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Wolfgang Hagen Das Ordale und das Portable - Anmerkungen zu einer Wissenstheorie der Medien 1 Obwohl das Ordale in meinem Vortragstitel zur Sprache kommt, und damit ein uraltes, völlig außer Gebrauch geratenes Wort, lassen Sie mich mit der Frage der Portabilität beginnen und auf diese Weise noch einmal mitten in unser Tagungsthema springen. >>> 2 Mein Thema ist das Handy. Von solchen Geräten, sagt uns die Branche, gibt es seit diesem Jahr 2007 3,9 Milliarden auf der Welt. 200 Millionen Geräte fliegen jährlich auf den Müll. Mindestens 300 bis 2 500 Millionen werden dafür neu wieder angeschafft. >>> 3 Innerhalb von nur 15 Jahren hat das Mobilphon eine Durchdringungstiefe von 91 Prozent aller Haushalte in den entwickelten Industrienationen erreicht. Das Handy hat damit die Zahl der über Jahrzehnte gewachsenen Festnetzanschlüsse in gut zehn Jahren weit übertroffen. Vortrag, “Portable Media - Schreibszenen in Bewegung zwischen Peripatetik und 1 Mobiltelefon”, Institut für deutsche Sprache und Literatur, Universität Dortmund, 24.9.2007 Campaign, Computer Takeback: Facts and Figures on E Waste and Recycling, http://www.e- 2 takeback.org/docs%20open/Toolkit_Legislators/tools/ Facts%20and%20Figures%20on%20E%20Waste%20and%20Recycling.pdf Retr 2007/Campaign 2007/3203CampaignFactsandFiguresonEWa, 2

Wolfgang Hagen Das Ordale und das Portable - Anmerkungen ... · offen zugängliche Architektur der GSM-Schaltungslogik, vergleichbar der offenen Architektur des IBM- PC von 1981,

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Wolfgang Hagen

Das Ordale und das Portable - Anmerkungen zu einer Wissenstheorie der

Medien 1

Obwohl das Ordale in meinem Vortragstitel zur Sprache kommt, und damit ein

uraltes, völlig außer Gebrauch geratenes Wort, lassen Sie mich mit der Frage der

Portabilität beginnen und auf diese Weise noch einmal mitten in unser Tagungsthema

springen.

>>> 2

Mein Thema ist das

Handy. Von solchen

Geräten, sagt uns die

Branche, gibt es seit

diesem Jahr 2007 3,9

Milliarden auf der Welt.

200 Millionen Geräte

fliegen jährlich auf den

Müll. Mindestens 300 bis 2

500 Millionen werden

dafür neu wieder

angeschafft.

>>> 3

Innerhalb von nur 15 Jahren hat das Mobilphon eine

Durchdringungstiefe von 91 Prozent aller Haushalte

in den entwickelten Industrienationen erreicht. Das

Handy hat damit die Zahl der über Jahrzehnte

gewachsenen Festnetzanschlüsse in gut zehn

Jahren weit übertroffen.

Vortrag, “Portable Media - Schreibszenen in Bewegung zwischen Peripatetik und 1

Mobiltelefon”, Institut für deutsche Sprache und Literatur, Universität Dortmund, 24.9.2007

Campaign, Computer Takeback: Facts and Figures on E Waste and Recycling, http://www.e-2

takeback.org/docs%20open/Toolkit_Legislators/tools/Facts%20and%20Figures%20on%20E%20Waste%20and%20Recycling.pdf Retr 2007/Campaign 2007/3203CampaignFactsandFiguresonEWa, 2

! 2

>>> 4

In den entwickelten Industrienationen haben

nämlich nur in 51 Prozent der Haushalte, also 40

Prozent weniger, Festnetztelefon. Internet haben

immerhin fast schon 60 Prozent der Haushalte.

Was das Handy betrifft, so liegen die Italiener mit

1,3 Geräten pro Einwohner international an der

Spitze. Aber auch in Deutschland sind seit diesem

Jahr mehr Handies in Betrieb als es Einwohner

gibt, was also auch hier den Trend zum Zweithandy markiert. Die USA liegen diesmal

abgeschlagen mit einer Durchdringungstiefe von 75 Prozent der Haushalte auf den

hinteren Plätzen. Aber auch hier gibt es zweistellige Wachstumsziffern pro Jahr.

Kurzum: Wir befinden uns – immer noch oder gerade eben wieder - mitten in einem

bemerkenswerten Medienboom. Solche Phasen – das wissen wir Medienforscher

wie die Börsianer – sind mit falschen Erwartungen, mit Übertreibung und

Übersteigerung, mit Phantasmagorien und Irrungen nur so gepflastert. Vielleicht ist

ein Teil des Booms also in dieser Hinsicht durch sich selbst zu erklären.

>>> 5

Am Maßstab seiner

Ausbreitungsgeschwindigkeit ist das Mobilphon

das erfolgreichste technische

Kommunikationsmedium, das die

Mediengeschichte bislang hervorgebracht hat.

Das gilt selbst für die Zahlen des afrikanischen

Kontinents, der ansonsten rettungslos

abgehängt erscheint.

