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Vandenhoeck & Ruprecht Wolfhart Pannenberg Kleine Vandenhoeck Reihe Band 1443 Die Bestimmung des Menschen Menschsein, Erwählung und Geschichte

Wolfhart Pannenberg Die Bestimmung des Menschendownload.e-bookshelf.de/download/0003/8989/71/L-G... · 2013. 7. 18. · Wolfhart Pannenberg . Geboren am 2. 10. 1928 in Stettin (Pommern),

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  • Vandenhoeck & Ruprecht

    Wolfhart Pannenberg

    Kleine Vandenhoeck Reihe Band 1443

    Die Bestimmung des MenschenMenschsein, Erwählung und Geschichte

  • WOLFHART PANNENBERG

    Die Bestimmung des Menschen

    Menschsein, Erwählung und Geschichte

    VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

    ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

  • Wolfhart Pannenberg

    Geboren am 2. 10. 1928 in Stettin (Pommern), Studium der Theo-logie und Philosophie in Berlin, Göttingen, Basel und Heidelberg; Dr. theol. 1953 Heidelberg, Habilitation dort 1955, Prof. f. Syste-matische Theologie 1958 Kirchl. Hochschule Wuppertal, 1961 Univ. Mainz, 1967 Univ. München, dort Vorstand des Instituts für Fundamentaltheologie und ökumenische Theologie. Veröffentlichungen: Die Prädestinationslehre des Duns Skotus, 1953; Offenbarung als Geschichte (mit R. und T. Rendtorff u. U. Wilckens) 1961, 4. Aufl. 1964; Was ist der Mensch? KVR 1139, 1962, 5. Aufl. 1976; Grundzüge der Christologie, 1964, 5. Aufl. 1976; Grundfragen systematischer Theologie, 1967, 2. Aufl. 1971; Erwägungen zu einer Theologie der Natur (mit A. M. K. Müller) 1970; Thesen zur Theologie der Kirche, 1970, 2. Aufl. 1974; Theo-logie und Reich Gottes, 1971; Das Glaubensbekenntnis, 1972, 2. Aufl. 1974; Gottesgedanke und menschliche Freiheit, 1972; Christentum und Mythos, 1972; Wissenschaftstheorie und Theolo-gie, 1973, 2. Aufl. 1977; Gegenwart Gottes. Predigten, 1973; Glaube und Wirklichkeit. Kleine Beiträge zum christlichen Denken, 1975; Ethik und Ekklesiologie, 1977.

    CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

    Pannenberg, Wolfhart [Sammlung ] Die Bestimmung des Menschen: Menschsein, Erwählung u. Geschichte. - 1. Aufl. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1978.

    (Kleine Vandenhoeck-Reihe; 1443) ISBN 3-525-33423-0

    Kleine Vandenhoeck-Reihe 1443

    Umschlag: Hans-Dieter Ullrich. © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1978. Alle Rechte vorbehalten. - Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photo- oder

    akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei E. Rieder, Schrobenhausen

    ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

  • INHALT

    Vorwort 5

    1. Die Bedeutung des Individuums in der christlichen Lehre vom Menschen 7

    2. Die gesellschaftliche Bestimmung des Menschen und die Kirche 23

    3. Erwählung und Volk Gottes 41

    4. Das christliche Imperium und das Phänomen einer politischen Religion im Christentum 61

    5. Erwählung und Geschichte 85

    Nachwort 114

    Anmerkungen 118

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    ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

  • ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

  • VORWORT

    Die Fragen nach der Natur und Bestimmung des Menschen gehören eng zusammen. Wer oder was er eigentlich sei, das sagt dem Menschen noch nicht die eigentümliche Struktur seiner biologischen Lebens-form, noch auch die Soziologie und Psychologie seines Verhaltens. Um zu erfahren, wer oder was wir sind, müssen wir wissen, wozu wir da sind, wohin wir in unserer Geschichte unterwegs sind. Gerade das Christentum hat die Frage nach der Wesensnatur des Menschen im Lichte seiner an Jesus Christus offenbaren Bestimmung zu beantwor-ten versucht. Die christliche Erfahrung hat das Selbstverständnis des Menschen in seinem individuellen und gesellschaftlichen Dasein tiefer beeinflußt als uns oft bewußt ist, bis tief in die elementaren und scheinbar rein säkularen Auffassungen menschlicher Personalität und gesellschaftlicher Verantwortung. Das ist das Thema der beiden ersten Kapitel dieses Buches. Damit ist zugleich der Boden vorbereitet für die in den folgenden drei Kapiteln versuchte Neuformulierung des Erwählungsgedankens als Schlüssel zur Geschichte des Menschen auf dem Wege zu seiner Bestimmung. Dabei handelt es sich nicht um ein abstraktes Thema theologischer Gelehrsamkeit, sondern um ein Mo-tiv, das wie ein roter Faden die durch das Christentum bestimmte Kul-turgeschichte und vor allem auch die politische Geschichte unserer Welt durchläuft bis hin zu dem politischen und religiösen Ringen unse-res gegenwärtigen Zeitalters.

    Die fünf Kapitel des Bandes wurden in den Jahren 1975 und 1976 an verschiedenen Universitäten und Hochschulen der USA und Eng-lands als Vorlesungen vorgetragen und 1977 auf Englisch veröffent-licht. Besonders die ersten beiden Kapitel tragen noch Spuren ihrer Entstehung als Beitrag zu einer methodistischen Pfarrerkonferenz in Claremont (Kalifornien) über „Spirituelle Erneuerung und weltweite Verantwortung“. Bei der Publikation des Bandes gedenke ich dank-bar der amerikanischen und englischen Freunde, Studenten und Kol-legen, die mir jene Monate im Herbst und Winter 1975/76 unvergeß-lich werden ließen. Darüber hinaus danke ich den Herren Professoren Eckhart Mühlenberg, Robert Wilken, Hans Hillerbrand, Trutz Rend-

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    ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

  • torff, Hans Freiherr v. Campenhausen, Ulrich Wilckens und Klaus Koch für ihre kritische Lektüre des Manuskripts. Ohne ihre Kritik und ihren Rat wäre meine historische und systematische Argumentation in vielen Punkten verwundbarer geblieben als sie es ohnehin sein mag. Zu besonderem Dank bin ich meinem Münchner Kollegen Prof. Wolf-Dieter Hauschild verpflichtet, mit dem ich im Winter 1973/74 ein gemeinsames Seminar über „Erwählung und Geschichte“ hielt, bei dem er meine Aufmerksamkeit auf einige der in der vierten Vorlesung diskutierten Texte richtete. Herrn Dr. Reinhard Leuze gebührt Dank für seine Mitwirkung bei den Korrekturen.

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    ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

  • 1. DIE BEDEUTUNG DES INDIVIDUUMS IN DER CHRISTLICHEN LEHRE VOM MENSCHEN

    Die traditionelle christliche Anthropologie hat sich auf zwei zentrale Gedanken konzentriert: auf das Verständnis des Menschen als Eben-bild Gottes und auf den Begriff der Sünde, die auf den Fall Adams zu-rückgeführt wurde. Diese beiden Themen haben jedoch niemals das christliche Menschenverständnis erschöpfend zum Ausdruck ge-bracht. Für sich genommen bezeichnen sie noch nicht einmal das un-terscheidend Christliche in der theologischen Anthropologie. Das Verständnis des Menschen als nach dem Bilde Gottes geschaffen geht auf das Alte Testament zurück, und Gleiches gilt vom Gedanken der menschlichen Sündhaftigkeit. Sicherlich ist die christliche Anthropo-logie durch charakteristische Modifikationen dieser beiden Gedanken gekennzeichnet, aber um diese Modifikationen richtig zu würdigen, muß man sich zunächst nach dem unterscheidend Christlichen im Ver-ständnis des Menschen fragen. Dies ist nun sicherlich in der christli-chen Behauptung zu finden, daß der Mensch durch Christus mit Gott versöhnt worden ist. Der Gedanke der Versöhnung durch Christus er-klärt die Modifikationen, die die Begriffe der Gottebenbildlichkeit und der Sündhaftigkeit des Menschen im christlichen Denken erfah-ren haben: Der Botschaft von der durch Jesus Christus vollbrachten Versöhnung des Menschen mit Gott würde die von ihr beanspruchte universale Tragweite fehlen, wenn nicht ohne Christus alle Menschen der Knechtschaft der Sünde verfallen wären. Die Offenbarung der Allgemeinheit der Sünde im Kreuz Jesu stellt die Voraussetzung für die Universalität der Erlösung dar, die durch dieses Geschehen voll-bracht wurde. Andererseits führte der Gedanke der Universalität der Erlösung zu der christlichen Behauptung, daß erst durch Christus die wahre Bestimmung des Menschen als solchen verwirklicht wird. Wenn diese göttliche Bestimmung des Menschen auch bereits dadurch be-zeichnet ist, daß er nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde, so ist ihre Verwirklichung doch erst durch Christus erfolgt, so daß nun durch ihn die Teilhabe daran allen Menschen offensteht.

