei eine vergleichende

Aufarbeitung der philosophischen Traditionen verschiedener Kulturen das Ziel ist.

Chronologischen und kanonischen oder systematischen Untersuchungen kommt unter dieser

Zielsetzung ebenfalls große Bedeutung zu.

In Debatten über interkulturelle Philosophie spielt diese Funktion eine nicht zu

übersehende Rolle, weswegen ich etwas ausführlicher darauf eingehen will. Ausdrücklich

betonen Plott und seine Mitautoren einer Global History of Philosophy, dass sie mit ihrem

Projekt einer kulturvergleichenden Darstellung der Geschichte der Philosophie auch den

Zweck verfolgen, Gemeinsamkeiten im Denken wieder bewusst zu machen, wodurch sie

hoffen, zu einem Abbau von Feindseligkeiten und Vorurteilen beitragen zu können.74 Fornet-

Betancourt schreibt von einem notwendigen “Konversionsprozeß”, um “eine neue Dynamik

der universalen Totalisierung mit dem anderen zu gründen, die auf der gegenseitigen

Anerkennung, Respekt und Solidarität basiert”.75 Holenstein antwortet auf die skeptische

Frage, warum “wir uns eigentlich überhaupt verständigen” wollen, mit dem Hinweis, die

“Besinnung auf zivile Umgangsformen in der Auseinandersetzung mit uns fremden Kulturen

45

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bedarf keiner moralischen Motivation. Schieres Eigeninteresse genügt.”76 Dieses allerdings ist

in seiner Sicht nur in einer aufmerksamen und selbstkritischen Aufgeschlossenheit zu

verfolgen. Mall wiederum spricht von einem “Ethos der Interkulturalität und Interreligiosität”,

das “einer Zukunftsgestaltung dient, die falschen und oft gefährlichen Traditionalismen und

Exklusivismen vermeidet und die eine Wahrheit, auf welchem Gebiet auch immer, niemandes

Besitz allein sein lässt”.77 Panikkar stellt fest: “Was für ein kulturelles Zusammenleben

erforderlich ist, ist der dialogische Dialog, dessen Bedingung, unter anderen, die gegenseitige

Achtung ist”, was “ein Minimum an gegenseitiger Kenntnis” erfordert, “die nicht ohne

Sympathie und Liebe möglich ist”.78 Und Paul nennt als das “oberste Ziel komparativer

Philosophie […] die Förderung interkulturellen Verstehens. So banal dies klingt, so richtig

bleibt es.”79

Man kann solche Gesichtspunkte der Orientierung und damit Aufgaben interkultureller

Philosophie auch im Bereich der Philosophiehistorie in folgender Weise80 formulieren:

Interkulturelle Philosophie soll implizite, kulturell bedingte Denkweisen analysieren.

Interkulturelle Philosophie soll Stereotype der Selbst- und Fremdwahrnehmung

kritisieren.

Interkulturelle Philosophie soll Offenheit und Verständnis befördern.

Interkulturelle Philosophie soll in gegenseitiger Aufklärung bestehen.

Interkulturelle Philosophie kann und soll Humanität und Frieden fördern.81

Daraus ergeben sich entsprechende Aufgabestellungen auch für die Historiographie der

Philosophie in interkultureller Orientierung.

Anmerkungen

1Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung. 10. Aufl. Wien: Europa-Verlag, 2001. (Erstdruck: engl. 1946)

2Autorenkollektiv (Hg.) Geschichte der Philosophie. Bd. 1-6. Berlin: VEB Dt. Verl. d. Wiss., 1959-1967. (Erstdruck: russ. 1957-1965) Darstellung Kants in Bd. 2.

3Hinrich Knittermeyer: "Kant." In Das Deutsche in der deutschen Philosophie, Hg.: Theodor Haering. Stuttgart: Kohlhammer, 1942. (Erstdruck: 1941)

4Frederick Copleston: A History of Philosophy. Bd. 1-9. New York: Doubleday, 1985. (Erstdruck: 1946-1974) Darstellung Kants in Bd. 6.