>>> 6

Ich spreche über ein völlig neuartiges Medium der Kommunikation, das

nämlich um zu kommunizieren auch dann kommuniziert, wenn es nicht

kommuniziert. Die Definition eines Handies wird am besten durch seine

amerikanische Bezeichnung ausgedrückt, die weder auf Ordalität, Portabilität oder

Mobilität anspielt, sondern auf Zellularität. Mobilphone sind dadurch definiert, dass

sie als Teil eines komplexen Zellensystems fungieren und funktionieren. Wir sollten

! 3

also ab jetzt genau unterscheiden zwischen dem Zell-Phon im Unterschied zum Tele-

fon.

Insofern erweist sich auch hier die Devise als nicht ganz falsch,

Mediengeschichte als eine Geschichte des Wissens und nicht als

eine der hermeneutischen Phänomenologie zu begreifen. Hätte

ich mehr Zeit, würde ich Ihnen schildern können, der Kontingenz

welchen Wissens Alexander Graham Bell 1875 sein Telefon

verdankt. Jedenfalls ging dieser Entdeckung kein formalisiertes

Wissen voraus, das ein technisch physikalisches genannt werden

könnte, sondern vielmehr eine manische Experimentation im

Kontext eines Phantasmas der Elektrizität, verbunden mit der oralistischen

Besessenheit, Taubstumme zum Sprechen zu bringen. Das ordale Moment dieser

Entdeckung besteht übrigens darin, dass sie nur in Boston erfolgen konnte. Ebenso

wie übrigens Heinrich Hertz Entdeckung des Elektromagnetismus nur in Karlsruhe

erfolgen konnte, weil sein großer Hörsaal, in dem er die Experimente gemacht hat,

nur aus Holz und Holzbalken gebaut war. An keiner anderen Stätte hätten die Wellen

gefunden werden können. Die Entdeckung zweier wichtiger Medien der Moderne, die

des Telefons und die des Radios, waren kontingente, auch ganz an topografische

Bedingungen geknüpft. Bells orginale Entdeckung ist bis heute niemals repliziert

worden, und auch die Hertzschen Experimente sind nahezu unportierbar an andere

örtliche Gegebenheiten.

>>> 7

Das Zellphon hingegen war und ist die

Umsetzung formalisierten und damit weltweit

portierten Wissens, nämlich Ergebnis einiger

wohl definierter Memoranden und Patente aus

den Bell Labs der USA, die an das junge Computerwissen der späten 1940er Jahre

und die mathematisch kalkulierten Netztopologien der frühen 1970er Jahre

anschlossen. Dieses ab 1975 verfügbare Wissen setzte 1982 die europäische

Postkonferenz CEPT in den Stand, eine „Groupe Spécial Mobile“ zu initiieren, die

tatsächlich fast zehn Jahre später mit einem einheitlichen europäischen

Mobilfunkstandard herauskam. Nach einigem Geknirsche haben sich die USA 1991

in etwa angeschlossen.

! 4

Standardisierungen sind für die Entwicklung der Medien entscheidende

Bedingungen. Dass sie gar weltweit gelingen, ist allerdings eine ebenso große

Ausnahmen und Unwahrscheinlichkeit wie die Luhmannsche Vermutung, dass

Kommunikation überhaupt gelingt. Es sind oft genug desaströse, unendlich lang

gezogene Prozesse des Scheitern. Man denke nur an die Wellenkonferenzen im

VHF, UHF, UKW oder Mittelwellenbereich, die seit Jahren nun schon die

Medienentwicklung des digitalen europäischen Radios massiv behindern. 3

>>> 8

Die zellulare Architektur des GSM-Systems

basiert, nach einem Vorschlag der Bell Lab

Kriegsingenieure Douglas Ring und W. Rae

Young von 1947, auf hexagonalen Zellen, die

zusammengefügt eine lückenlos gepacktes

Wabenmuster ergeben. Ein Hexagon wird

elektromagnetisch durch eine Antenne

abgebildet, die in ihren 360 Grad Radius ist drei

120 Grad breite Sende-Beams aufteilt. Durch diese Richtwirkung erhält das Hexagon

seine drei geometrischen Ausbuchtungen. Schon drei gepackte Hexagone ergeben,

Der europäische GSM-Standard dagegen wurde aus Gründen, die einer eigenen 3

Wirtschafts- und Kulturstudie wert wären, in den 1980er Jahren ein internationaler. Suchte man nach

einem gelungenen symbolischen Interaktionsakt der Globalisierung, dann wäre die technoökonomische Policy des GSM-Standards ein gutes Beispiel. Ab 1987 existierte weitweit eine offen zugängliche Architektur der GSM-Schaltungslogik, vergleichbar der offenen Architektur des IBM-

PC von 1981, der ja in gewisser Weise eine ähnliches Erfolgsmodell geworden ist, allerdings vor allem für das Kartell aus Intel und für Microsoft, also für das Wintel-Duopol, für das George Bush, gleich zu Beginn seiner Amtszeit, fast einhundert Jahre amerikanischer Anti-Trust-Politik über den Haufen

geworfen hat.