    Letzten Endes wird die spezifisch christliche Perspektive menschlicher

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    ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

  • Existenz also durch den Gedanken der Versöhnung des Menschen in Christus bestimmt. Die christliche Kirche beansprucht für diese Ver-söhnungsbotschaft bis zum heutigen Tage allgemeine Gültigkeit für die gesamte Menschheit. Dieser Anspruch hat die missionarische Ak-tivität der Christen motiviert und zur Ausbreitung der christlichen Botschaft über die ganze Erde geführt. Doch wie ist dieser Anspruch zu begründen? Warum sollten sich Menschen nach Versöhnung mit Gott sehnen, wenn sie sich gar nicht als Sünder fühlen? Die Strategie der christlichen Missionspredigt pflegte den vollen Ernst dieser Frage zu umgehen. Statt dessen belehrte man die Leute, daß es nur einen einzigen wahren Gott gibt, der aber den Menschen zürnt, weil sie ge-gen ihn gesündigt haben, und nur durch das Werk Christi in seinem Zorn besänftigt wird. Als Menschen unserer Zeit fragen wir uns je-doch, ob dies wirklich der wahre Gott ist, wenn überhaupt ein Gott existiert. Gibt es Argumente, die diese Frage beantworten könnten? Gibt es irgendwelche Kriterien zur Beurteilung der Antworten, die man auf diese Frage gegeben hat oder geben könnte? Ich meine, daß ein solches Kriterium in der erhellenden Kraft gefunden werden kann, die von diesem oder jenem Gottesverständnis ausgeht. Das Kriterium wird angewendet, wenn man fragt, wie ein bestimmtes Gottesver-ständnis unser Verständnis der Wirklichkeit und speziell des menschli-chen Lebens erleuchtet hat und erleuchtet. Wenn der Gott einer be-stimmten religiösen Überlieferung wirklich, wie seine Gläubigen be-haupten, der einzige Ursprung und Schöpfer des Menschen und seiner Welt ist, dann sollte seine Offenbarung uns ein tieferes und umfassen-deres Verständnis von Mensch und Welt, wie sie unserer Erfahrung zugänglich sind, ermöglichen.

    Wendet man nun dieses Kriterium auf die christliche Lehre vom Men-schen an, so ist zu fragen: In welcher Weise hat das christliche Ver-ständnis des Menschen als durch Jesus Christus mit Gott versöhnt tat-sächlich die menschliche Existenz und das Selbstverständnis des Men-schen in seiner Welt erleuchtet und verändert? Was hat die christliche Botschaft zur menschlichen Selbsterfahrung beigetragen? Die These dieses Kapitels ist, daß die ewige Bedeutung des Individu-ums und des individuellen Lebens einer der wichtigsten Beiträge des Christentums zur Erfahrung der Struktur menschlicher Existenz, wie auch zur Entwicklung des Menschen gewesen ist. Dieser Gedanke steht in einer direkten Beziehung zur Verkündigung Jesu von der ver-söhnenden Liebe Gottes, der sich um jeden einzelnen Menschen

