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7.5.12 Die Türkei, Europa und die Philosophie – Versuch einer Näherung

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Franz Martin Wimmer: Die Türkei, Europa und die Philosophie - Versuch einer Näherung Vortrag gehalten am 7.Mai 2012 am Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK), organisiert von der Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philsophie (WiGiP)

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Die Türkei, Europa und die Philosophie – Versuch einer Näherung

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Gibt es historisch ein Interesse der europäischen bzw. deutschen Philosophiehistorie an philosophischen Diskursen in osmanischer oder türkischer Sprache? Wenn nicht: Wie sehen neuzeitliche deutsche Philosophen osmanische bzw. türkische Verhältnisse generell?

Gibt es Besonderheiten in osmanischen oder türkischen Darstellungen westlicher Philosophie im Vergleich zu okzidentalen Darstellungen und/oder zu Darstellungen aus anderen Regionen? Spielt dieses Thema insbesondere in Diskussionen im Zusammenhang mit der Entwicklung der Europäischen Union eine Rolle?

Welches Bild von Philosophie vermitteln neuere Studien über die Geschichte des Denkens im osmanischen Reich bzw. in türkischer Sprache? Wie wird darin der Status dieser Regionalgeschichte der Weltphilosophie im Verhältnis zu anderen Regionalgeschichten, insbesondere zur europäischen, gesehen?

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Türkische Philosophie in europäischen Darstellungen

Türkische oder osmanische Philosophie kommt in allgemeinen deutschsprachigen Darstellungen von Philosophie und von deren Geschichte im 20. Jahrhundert nicht einmal als mögliches Thema vor.

Das war nicht immer so.

Aus dem Schweigen der Philosophiehistorie über das osmanische Reich und die Türkei muss nicht gefolgert werden, dass darüber nichts Wissenswertes zu berichten wäre.

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Türkische Philosophie in Darstellungen aus Deutschland I

Johann Heinrich Samuel Formey: Histoire abrégée de la philosophie (1760)

Le vaste Empire des Turcs paroit n'avoir encore aucune position à ramener la lumiere dans ce grand nombre de contrées qui lui sont soumises, & où elle brilloit autrefois de l'éclat le plus vif. Le génie même de leur Religion s'y oppose; & la forme du Gouvernement n'y est pas plus favorable. Cependant, après la révolution dont la Russie a donné l'exemple dans ce siècle, il ne faut désespérer de rien.

Samuel Schelwig (1643-1715)

ein im damaligen Polen lebender protestantischer Theologe, beschreibt auf Anregung von Jan Sobieski die Auffassungen türkischer Philosophen, um sie einen nach dem andern zu widerlegen und so den Sieg des Königs vor Wien auch auf diesem Feld zu sichern. (Küçük 2009)

Adam Ebert (Pseudonym Aulus Apronius 1656-1735)

Stützt sich auf Barthelemy d'Herbelot, behandelt jedoch v.a. islamisch-arabische Philosophen. (Küçük 2009)

Tenor: (Fatalistische) Religion und (despotische) Regierungsform hindern freies Denken.

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Türkische Philosophie in Darstellungen aus Deutschland II

Jakob Philipp Fallmerayer: Fragmente aus dem Orient (1845, 1877)

In seiner Beschreibung der Verhältnisse in „Trabezon“ (1845) spricht F. gelegentlich von „türkischen Philosophen - denn auch in der Türkei findet man Leute, die denken und räsonieren ...“; aber wenig Inhaltliches.

Eine interessante Episode findet sich zu Saloniki, wo F. von einem „levantinischen, in Stambul gebornen und des Deutschen gänzlich unkundigen Wechsler“ nach dem Unterschied von Schellings und Hegels System gefragt wird und einem „Kadi aus Janina … der sich mit Metaphysik beschäftigte und wissen wollte, ob man im Lande der Nemtsche auch Ilmi Mantek (Logik) und überhaupt Ilmi Hikmet (Philosophie) treibe“, Auskunft gibt;

ihm habe er Abschnitte aus einem Buch des Hegelianers Michelet übersetzt, wobei der Satz „So hat der Geist, als denkend, die Natur im Rücken und entwindet sich derselben. Das ist aber nur eine einseitige und schiefe Stellung des Geistes zur Natur" dem Kadi besonders wenig eingeleuchtet habe, was F. sarkastisch kommentiert:

„... saget selbst, ob ein Reich bestehen könne, wo man nicht einmal weiss, dass der Geist als denkend die Natur im Rücken habe?“

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Türken und Völkerbild I

„Völkertafel“ (1725)

„Philosophie“ kommt nur einmal – als „Welt weis“ vor und wird als Leistung der Wissenschaft den Engländern zugeschrieben

Beim „Türck oder Griech“ steht an dieser Stelle: „ein falscher Politicus“, beim Deutschen „weltl. Recht“