Was die europäische GSM-Geschichte betrifft, so spielt hier politisch sicherlich noch der offensive Antikommunismus der Reagon’sche Europapolitik hinein, der ja auch im Falle des Euro zu

einem der selteneren Fälle europäischer Korporativität geführt hat. GSM ist insofern eine Art medientechnischer Eurodividende und als solche Grundlage für 670 Mobilfunknetze in rund 200 Ländern und Gebieten der Welt; inklusive der später hinzugekommenen Erweiterungen des Standards

wie GPRS und EDGE für schnellere Datenübertragung. Man schätzt, dass es weltweit etwa 2000 Zellphon-Typen gibt, die auf GSM zugeschnitten sind. Nicht zuletzt diese großen Typenkonkurrenz in

einem globalen Markt eines einheitlichen Standards hat zu der frappanten Leistungsfähigkeit des heutigen Hybrid-Zellphons geführt, das zugleich standardmäßig mindestens auch eine Kamera und einen MP3-Player enthält.

! 5

wie man sieht, im Inneren die virtuell sechseckige Kernzelle eines zellularen

Telefonnetzes; Kernzelle deshalb, weil ein zellulares Telefon idealiter von drei gleich

weit postierten Sendemasten umgeben ist. Real ist es immer einem am nächsten, in

den es dann auch einloggt.

>>> 9

Ring und Young schlugen schon 1947 vor,

dass es zur Sprachübertragung getaktete

Pulse geben solle, die als spezielle

Zeitfenster mehreren zellulären Apparaten

dediziert werden könnten. Das Digitale,

hier also die Pulscode-Modulation, ist

nichts, das wissensgeschichtlich an den

Computer gekoppelt wäre, von denen es

1947 ja nur eine Handvoll Prototypen gab.

Digitale Pulscode-Modulation wurde schon seit den 1920er Jahren in der

Nachrichtentechnik praktiziert. Mathematisch geht sie auf eine Funktionsalgebra des

frühen 19ten Jahrhunderts zurück, nämlich auf Joseph Fourier. Insofern klingt es

1947 für niemand überraschend, dass Sprachsignale pulscodiert ausgestrahlt

werden sollen.

>>> 10

Die innovative Idee aber war, den Pulscode in Zeitschlitze zu verpacken, damit

auf ein und der derselben Frequenz mehrere Telefone Sprachsignale decodieren

können. Damit dies wiederum gelingt, darf ein Zellphon niemals stumm sein, sondern

muss in regelmäßigen Abständen im hexagonalen Wabennetz seinen eigenen Ort

bestimmen und Quittungen für seine empfangenen Botschaften abgeben. Bereits in

diesem Papier von 1947 wurde erörtert, dass das Zellphon irgendwie fähig sein

müsse, die Waben zu wechseln, also ohne Unterbruch Sender- und Empfangskanäle

zu wechseln.

>>> 11

Das genaue Verfahren dafür, „Handover“ genannt, wurde allerdings erst 1972

vom Bell Lab Ingenieur Amos Joel entwickelt. Sein Patent klärt im Rückgriff auf

einige Tricks der Kryptographie die Frage, wie die getakteten Pulse von einer Zelle

zur anderen herübergereicht werden könnten.

! 6

>>> 12

Alles das resümiert ein Patent von 1975 aus der Feder des Motorola

Entwicklungschefs Martin Cooper im Ergebnis eines funktionsfähigen digitalen

Zellphons namens Dyna-Tac, das immerhin noch zwei Pfund schwer war und eine

maximale Sprechzeit von 35 Minuten erlaubte.

>>> 13

1975 existiert das Wissen über die Bauweise des

Zellphons und Motorola baut das erste. Das

Prinzip verlangt, dass ein Zellularphon entweder

nicht existiert oder sich ununterbrochen selbst

lokalisiert und jede seiner Aktionen aktiv quittiert.

Stumm ist ein Telefon, wenns nicht läutet, stumm

ist ein Zellphon nie. Es ist stets lokalisierbar, weil

es sich selbst lokalisiert. Um 1975 diese

Blaupause schon umzusetzen, war es allerdings

schlicht ein Paar Zyklen des Moore’sche Gesetzes zu früh.

>>> 14 Nichts, was seit 1965 im Bereich der Computerhardware geschieht,

läuft unabhängig vom Moore’schen Gesetz. Das Moore’sche Gesetz stammt von

! 7

Gordon Moore, dem Gründer der Firma Intel, einer der

sogenannten „Traitorous Eight“, einer jener acht

Ingenieure also, die 1957 ihren großen Lehrmeister,

den autoritären Transistorentdecker William Shockley,

verließen, um ihre eigenen Firmen zu gründen. Moore

sagte im Jahr 1965 voraus, dass sich die Zahl der

Transistoren auf einem gegebenen Schaltkreis alle

zwei Jahre zu gleichen Preisen verdoppeln würden.

>>> 15

Moore’s Law besagt, dass die Zahl der Elemente und die Geschwindigkeit

ihrer Logiken auf einer identischen

Siliziumfläche sich alle zwei Jahre verdoppeln

und zwar zum gleichen Preis. Man kann eine

solche exponentielle Kurve tatsächlich finden,

und zwar sogar im Bereich der

Festplattentechnologie, die mit den Verfahren

der Chip-Entwicklung und ihrer

Miniaturisierung durch Photo-Maskierung und

metallische Bedampfung nichts zu tun hat.