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  • kümmert wie ein Kleinviehhalter, der dem einen Schaf, das er verlor, nachgeht, bis er es findet, wie die arme Frau, die ihr ganzes Haus durchsucht, bis sie das verlorene Geldstück gefunden hat, und wie der Vater, der sich über die Rückkehr seines verlorenen Sohnes freut. Das Bild des Gottes, der mit ewiger Liebe jeden einzelnen Menschen sucht, der verloren ging, verlieh dem menschlichen Individuum einen ewigen Wert und eine Würde, die bis dahin ohne Beispiel war. Natürlich ist dieser Gedanke nicht ohne Vorbereitung in der Ge-schichte aufgetreten. Er hat seine Wurzeln im altjüdischen Humanis-mus und in der jüdischen Geschichte. Eine wichtige Voraussetzung für seinen Durchbruch in der Botschaft Jesu war der Glaube an eine Zu-kunft des Individuums über seinen Tod hinaus, wie er im nachexili-schen Judentum entwickelt worden war. Vor der Zeit des Exils wurde dem einzelnen, abgesehen von seiner Teilnahme am Gemeinschafts-leben des Volkes, kein letzter Wert zugeschrieben. Wie Sünden und Verfehlungen des einzelnen dem ganzen Volk schadeten, so galt seine Gerechtigkeit als Quell des Segens für alle, und der Lohn des Gerech-ten bestand in dem Segen, den er seinen Nachkommen hinterließ. Die Generation jedoch, die sich noch der Regierung des frommen Königs Josia erinnern konnte, als sie die Zerstörung Jerusalems durch die Ba-bylonier erlebte, vermochte die Gerechtigkeit Gottes im Laufe der Geschichte nicht mehr zu erkennen. Daher proklamierte Hesekiel als einen neuen Grundsatz des göttlichen Handelns: „Ein Sohn soll nicht die Schuld des Vaters, noch ein Vater die Schuld des Sohnes mit tra-gen. Nur dem Gerechten kommt seine Gerechtigkeit zugute, und nur über den Gottlosen kommt seine Gottlosigkeit“ (Hes. 18, 20). In der Folge zeigte nun aber die Erfahrung, daß sich die Gerechtigkeit Gottes in der Lebensspanne vieler Individuen nicht adäquat offenbarte durch Strafen oder Belohnungen entsprechend dem Verhalten der einzelnen Menschen. Im Gegenteil, es gab verbreitete Klagen, „daß es Fromme gibt, denen es geht, als täten sie Werke der Gottlosen, und daß es Gott-lose gibt, denen es geht, als täten sie Werke der Frommen“ (Pred. 8, 14). Wie konnten derartige Erfahrungen mit dem Glauben an die Ge-rechtigkeit Gottes vereinbart werden? Im Ringen mit solchen Erfah-rungen kam der jüdische Glaube an die Gerechtigkeit Gottes zur An-nahme einer Vergeltung in einem späteren Leben, so daß jeder ein-zelne Mensch letzten Endes dennoch sein Geschick in Entsprechung zu seinen Taten empfangen wird. Die frühen Beispiele jüdischen Glaubens an eine Auferstehung von den Toten zeigen deutlich die

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  • Spuren ihrer Herkunft aus der Frage nach der Offenbarung der göttli-chen Gerechtigkeit im Leben jedes einzelnen Individuums. Daher hat sich im nachexilischen jüdischen Glauben die Emanzipation des Indi-viduums von seinem gesellschaftlichen Kontext im Sinne seines An-spruchs auf von der Gesellschaft unabhängige Bedeutung und Würde seines Lebens im Aufkommen der Auferstehungshoffnung vollendet. Sicherlich galt auch jetzt noch der einzelne als mit seinen Handlungen verantwortlich für seine soziale Umgebung. Das Empfinden für solche individuelle Verantwortlichkeit wurde eher noch verfeinert. Aber mit dem Aufkommen der Auferstehungshoffnung wurde das individuelle Leben zu einem eigenen Sinnzentrum, was es so vorher nicht gewesen war.