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Türken und Völkerbild II

„Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798) Etwa 70 Jahre nach der Völkertafel (1798) veröffentlicht Kant seine "Anthropologie in pragmatischer

Hinsicht" und skizziert seinerseits Eigenschaften bemerkenswerter Völker. Es sind allerdings weniger: Franzosen, Engländer, Spanier, Italiener, Deutsche. Im Vergleich zur Völkertafel werden von Kant die Schweden und Ungarn nicht genannt, zu Polen, Russen und Türken merkt Kant an:

„Da Rußland das noch nicht ist, was zu einem bestimmten Begriff der natürlichen Anlagen, welche sich zu entwickeln bereit wird, Polen aber es nicht mehr ist, die Nationalen der europäischen Türkei aber das nie gewesen sind noch sein werden, was zur Aneignung eines bestimmten Volkscharakters erforderlich ist: so kann die Zeichnung derselben hier füglich übergangen werden.“

Er macht allerdings eine interessante Anmerkung zu dieser Stelle, wie Europa etwa von außen gesehen werden könnte – von einem „reisenden Türken“ (der in den handschriftlichen Entwürfen noch er selbst, Kant ist):

„Die Türken, welche das christliche Europa Frankestan nennen, wenn sie auf Reisen gingen, um Menschen und ihren Volkscharakter kennen zu lernen (welches kein Volk außer dem europäischen thut und die Eingeschränktheit aller übrigen an Geist beweiset), würden die Eintheilung desselben, nach dem Fehlerhaften in ihrem Charakter gezeichnet, vielleicht auf folgende Art machen: 1. Das Modenland (Frankreich). - 2. Das Land der Launen (England). - 3. Ahnenland (Spanien). - 4. Prachtland (Italien). - 5. Das Titelland (Deutschland sammt Dänmark und Schweden, als germanischen Völkern). - 6. Herrenland (Polen), wo ein jeder Staatsbürger Herr, keiner dieser Herren aber außer dem, der nicht Staatsbürger ist, Unterthan sein will.“

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Türken und Völkerbild III

„Orient und Okzident - sechs Gedanken“ (2011)

Der deutsche Philosophieprofessor Harald Seubert hat 2011 "sechs Gedanken" über das Verhältnis von "Orient und Okzident" veröffentlicht und den Text mit zwei Bildern illustriert, wobei das erste eine "Aktion" darstellt, den Einzug Mehmets II. in Konstantinopel, nach einem französischen Bild des 19. Jahrhunderts

Das zweite Bild stellt die „Reaktion“ dar: den Degen des Don Juan bei der Seeschlacht von Lepanto

(Seit den Perserkriegen im 5. Jh. v.Chr.] „zieht sich wie ein roter Faden die Differenz zwischen Gleichgewicht, Gliederung, Vernunftfähigkeit hier, Übermaß, Despotie, blinder Verehrung dort durch die europäische Geschichte. Die Leitdifferenz wurde zunächst als Hiat zwischen Hellenen und Barbaren formuliert, dann als Gegensatz zwischen christlichem Abendland und herandrängenden Osmanen.“

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Osmanische Philosophie in europäischen Darstellungen?

Philosophisch ist das Reich der Osmanen für europäische Autoren so gut wie ganz eine terra incognita geblieben und auch abgesehen von dieser speziellen Frage sind Aussagen von neuzeitlichen europäischen Philosophen merkwürdig undifferenziert:

die „Türken“ bei Leibniz, Voltaire, Rousseau, Herder, Fichte, Hegel, sind ein Typus, keine Individuen;

sie sind fanatisch und fatalistisch, wollüstig und grausam, dann aber auch wieder tolerant und feinsinnig.

Wenn von ihren Denkleistungen die Rede ist, so kommt außer eigentümlichen Argumenten für

einen Schicksalsglauben oder für die Wahrheit ihrer Religion nichts zur Sprache. Außer großen Verwüstungen haben sie für die Europäer zweifach Positives bewirkt, indem sie

die griechischen Philosophen nach Italien vertrieben und indem sie durch ihre ständigen Angriffe die Europäer gezwungen haben, sich militärisch zu entwickeln (Herder).

Ist also über das Bild westlicher – oder deutscher – Philosophen, das sie sich von einer möglichen Philosophie im osmanischen Reich gemacht haben mögen, vielleicht weiter nichts zu sagen, als dass sich auf Grund von Schweigsamkeit wenig darüber ausmachen lässt?

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Philosophie in der Türkei in europäischen Darstellungen?

Auch die neue, nunmehr dem eigenen Anspruch nach tatsächlich türkische Republik scheint kein besonderes Interesse europäischer Philosophen zu rechtfertigen.

Dies auch dann nicht, als nach der Universitätsreform von 1933 unter Atatürk und später Inönü zunächst Emigranten aus Nazideutschland als Professoren kamen und nach 1945, teilweise wieder als Emigranten, aus Nachkriegsdeutschland. Diese Migration ist als Maßnahme innerhalb der Modernisierungspolitik zu sehen.

Sie blieben unterschiedlich lang, wirkten teilweise durchaus schulbildend, begründeten Institute und Forschungstraditionen, die bis heute wirksam sind. So wurde deutsche und später auch angelsächsische Philosophie im intellektuellen Leben der Türkei einflussreich, nachdem bereits seit der Zeit der Tanzimat-Reformen französische Philosophie eine große Rolle gespielt hatte.

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Westliche Philosophie in türkischen Darstellungen?

Allgemeine Darstellungen der Philosophie in türkischer Sprache, ein entsprechendes universitäres Curriculum oder Ähnliches in der heutigen Türkei, worin von europäischer Philosophie überhaupt nicht die Rede wäre, dürfte es nicht geben und nie gegeben haben.

Umgekehrt gibt es selbstverständlich Curricula der Philosophie, in denen so gut wie ausschließlich okzidentale Philosophie vorgesehen ist.

An vielen Universitäten werden neben westlicher Philosophie auch Kurse in arabisch-islamischer bzw. osmanischer Philosophie angeboten. Im Großen und Ganzen dürfte jedoch die weitgehende Gleichsetzung von felsefe mit okzidentaler Philosophie durchaus selbstverständlich sein.

Darin unterscheidet sich die Situation in der Türkei kaum von derjenigen im deutschen Sprachraum bzw. in den meisten Regionen der Welt.

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Westliche Philosophie in türkischen Darstellungen?

„Sagen wir es offen: Die europäische Zivilisation ist eine christliche Zivilisation.“ (Hilmi Yavuz, 2009)

• Und wenn wir jeden Koran verbrennen, wenn wir jede Moschee abreißen, in der Sicht des Europäers sind wir Osmanen. Osmanisch, also islamisch. Ein finsterer, gefährlicher, feindlicher Haufen. (Cemil Meriç, 1974)

• Die heutige europäische Kultur beruht gänzlich auf dem mittelalterlichen Christentum. Dieses wiederum geht auf die reichskirchliche Konstruktion von Nicaea (Iznit) zurück, wobei alle frühchristlichen "Evangelien" bis auf die vier paulinisch redigierten eliminiert wurden. (Tuncar Tuğcu, 2000)

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Osmanische Philosophie in türkischen Darstellungen?

Beispiel I:

Bayram Kaya: Türk Felsefe Tarihi. 2005

Thema: eine Geschichte des philosophischen Denkens von SprecherInnen einer Turksprache.

Perioden: Die erste Periode umfasst den Zeitraum von ca 1000 vAZ bis um 1000 AZ. Die zweite, klassische Phase, in der islamische, jüdische und antik-griechische Philosophie eine große Rolle spielen, endet mit dem 16. Jahrhundert. Seitdem ist, in der dritten Periode, der Einfluss der westlichen Philosophie zunehmend von Bedeutung.

Grundtendenz: materialistisches Denken (vier Elemente, Yunus Emre, Ibn Khaldun) ist durchgehend.

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Osmanische Philosophie in türkischen Darstellungen?

Beispiel II:

Remzi Demir: Philosophia Ottomanica: Osmanlı İmparatorluğu Döneminde Türk Felsefesi I-III. 2005-07

Thema: Geschichte des philosophischen Denkens von türkischen Denkern im Osmanischen Reich.

Perioden: „Alte (eski) Philosophie“ bis 15. Jh.; „Epoche des Schwankens“ (Bocalama Çagı) oder „Zwischenepoche“ (Ara Dönem) 16.-17. Jh.; „Neue (yeni) Philosophie“ bis 20. Jh.

Grundtendenzen: Vorherrschend sind in der ersten Periode metaphysische und logische Fragen (falsafa), in der zweiten Fragen der Staatstheorie und Ethik (mit starkem Einfluss von Ibn Khaldun), in der dritten die Aneignung französischer, englischer und deutscher Philosophie.

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Entwurf eines philosophiehistorischen Wunschzettels

Zumindest zu vier Themen würde ich gerne mehr erfahren:

Warum und wie wurde die Ghazzali-Ruschd-Kontroverse auf Anregung von Sultan Mehmet II. neuerlich verhandelt?

Wie hat Ibn Khaldun gewirkt?

Wie hat sich die Tatsache ausgewirkt, dass im Osmanischen Reich kein „Index verbotener Bücher“ existierte und welche anderen Techniken der ideologischen Lenkung gab es?

Wie hat Katip Çelebi „33 Jahre vor Lockes Letter Concerning Toleration“ ein allgemeines Toleranzgebot aus der menschlichen Natur begründet und welche Toleranzformen gibt es im osmanischen Reich?