Das Moore’sche Verdopplungsgesetz steckt zwar, seit den 1960er Jahren, als

Trendformel hinter nahezu jeder Technologie der Computerminiaturisierung, aber es

ist kein technizistischer Determinismus. Es ist, wie sein Entdecker Moore freimütig

zugibt, ein Glaubensgesetz, eine technoökonomische „self fullfilling prophecy“, wie

Moore sagt, an die nur die ganze Branche glauben muss, damit sie es selbst gebiert.

>>> 16

Nur weil sich – im Kontext eines hoch expansiven

Marktes – alle Marktteilnehmer an die Zwei-Jahres-

Roadmap halten, beschreibt das Moore’sche Gesetz

tatsächlich seit fast 4 Jahrzehnten die exponentiellen

Entwicklungszyklen der Hardware-Branche ziemlich gut.

Das ist ein frappanter Befund und damit der Zeitpunkt,

wo es in diesem Vortrag angezeigt erscheint, das erste

Mal den Begriff des „Ordalen“ einzuführen. Das Muster des Moore’schen

! 8

Verdoppelungsgesetzes ist ordal deshalb, weil es nur existiert, wenn alle, die diesem

Muster unterworfen sind, davon profitieren, dass sie an dieses Muster glauben und

alles dafür tun, sich daran zu halten.

>>> 17

Ordale Beweise wie die zahlreichen Wasser-

und Feuerproben haben genau diese Struktur,

dass man besser an sie glaubt, um nicht das

Risiko einzugehen, selbst von ihnen und ihrer

Kontingenz betroffen zu werden. Das

Moore’sche Gesetz gilt ja auch für die zahllosen

gescheiterten Chip-Industrie-Firmen. Solange

es andere gibt, die überleben, beweist Ihr

Scheitern nur seine Wahrheit; so wie das Zucken des Toten den Mörder offenbarte,

wenn der Verdächtige beim ordalen Bahrrecht den Leichnam berühren musste. Oder

wie der Campi, dieser lederbeschuhte Fußkämpfer aus der Zeit Karls des Großen,

der für den Angeklagten mit seinen Füßen andere Verdächtige zu Tode trat. Und

wenn der Campi, getragen vom Gejohle der Menge, gewann, dann wussten alle von

der Unschuld des Angeklagten. Dieser ordale Campi ist unser heutiger Champion,

wortgeschichtlich gesehen.

>>> 18

Zwischen 1975 und 2005 ist das Grundprinzip von GSM entstanden. Seither

ist eine wichtige und so telefontypische Kulturtechnik dem Untergang geweiht: Die

Vermittlung. >>> 19 Vermittlung ist eine systemprägende Eigenschaft des Telefon,

solange es eben ein Telefon und kein Zellphon ist. Das Telefon, daran hat Avital

Ronell so eindrücklich erinnert, ist ein Ruf, der aus dem Nichts kommt und in das

Nichts geht. Damit nicht Nichts zustande kommt, muss vermittelt werden.

Vermittlungslos bleibt nur die Nacht. a) „Die Nacht aus der [Telefongespräche]“

kommen, schreibt Benjamin, ist die „gleiche, die jeder wahren Neugeburt

vorhergeht“ . b) „Es gibt nichts, das mehr Orakel sein könnte als das Telefon“ 4 5

Benjamin, Walter: Medienästhetische Schriften / Walter Benjamin. Mit einem Nachw. von 4

Detlev Schöttker, Frankfurt am Main : Suhrkamp 2002/Benjamin 2002/3152BenjaminMedienaesthetischeSchrift, 403.

Cocteau, Jean / Fraigneau, André: Gespräche über den Film, Esslingen : Bechtle 1953, 5

3226, Cocteau 1953, 122

! 9

bemerkt Cocteau in der 1950er Jahren, in der Hochzeit der internationalen

Festnetzanschlüsse. Telefonieren ist die Anrufung des Anderen und darin die

Erzeugung einer Ambivalenz, die sich nur durch Vermittlung prozedieren und nur

durch Distanzierung auflösen lässt. Denn wer ein Telefon abnimmt, der kann

bekanntlich nicht Nein sagen. Dieses berühmte „Ja Hallo?“ und weitere auf pure

Bestätigung und Beschließung drängende Telefongrammatiken sind nur die

Rückseite der Tatsache, dass wir, als wir an den Apparat gingen, weil es geklingelt

hat, nicht hätten gemeint sein können. Das Telefonieren ist eine exklusive

Verbindung, die Leitung ist besetzt. Zur Ordnung des Telefonierens gehörte deshalb

über Jahrzehnte: Fasse Dich kurz. „Telefonier nicht wieder so lang“ dröhnt es durchs

Haus.

c) In einer nur durch Vermittlung und Exklusion auflösbaren Oszillation

fundamentaler Ambiguitäten birgt der Ruf des Telefons, der Call, der Anruf,

gleichsam immer auch ein transzendentales Versprechen, gerade weil er konstituiert

ist dadurch, dass weder ich noch der andere gemeint ist, und beide genau darüber

sich konstituieren können. Alles Weitere dazu ist bei Avital Ronell nachzulesen, „The

Telephone Book“, 1989, das Beste und Genaueste, was je übers Telefon gesagt

wurde, verfasst eben genau am Ende der Ära des analogen Telefons und an der

Schwelle der Einführung der zellularen Phonie. Ein weiteren Flug der Eule der

Minerva in der Dämmerung. So wie Roland Barthes mit der „Dunklen Kammer“ 1980

noch einmal, ein letztes Mal festhält, was die analoge Fotografie ist und die digitale

nie mehr gewesen sein wird, so hält Ronell in ihrem Telefonbuch noch einmal fest,

was ein Telefon war und ein Zellularphon nie mehr sein wird.