    In gewissem Ausmaß ist diese Entwicklung der Entstehung der Un-sterblichkeitsidee im griechischen Denken vergleichbar. Auch der Gedanke einer unsterblichen Seele und seine Kultivierung seit dem 4. Jahrhundert bringt eine Emanzipation des Individuums vom Gesell-schaftssystem zum Ausdruck. Doch bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, daß der platonische Glaube an die Unsterblichkeit der Seele gar nicht dem menschlichen Individuum Ewigkeitswert zu-sprach. Die Seele ist nicht identisch mit dem Individuum, weil sie eine Reihe von Wiederverkörperungen erfährt, während die Individualität an diesen einen Lebensgang zwischen Geburt und Tod gebunden ist. So muß man urteilen, daß die jüdische Erwartung einer leiblichen Auferstehung die Ewigkeitsbedeutung der individuellen Existenz bei weitem mehr betont hat. Im jüdischen Denken ist das Leben des ein-zelnen der Ort, wo Gottes Gerechtigkeit offenbar werden muß, ge-schehe das auch erst jenseits dieses gegenwärtigen Lebens. Doch sogar im jüdischen Denken wurde das Individuum nicht durchweg als Zweck des ewigen göttlichen Willens selbst begriffen, so wie Jesus es in seinen Gleichnissen vom verlorenen Schaf, vom verlorenen Groschen und von der Rückkehr des verlorenen Sohnes verkündete. In diesen Gleichnissen stellte Jesus Gott so dar, daß er mit ewiger Liebe jedem einzelnen Menschen nachgeht, und zwar nicht nur den Gerechten, sondern auch den Verlorenen, und diesen sogar ganz besonders: An ihnen zeigt sich nämlich in unmißverständlicher Weise, daß Gott die Menschen nicht wegen des inneren Wertes einiger Individuen auf-grund ihrer Leistungen liebt, daß vielmehr Gottes ewige Liebe selbst jedem einzelnen Menschenleben unendlichen Wert verleiht.

    Jesu Verkündigung der jedem einzelnen zugewandten Liebe Gottes

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    ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

  • wurde besiegelt durch seinen Tod am Kreuz. Es ist nicht nötig, die Frage nach den Gründen für die Interpretation des Kreuzes als letzt-gültigen Ausdruck der Liebe Gottes zur Welt hier in allen Einzelheiten zu erörtern. Für den gegenwärtigen Argumentationszusammenhang ist die Tatsache ausreichend, daß Jesu Tod im Lichte seiner Auferste-hung in diesem Sinne verstanden worden ist. Es handelt sich dabei um den gemeinsamen Zielpunkt all der unterschiedlichen Bilder, deren sich die urchristliche Interpretation des Kreuzes bediente. Die ein-fachste Erklärung des Zusammenhangs ist die von Paulus gegebene, daß Gemeinschaft mit dem gekreuzigten Christus die Hoffnung auf Anteil auch an seinem neuen Leben begründet, das in seiner Aufer-stehung in Erscheinung getreten ist. So können diejenigen, die mit Christus Gemeinschaft haben, sogar durch den Tod nicht mehr von der Liebe Gottes getrennt werden. Die Konsequenzen dieses Glaubens waren wahrhaft revolutionär. Nach drei Jahrhunderten gerieten die Fundamente des römischen Reiches ins Wanken, weil sogar die Drohung eines schrecklichen To-des die christlichen Märtyrer nicht bewegen konnte, ihrem Glauben an Christus abzuschwören. Die Märtyrer der Alten Kirche bewiesen vor der Welt die im Tode Christi, nämlich in der darin offenbaren Liebe Gottes begründete Freiheit des einzelnen gegenüber der Gesellschaft und dem Staat. Durch den Tod Christi ist der einzelne radikal unab-hängig geworden von jedem absoluten Anspruch der Gesellschaft oder des Staates auf sein Leben. Was man heute als Prinzip der individuellen Freiheit kennt, hat hier seine historische Wurzel. Da die religiösen Grundlagen dieser Freiheit sich als stärker erwiesen als die Macht des Staates, mußte schließlich die politische Macht diesen Glauben als Kriterium und, wenn möglich, als neue Basis eines ihm gemäßen Gesellschaftssystems anerkennen. Man weiß, daß dieser Prozeß sich keineswegs geradlinig vollzogen hat. Zunächst wurde die Kirche als Legitimationsbasis der politischen Ordnung anerkannt, da ihre Botschaft die Quelle jener neuen Freiheit war. In der Folgezeit jedoch geriet die hierarchische Struktur der Kir-che selber in Konflikt mit der christlichen Freiheit, die in der Gemein-schaft des Glaubenden mit Christus gründet. Es ist die tragische Peri-petie der Geschichte des Christentums gewesen, daß erst der Bruch seiner kirchlichen Einheit den Weg freigab für die allgemeine Auswir-kung des Prinzipes individueller Freiheit als letztes Kriterium des Ge-sellschaftssystems und seiner politischen Organisation. Nachdem im