5Charles Batteux: Geschichte der Meynungen der Philosophen von den ersten Grundursachen der Dinge. Leipzig: Dyckische Buchhandlung, 1773, S. 316. (Erstdruck: frz. 1769 )

6Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hg.: Rolf Nölle: BoD - Books on Demand, 2008, S. 9. (Erstdruck: 1831) Vorschau Internet

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7Vgl. z.B.: Amaury de Riencourt: Die Seele Chinas. Frankfurt/M.: S. Fischer, 1962. S. 107: „Das Wesen des chinesischen Geistes erschließt sich in seiner synthetischen und konkreten, beinahe weiblichen Erfassung der Realität und dem gewollten Ausweichen vor jeder analytischen Form des Überlegens ...“ 122: „Alles in allem zeichnen sich die Chinesen durch einen völligen Mangel an Logik aus ...“

8z. B. schreiben Joachim Schondorff und Werner Schingitz (Hg.): Philosophisches Wörterbuch. 10., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1943, zu Edmund Husserl, dass bei diesem „ein typisch jüdischer Rationalismus Triumphe feiert und jede gewachsene Wirklichkeit entwertet.“ (S. 248)

9Autorenkollektiv: Abriß der Geschichte der Philosophie. Berlin: Deutscher Verlag der Wissensch., 1966.: 12.

10Autorenkollektiv 1966: 14.

11Ralf Moritz, Hiltrud Rüstau und Gerd-Rüdiger Hoffmann (Hg.): Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde? Berlin: Akademie-Verlag, 1988.

12Vgl. Randall Collins: The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change. Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard Univ. Pr., 2000. (Erstdruck: 1998): 1–10.

13Vgl. Collins (2000: 3): ”The history of philosophy is to a considerable extent the history of groups. Nothing abstract is meant here – nothing but groups of friends, discussion partners, close-knit circles that often have the characteristics of social movements.”

14Collins (2000: 19): ”Intellectuals are people who produce decontextualized ideas. These ideas are meant to be true or significant apart from any locality, and apart from anyone concretely putting them into practice.”

15Marx schreibt 1841 in der Vorrede zu seiner Dissertation: “Die Philosophie verheimlicht es nicht. Das Bekenntnis des Prometheus: haplo logo tous pantas echthairo theous [schlicht gesagt, ich hasse alle die Götter] ist ihr eigenes Bekenntnis, ihr eigener Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen. Es soll keiner neben ihm sein.” (Marx-Engels Werke, Ergänzungsband 1: 262)

16Hanns-Gregor Nissing, „Wer ist der Mensch?“ Ein erster Blick auf Denken und Werk Karol Wojtyłas/Papst Johannes Pauls II. Zur Einführung, in: Karol Wojtyła, Wer ist der Mensch? Skizzen zur Anthropologie, München 2011, LVII

17Die Proportionen gotischer Kathedralen bringen ebenso Ideen über den Kosmos und die Gesellschaft zum Ausdruck (vgl. Otto von Simson: Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972. ) wie dies in der Anlage von Dörfern und der Gestaltung von Häusern in vielen historischen Gesellschaften der Fall ist.

18In manchen Gesellschaften, wie der südindischen, sind Tänze ein bevorzugtes Medium der Vermittlung von Weltbild und Mythos.

19Heinz Kimmerle: "Die interkulturelle Dimension im Dialog zwischen afrikanischen und westlichen Philosophien." In Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Hg.: Manfred Brocker und Heino Heinrich Nau, S. 90-110. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997. : 94.

20Heinz Kimmerle: Interkulturelle Philosophie zur Einführung. Hamburg: Junius, 2002. : 112.

21Vgl. Niels Weidtmann: "Kann Schriftlichkeit fehlen? Afrikanische Weisheitslehren im interkulturellen Dialog." In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 1, Nr. 1 (1998) S. 73-84. hier: 74): “Hampâté Bâs vielzitierter Ausspruch, daß mit jedem Alten, der in Afrika stirbt, eine ganze Bibliothek verbrenne, deutet an, welch riesigen Wissensschatz die mündlichen Überlieferungen Afrikas bergen.” Im selben Sinn spricht Chatterjee (1988: 75) “von der rasch abnehmenden Klasse der ‚pundits’ […] sie sind lebende Bibliotheken des Denkens der Vergangenheit.”

22Johann Christian August Grohmann: Über den Begriff der Geschichte der Philosophie. Wittenberg: Kühne, 1797. 64: “Geschichte der Philosophie ist die systematische Darstellung der nothwendigen vorhandenen Systeme der Philosophie, als der Wissenschaft der a priori im Vorstellungsvermögen bestimmten Erkenntniss nach Begriffen, in wie fern die Systeme auf ihre ersten im Vorstellungsvermögen bestimmten Gründe zurückgeführt werden können und nach ihnen möglich sind.”

23Bertrand Russell: A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz. Cambridge: Cambridge Univ. Pr., 2013. (Erstdruck: 1900), S. 4: „The principal premisses of Leibniz's philosophy appear to me to be five. Of these some were by him definitely laid down, while others were so fundamental that he was scarcely conscious of them.“

24Collins (2000: 60) spricht von “up-and-down reputations” großer Philosophen und erwähnt hier Sokrates, aber auch Mencius ”who was not elevated to the official Confucian canon until 40 generations later by the Neo-Confucians around 1050–1200 C.E.”.

25Vgl. den Weltatlas solcher Wanderungen: Elmar Holenstein: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens. Zürich: Ammann Verlag, 2004.

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26Historische Ereignisse im Allgemeinen können in dem minimalen Sinn “folgenreich” sein, dass es materielle Zeugnisse für sie gibt. Alle Ereignisse, die in der Geschichtswissenschaft beschrieben werden, müssen diese Bedingung erfüllen, und dies trifft auch für die Philosophiehistorie zu. Die Umkehrung trifft in keiner historischen Disziplin zu: Nicht alle Ereignisse, die Spuren hinterlassen haben, werden beschrieben.In einem zweiten Sinn können historische Ereignisse “folgenreich” sein, wenn ohne ihr Stattfinden spätere Ereignisse nicht (so) stattgefunden hätten. Nicht alle Ereignisse, die von einer historischen Disziplin beschrieben werden, erfüllen diese Bedingung.In einem dritten Sinn “folgenreich” sind historische Ereignisse, wenn ohne ihr Stattfinden nach der Auffassung von HistorikerInnen spätere oder gegenwärtige Ereignisse nicht (so) stattgefunden hätten, wie dies der Fall ist (Vgl. Franz Martin Wimmer: Verstehen, Beschreiben, Erklären. Zur Problematik geschichtlicher Ereignisse. Freiburg i.Br.: Alber, 1978. : 78ff.).

27John C. Plott, James M. Dolin und Paul D. Mays: "Das Periodisierungsproblem." In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 2, Nr. 3 (1999) S. 33-51. hier : 39. Vgl. Heinz Kimmerle: "Ein neues Modell des Entwicklungsdenkens. Die Bedeutung interkultureller Dialoge besonders auf den Gebieten der Philosophie und der Kunst für die Entwicklungstheorie." In Symbolisches Flanieren. Kulturphilosophische Streifzüge. Festschrift für Heinz Paetzold zum 60., Hg.: Roger Behrens, Kai Kresse und Ronnie M. Peplow, S. 252-67. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2001. 260: “Die Periodisierungsversuche der Geschichten der Kunst und der Philosophie, die von der Perspektive westlicher Geschichtsschreibung ausgehen, sind allgemein bekannt. Für die Bedürfnisse einer interkulturell orientierten Philosophie können sie nicht mehr als selbstverständliche Ausgangspunkte angenommen werden.”

28Geiss 1979: 25.

29Schiller (1974: 14) spricht zwar von der Zeitgeschichtsschreibung in deutscher, englischer und französischer Tradition, aber die Aussage ist mutatis mutandis wohl für jeden Ansatz historischer Periodisierung zutreffend: ”Besides the unfortunate fact that research in the three great cultural languages uses such widely divergent watersheds, the actual suitability of these divisions is also debatable, as is always the case when periods are to be established.”

301788/89 erscheint die Litterargeschichte des Ursprungs und Fortganges der Philosophie, wie auch aller philosophischen Sekten und Systemen von Franz Xaver Gmeiner, der im ersten Band die Philosophie vor Christi Geburt, im zweiten Band diejenige nach Christi Geburt beschreibt, wenngleich er in den übrigen Unterteilungen das damals bereits gängige Schema von Antike, Mittelalter und Neuzeit verfolgt. Albert Schwegler (1861: 4) stellt fest: “(Der) Stoff theilt sich naturgemäß in die zwei Hälften: alte (griechisch-römische) und neuere Philosophie.”

31So kennt auch Hegel insgesamt drei Perioden: “Erste Periode: von Thales’ Zeiten (ungefähr 600 v. Chr.) bis zur neuplatonischen Philosophie […] ein Zeitraum von um 1000 Jahre […]Zweite Periode: ist die des Mittelalters […] vornehmlich fällt diese Philosophie innerhalb der christlichen Kirche; ein Zeitraum von etwa über 1000 Jahre.Dritte Periode: die Philosophie der neuen Zeit, für sich hervorgetreten erst seit der Zeit des Dreißigjährigen Krieges mit Baco, Jacob Böhme und Cartesius […] ein Zeitraum von ein paar Jahrhunderten, diese Philosophie ist so noch etwas Neues.” (Hegel 1982, I: 105f.)

32Imanuel Geiss: Epochen. Die universale Dimension der Weltgeschichte. Vol. , (Geschichte griffbereit Bd. 6). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1979. : 25) nennt diese Einteilung “längst nur noch formal” und hält dagegen “die Betonung des ökonomischen Faktors” aus dem marxistischen Periodisierungsansatz für “brauchbar. […] Sie kann helfen, zu einer Periodisierung zu gelangen, die ideologische Einseitigkeiten und Verzerrungen zu vermeiden sucht […] und formal gewordene Kategorien mit sinnvollem Inhalt anfüllt […].”

33Vgl. John C. Plott, James M. Dolin, Paul D. Mays 1979. Ich zitiere hier nach der deutschen Übersetzung (Plott et al. 1999, FN 31) mit einfacher Nennung der Seitenzahl, bzw. ohne Seitenzahl, wenn die entsprechende Passage in der Druckversion nicht enthalten ist. Die gedruckte Version der Übersetzung ist ein Auszug; den gesamten Text der Übersetzung finden Sie hier.Vgl. im Internet zu den Weiterführungen von Plotts Ansatz den Artikel The Plott Project: http://www.sckans.edu/~gray/plott95.html

34Jaspers setzt die “Achsenzeit” etwa zwischen 800 und 200 v.AZ in Ost-, Süd- und Westasien an und kennzeichnet sie u.a. in folgender Weise: “Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. […]Es erwuchsen geistige Kämpfe mit den Versuchen, den andern zu überzeugen durch Mitteilung von Gedanken, Gründen, Erfahrungen. […]In diesem Chaos wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben. In jedem Sinne wurde der Schritt ins Universale getan.Durch diesen Prozeß wurden die bis dahin unbewußt geltenden Anschauungen, Sitten und Zustände der Prüfung unterworfen, in Frage gestellt, aufgelöst. Alles geriet in einen Strudel. Soweit die überlieferte Substanz noch lebendig und wirklich war, wurde sie in ihren Erscheinungen erhellt und damit verwandelt.Zum erstenmal gab es Philosophen. Menschen wagten es, als Einzelne sich auf sich selbst zu stellen. Einsiedler und wandernde Denker in China, Asketen in Indien, Philosophen in Griechenland, Propheten in Israel gehören zusammen, so sehr sie in Glauben, Gehalten, innerer Verfassung voneinander unterschieden sind.” (Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Frankfurt/M.: Fischer, 1956. (Erstdruck: 1949): 15f.)

35Plotts Werk war bei seinem Tod bis Band V gediehen, der “The Period of Scholasticism” abschließt, es enthält daher keine Darstellung der Philosophie nach der Zeit der europäischen Entdeckungen mehr. Die synchronologischen Tafeln, die als Beilage zum ersten Band erschienen sind, verzeichnen erst ab 1500 Namen von Personen, die außerhalb der Alten Welt wirken, und zwar in den Regionen: “Iberia and Latin America” (ab St. Teresa de Ávila, 1515–1582) bzw. “Anglo-America” (ab William Penn, 1644–1718).Afrika wird in diesen Tafeln fast ausschließlich im Zusammenhang mit der islamischen Philosophie repräsentiert; es gibt beispielsweise keine Erwähnung äthiopischer Philosophen (wie Zarayaqob) oder von neueren Philosophen Afrikas (Ausnahme: Nkrumah; hingegen fehlt z.B. Senghor).

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36Ein entsprechender Entwurf ist im Detail ausgeführt in: Wimmer 1990b

37Panikkar 1998: 15f

38Besser als der Ausdruck “homöomorph”, der seiner griechischen Bedeutung nach “Gleich-förmigkeit” zum Ausdruck bringt (was hier offenbar nicht der Fall ist), scheint das ebenfalls von Panikkar verwendete lateinische Wort “funktional” die Sache zu kennzeichnen, um die es geht.

39Panikkar 1998: 16

40Panikkar 1998: 17

41Holenstein 1999. Vgl. z.B. die “Zweckrationalitätsregel”: “Wenn man logische und teleologische Rationalität, die wörtliche Bedeutung eines Satzes und den mit ihm verfolgten Zweck nicht auseinanderzuhalten vermag, erscheinen viele Äusserungen als irrational”; die “Nos-quoque-” wie die “Vos-quoque-Regel”, wobei Letztere besagt: “Stösst man in fremden Kulturen auf Vergehen gegen die Menschlichkeit, die man nicht unwidersprochen zur Kenntnis zu nehmen bereit ist, dann ist es nicht allein wahrscheinlich, dass man vergleichbar anstössige Vorkommnisse in der eigenen Kultur findet.”

42Paul 2000: 404. Das Zitat gibt die Nr. XI seiner “methodischen Regeln philosophischer Komparatistik” wieder, wobei er in den folgenden ähnlich wie Holenstein formuliert. Vgl. S. 407 die Regeln XII und XIII.

43Fornet-Betancourt 2002: 15.

44Mall 2001: 224.

45Vgl. die Darstellung bei Braun 1990

46Christoph August Heumann: Acta philosophorum, das ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica. Erstes bis sechstes Stück. Halle: Rengerische Buchhandlung, 1715-16.

47Vgl. Oruka 1988 und 1990, Graneß und Kresse 1997.

48Vgl. die Darstellung bei Braun (1990), wo gezeigt wird, wie die Annahme einer auch zeitlich regelmäßigen Meister-Schüler-Abfolge sogar so weit wirksam war, dass man “Lücken”, für die keine Belege vorhanden waren, aufgrund hypothetischer Annahmen theoretisch schloss.

49Vgl. Collins 2000.

50Vgl. Madhava Acharya 1996.

51Vgl. Pargiter 1972, Rade 1999.

52Vgl. Beasley and Pulleyblank 1961.

53Vgl. Collins 2000: 5f..

54Collins 2000: 81.

55Vgl. Collins 2000: 1.

56Heumann 1715: I.

57Tiedemann 1793: VIII.

58Kimmerle 2001: 259.

59Hegel ist unter seinen Zeitgenossen allerdings nicht der Einzige, der diese Idee vertritt. Vgl. etwa Bachmann 1811: 73. In der Nachfolge Hegels sind hier vor allem Marx und Engels zu nennen, die nicht einen abgehobenen “Geist”, wohl aber einen einzigen Entwicklungsgang von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen annehmen.Braun (1990: 17–21) diskutiert die Frage, wie weit auch Aristoteles schon eine “Entwicklung” in der Geschichte des Denkens gesehen hat und gelangt zu der Einschätzung: “Die Lektüre der Vergangenheit, wie sie sich im ersten Buch der Metaphysik abzeichnet, wird […] mit anderen Mitteln und in einem modifizierten Kontext von Hegel wieder aufgenommen werden […]”, und: “Der Begriff der Philosophiegeschichte als einer Geschichte philosophischer Probleme und daher als fortschreitende Entwicklung findet sich so bereits bei Aristoteles skizziert.” (Ebd: 20f.)

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60Hegel 1982: 45; im Folgenden werden Zitate aus diesen Vorlesungen in diesem Abschnitt nur mit den Seitenzahlen im Text angegeben.

61Vgl. Hegel 1992.

62Dies ist für Hegel der entscheidende Unterschied zwischen Religion und Philosophie, der auch für deren jeweilige historische Erforschung den Ausschlag gibt. An der hier zitierten Stelle führt er ihn allerdings nur mit Bezug auf das Christentum explizit an: “Der Inhalt des Christentums aber, der die Wahrheit ist, ist als solche unverändert geblieben und hat darum keine oder so gut als keine Geschichte weiter. Bei der Religion fällt daher der berührte Widerstreit nach der Grundbestimmung, wonach sie Christentum ist, hinweg.” (Hegel 1982: 17)

63Derartige Vergleiche und Fragen finden sich immer wieder bei Plott in den verschiedenen Bänden. Für die hier Genannten vgl. Plott 1979, Bd. 2.

64Hegel (1982: 111): “[…] die sogenannte orientalische Philosophie […] tritt nicht in den Körper und Bereich unserer Darstellung ein; sie ist nur ein Vorläufiges, von dem wir nur sprechen, um davon Rechenschaft zu geben, warum wir uns nicht weitläufiger damit beschäftigen und in welchem Verhältnisse es zum Gedanken, zur wahrhaften Philosophie steht.”

65Kimmerle 2001: 266.

66Patzer 1986: 75. Allerdings gesteht Patzer (ebd.: 24) zu: “Daß Hippias auch nichtgriechische Literatur herangezogen hat, pflegt man in der Forschung nicht recht ernst zu nehmen.”

67Patzer 1986: 104.

68Patzer 1986: 41.

69Vgl. Tetsugaku Jiten. Tokyo 1979.

70Fischer und Wimmer 1986: 171.

71Eine aufschlussreiche Episode dazu findet sich im Bericht über ein Plato-Seminar, das in den 1990er-Jahren von einem Altphilologen und einem analytisch orientierten Philosophen gemeinsam durchgeführt wurde. “Wir bemühen uns, die Voraussetzungen zu verstehen, die den, um es überspitzt zu sagen, Unsinn plausibel machen. Die Philosophen fragen sich immer: Ist das denn so nun richtig?”, berichtet der Altphilologe. Und der Philosoph gibt auf die Frage, ob man denn Plato überhaupt noch lesen müsse, ob man ihn brauche, wenn man Philosophie studiert, die Antwort: “Irgendwie ist es eben doch interessant […]. Man entdeckt ja immer etwas Neues. Aber brauchen? Eigentlich natürlich nicht.” (Vgl. Luyken 1994: 19)

72Vgl. Braun 1990: 64: „Man solle … die Natur von Landschaften und Völkern aufzeigen, die Eignung oder Nichteignung bestimmter Charaktere für die Philosophie, jene Ereignisse, die für die Wissenschaf günstig bzw. ungünstig waren, Institutionen und Menschen.“

73Vgl. Braun 1990: 63f.: „man möge die Meinungen sammeln und koordinieren, und zwar so, daß sie sich gegenseitig klären. Sie werden dann die Beliebigleit ind die Fremdheit verlieren, die sie aufweisen, sobald man sie trennt und isoliert.“

74Vgl. das Vorwort zu Plott (1963, Bd. 1: X): Dieses Werk sei geschrieben ”for students who are concerned with problems of peace and international, intercultural, and interfaith relations, and especially students who have begun to realize that there are no short-cut solutions for the planetary crises […] and are therefore willing to work more thoroughly towards the One World goal which have become not just an ideal but a necessity.”

75Fornet-Betancourt 1997: 119.

76Holenstein 1999: 30.

77Mall 2003: 11.

78Panikkar 1998: 37.

79Paul 2000: 401.

80Vgl. Wimmer 1998: 12.

81Vgl. Plott (1984, Bd. IV: 458): ”Just as more knowledge of Ibn Sina’s broad polymath interests as a major humanist philosopher in the highest sense, including his correspondence with al-Biruni, should serve to minimize tension in India beween Muslims and Hindus, so now in Southwest Asia more awareness of his Jewish influence might ease tension between Muslims and Jews in the Holy Land.”

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Das folgende Literaturverzeichnis führt allgemeine Literatur an, einige Angaben spezifischer Literatur zu den Themen der einzelnen Vorlesungen werden jeweils nach dem Text der entsprechenden Abschnitte bzw. in den Anmerkungen gegeben.

Literatur zur Geschichte und Theorie der Philosophiehistorie (Auswahl)

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