>>> 20 Denn in der GSM-Zellularität aber gibt es keine Vermittlung, sondern

nur ein Attachment oder Detachment. Attachment und Detachment laufen auf

Kanälen, der parallel zu allem anderen mitlaufen. Eröffnet wird das Attachment durch

das bekannten Ritual, die eigene SIM-Karte zu aktivieren. Ist das Zellphon dann

attached, wird es, mit all seinen Bewegungen im sogenannten „Home Location

Register“ geführt, bis es wieder detached wird. Ich will daran erinnern, dass jedes

Zellphone die Feldstärken der Nachbarzellen, genauer gesagt also die Feldstärken

der zwei jeweils benachbarten Antennen im Hexagonal permanent misst und stets

auf die beste wechselt. Ein GSM-Provider kann also ein Zellphon mit einer

Dreipunkt-Ortung fast auf den Punkt lokalisieren.

! 10

Womit ein weiterer, wichtiger Punkt der ungewöhnlichen

Kommunikationsstruktur des Zellphones angesprochen ist, nämlich das

Überwachtwerden. „Home Location Register“ und Strasenkarte übereinandergelegt

ergibt: Es gab einen Gang in den Supermarkt am frühen Morgen, dann in die

Videothek, dann an den Arbeitsplatz, später ins Fitnesscenter und zu McDonalds, in

die Buchhandlung, ins Ticketcenter und dann in die Schwulenkneipe. Das Handy

immer empfangsbereit in der Tasche.

Wenn irgendwo, so kommt deshalb in der zellularen Telefonie der

McLuhan’sche Satz auf den Begriff, dass das Medium seine Message ist.

>>> 21 Und Dirk Baecker hat erst kürzlich, nach langen Weigerungen, die es

bei ihm gab, sogar in Anschluss an McLuhan, eine sehr treffende Mediendefinition

gefunden, die auch hier gut passt. Baecker sagt: „In einem Medium kommuniziert,

wer sich auf Voraussetzungen verlässt, die im Prozess nicht überprüfbar und im

Ergebnis nicht mehr sichtbar sind“. Das ist zutreffend. Wenn wir ein Zellphon

angeschaltet haben, dann ist Verlass auf dieses Gerät nur zu haben, wenn das

Zellphon eine signifikante Spur markiert. Jeder Verbindung legt weitere Spuren, weil

sie uns in das Spurenprofil der anderen einschreibt. Wir wissen aber nicht, welche

Songs der andere sich gerade herunter geladen oder welche SMS-Pokerrunden sie

gerade durchgespielt hat. Wundern wir uns also nicht, wenn demnächst eine

unauffällig auffällige Werbebotschaft zum Einstieg in eine kostenlose Pokerrunde

aufblinkt.

Ohne irgend einen Bezug zum zellulären Telefonieren hat Dirk Baecker seine

Mediendefinition noch um ein Element erweitert, das hier ebenfalls trägt: „Von

Kommunikation zu Kommunikation“, sagt Baecker, verschafft dieses Sich Verlassen

auf unsichtbare Voraussetzungen dem im Medium Kommunizierenden „eine

Sicherheit, (…)die nur insofern Strukturwert erhält, als sie unabhängig vom Risiko

einer spezifischen Form (…) nicht zu haben ist.“ 6

Was dem Medium Handy einen weltweit so rasanten Erfolg beschert hat, ist

möglicherweise also nicht so sehr die Sicherheit, als vielmehr das Risiko der

zellularen Kommunikation. Anders als beim transzendentalen Anrufmedium Telefon,

enthält das Zellphon seine Bedeutung nämlich nicht so sehr durch die unerfüllbare

Baecker, Dirk: Medienforschung, Stefan Münker und Alexander Roesler (Hrsg.), Was ist ein 6

Medium? Frankfurt am Main: Suhrkamp, im Druck 200?/Baecker 200?/3212BaeckerMedienforschung, 9

! 11

Erwartung einer Stimme, wie sie niemand eindringlicher exponiert hat als Klaus

Kinski am Ende von Cocteaus La Voix Humaine. „Ich habe die Schnur um meinen

Hals gelegt, ich habe deine Stimme um meinen Hals“. Das Zellphon ist kein

transzendentales Anrufmedium, sondern ein symbolisches Verbundmedium.

>>> 22

Ich kann mich hier weitgehend dem

Forschungsstand anschließen, der in

Sachen Handy einige Überraschungen

bereit hält. Zum Beispiel Kenneth

Gergen, sehr treffend mit seinem

Ausdruck „Absent Presence“. Bei

Gergen hat „Absent Presence“ eine

zweifache Bedeutung: Sie meint die

medial vermittelte Anwesenheit trotz

physischer Abwesenheit, und zugleich

die mentale oder emotionale Abwesenheit trotz physischer Anwesenheit. “We are

present but simultaneously rendered absent; we have been erased by an absent

presence” . Gergen argumentiert aus der Richtung von Anthony Giddens, von dem 7

die Beobachtung stammt, „dass in Fällen physischer Ko-Präsenz von Personen ein

Gefühl der Nähe nicht nur durch die Kommunikation selbst, sondern bereits durch die

jederzeitige Möglichkeit hierzu vermittelt wird“ . 8

Die durchaus lebhafte Handyforschung innerhalb der Soziologie ist im übrigen

stark von der Chicagoer Schule des Symbolischen Interaktionismus bestimmt. a) Die

Soziologen Katz, Aakhus und Burkhart sprechen beispielsweise von einem 9

‚Perpetual Contact’ , den eine Handykommunikation bereitstellt und beschreiben 10

damit die seltsame soziale Konstruktion dieses neuen Kommunikationsraums, „der

vom physischen Raum abgekoppelt ist und dennoch oder gerade deswegen die

Poren des Alltags durchdringen kann“. Das ist die Paradoxie der absenten Präsenz

des zellularen Telefon, die jetzt eher als eine zellulare Konnektivität aufgefasst

Gergen 2002, S. 2277

(3210HanekopNeuerFormenMobilKomm.pdf(6))8

Burkart, G.: Mobile Kommunikation: Zur Kulturbedeutung des „Handy“. In: Soziale Welt: 9

Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, 2/2000, S. 209-231.

James E. Katz, Mark Aakhus: Perpetual Contact. Cambridge University Press. 200210

! 12

werden muss. „Denn mobile Kommunikation verlängert – so die These – die

Anwesenheit“ aus „primären sozialen Kontexten (Familie, Freunde, enge Kollegen) in

solche Phasen des Alltags hinein, in denen man sich zwar an getrennten Orten

aufhält, aber dennoch miteinander in Kontakt bleibt.“ Die paradoxe symbolische 11

Interaktion der Handynutzer bestehe also darin, dass sie ihren Freundeskreis immer

mit sich führen, aber diesmal nicht als Poesiealbum, sondern als risikobehaftete

Sicherheit, mit zwar zellular schon verbunden zu sein, aber niemand meldet sich.

b) Das stimmt gut mit den empirischen Beobachtungen zusammen, die der

Erfurter Kommunikationswissenschaftler Joachim Höflich in dem Begriff der

„Reassurance“ zusammengefasst hat. „Daily relationship communications via 12

mobile phone are linked with constant reassurance: "How are you? I'm fine! I love

you! I'm thinking of you!" And when a verbal exchange is not possible, then a text

exchange is made.” Inhaltsleere Rückversicherungen sind eine der 13

Hauptgegenstände der Handykommnikation zumindest unter Jugendlichen,

unterstützt durch die zahllosen Akronyme der SMS-Kommunikation. Unterstützt auch

durch die Serie der Emoticons. Emoticons geben auf eine ironische und damit eben

paradoxale Weise gefühllos Gefühle kund und zeigen genau das durch ihre

Darstellung als piktografische Signaltafeln auch an. Emoticons, die ja auch in Emails

üblich sind, gebe eine weitere Bestätigung für die These, dass Kommunikationen im

Rechnerverbund stets ihre eigene Metakommunikation mitführen, also das Mediale

an ihre mediale Botschaft im McLuhanschen Sinn mit signalisieren.

Inhaltsleere, also bloß symbolische Rückversicherungen von Präsenz im

Modus der Apräsenz bilden also die Rückseite der Protokolle und des zellularen

Berechnetseins, das die Handykommunikation epistemologisch definiert. Der

kontrollierte, in jedem Bit zeit- dun frequenzgenau berechnete Adressraum des

Hanekop, Heidemarie / Wittke, Volker: Die Entwicklung neuer Formen mobiler 11

Kommunikation und Mediennutzung, Svenja Hagenhoff. Göttinger Schriften zur Internetforschung Bd 1, Universitätsverlag Göttingen 2005, 109-137/Hanekop 2005/3210HanekopNeuerFormenMobilKomm, 114.

Höflich, J. R.: An mehreren Orten zugleich: Mobile Kommunikation und soziale 12

Arrangements. In: Joachim R. Höflich (Hrsg): Mobile Kommunikation. Lang, Ffm 39ff.

Höflich, Joachim R: The duality of effects - the mobile phone and relationships, receiver 13

magazine at www.receiver.vodafone.com. Copyright © 2006/Höflich 2006/3226HoeflichThedualityofeffectsMobilPhone, 3

! 13

Zellularhexagons wird umstandlos sozial umgedeutet, nämlich als Raum des

höchsten Vertrauens, als Stätte des Arrangement der größten Intimitäten. Es gibt

bekanntlich kein öffentliches Handytelefonbuch. Eine Zellphon-Nummer bekommt

man nur direkt vom Zellphon-Besitzer und es gibt die ungeschriebene Netiquette,

oder sollte man sagen, „Zelliquette“, dass man Handynummer von vertrauten

Personen nicht ohne ausdrückliche Einwilligung weitergibt. Und weil das so schwer

durchzuhalten ist und Handies ja vor allem auch im Businessbereich die Funktion

haben, den Arbeitstag komplett zu überschreiben zugunsten einer Rund-Um-Die-

Uhr-Erreichbarkeit, gibt es eben das zweite, das dritte Handy, das diesen

hochvertrauten Intimraum wieder herstellt. Die ständigen Akte der symbolischen

Rückversicherung des Nicht-Allein-Seins, aber auch, paradoxerweise, eine radikale

Unmittelbarkeit, plötzlich, aus dem Nichts heraus, einfach jemanden anzurufen zu

müssen, als ein rein affektiver, ein rein konativ gesteuert Akt, produzieren im

Ergebnis diese paradoxalen Erscheinungsformen, die wir alle kennen. Da werden an

den öffentlichsten Orten, in Museen, auf großen Plätzen, die intimsten und

privatesten Konversationen durchgeführt. Man sieht es an der Gesichtsgesten, man

hört es an der Stimmlagen, die in Wortfetzen herüberwehen. Eine völlig neue und

bizarre „Tyrannei der Intimität“ entsteht, bei der allerdings nicht, wie bei Sennet, das

Öffentliche dem Privaten aufgezwungen wird, sondern das Private dem Öffentlichen.

c) Aus der Sicht der Sozialempiriker ermöglicht das Zellphon darüber hinaus

eine Überlagerung der Mikrokoordination des Alltäglichen mit einer

Hyperkoordination des Emotionalen. “Hypercoordination“ bezeichnet hier „die

emotionale, expressive Dimension der jederzeitigen Erreichbarkeit. Hierbei geht es

weniger um den eigentlichen Inhalt der Kommunikation, sondern vielmehr darum,

dass Kommunikation überhaupt stattfindet. Microcoordination hingegen dient der

Feinabstimmung von Alltagsabläufen durch Just-in-time-Absprachen, z. B. zur

Organisation des modernen Familienlebens bei berufstätigen Eltern.“ 14

d) Schließlich kommt, ziemlich überraschend für alle Beteiligten, ein weiterer

McLuhan’sche Befund zur Geltung: Die Extension des Körpers. In Finnland, eine der

dichtesten GSM-Regionen der Welt, heißt das Zellphon „Känni“, Darpber musste

Hanekop, Heidemarie / Wittke, Volker: Die Entwicklung neuer Formen mobiler 14

Kommunikation und Mediennutzung, Svenja Hagenhoff. Göttinger Schriften zur Internetforschung Bd 1, Universitätsverlag Göttingen 2005, 109-137/Hanekop 2005/3210HanekopNeuerFormenMobilKomm, 115.

! 14

man stolpern, denn im Finnischen heisst Känny der Schuh in den man schlüpft. >>>

23

Oksman und Rautiaineen haben bei finnischen Jugendlichen herausgefunden,

dass für sie ihr Känny auch tatsächlich so bedeutend ist wie ihr Fußbekleidung. Bei

uns das Känny Handy, ein Wort, dessen Wurzel doch wohl irgendwie auf die Hand

verweist. Das Zellphon ist Schuh und Hand und wird dabei noch wie eine

formschöne Prothese mit allerlei Accessoires ausgeschmückt.

Ob Schuh oder Hand, in Wahrheit ersetzt das zellulare Telefon als

prothetische Körperglied kein Körperteil und weitet auch keine Gliedmaße aus. Es

war immer schon etwas seltsam und verdinglicht, wenn McLuhan davon sprach, das

Fernsehen extendiere unsere Augen und der Hörfunk unsere Ohren. Das

Zellulartelefon jedenfalls extendiert keine Gließmaße, sondern bringt vielmehr die

Extensionsthese selbst auf den Begriff. Das Handy, das Känny oder das Cellphon

extendieren die Kommunikation selbst, die Kommunikation als apräsenten Präsenz

der Kommunikation.>>> 24

Gerade wegen der Sicherheit, mit der von der Forschung aber auch von den

Handynutzerinnen und –nutzern ein ganzes Füllhorn an sozialer Symbolik über die

Technologien der zellularen Medien gestülpt wird, muss diese Figur auf ihre Risiken

hin befragt werden. Denn die absente Präsenz, die entfernte Nähe, die

Rückversicherung von Selbstständigkeit, die jede faktische Abhängigkeit und ihren

Kontrollverlust darüber in Kauf nimmt, - alles dies sind paradoxale Figuren, die nur

deshalb, weil sich immer wieder in Kommunikation auflösen, zugleich immer wieder

aufladen und in die Spannung halten. Ein Zellphon-Nutzer macht in seinen Calls und

Sends all diese Paradoxien und die in ihnen verborgenen Risiken unsichtbar und

bleibt doch auf sie angewiesen.

>>> 25

Als gleichsam euphemistische Bestätigung des symbolischen Interaktionismus

schreibt Höflich am Ende einer seiner Studien: „A medium, and this includes the

mobile phone, does not do something with people in a deterministic sense, rather

people do something with the medium.” In der Tat. Was das zellulare Telefonieren 15

betrifft, so feiert hier der aus den frühen 1980er kommende „Uses and Gratification

Höflich, Joachim R: The duality of effects - the mobile phone and relationships, receiver 15

magazine at www.receiver.vodafone.com. Copyright © 2006/Höflich 2006/3226HoeflichThedualityofeffectsMobilPhone, 5

! 15

Approach“ der Medienforschung

noch einmal Urständ. Und zwar

sozusagen „in actu“. Denn was

anderes als parasoziale

Interaktionen sind diese

Gefühlsausbruchsanrufe, sind die

Ausschmückungen des Handys, sind

Bestätigungs-SMSe über die pure

Existenz einer gegebenen

Beziehung, sind diese traurigen

Blicke, dass keiner der Liebsten sich gemeldet hat ?

Ein Zentralbegriff der chicagoer Schule, entwickelt lang bevor es Handy gab,

wäre damit jetzt selbst zum Medium geworden. In der Epochenwende der

Medienforschung zu Beginn der 1970er Jahre, weg von der reflexologischen

Stimulus-Response-Analyse hin zu dem bis heute gültigen „Uses and Gratifications“-

Ansatz, war es das Konzept einer „parasozialen Funktion“ der Medien, auf der das

Konstrukt eines aktiven Medienrezipienten aufbaute. Damals hatte man allerdings

nur Radios und Fernseher und konnte nur aus dem Dunklen erschließen, was der

Medienkonsument nun tatsächlich tat.

a) Um so kühner waren die Annahmen von Donald Horten und Richard Wolf

aus dem Jahr 1956, die diesen Begriff der „parasozialen Interaktion“ in die Welt

setzten. Vor einer fiktiven Kulisse fremder Menschen auf dem Fernsehschirm, so

Horten und Wolf, reagiert der Rezipient nicht „orthosozial“ wie in der U-Bahn z.B..

also er glotzt oder lacht nicht andere aus und dergleichen. Medial soziale

Reaktionsweisen seien vielmehr, so die These, selbst noch einmal fiktional, also in

einer Art „Para“ -Zustand. Parallelzustände solcher Art lassen sich durch Fragebögen

gut indizieren und deshalb auch empirisch messen; Beispiel: „Würden Sie gern dabei

sein, einer von denen sein, tauschen, etc.“ Das führt zu hohen Antwortkonsistenzen,

zeigt deutliche Zeichen einer gelungenen Internalisierung auf und das reicht dann

insoweit der empirischen Medienforschung, die an epistemologischen

Tiefenstrukturen in der Tegel nicht interessiert ist.

Umso mehr lohnt ein Blick auf die ursprüngliche Definition bei Horten/Wolf: „In

television, … sometimes the 'actor' - whether he is playing himself or performing in a

fictional role - is seen engaged with others; but often he faces the spectator, uses the

! 16

mode of direct address, talks as if he were conversing personally and privately. The

audience, for its part, responds with something more than mere running observation;

it is, as it were, subtly insinuated into the programme's action …. The more the

performer seems to adjust his performance to the supposed response of the

audience, the more the audience tends to make the response anticipated. This

simulacrum of conversational give and take may be called para-social interaction.“ 16

Insinuation, Justierung, Antizipation und“Simulacrum”, - Horton und Wolf müssen

ganz dezidiert Anleihen machen bei der Beschreibung eines Rituals der

Identifikation, um den Zentralbegriff der

modernen Fernsehforschung zur Geltung

zu bringen. Und sie argumentieren mit

äußerster Vorsicht. Bei dem ganzen

Setting nämlich handelt sich um eine

Insinuation, die stets nachjustiert werden

muss, um einer ihrerseits einer

beweglichen Antizipation des Rezipienten

zu entsprechen. „Parasoziale Interaktion“

bleibt auch in den Augen ihrer Urheber

eine prekäre Sache, ein Simulacrum, das sich selbst auch bei deutlichster

intermedialer Ritualisierung von stummen und unsichtbaren Scheinhandlungen nie

völlig auflöst.

Ich hoffe Ihnen gezeigt zu haben: Die Nutzung des Zellphons ritualisiert nichts

anderes als eine parasoziale Interaktion. Seine Nutzung stärkt deshalb auch eine auf

Identifikation und Internalisierung basierende Medienrezeption. Handys üben in

ihrem Gebrauch die Muster eines internalisierenden Medienkonsums ein, insofern

am Handy telefonieren heißt ganz und gar unfreiwillig in einem Medium sozial zu

interagieren. Im vermittlungslosen Dialog mit den nächsten Nächsten glauben wir, ein

ganz individuelles und absolut portables Gerät zu besitzen. In Wahrheit versetzt uns

der Handygebrauch in den Status eines genau verrechneten Elementes im

Überwachungsnetz.

Das zu vergessen ist ein ordaler Akt. Denn das zu vergessen hieße, an eine

Wasserprobe zu glauben. Wer glaubt, dass das Was, dass das Mit Wem, Dass das

Wielange und dass das Wo er am Zellphon gesprochen hat, dass alles dies und x

Ebd. 215. 16

! 17

Elemente mehr verschlossen blieben in seinem privatesten Akt der Interaktion, begibt

sich in eine Wasserprobe. Kann sein, dass er oben schwimmt, kann auch sein, dass

er untergeht.

Woraus ich folgere: Mediengebrauch, der auf parasozialer Interaktion basiert,

ist ein ordaler, also letztlich vorneuzeitlicher Akt.

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