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    ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

  • Gefolge der Reformation Konfessionskriege Europa für mehr als ein Jahrhundert erschüttert hatten, mußte das Prinzip der individuellen Freiheit und die daraus folgende Duldung eines mehr oder weniger weitgehenden religiösen Pluralismus verselbständigt werden gegen-über seiner religiösen Verwurzelung im christlichen Glauben, weil es gebraucht wurde zur Neubegründung der gemeinsamen Basis eines Gesellschaftslebens, das nunmehr unabhängig sein mußte vom zerstö-rerischen Streit zwischen einander wechselseitig ausschließenden kon-fessionellen Interpretationen des christlichen Glaubens. Die Emanzi-pation des Prinzips menschlicher Freiheit von seinen religiösen Wur-zeln im christlichen Glauben erwies sich als verhängnisvoll nicht nur für die moderne Geschichte des Christentums, weil sie zum Ausgangs-punkt des Säkularismus der modernen Kultur wurde mit der Folge, daß die religiöse Thematik mehr und mehr von öffentlicher Geltung ausgeschlossen und auf den privaten Lebensbereich beschränkt wur-de. Die Isolierung des Gedankens der individuellen Freiheit von sei-nen religiösen Wurzeln hat sich aber auch als verhängnisvoll für die Entwicklung der modernen Kultur erwiesen, weil durch den Verlust ihrer religiösen Verwurzelung einige ihrer grundlegenden Werte zweideutig und undurchsichtig wurden.

    Das Prinzip individueller Freiheit ist nicht eine für die menschliche Natur selbstverständliche Tatsache. Es war die Illusion des Liberalis-mus, daß jeder Mensch frei geboren ist, daß Schranken dieser Freiheit nur von außen auferlegt werden, durch das soziale System, und daß alle Menschen sich ihrer Freiheit freuen und sie friedlich ausleben würden, wenn nur jene äußeren Hindernisse, soziale Schranken und Ungleichheiten beseitigt würden. Diese Konzeption einer von Natur aus gegebenen und ursprünglichen Freiheit jedes Menschen ist freilich sehr einflußreich im westlichen Denken gewesen, und zwar nicht erst in der Neuzeit, sondern schon lange zuvor. Es war die Botschaft der stoischen Philosophie, daß ursprünglich alle Menschen von Natur aus frei und gleich gewesen sind, die Entwicklung der sozialen Beziehun-gen zwischen den Menschen aber Ungleichheiten hervorgebracht und jene ursprüngliche Gleichheit und Freiheit verdorben habe. An diesem Punkt besteht eine fundamentale Differenz zwischen der Anthropologie der stoischen Philosophie und derjenigen des christli-chen Glaubens. Die frühen Christen nahmen nicht an, daß die Men-schen von Natur aus frei und gleich sind. Sie glaubten vielmehr, daß die Menschen befreit werden müssen, um frei zu sein. Im Johannesevan-

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    ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen