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Wolfram Ette Drama und neuzeitliches Denken. Eske Bockelmanns »Im Takt des Geldes« und die Theatertheorie d'Aubignacs (Vortrag in Dresden, 5.12.04) Einleitung Ich möchte zunächst Dank sagen für die Gelegenheit, hier zu sprechen. Was ich Ihnen zu sagen habe, stellt so etwas wie den Versuch einer Ausdehnung von Eske Bockel- manns Ansatz auf ein Gebiet der Literatur dar. Nun handelt Im Takt des Geldes ja selber von Literatur, allerdings nur in einer einzi- gen Hinsicht, nämlich in Bezug auf Metrik. Thema des ersten Kapitels ist ja, wie wir wis- sen, das veränderte metrische Empfinden, das sich parallel mit der Entwicklung des Ak- zentstufentaktes in der Musik Bahn bricht. Alle diese Dinge werde ich aber im folgenden nicht berühren. Thema meines Refe- rats wird vielmehr die Entwicklung des französischen Theaters und der französischen Theatertheorie im 17. Jahrhundert sein, und meine Frage lautet ganz einfach, ob diese ausgesprochen stürmische Entwicklung sich in irgendeiner Weise zu Eske Bockelmanns Grundthese in Beziehung setzen läßt. Dabei muß ich betonen, daß es sich dabei wirklich um einen Versuch handelt: ich kann Ihnen hier keine fix und fertigen Ergebnisse vorle- gen, sondern möchte eher das Material, das ich gesichtet habe, so anordnen, daß es sich in Bezug auf Im Takt des Geldes diskutieren läßt. Das Theater im Frankreich des 17. Jahrhunderts Ich möchte zunächst einige ganz äußerliche Gründe nennen, die es nahelegen, das, was im Frankreich des 17. Jahrhunderts sich im Theaterleben zugetragen hat, auf den Ur- sprung der Neuzeit im Geld zurückzuführen. Da ist zunächst – ich erwähnte es schon – der geradezu explosive Charakter dieser Entwicklung zu nennen. Es sind im Grunde die zehn Jahre zwischen 1620 und 1630, in denen aus einem Volkstheater ohne feste Kompanien und Häuser, das moralisch den denkbar schlimmsten Ruf genoß, das französische Staatstheater entstand, das wir mit den Namen Corneille, Molière und Racine verbinden. In dieselbe Zeit fällt

Wolfram Ette Drama und neuzeitliches Denken. Eske ... · Wenn Brecht eine nichtaristotelische Dramatik schreibt, so ist sein Gegner nicht nur Aristoteles, sondern vor allem das bürgerliche

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Wolfram Ette

Drama und neuzeitliches Denken.

Eske Bockelmanns »Im Takt des Geldes« und die Theatertheorie d'Aubignacs

(Vortrag in Dresden, 5.12.04)

Einleitung

Ich möchte zunächst Dank sagen für die Gelegenheit, hier zu sprechen. Was ich Ihnen

zu sagen habe,  stellt  so etwas wie den Versuch einer Ausdehnung von Eske Bockel­

manns Ansatz auf ein Gebiet der Literatur dar. 

Nun handelt Im Takt des Geldes ja selber von Literatur, allerdings nur in einer einzi­

gen Hinsicht, nämlich in Bezug auf Metrik. Thema des ersten Kapitels ist ja, wie wir wis­

sen, das veränderte metrische Empfinden, das sich parallel mit der Entwicklung des Ak­

zentstufentaktes in der Musik Bahn bricht. 

Alle diese Dinge werde ich aber im folgenden nicht berühren. Thema meines Refe­

rats wird vielmehr die Entwicklung des französischen Theaters und der französischen

Theatertheorie im 17. Jahrhundert sein, und meine Frage lautet ganz einfach, ob diese

ausgesprochen stürmische Entwicklung sich in irgendeiner Weise zu Eske Bockelmanns

Grundthese in Beziehung setzen läßt. Dabei muß ich betonen, daß es sich dabei wirklich

um einen Versuch handelt: ich kann Ihnen hier keine fix und fertigen Ergebnisse vorle­

gen, sondern möchte eher das Material, das ich gesichtet habe, so anordnen, daß es sich

in Bezug auf Im Takt des Geldes diskutieren läßt. 

Das Theater im Frankreich des 17. Jahrhunderts

Ich möchte zunächst einige ganz äußerliche Gründe nennen, die es nahelegen, das, was

im Frankreich des 17. Jahrhunderts sich im Theaterleben zugetragen hat, auf den Ur­

sprung der Neuzeit im Geld zurückzuführen. 

– Da ist zunächst – ich erwähnte es schon – der geradezu explosive Charakter dieser

Entwicklung zu nennen. Es sind im Grunde die zehn Jahre zwischen 1620 und 1630,

in denen aus einem Volkstheater ohne feste Kompanien und Häuser, das moralisch

den denkbar schlimmsten Ruf genoß, das französische Staatstheater entstand, das

wir mit den Namen Corneille, Molière und Racine verbinden. In dieselbe Zeit fällt

die Gründung der Académie française; in dieselbe Zeit Descartes’ Jugendschrift über

die Musik, welche die Synthesis unseres Taktempfindens bereits in so verblüffend

vollendeter Weise expliziert. Ich meine, daß wir die Vehemenz, mit der die Theater­

mode die Geister ergriff zumindest als Indiz werten dürfen, daß dieses Ereignis keine

literaturgeschichtlicher Zufall ist, sondern in genauem Zusammenhang mit dem Be­

ginn des mentalen Syndroms der  Neuzeit steht. 

– Corneille, Molière und Racine bilden nur die Spitze des Eisbergs. Die theatralische

Produktion dieser Zeit war immens. Vertieft man sich in die Literatur dieser Epoche,

gewinnt man den Eindruck, daß sich die gesamte literarische Intelligenz dramatisch

äußerte. Ich bin zu sehr Geschichtsphilosoph, um glauben zu können, daß sich das

bloß der Möglichkeit verdankt, mit Theaterstücken viel Geld und Renommée verdie­

nen zu können. Es muß vielmehr einen prinzipiellen Grund für die Obsession der

Dichter (und Zuschauer) vom  Drama  gegeben haben. Wenn es einen Zusammen­

hang zwischen dem Theater der französischen Klassik und dem neuen Denken gibt,

das in der Struktur des Geldes als allgemeiner Wertform liegt, dann muß er in etwas

liegen, das das Drama vor den anderen literarischen Gattungen unterscheidet und

auszeichnet. Die Frage ist, was das sein könnte. 

– Der  Vehemenz   dieser   Entwicklung   entspricht   die  kanonische   Bedeutung,   die   das

Theater der französischen Klassik in der Geschichte des europäischen Theaters ein­

nimmt. Damit meine ich nicht, oder nicht allein ihre Präsenz auf den Spielplänen.

Was das anbelangt, werden wenigstens außerhalb Frankreichs Corneille und Racine

leicht von Shakespeare überflügelt. Nein, entscheidend ist, daß im Theater Frank­

reichs die Weichen für das bürgerliche Theater der Neuzeit gestellt wurden. Hier

wurde der dramatische Raum für – mindestens – die nächsten 250 Jahre definiert.1

Wenn Brecht eine nichtaristotelische Dramatik schreibt, so ist sein Gegner nicht nur

Aristoteles, sondern vor allem das bürgerliche Theater. Und dessen Ursprung ist die

französische Klassik. Das bedeutet wiederum, daß wir diese Phase der Literaturge­

schichte in einer  prinzipiellen  Beziehung zu dem, was wir Neuzeit nennen, setzen

müssen.

– Gegenüber der ähnlichen, in mancher Hinsicht aber doch etwas anders gelagerten

Entwicklung des elisabethanischen Theaters hat die französische Klassik den heuris­

tischen Vorteil, daß sie von einer ausgedehnten theatertheoretischen Diskussion be­

gleitet war. Theater wurde nicht einfach gemacht, sondern es wurde in aller Aus­

führlichkeit und in langen Debatten von hohem Niveau darüber nachgedacht, was

das Theater zu sein habe. Darin liegt wiederum zweierlei beschlossen: 

(1) Auf der einen Seite bekundet sich in diesen Debatten ganz offenkundig das Be­

dürfnis, sich einer Sache zu vergewissern, die dunkel als etwas radikal Neues emp­

funden wurde – auch wenn dieses Neue sich selten als Neues bekundet.2 Sie stellen

ein weiteres Indiz für meine Vermutung dar, daß es einen Zusammenhang zwischen

dem neuzeitlichen Theater und der Entstehung des modernen Denkens durch das

Geld gibt.

(2) Auf der anderen Seite entspricht der hohe Rang der Theorie der Hypothese, daß

die Entwicklung des Theaters in Frankreich kein Binnenphänomen ist, das sich ledig­

lich auf der Bühne zuträgt, sondern Symptom eines mentalen Prozesses, dessen Ur­

sprünge  anderswo  liegen. Die Theatertheorie würde so etwas wie eine Verbindung

zwischen dieses Ursprüngen und ihrer Manifestation auf der Bühne darstellen.  

All dies, wohlgemerkt, bewegt sich auf der Ebene von Indizien. Es gibt Anzeichen dafür,

daß überhaupt ein Zusammenhang zwischen der neuen Denkform und dem neuen Thea­

ter besteht; wie dieser aber auszusehen hätte, ist noch völlig unklar. 

Warum Theater?

Um uns diesem Problem zu nähern, müssen wir als erstes auf das zweite jener Indizien

zurückkommen. Die Frage, die hier gestellt worden war, lautete ja: Was könnte ausge­

rechnet  das  Drama  dazu disponiert  haben,  zu einer  Ausdrucksgestalt  des  modernen

Funktionsdenkens zu werden? Welches Spezifikum ist der dramatischen Form im Unter­

schied zu den anderen literarischen Gattungen eigen, das es geeigneter als diese er­

scheinen ließ, zu einer Verständigung über das neue Weltbild (wenn auch nicht über

dessen ökonomischen Grund) zu gelangen? Gibt es gewissermaßen ›Interessengemein­

samkeiten‹ zwischen dem neuen Denken und dem Theater als Form? 

Ich würde, in aller Vorläufigkeit, auf diese Fragen vier Antworten geben:

Das Drama ist erstens die einzige literarische Gattung, in der die fiktionale Realität

zugleich eine wirkliche Realität erfordert und nach sich zieht: nämlich die körperlich­

anfaßbare Realität der Bühne. Das ist alles andere als trivial. Während Epos und Lyrik in

einer vorgestellten Realität ihr Genügen finden, lockt das Drama durch die Idee einer

Art Neuschöpfung von Wirklichkeit.  Auf den ›Brettern, die die Welt bedeuten‹, bewegen

sich wirkliche, handelnde Personen auf das Geheiß eines Autors, der sie dorthin stellte.

Die körperliche Präsenz der Akteure verleiht dem Theater einen unvergleichlich viel hö­

heren Wirklichkeitgrad als den anderen literarischen Gattungen, – und genau das läßt

das Theater in historischen Momenten bedeutsam werden, in denen der Wirklichkeits­

begriff selber sich grundlegend verändert. Das Theater als ›wirklichste‹ Form der Litera­

tur kann solchen Veränderungen am, sagen wir, suggestivsten Rechnung tragen.3

Damit hängt zweitens zusammen, daß das Theater die einzige öffentliche literarische

Gattung darstellt. Die Neukonstruktion der Wirklichkeit – wenn es sich denn  wirklich

um etwas dergleichen handeln sollte –vollzieht sich als eine Art öffentliches Experiment

vor den Augen aller. Es verschlägt nichts, daß diese Öffentlichkeit zu allen Zeiten nur

einen Teil  des gesellschaftlichen Allgemeinen repräsentiert  hat.  So waren  im atheni­

schen Theater  nur Vollbürger zugelassen,  und das Staatstheater  des  absolutistischen

Herrschers gewährte nur einen kleinen Schicht von Aristokraten und Freunden des Hofs

Zutritt. Aber es will etwas bedeuten – da muß man den Absolutismus an seinen eigenen

Ansprüchen messen –, wenn das Theater handstreichartig aus der gesellschaftlichen Pe­

ripherie ins repräsentative Zentrum der Macht versetzt wird. Der Monarch und sein Hof

vertraten den  Anspruch  auf umfassende Repräsentation der Wirklichkeit,  diese  Öffent­

lichkeit war ihrem Selbstverständnis zufolge die  ganze  Gesellschaft.4 Und es ist dieser

Anspruch, der dem Theater auferlegt, beziehungsweise von ihm enthusiastisch aufge­

nommen wird.

Das Drama ist drittens reine Bewegungskunst, sein Medium ist die Zeit. Wenn wir uns

Eske Bockelmanns These in Erinnerung rufen, daß sich die durch den alltäglichen Um­

gang mit Geld vermittelte ›reine Beziehung‹, das »nichtinhaltliche Verhältnis«, wie er es

nennt, am reinsten im Takt, das heißt in einer ›apriorischen‹ Strukturierung der in Musik

oder im Sprachfluß sich verkörpernden Zeit darstellt, so läßt dies zumindest erwartbar

erscheinen, daß sich dieses Verhältnis in einer irgendwie analogen Weise auch im Dra­

ma als Zeitkunst kundgeben sollte. 

Und  schließlich  ist so etwas wie eine  reine Relationalität  auch der Gegenstand des

neuzeitlichen Dramas, vor allem der Tragödie (auf die sich dementsprechend die thea­

tertheoretischen Erwägungen in Frankreich konzentrieren). Über diesen Punkt muß ich

mich etwas genauer erklären. Alle Dramen, wenn sie etwas taugen, stellen Extremsitua­

tionen vor. Was ist eine Extremsituation? Extremsituationen sind solche, in denen die

überlieferte Moral, die Maximen und Vorschriften des Handelns in die Krise geraten.

Das heißt, sie sind nicht mehr selbstverständlich, sie müssen in gewisser Weise neu er­

zeugt werden. In keiner guten Tragödie prallen einfach ›Gut‹ und ›Böse‹ aufeinander, in

der tragischen Situation ist vielmehr das, was man Gut und Böse zu nennen gewohnt

ist, fragwürdig geworden. Denken Sie etwa an die  Antigone  des Sophokles. Allein die

Tatsache, daß man sich so oft und ausdauernd darüber hat streiten können, ob Kreon

im Recht ist (das war die Meinung des 18. Jahrhunderts), ob Antigone und Kreon glei­

chermaßen im Unrecht sind (das war die Meinung Hegels), oder ob in dem Konflikt

zwischen ihnen letztlich Antigone recht zu geben ist (das ist im Grunde die Meinung des

19. und 20. Jahrhunderts), zeigt doch an, daß hier ein wirkliches Problem steckt. Das

Stück zieht einem systematisch die Kriterien unter den Füßen weg, nach denen sich eine

bündige Entscheidung über Richtig und Falsch treffen läßt.5  In der ein oder anderen

Weise läßt sich das an allen Tragödien, ob nun antik oder neuzeitlich demonstrieren.

Ein solches Phänomen wird nun auch mit dem Begriff des dialektischen Gegensatzes

oder der  Entzweiung  umschrieben.6 Was bedeutet das? Ein dialektischer Gegensatz ist

ein Verhältnis, das allein dadurch besteht,  daß sich die seine Pole durcheinander bedin­

gen. Zum Beispiel das Begriffspaar ›Herr‹ und ›Knecht‹. Es hat keinen Sinn, den Aus­

druck ›Herr‹ zu verwenden, wenn es keinen Knecht gibt – und umgekehrt. Oder das Be­

griffspaar ›positiv‹ und ›negativ‹. Das Positive ist nicht ›an sich‹ positiv, sondern nur in

Bezug auf das Negative. Und das Negative ist nicht ›an sich‹ negativ, sondern nur ver­

möge der Beziehung auf das Positive. Hegel, der von allen Philosophen am tiefsten in

das Phänomen der Dialektik eingedrungen ist, geht soweit,  den philosophischen Ele­

mentarbegriff überhaupt – das »Etwas« – dialektisch zu definieren, das heißt abgegrenzt

von und vermittelt durch ein Nicht­Etwas, das »Andere«. 

Umgekehrt ist der Gegensatz von ›schwarz‹ und ›weiß‹ kein dialektischer Gegensatz.

Schwarz ist schwarz, ganz unabhängig von der Beziehung zu der anderen Farbe. Oder

›langsam‹ und ›schnell‹. Wenn wir ein langsames Musikstück hören, sind wir nicht dar­

auf angewiesen, zusätzlich noch ein schnelles zu hören, um das langsame als langsam

zu empfinden. Anders gesagt: es handelt sich um einen objektiven, substanziellen Gegen­

satz: einen Gegensatz, der nicht in sich zusammenfällt, wenn man einen der beiden Pole

wegnimmt. 

Wenn ich nun sage, daß der tragische Gegensatz dialektischer Natur ist, so ist nichts

anderes gemeint, als daß die entgegengesetzen Werte, die hier im Konflikt aufeinander­

prallen, in der soeben beschriebenen Weise miteinander zusammenhängen. Sie verlie­

ren ihre Substanzialität, und sind vollständig durcheinander vermittelt. Sie annullieren

die Geschichte und Tradition der jeweiligen Wertvorstellungen und bestimmen sie in

der reinen Beziehung ihres dialektischen Gegensatzes neu. Idealtypisch versuchen sie,

Inhalte aus einer reinen Form zu gewinnen.7

Pierre Corneille, Der Cid

Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern, das für unser Thema von zentraler Be­

deutung ist, und zwar an dem Stück Der Cid von Pierre Corneille. Der Konflikt, der in

diesem Drama verhandelt wird, ist schnell erzählt. Es spielt im mittelalterlichen Spani­

en. Zwei Männer, deren Kinder sich lieben und miteinander verlobt sind, geraten in

Streit – worüber, tut jetzt nichts zur Sache. Der Vater der zukünftigen Braut ohrfeigt

den Vater des zukünftigen Bräutigams. Der Geohrfeigte will sein Schwert ziehen, er ist

aber  schon alt  und gebrechlich,   so  daß es  dem Beleidiger  ein   leichtes   ist,   ihm das

Schwert aus der Hand zu schlagen. Daraufhin überträgt der Beleidigte die Aufgabe, ihn

zu rächen und seine Ehre wiederherzustellen, auf seinen Sohn – also den Geliebten des

jungen Mädchens. Dieser sieht sich also vor die Ehrenpflicht gestellt, den Vater der Frau

zu töten, die er liebt. Es ist der klassische Konflikt zwischen Pflicht und Neigung. Hier –

das ist sehr wichtig! – handelt es sich noch nicht um ein dialektisches Verhältnis. Durch

Zufall kam vielmehr eine Situation zustande, in der zwei festumrissene ›Werte‹ in ein

Ausschließungsverhältnis treten. Dialektisch in dem von mir beschriebenen Sinne wird

der Konflikt  vielmehr erst  durch eine Art  Potenzierung.  Diese Potenzierung vollzieht

sich in Chimène, der weiblichen Hauptfigur des Dramas. Für sie nämlich geht es nicht

allein darum, daß sie denjenigen liebt, der ihren Vater umgebracht hat, sondern daß sie

ihn gar nicht lieben könnte, wenn er nicht die Ehre seiner Familie verteidigt und ihren Va­

ter umgebracht hätte –: bis zu dieser Konsequenz wird der Ehrenpunkt hier getrieben.

Ich zitiere  Ihnen zwei  Stellen,  aus denen diese Steigerung des Konflikts hervorgeht.

Nachdem sein Vater ihm eröffnet hat, daß er den Vater seiner Geliebten töten muß, sagt

Rodridue (der Einfachheit halber zitiere ich in deutscher Prosa):  

Ich schulde meiner Geliebten ebenso wie meinem Vater:

Ich ziehe, wenn ich mich räche, ihren Haß und ihren Zorn auf mich;

ich ziehe ihre Verachtung auf mich, wenn ich mich nicht räche.8 

Und später sagt er ihr, 

daß ein Mann ohne Ehre dich ja nicht verdiente; 

daß unbeschadet jenes Teils, den ich an deiner Seele hätte,

jemand, der mich liebte, mich doch hassen würde, sobald ich unedel wäre;

daß auf die Stimme der Liebe hören

bedeutet, ihrer unwürdig zu werden und deine Entscheidung zu verunglimpfen.9 

Erst durch Chimène wird der Konflikt  innerlich, erst durch sie wird er  dialektisch. Ihre

Liebe verlangt das, was ihren Haß erzeugt. Die Gefühle, die sie Rodrigue gegenüber

hegt, haben alles Herkommen abgelegt, sie existieren nur durcheinander, sind durchein­

ander bedingt. Hätte Rodrigue ihre Liebe höher geachtet als die Ehrverpflichtung sei­

nem Vater gegenüber, hätte sie ihn nicht lieben können; da er jedoch dem Gebot der

Ehre folgte, muß sie ihn lieben, weil sie ihn haßt, und sie muß ihn hassen, weil sie ihn

liebt. 

Ich will damit nicht behaupten, daß sich dieses Strukturmodell in aller Reinheit an

allen Tragödien der   französischen Klassik  aufzeigen  lassen könnte.  Aber   ich möchte

doch mutmaßen, daß der spektakuläre Erfolg des Cid – dieses Stück war, ohne Übertrei­

bung, das größte Theaterereignis des 17. Jahrhunderts – nicht zuletzt aus der mathema­

tischen Präzision erklärt werden muß, mit der Corneille einen durchaus konventionellen

dramatischen Konflikt auf reine Immanenz zuspitzt, d.h. auf eine Beziehung, die keinen

externen Inhalte mehr kennt, sondern ihre Inhalte rein durch sich selbst bestimmt.  

Diese vier Punkte – realkörperliche Präsenz,  Öffentlichkeit,  Zeit und Bewegung sowie

der  dialektische  Strukturzusammenhang  des  Dramas  –  sind es  also,  die  nach meiner

Überzeugung das Theater zu einer Ausdrucksform des neuen Denkens disponiert haben

wie keine andere Gattung der  Literatur.

François Hédélin Abbé d'Aubignac und die Pratique du Theâtre

Nun müssen wir einen Schritt weiter gehen. Von den vier genannten Punkten sind es

vor allem die körperliche Präsenz und die Verpflichtung auf Prozessualität, die das In­

teresse der französischen Theatertheoretiker auf sich gezogen haben. Das ist auch nicht

verwunderlich, wenn man sich klarmacht, daß in ihnen die formalen Bedingungen des

Dramas thematisch sind. Das ›paßt‹ zu einem Denken, das auf die allereinfachste Formel

gebracht darin besteht, daß das Verhältnis von Inhalt und Form – gegenüber dem Sub­

stanzdenken des Mittelalters – sich umkehrt: daß Form nicht mehr als etwas gedacht

wird, das einem gegebenen Inhalt zukommt, sondern daß sie vorrangig wird und den

Inhalt gewissermaßen aus sich erzeugt. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen

nun einige Thesen der wohl wichtigsten Theatertheorie der französischen Klassik vor­

stellen, der Pratique du Théâtre von François Hédélin Abbé d’Aubignac. 

Was war das für ein Mann, den heute kaum noch jemand kennt? D’Aubignac10 wur­

de 1604 in Paris geboren, wo er Rechtswissenschaften und Theologie studierte. Er arbei­

tete als Erzieher des Neffen von Richelieu, der ihm dafür die Abtei von Aubignac ver­

lieh, der er seinen Zunamen verdankt. D’Aubignac war also kein Kirchenmann im stren­

gen Sinn. Er bezog lediglich die Pfründe aus der Abtei, die ihm das wohlhabende Leben

eines Rentiers sicherten, so daß er sich ungestört seiner Obsession hingeben konnte:

eben dem Theater. 

Von dieser Obsession war auch Richelieu selber erfaßt, und es ist vor allem der poli­

tischen   und   finanziellen   Macht   dieses   Mannes   zu   verdanken   –   er   war   ja   »Erster

Minister« (ein eigens für ihn geschaffenes Amt) unter Ludwig XIII. –, daß das Theater in

verhältnismäßig kurzer Zeit aus den Spelunken der Vorstädte ins Zentrum der Macht

und der kunsttheoretischen Diskussionen gelangte. 1629 wurde das Théâtre de Marais

eröffnet, 1639 wurden die Schauspieler des Hôtel de Bourgogne die »Schaupieler des

Königs,   unterhalten   von   seiner   Majestät«.   Richelieu,   der   selber   auch   Theaterstücke

schrieb, versammelte einen Club aus Intellektuellen um sich, in dem die Entwicklung

des Theaters vorangetrieben und theoretisch erörtert wurde. Zu diesen Intellektuellen

gehörte auch d’Aubignac. Hier wurden die sogenannten »drei Einheiten« diskutiert, die

zuerst von Jean Chapelain auf die Tagesordnung gesetzt wurden. Das sind – darüber

wird noch einiges zu sagen sein – die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung. Sie

besagen, daß die Tragödie idealerweise nur an einem Ort und während einer ununter­

brochenen Zeitspanne spielen; sowie, daß sie nur eine Handlung enthalten darf. Diese

Dinge kommen uns heute ziemlich selbstverständlich vor (selbstverständlicher, als sie es

in Wirkichkeit sind). Als Chapelain sie aber zur Diskussion vorlegte, wurden sie von al­

len Beteiligten als etwas durchaus Revolutionäres und Neues empfunden.11

1637 ereignete sich die sogenannte »querelle du Cid«. Das Theaterstück des jungen

Corneille nämlich, aus dem ich Ihnen vorhin etwas zitierte, war zwar ein rauschender

Erfolg und beförderte seinen Autor an die Spitze der poetischen Zunft in Frankreich. Zu­

gleich aber war es eben nicht regelgerecht verfaßt. Das heißt, daß Corneille in diesem

Stück mit allein drei Einheiten ausgesprochen lässig umging: Der Cid spielt nicht an ei­

nem Ort,  die Handlung dieses Stücks verteilt  sich sinnvollerweise auf mehrere Tage

(was schon als Verletzung der Regel empfunden wurde), und zuguterletzt hatte Corneil­

le eine Nebenhandlung in das Stück eingebaut, die atmosphärisch ausgesprochen wich­

tig ist, von der Kritik aber als überflüssig empfunden wurde.12 

Ich habe hier keine Gelegenheit, diese Affäre vor ihnen auszubreiten. Es muß genü­

gen, daß durch das Hin und Her zwischen dem Kreis um Richelieu und Corneille (der

darauf bestand, daß der Erfolg ihm rechtgebe), immer dringlicher die Notwendigkeit

empfunden wurde, die Regeln, die ein Theaterschriftsteller zu befolgen habe, kanonisch

niederzulegen. Und zu genau dieser Aufgabe fühlte sich der Abbé d’Aubignac berufen;

und er war wohl auch dazu der berufene Mann. 1640 kündigte er das baldige Erschei­

nen eines Werks an, das er La Pratique du Théâtre nannte, also ein praktisches Manual

der dramatischen Kunst. 

Die Publikation dieses Werkes verzögerte sich aber um ganze siebzehn Jahre: 1657

erst gelangte es an die Öffentlichkeit. Es ist sehr wahrscheinlich, daß d’Aubignac durch

den Tod Richelieus, 1642, seines großen Förderers, entmutigt wurde. Nicht zum we­

nigsten hat aber wohl auch seine schleppende Gründlichkeit und sein unbedingter Wille

zur systematischen Darstellung dazu beigetragen. Liest man die  Pratique, so hat man

über weite Strecken den Eindruck, ein reichlich unkünstlerisches Naturell vor sich zu

haben, gepaart mit einer systematischen Begabung, die irgendwie ›deutsch‹ wirkt, sorg­

fältig und pedantisch, und einer ziemlich großen Gelehrsamkeit. Er ist ein Criticus, ein

Bleistiftspitzer. Es erscheint kaum vorstellbar, daß sich d’Aubignacs Leidenschaft für das

Theater den darin aufgeführten Leidenschaften verdankt, den dramatischen Affekten,

die die Zuschauer mitreißen. Vielmehr ist ihm die Bühne eine Art Laboratorium, in dem

sich auf kontrollierbare Weise Realität erzeugen läßt. Und Theatertheorie heißt für ihn

vor allen Dingen: Reflexion der  formalen Bedingungen dieser Realitätserzeugung. Und

genau in diesem Punkt trifft er sich mit dem Anbruch des neuen Denkens, den Eske Bo­

ckelmann begründet und ausgearbeitet hat. 

Ich habe ihnen, einer guten hermeneutischen Maxime folgend, einmal das Inhalts­

verzeichnis der Pratique mitgebracht und fotokopiert. Es ist ein gutes, aussagekräftiges

Inhaltsverzeichnis, aus dem man einiges über das ganze Werk erfährt. Sie sehen, daß es

in vier Bücher aufgeteilt ist. Zentral sind die Bücher I und II; die beiden folgenden Bü­

cher enthalten nicht unbedingt Korollarien, aber sie entfalten doch den immer wieder­

holten Grundgedanken in die Fülle all der dramatischen Mittel, auf die man als Theater­

besucher im Frankreich des 17. Jahrhunderts stieß. Deswegen stammt das, was ich Ih­

nen nun mitteilen möchte, in der Hauptsache aus den ersten beiden Büchern. 

Buch I beschäftigt sich mit der theatralischen Situation, also mit dem Gegenüber von

Bühne und Zuschauer. Man könnte sagen, es exponiert des spezifischen  Blick des Zu­

schauers der Guckkastenbühne, das heißt einer Bühne, in der die Bühne weniger umge­

ben ist von den Zuschauern wie im antiken Amphitheater oder auch noch im elisabetha­

nischen Globe­Theatre – dem Theater, für das Shakespeare seine Stücke konzipierte. Die

Guckkastenbühne gewährt vielmehr mehr oder weniger allen Zuschauern den frontalen

Blick auf die Bühne. Der ideale Platz für diese Perspektive ist dabei der Platz des absolu­

tistischen Monarchen, die Königsloge. Die Überlegungen, die d’Aubignac zu diesem Ver­

hältnis von Zuschauer und Bühne anstellt, haben dabei sowohl grundlegenden als vor­

bereitenden  Charakter.  Sie   exponieren  nämlich  den   spezifischen  Wirklichkeitsbegriff,

den d’Aubignac der dramatischen Kunst zuschreibt. Dieser Wirklichkeitsbegriff trägt den

Titel  vraisemblance,   »Wahrscheinlichkeit«.  Er   ist  die  zentrale  Konzeption d’Aubignacs

und das gesamte zweite Buch kreist um diesen Wirklichkeitsbegriff und um die Bedin­

gungen seiner Erzeugung in den Kategorien des Handlung, des Ortes und der Zeit – je­

nen Kategorien also, die Chapelain in die Diskussion gebracht hatte. 

Dementsprechend möchte ich mich in der Darstellung von d’Aubignacs Überlegun­

gen auf die folgenden zwei Punkte konzentrieren: 

–  Genese und Gehalt des Begriffs der vraisemblance; 

– die Mittel, durch die das dramatische Geschehen in d’Aubignacs Sinne »wahrschein­

lich« gemacht wird; das sind all die Verfahrensweisen, die sich um die Einheit der

Handlung des, Ortes und der Zeit ranken. 

Begriff der vraisemblance

Zunächst also zur Wahrscheinlichkeit.13  D’Aubignac beginnt die Überlegungen, die zu

diesem Begriff geleiten, damit, daß er am Theaterstück zwei Aspekte unterscheidet: den

Aspekt der  Darstellung und den Aspekt des  Dargestellten. Er betrachtet die Bühne also

als Zeichen. Dieses Zeichen besteht auf der einen Seite aus dem Bezeichnenden selber,

und auf der anderen Seite aus dem, was dadurch bezeichnet wird. Denken Sie an eine

Verkehrsampel. Das Bezeichnende dieser Verkehrsampel ist das Licht; das Bezeichnete

die durch das Licht veranlaßte und in den Verkehrsregeln festgelegte Anweisung. Wenn

die Verkehrsampel rot leuchtet – Bezeichnendes –, dann müssen alle Verkehrsteilneh­

mer anhalten – Bezeichnetes. 

Ähnlich – zunächst – verhält es sich auch mit dem Theater. Auf der Bühne befinden

sich Menschen und Gegenstände, die so in der Wirklichkeit nicht existieren: gemalte Pa­

läste, verkleidete Prinzen, falsche Dolche, ein Souffleur etc. Das sind die Mittel der thea­

tralischen Illusion, betrachtet als reale Gegenstände. Als solche muß der Dichter, müs­

sen die Schauspieler und später die Regisseure mit ihnen umgehen. So muß der Schau­

spieler, wenn er sich gegen eine Säule lehnt, wissen, daß es sich um eine gemalte Säule

handelt – sonst fällt er nämich um. 

Gleichzeitig bedeuten aber alle diese Dinge eine Wirklichkeit, die nicht die Wirklich­

keit der Bühne ist, sondern die der Zuschauer. Sie bezeichnen etwas, von dem ange­

nommen wird, oder von dem man glauben soll, daß es sich wirklich ereignet hat. Diese

Dimension des theatralischen Zeichens nennt d’Aubignac histoire véritable, wirkliche Ge­

schichte oder wirkliches Geschehen. 

Zunächst ist klar, wodurch sich diese beiden Wirklichkeiten voneinander unterschei­

den. Die Wirklichkeit der Darstellung ist eine, über die man relativ frei verfügen kann.

Man kann beliebige Orte auf die Kulissen plazieren, man kann die Schauspieler auf­ und

abtreten lassen, wie man möchte, man kann mithilfe von Maschinen übernatürliche Er­

eignisse inszenieren. Die Wirklichkeit des Bezeichneten hingegen, der histoire véritable

muß der Naturordnung entsprechen. In ihr, der Welt der Zuschauer, muß es mit rechten

Dingen zugehen; und dieses, daß es mit rechten Dingen zugeht, ist eigentlich der Kern

dessen, was d’Aubignac Wahrscheinlichkeit nennt. 

Wie kann man zu dieser Wahrscheinlichkeit gelangen? Es sind meines Erachtens

zwei grundlegende, aufeinander aufbauende, aber voneinander zu trennende Maßnah­

men, die dazu dienen, das, was der Zuschauer wahrnimmt, wahrscheinlich zu machen.

Die  erste, basale besteht darin, daß die Mittel, durch die die theatralische Illusion er­

zeugt wird, gewissermaßen im Produkt verschwinden. Sie müssen  unsichtbar werden.

Darin unterscheidet sich das Theater, dieses Theater von der Ampel. Im Falle der Ampel

hat das rote Licht mit dem Anhalten der Autos substanziell nichts zu tun; das Verhältnis

dieser beiden Seiten des Zeichens ist, wie Saussure es später formulieren wird, arbiträr.

Im Theater dagegen sollten die Zuschauer glauben, daß die gemalte Kulisse einen wirk­

lichen Gegenstand darstellt,  daß die Schauspieler wirklich die Personen  sind,  die sie

spielen, und daß das Geschehen, das vor ihnen abrollt, nicht von einem Schriftsteller ge­

macht wurde, sondern real und und leibhaft vor ihren Augen abläuft.

All das klingt einigermaßen trivial. Es verliert diesen Anschein der Trivialität aber,

wenn man sich klarmacht, daß das, was uns aus der Ästhetik des Theaters noch halb­

wegs, aus der Ästhetik von Film und Fernsehen ganz und gar geläufig ist, im Theater,

das überall und zu allen Zeiten auf der Welt gespielt wird, überhaupt keine Selbstver­

ständlichkeit darstellt, ja daß es eher eine Ausnahme bildet. D’Aubignac führt selber ein

Beispiel  aus der  okzidentalen Tradition an,  das  dieser  elementaren Bestimmung der

Wahrscheinlichkeit zuwiderläuft: die antike Komödie des Plautus. Hier ist es möglich,

daß die Schauspieler mitten im Stück zu verstehen geben, daß sie Schauspieler sind,

daß es sich um eine gespielte Realität handelt. Dieses Beispiel ließe sich um viele weitere

vermehren – denken Sie etwa an Brechts episches Theater und seine Theorie der Ver­

fremdung, die auf solche selbstreflexiven Ansätze zurückgreift und ihnen einen politi­

schen Sinn verleiht: die Distanz, die der Schauspieler zu seiner Rolle demonstriert, soll

die Distanz des Zuschauers zum Bühnengeschehen, aber auch zu der Wirklichkeit, von

der er umgeben ist, verstärken und diese Wirklichkeit als eine potentiell jederzeit verän­

derbare ihm vor Augen führen. Aber auch alle Theatertraditionen, die die Künstlichkeit

der auf der Bühne verwendeten Mittel betonen, die etwa mit Masken, Gesang und Tanz

arbeiten wie die griechische Tragödie oder wie die okzidentale Oper; eine Kunstform

wie die chinesische Oper, die den Gesang selber zu äußerster Künstlichkeit übersteigert

– als das sind Phänomene, die von der Wahrscheinlichkeit d’Aubignacs kategorisch aus­

geschlossen werden. 

Auf dieser basalen Identifikation des Bezeichnenden mit dem Bezeichneten ruht nun

ein zweiter Gedanke auf.  In der  illusionistischen Einheit  des theatralischen Zeichens

kehren nämlich seine beiden Seiten wieder. Die Seite des Bezeichnenden, das sind nun

alle dramatischen Mittel, die benutzt werden, nicht um eine Handlung überhaupt, son­

dern eine wahrscheinliche Handlung darzustellen. Das sind: die Auswahl des sujets (ein

sujet, das den Heutigen ganz fremde Sitten vorführte, erschiene nicht wahrscheinlich),

die schauspielerische Darstellung der Leidenschaften und die Sprache des Dramas, in

der sich die Handlung und die Affekte materialisieren. 

Die Seite des Bezeichneten wiederum realisiert sich in den formalen Mitteln, durch

die eine Handlung wahrscheinlich erscheint. Das oberste dieser formalen Mittel ist da­

bei,  daß die Handlung auf der Bühne so abläuft, als ob die Zuschauer nicht dabei wären.

Alles das, was d’Aubignac später über die Einheit von Raum, Zeit und Handlung sagt,

beruht auf dieser Forderung, die recht eigentlich die Bedingung darstellt, unter der sich

das dramatische Geschehen in die Kontinuität des Raumes, der Zeit und der Handlung

entfaltet. 

Auch das klingt zunächst ziemlich selbstverständlich. Wenn wir aber zum Beispiel

an die Komödie des Aristophanes denken, in der von der Bühne herab – oder besser:

von der Bühne hinauf – anwesende Zuschauer verspottet wurde; wenn wir etwa an ein

Stück wie  Hamlet  denken, in dem sich, obwohl das Drama im mittelalterlichen Däne­

mark spielt,  Hamlet und der Leiter am am Hof gastierenden Schauspielertruppe sich

über die Übelstände im gegenwärtigen – elisabethanischen – Theater austauschen; oder

wenn wir gar an die Praxis des heutigen Regietheaters denken, in dem der Begriff der

Aktualisierung eine so bedeutende Rolle spielt –, dann klingt auch das nicht mehr ganz

so selbstverständlich. 

Auch d’Aubignac ist sich dessen bewußt. So wirft er im folgenden die Frage auf, ob

es nicht ziemlich unwahrscheinlich sei, daß ein Geschehen von außen restlos verstanden

werden könne, ohne daß es ersichtlichermaßen für dieses Außen produziert sei. Anders

gesagt: Normalerweise passieren die Dinge nicht vor den Augen einer Öffentlichkeit.

Man handelt nicht so, daß ein Außenstehender in der Lage wäre, das, was geschieht,

ganz zu durchschauen. Wie kann eine Handlung, die für Zuschauer gemacht ist, so wir­

ken, als ob sie nicht für sie gemacht sei? 

Genau darin, sagt d’Aubignac, liegt die höchste und oberste Kunst des Dramatikers.

Er muß es verstehen, die Handlung als eine absolut durchsichtige und verständliche, mit

ihrer Vorgeschichte, mit den zugrundeliegenden Motiven, vor den Augen und Ohren des

Publikums ablaufen zu lassen. Dazu muß er sich gewisser Tricks bedienen – couleurs lau­

tet das kaum übersetzbare Wort, das d’Aubignac dafür findet. Und der Verfasser der

Pratique du Théâtre  steht nicht an, ihm über solche Tricks Auskunft zu erteilen. Wie

etwa kann man zwanglos in einem Gespräch die Vorgeschichte entfalten? Wie motiviert

man einen Monolog, der über die inneren Gedanken eines Intriganten Auskunft gibt?

Das und andere sind die Fragen, auf die die Konzeption der couleurs in zahlreichen Fi­

liationen eine Antwort geben möchte.  

Wir können das hier im einzelnen nicht verfolgen. Wichtig ist aber, daß d’Aubignac

diesen Verfahrensweisen der dramatischen Kunst vor der Sprache, vor der Darstellung

der Leidenschaften – kurz, vor all dem, was die Zuschauer  emotional  in seinen Bann

schlagen kann –, den Vorrang gibt. Das gilt auch für die Kategorien der Handlung, des

Raums und der Zeit, die im folgenden entfaltet werden. Und wiederum ist zu sagen: das

ist  nicht   selbstverständlich.  Bereits  Corneille,  mit  dessen  Werk   sich  die  Pratique  du

Théâtre  unterirdisch ununterbrochen auseinandersetzt,  sieht diese Dinge anders.  Der

Zentralbegriff von Corneilles Ästhetik ist nämlich die  admiration: Gelingt es, den Zu­

schauer durch die mimische und sprachliche Darstellung mitzureißen, wird er die ganze

Handlung glaubwürdig  finden,  auch wenn sie den formalen Vorgaben nicht  in aller

Strenge genügt. Sie sehen: Es liegt da ein anderes Identifikationmodell vor. Bei Corneil­

le vollzieht sich die Identifikation ausgehend von der Bühne, und von hier aus erfaßt sie

die Zuschauer. Bei d’Aubignac hingegen vollzieht sich sich ausgehend vom Zuschauer und

von hier aus bestimmt sie die Bühne. 

Auf der einen Seite blendet die Theatertheorie d’Aubignacs also den Zuschauer aus:

das Geschehen soll stattfinden, als ob es ihn nicht gebe. Auf der anderen Seite jedoch

wird gerade dadurch, durch die anonymisierte Instanz des Zuschauers das Geschehen auf

der Bühne formal determiniert.   Ich sprach vorhin vom Auge des Monarchen.  Dieses

Auge ist nirgends zu sehen. Aber es ruht auf den Geschehenissen und legt die Bedingun­

gen fest, unter denen sie stattzufinden haben. Das, was auf der Bühne sich ereignet, ist

eine künstliche Realität. Diese künstliche Wirklichkeit setzt sich zusammen aus Inhalt

und Form. Für den Inhalt zeichnet der Dichter verantwortlich, für die Form der ideali­

sierte  Zuschauer,  das   absolutistische  Zentralsubjekt.  Beide   sind  auseinandergerissen,

und bei ihrer Neuzusammensetzung hat der formale Pol den Vorrang einer transzenden­

talen Instanz, einer Instanz also, die die Bedingungen festlegt, um denen ein Inhalt mög­

lich  ist. Und schließlich haben beide – so gebietet es die Pratique du Théâtre – im Pro­

dukt zu verschwinden, das als ganz und gar natürliches erscheinen soll. 

Das bedeutet nicht, daß es ein natürliches, von sich aus gegebenes ist. D’Aubignac

legt vielmehr Wert darauf, daß in die Anerkennung der  vraisemblance  als natürlicher

Realität  eingeübt werden muß: Ein Zuschauer, der noch nie ein Theaterstück besucht

hätte, wäre von den Geschehenissen, die vor ihm auf der Bühne sich ereignen, verwirrt.

D’Aubignac sagt: »Es ist (...) nötig, daß er viele Stücke gesehen hat und viele Überlegun­

gen dazu angestellt hat, um herauszufinden, ob sie wahrscheinlich seien oder nicht.«14

Die Abstraktion auf den formal regelhaften Charakter von Geschehenissen ist also et­

was, das natürlich erscheinen soll, aber gerade nicht natürlich ist, sondern durch regel­

mäßigen und häufigen Theaterbesuch erlernt werden muß. Auf diese Weise wird die

Bühne zur Geburtshelferin einer neuen, ganz bestimmten Sicht auf die Wirklichkeit – ei­

ner Sicht, die sie in dem Maße  als Wirklichkeit anerkennt,   in dem sie sich  vorausset­

zungslos und durchsichtig vor dem Zuschauer entfaltet, der gleichzeitig als abwesend be­

hauptet wird. Dadurch  gewinnt in der theatralischen Konstruktion der Wirklichkeit die

Form überhaupt Vorrang vor den Inhalten. 

D'Aubignacs Wirklichkeitsbegriff und die Denkform der Neuzeit

Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz innehalten und eine erste Querverbindung zu Eske

Bockelmanns Buch schlagen. Dazu möchte ich das, was mir der Kern des neuen, durchs

Geld vermittelten Denkschemas zu sein scheint, kurz rekapitulieren. 

Zwei Dinge sind für die Struktur wesentlich, die sich vermittels des alltäglichen Um­

gangs mit Geld in den Köpfen der Menschen festsetzt und die ihren prägnantesten Aus­

druck im Akzentstufentakt findet: 

– der  nichtinhaltliche  Charakter  des  Verhältnisses  von  »betont«  und »unbetont«   im

Takt, von Geldwert und Warenwert in der Geldhandlung. Das meint, daß die beiden

Pole eines solchen Verhhältnisses einzig und allein durcheinander bestimmt sind;

dadurch, daß sie einander ausschließen, und in diesem Sich­Ausschließen wechsel­

seitg voneinander abhängen. 

– und zweitens  der  asymmetrische  Charakter  dieses  Verhältnisses,  dessen Elemente

sich eben dadurch voneinander unterscheiden, daß das eine bestimmt in sich ist, weil

es das andere bestimmt; und das zweite unbestimmt ist, eben weil es seine Bestim­

mung ist,  durch das andere bestimmt zu werden. Das erste Element stellt  also –

ohne daß es aus diesem Grund auf das zweite verzichten könnte – das Verhältnis sel­

ber dar, das Ganze des Verhältnisses als solches: sich selbst  und die Beziehung zu

seinem Gegenüber, das von ihm bestimmt wird. 

Dieser zweite Punkt ist außerordentlich wichtig, und um sie mir und Ihnen so klar wir

möglich zu machen, will ich ihn anhand zweier Zitate aus Im Takt des Geldes noch ein­

mal in Erinnerung rufen. Dort heißt es vom Takt: Bei aller Symmetrie –  beide  Seiten

sind jeweils  als  die nicht­andere bestimmt – unterliegt  ihr Verhältnis  auch einer be­

stimmten Asymmetrie (...): Das eine der Elemente ist tatsächlich bestimmt als das – in­

haltlich gesprochen – hervorgehobene. Worin aber besteht das Bestimmtsein, da es kei­

nen Inhalt hat? Nicht­inhaltlich gefasst (...), kann es nur in Bestimmheit überhaupt be­

stehen (...). Also: in der taktrhythmischen Synthesis setzen, verbinden und unterscheiden

wir je zwei Elemente nach dem reinen Verhältnis von bestimmt gegen nicht­bestimmt.15 

Und vom Geld wird gesagt: »Als ›Wert‹ gedacht haben sie beide [Ware und Geld]

ausschließlich diese Bestimmung,  nicht  die andere zu sein, werden sie allein dadurch

aufeinander bezogen, daß sie Negation oder Ausschluss der jeweils anderen sind, im rei­

nen Verhältnis von Ja und Nein, und [es] ergibt sich die Asymmetrie dieses Verhältnisses

dadurch, dass die Einheit die wir am Geld setzen, reine, nur in sich bestimmte Einheit ist

– in Bezug auf die andere –, und dass diese andere, an der Ware, eben nicht nicht  ist,

nicht in sich bestimmte, sondern eine rein nur auf jene andere bezogene Einheit.«16

Erkennen Sie etwas von den Überlegungen des Abbé d’Aubignac wieder? Die von

ihm projektierte »vraisemblence« als Inbegriff dessen, was auf dem Theater für real zu

gelten hat, setzt sich genau in dieser Weise aus zwei Elementen zusammen, die nicht­in­

haltlich sind und die in der beschriebenen Weise asymmetrisch aufeinander bezogen

werden. Der in sich bestimmte, weil bestimmende Pol des Verhältnisses wird vom Zu­

schauer repräsentiert. Und der Pol, der allein dadurch qualifiziert wird, daß er von sei­

nem Gegenüber bestimmt wird – das ist die Bühne. Der Dichter liefert den Stoff, so wie

ein Komponist die Melodie, so wie die materielle Natur (oder der Gott des Descartes)

die Fülle der phänomenalen Welt. Aber sie alle müssen jene Struktur passieren, um als

Wirklichkeit vor dem neuen Denken zu bestehen. Die materiellen Phänomene werde in

eine experimentelle Anordnung gebracht, die etwas nach Bacons Models von »schema­

tismus« und »processus«, von idealisiertem Massenpunkt und reiner Prozeßgesetzlich­

keit verfaßt ist. Der melodische Einfall hat sich der apriorischen Struktur des Taktsche­

mas und seiner Aufstufungen zu fügen. Und der dichterische Vorwurf muß gleichfalls

durch dieses System von reinem Bestimmen und reinem Bestimmwerden hindurchge­

hen, das d’Aubignac durch die simple Forderung errichtet, das Drama habe für den Zu­

schauer klar und verständlich zu sein, gleichzeitig aber dürfe es dies an keiner Stelle zu

erkennen geben: genauso wie auf der Bühne habe die Handlung auch ›in Wirklichkeit‹,

d.h. ohne Zeugen und Öffentlicheit, ablaufen könne. 

Schon dies scheint mir ein einigemaßen stichhaltiger Beleg dafür zu sein, daß das

Theater der neuen Denkform eine großartige Möglichkeit bot, sich außerhalb des engen

Rahmen der Naturwissenschaft (genauer: der Mechanik) ›in Szene zu setzen‹. Und es

sieht so aus, daß diese Möglichkeit auch ergriffen und von einem Theoretiker wie d’Au­

bignac mit einem systematischen Sachverstand reflektiert wurde, der auf seinem Gebiet

dem eines Francis Bacon durchau vergleichbar ist.17

Einheit von Handlung, Raum, Zeit

Wir können nun noch einen Schritt weitergehen, indem wir zu d’Aubignac zurückkeh­

ren und uns mit den Mitteln auseinandeursetzen, durch die die »vraisemblance« haltbar

gemacht werden soll.  

Vor den Augen und Ohren des Zuschauers, so sagten wir, hat sich die dramatische

Wirklichkeit vollkommen voraussetzungslos  und  durchsichtig  zu entwickeln. Darin liegt

der Begriff der Einheit der Handlung bereits beschlossen. Nun hat »Einheit« mehrere Be­

deutungen, und zwar erstens  numerische Einheit, zweitens  Abgeschlossenheit, und drit­

tens Kontinuität oder inneren Zusammenhang. Es spricht nicht zum letztn für die philo­

sophische Begabung d’Aubignacs, daß er alle drei Bedeutungen von Einheit sieht und

systematisch abarbeitet. 

Erstens, sagt er, darf es nur eine Handlung geben, die überdies so einfach wie mög­

lich strukturiert sein soll. Ich hatte vorhin schon das Beispiel des Corneilleschen Cid ge­

nannt, dem vorgeworfen wurde, einer Nebenhandlung ein unzulässiges Gewicht verlie­

hen zu haben. Oder denken Sie an Komödien Shakespeares, die das ›multiple play‹ vir­

tuos handhaben und oft mit spektakulären Mehrfachhochzeiten enden. Oder, gleichfalls

von Shakespeare, die Stücke, die sich um Heinrich IV. drehen und worin die Haupt­

handlung – aber kann man hier noch von Haupthandlung reden? – schier erdrückt wird

von dem Gewicht der Falstaff­Episoden. All das darf der Doktrin d’Aubignacs zufolge

nicht sein. Auch die Schilderung eines Heldenlebens durch weit auseinanderliegende

Episoden wird von ihm verworfen. Der Vergleich, den d’Aubignac in diesem Zusammen­

hang immer wieder bemüht, ist das eines Gemäldes. Wie ein Maler ist der Dichter gehal­

ten, die Handlung auf einen entscheidenden Augenblick zu konzentrieren, in dem alle Li­

nien zusammenlaufen. Die Idee des Dramas ist also nicht, wie man denken sollte, ein

Prozeß, sondern ein Moment, in dem alle Ereignisse, die auf der Bühne ausgetragen

werden, virtuell gleichzeitig sind. Der zeitliche Prozeß des Dramas entfaltet also etwas,

das ›eigentlich‹ schon da ist.  

Daraus ergibt sich nicht nur die numerische Einheit der Handlung: auf einem Ge­

mälde kann nur eine Handlung abgebildet sein; werden mehrere voneinander teilweise

unabhängige Handlungen dargestellt,  so handelt es sich – wenigstens nach Meinung

d’Aubignacs – eigentlich um zwei Gemälde. 

Bild und Augenblick, in denen die dramatische Handlung idealtypisch konzentriert

ist, verweisen aber auch auf den zweiten Aspekt der Einheit: die Abgeschlossenheit. Dar­

unter versteht d’Aubignac zweierlei. Einmal darf die Handlung nicht auf Voraussetzun­

gen beruhen, die in einer dem Zuschauer unbekannten Vorgeschichte liegen. Das wäre

so,  als  könnte man ein  bestimmtes Bild  nur verstehen,  wenn man ein  anderes  Bild

kennt. Wenn es solche Voraussetzungen gibt – was ja in den meisten Dramen der Fall ist

–, so muß der Dichter suchen, sich durch geeignete couleurs den Zuschauer so schnell

wie möglich mitzuteilen. Und zum anderen muß das Drama mit der es beschließenden

Katastrophe wirklich zu Ende sein. Man darf sich nicht fragen: wie geht es weiter, wie

verlaufen die weiteren Schicksale der Helden? Auch in diesem Punkt übrigens hatte Der

Cid eklatant gegen die Regeln verstoßen: es ist ein Drama mit einem offenen Schluß. 

Ja, und drittens ergibt sich aus dem Begriff des Augenblicks, in dem alle Geschehe­

nisse virtuell enthalten sind, das Gebot, daß die Handlung kontinuierlich verlaufen muß.

Darunter versteht d’Aubignac zunächst, daß sie keine auffälligen Unterbrechungen erlei­

den sollte. Handlungszusammenhänge, zu denen größere Zeitsprünge gehören, werden

dabei von selbst ausgeschlossen. Außerdem ist es die Aufgabe des Dramatikers, immer

dann, wenn eine Person von der Bühne geht, dem Zuschauer zu signalisieren, was sie in

der Zeit ihrer Abwesenheit tun wird. Das heißt, ihm wird zu verstehen gegeben, daß

permanent gehandelt wird, daß es keine Leerzeiten und Lücken gibt – auch wenn nicht

alle an der Handlung Beteiligten zur gleichen Zeit sichtbar sind. Die dramatische Wirk­

lichkeit, so könnte man sagen, ist nicht ›selbsttragend‹. Durch die Permanenz der Hand­

lung muß sie unablässig aufrechterhalten werden. Ebenso, wie es der Einübung bedarf,

um sie als Wirklichkeit anzuerkennen, ja in ihr die empirische Wirklichkeit in ihrer We­

sentlichkeit, gleich Gesetzmäßigkeit, zu begreifen, reicht der bloße Impuls einer theatra­

len ›Verabredung‹ zwischen Dichter und Publikum nicht aus, um die dramatische Wirk­

lichkeit in der Anschauung des Zuschauers zu stabilisieren. Dieser Impuls muß vielmehr

ständig erneuert werden. 

Wenn d’Aubignac sich nun im folgenden der Einheit des Ortes und der Einheit der

Zeit zuwendet, so spielen dabei alle drei Aspekte von ›Einheit‹ eine Rolle. Der ihm wich­

tigste, weil am schwierigsten zu bewerkstelligende ist allerdings der Aspekt der Konti­

nuität. Auch die beiden Kapitel, mit denen ich meine Darstellung abschließen möchte,

das Kapitel über die »préparation des incidents«, die »Vorbereitung der Ereignisse« und

das über die Katastrophe, gehen vor allem der Frage nach, wie die dramatische Hand­

lung als eine kontinuierliche in Szene gesetzt werden kann. 

Zunächst zur Einheit des Orts. Angesichts der Ausführlichkeit, mit der sich d’Aubi­

gnac diesem Thema widmet, muß man wissen, daß es in dem Volkstheater des begin­

nenden 17. Jahrhunderts in Frankreich  drei Kulissen  üblich waren: eine an der Rück­

wand der Bühne, und zwei an den Seitenwänden. Diese Kulissen stellten drei verschiede­

ne Orte  dar.  Ortswechsel konnten bewerkstelligt werden, indem sich die Schauspieler

von einer Kulisse zur nächsten bewegten; das galt als Signal, und wenn sie sich dann

wieder im Vordergrund der Bühne postierten, wußte das Publikum, an welchem Ort

sich der Protagonist gerade befand. Damit – Sie können es sich denken – räumt d’Aubi­

gnac gründlich auf. Nur einen einzigen Ort darf es noch geben; auch die seitlichen Ku­

lissen dienen seiner Versinnbildlichung. 

Das bedeutet, daß der Dichter einen zentralen Ort auszuwählen hat, einen Ort, von

dem aus sich alle anderen Orte, derer die Handlung bedarf, ungefähr in der Zeit errei­

chen lassen, die der jeweilige Akteur von der Bühne verschwunden ist. Das Phänomen

also des Boten, der in eine andere Stadt geschickt wird und wunderbarerweise nach ei­

ner Viertelstunde wieder auf der Bühne erscheint, um Rapport zu erstatten, ist nicht zu­

lässig: Der Dichter hat in diesem Fall den Ort falsch gewählt, oder er hätte darauf sin­

nen müssen, den Weg des Boten zu verkürzen. Ganz und gar läßt sich das selten mit

den strengen Geboten der  vraisemblance  in Übereinstimmung bringen und d’Aubignac

verrät im folgenden auch einige Tricks, wie man es wenigstens so scheinen lassen kann,

daß die Schauspieler so lang abwesend sind, wie sie für die beabsichtigte Handlung in

Wirklichkeit gebraucht hätten – dazu später noch etwas mehr. 

Wichtiger ist aber, daß diese Auslegung der Einheit des Ortes18  in der Einheit der

Zeit fundiert ist. Die Zeit ist nämlich das Maß, mit dem räumliche Entfernungen gemes­

sen werden. Das, was den Ort der Bühnenhandlung in eine »wahrscheinliche« Bezie­

hung zu den anderen Orten setzt, die für das Drama benötigt werden, ist einzig und al­

lein die Zeit, derer es bedarf, um von einem zum anderen zu gelangen. Die Einheit des

Ortes, soweit sie mehr bedeutet als die numerische Einheit, sondern einen Zusammen­

hang bezeichnet, der sich auch durch Abgeschlossenheit und Stetigkeit (also Kontinui­

tät) auszeichnet, gründet in der Einheit der Zeit. Oder: sie ist eine Form, in der die Ein­

heit der Zeit erscheint. 

Was sagt d’Aubignac nun über die Einheit der Zeit selbst? Er beginnt seine Ausfüh­

rungen damit, daß er an der Zeit nochmals die beiden Aspekte der dramatischen Wirk­

lichkeit unterscheidet: die Zeit der Darstellung auf einen einen Seite – also die ca. 3–4

Stunden, die eine Theateraufführung dauert –, und die dargestellte Zeit – die Zeit der

histoire véritable. Die ganze Frage der Einheit der Zeit dreht sich darum, wie sich die

erste Zeit zur zweiten verhält. 

D’Aubignac erörtert zunächst den in diesen Zusammenhang kanonischen Satz des

Aristoteles, »daß die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen

Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen«19. Das meine, so der

Verfasser der Pratique du Théâtre nicht die 24 Stunden des astronomischen Tages, son­

dern die 12 Stunden, an denen die Sonne sichtbar sei. Er führt eine Reihe von Gründen

für diese Auslegung an, deren wichtigster ist, daß 12 Stunden die maximale Zeitdauer

sei, während deren Menschen konzentriert und kontinuierlich handeln könnte; gehe die

dargestellt Zeit merklich darüber hinaus, müßten die Protagonisten realistischerweise

sich ausruhen oder etwas essen, und das, so verfügt d’Aubignac, gehöre nicht in ein

Bühnenstück. 

12 Stunden also – das sind immer noch vier Mal so viel wie die Dauer der Theater­

aufführung. D’Aubignac liebäugelt kurze Zeit mit der Idee des ›Echtzeitdramas‹, also des

Dramas, in dem darstellende und dargestellte Zeit genau gleich sind, räumt aber ein,

daß sich das kaum bewerkstelligen lassen, ohne anderenorts die Wahrscheinlichkeit zu

verletzen. Die Zusammendrängung einer Handlung auf 12 Stunden hält er für realis­

tisch, auf 6 oder 3 Stunden nur in Ausnahmefällen für möglich. Es muß also dramati­

sche Verfahrensweisen geben, vermittels derer die drei Stunden der Aufführung als 12

Stunden erscheinen können, ohne das dem Zuschauer Zeitsprünge angemutet würden,

durch die das Gebot der Kontinuität verletzt würde. Das sind vor allem drei: 

– Die Zwischenaktsmusik. Man muß hierzu wissen, daß die Dramen in der Zeit der

französischen   Klassik   nicht   fortlaufend   aufgeführt   wurden.   Zwischen   den   Akten

nahm ein kleines Orchester Platz und spielte divertissements. Das ist eine Konventi­

on, die mit der Forderung eines kontinuierlichen Handlungsverlaufs zunächst einmal

bricht. D’Aubignac funktioniert sie aber in seinem Sinne um. Die Zwischenaktsmusik

läßt nämlich, so seine These, die Zuschauer die Zeit ein wenig vergessen. Weil keine

gestaltete  Handlungswirklichkeit  zu  sehen,   sondern  lediglich Musik zu hören  ist,

wird ein Raum zeitlicher Indifferenz eröffnet. Diesen Raum kann man mit all den

Aktionen füllen, die eigentlich, ›in Wirklichkeit‹ mehr Zeit brauchen, als auf der Büh­

ne zur Verfügung steht. Also auch der obenerwähnte Bote darf sich etwas weiter von

der Bühne entfernen als die Viertelstunde, die ihm zur Verfügung steht – nicht Ta­

gesreisen weit, aber doch eine gute Stunde, sofern zwischen seinem Abgang und sei­

nem Wiederauftritt ein Aktschluß mit anschließendem interlude liegt. 

– Eine ähnliche Funktion erfüllen die lyrischen Intermezzi: Monologe, Stanzen und

dergleichen. Auch in ihnen wird die Zeit nicht angehalten, aber die Strenge des Zeit­

maßes gemildert, so daß sich in ihnen mehr Handlung außerhalb der Bühne unter­

bringen läßt als eigentlich möglich wäre. 

– Und  schließlich   setzt  d’Aubignac  auf  die  natürliche  Ungeduld  der  Zuschauer   im

Theater, die sie die Dinge schneller erwarten läßt als sie in Wirklichkeit eintreffen

können. Mit dieser Ungeduld muß der Dichter arbeiten, ihr muß er entgegenkom­

men; dann fallen die Raffungen, die er vornimmt, nicht weiter auf. 

Um die Einheit der Zeit zu bewerkstelligen, ist also eine doppelte Verdichtung erforder­

lich. Zum einen muß der Dichter, wenn er, wie in jener Zeit ja meistens üblich, einen

vorgegebenen Stoff bearbeitet, den »entscheidenden Tag« herausfinden, das Ereignis,

das die Katastrophe auslöst. An diesen Tag – darin besteht seine Bearbeitung – muß er

alle anderen erforderlichen Ereignisse so dicht wie irgend möglich heranrücken. Diese

Verdichtung findet auf der Ebene der dargestellen Zeit statt. Zum anderen muß er durch

die angegebenen Mittel diese Zeit wiederum auf die drei Stunden der Theaterauffüh­

rung zusammendrängen. Durch diese doppelte Kompression wird die Zeit homogeni­

siert; sie wird zur kontinuierlichen Ausfaltung des dramatischen Augenblicks, in dem

das ganze Geschehen sich konzentrieren soll. Die beschleunigte, homogenisierte Zeit –

sie wird recht eigentlich zum Träger eines Geschehens, das sich lücken­ und alternativ­

los, gesetzmäßig und durchsichtig entfaltet. Sie wird, mit anderen Worten, zum Träger

des Schicksals. »Schicksal – das ist die Zeit in ihrer beschleunigten Form« läßt Jean Gi­

raudoux Kassandra zu Beginn seines Stücks Der Krieg von Troja wird nicht stattfinden sa­

gen. Wieweit es schon für den antiken Schicksalsbegriff zutrifft, mag hier offenbleiben.

Wie aber diese Schicksalszeit, in der es nichts Neues gibt, keine Freiheit, keine Kontin­

genz, kein plötzlicher Eingriff von außen, – wie dieses Zeit­ und Wirklichkeitsempfinden

im neuzeitlichen Theater entsteht: das können wir in d’Aubignacs  Pratique du Théâtre

wie in einem Laboratorium verfolgen. 

Nur einen letzten Gedankenschritt müssen wir jetzt noch gehen. Ein Geschehen auf

der Bühne zu verfolgen, in dem von Beginn an alles festgelegt ist – das wäre im Grunde

doch langweilig. Und mehr noch: ein Schicksal, das von Anfang an als solches erkennbar

wäre, würde zum Einspruch herausfordern. Es würde die Frage enstehen lassen, ob das

Geschehen wirklich so lückenlos und gesetzmäßig prozessiert, ob sich nicht doch hier

und dort Handlungsalternativen erkennen lassen.20

Diesem Problem trägt d’Aubignac in den Kapiteln über die »Vorbereitung der Ge­

schehenisse« und über die Katastrophe Rechnung. Der Zuschauer, so statuiert er dort,

will überrascht werden. Das heißt, man muß die Handlung so anlegen, daß sie einerseits

gesetzmäßig verläuft, andererseits diese Gesetzmäßigkeit aber nicht von Anfang an er­

kannt werden darf. Der Dichter muß sozusagen falsche Fährten legen, er muß dramati­

sche Zeichen setzen, die zweideutig sind. Aus ihnen leitet der Zuschauer bestimmte Er­

wartungen ab; und die dramatische Kunst besteht dann darin, diese Erwartung durch

die Ereignisse zu enttäuschen, die richtigerweise aus den Zeichen folgen. Das heißt, was

ihn überrascht, ist nicht etwas Neues, sondern die plötzliche Erkenntnis des notwendi­

gen Verlaufs, mithin Erkenntnis des Umstands, das alle Geschehenisse von anfang an

schon »da« waren.21 

Genau auf dieser Linie liegt auch d’Aubignacs Begriff der Katastrophe. Sie ist, sagt

er,  keine »Umkehrung«  (revers),  kein »Umsturz«  (bouleversement),   sondern »lediglich

eine Umwendung (renversement) des dramatischen Ausgangszustandes, die letzte Peri­

petie, und eine Wiederkehr« – retour steht hier bemerkenswerterweise im Französischen

– »von Ereignissen, die allen Schein der Intrige in das Gegenteil dessen verwandelt, was

man ausgehend von ihm hätte erwarten müssen.« Auch hier also wird alles Irreguläre,

nicht von Beginn an Angelegte ausgeschlossen. Der dramatische Prozeß beweist sich als

Einheit, weil er darauf zuläuft, am Ende seine zuvor verborgene Identität mit dem An­

fang hervorzukehren. Der spezifisch doppelbödige Aufbau der dramatischen Handlung

hat den Sinn, diese Einheit nicht einfach zu setzen – damit würde sich der Dichter nicht

bloß der Langeweile, sondern tendenziell auch der Kritik des Publikums aussetzen –,

sondern zu  demonstrieren. Der Augenblick der Überraschung hat den Sinn, das Publi­

kum zu  überfordern, auf daß es sich von der Gesetzmäßigkeit der Handlung  täuschen

läßt. 

Theater als Experiment ­­ Schicksal als Naturgesetz

Ich komme zum Schluß mit zwei Bemerkungen, die sich wiederum auf Im Takt des Gel­

des beziehen. Die erste greift den Begriff des Schicksals auf, die Vorstellung vom Drama

als notwendigem und gesetzmäßigem Zusammenhang und versucht, ihn etwas genauer

zu explizieren. Die zweite versucht dem Zusammenhang von Kontinuum und Kompres­

sion nachzugehen. 

Schicksal – das sagt viel, und ist doch ein ausgeprochener Hilfbegriff. Er erweckt ei­

nigermaßen vage Vorstellung über etwas, das mit Notwendigkeit über die Köpfe der

Menschen hinweg prozessiert: was das aber sei, worin die Notwendigkeit besteht, dar­

über gibt er keine Auskunft. 

Um dies zu klären, müssen wir noch einmal zu d’Aubignacs These zurückkehren,

daß die gesamte Handlung eines  Dramas  idealtypisch  in einem einzigen Augenblick

konzentriert sein soll. Die Vorstellung einer notwendigen Geschehensfolge liegt darin ei­

gentlich schon beschlossen. Denn dann, wenn alles gleichzeitig zu schon ist, ist auch der

gesamte Verlauf schon vorprogrammiert; die »Vorbereitung der Ereignisse« hat, wie ge­

sagt, keinen anderen Sinn, als diesen inneren Zusammenhang, dieses »Programm« erst

allmählich, und dann auf möglichst spektakuläre Weise zu demonstrieren. – Was regelt

aber in der Neuzeit die Abfolge und den Verlauf von Prozessen? Wadurch werden Pro­

zesse als notwendige, so­und­nicht­anders verlaufen könnende verstanden? Sie werden

die Antwort kennen. Der neuzeitliche Begriff, der präzise die Funktion übernimmt, den

in der vorphilosophischen Antike das Schicksal, und in der philosophischen Antike die

biologische Reproduktion des Lebens22, ist der des Naturgesetzes. Es ist für uns ein Ver­

laufsgesetz in seiner reinsten Form, weil es erlaubt, sofern alle Bedingungen, unter de­

nen ein Prozeß stattfindet, bekannt sind – idealerweise also in einem Experiment –, die­

sen Prozeß exakt vorherzusagen. Im Naturgesetz ist der ganze Prozeß virtuell schon da;

die Formel, der Algorithmus legt fest, wie sich die Dinge verhalten werden. 

Das ist freilich immer nur näherungsweise möglich, und zumal auf dem Theater, wo

man nicht mit Formeln operieren kann. Aber wenn man die  Pratique du Théâtre  liest,

kann man sich den Eindrucks nicht erwehren, daß d’Aubignac von demselben Geist wie

die beginnende Naturwissenschaft beseelt ist, die Annäherung immer weiter zu betrei­

ben, die Wirklichkeit immer näher an den unerreichbaren Idealpunkt heranzuführen, an

dem ihr Verlauf mit dem, den das Naturgesetz vorschreibt, zusammenfällt. Das Drama

ist ein Prozeß, in dessen Verlauf sich das Gesetz dieses Verlaufes offenbart – so will es

wenigstens d’Aubignac. 

Nun hat die Übertragung des neuzeitlichen Denkmodells auf die Welt des Theaters

für uns einen heuristischen Vorteil. Anders als im Fall der Naturwissenschaft, an deren

Weltbild wir uns weitgehend gewöhnt haben, empfinden wir angesichts dieser Übertra­

gung spontanen  Widerwillen.  Es  kann  damit nicht  ganz seine Richtigkeit  haben.  Wo

bleibt, so fragen wir, die menschliche  Freiheit, die wir doch als unveräußerlichen Be­

standteil  unseres Handelns auffassen? Sinn ergibt  der Begriff  der Freiheit nur dann,

wenn man ihn dem der Gesetzmäßigkeit oder Vorhersagbarkeit, entgegensetzt. Wie im­

mer man es genauer faßt: Frei zu handeln kann nichts anderes bedeuten, als aus einem

scheinbar gesetzmäßigen Ablauf auszuscheren. Genau in diesem Sinn wird die mensch­

liche Freiheit von der Theorie d’Aubignacs ausgeschlossen. Im Theater – das ist der Vor­

teil – fällt und das nur auf, im Unterschied zur Welt der Naturwissenschaft. 

In diesem Widerwillen liegt nun ein kritisches Potential. Und diesem kritischen Po­

tential zum Ausdruck zu verhelfen, ist seit dem Beginn der Neuzeit die Aufgabe der

Kunst gewesen. Alle Kunst seitdem, wenn sie etwas taugt, hat versucht, die Aufgabe zu

meistern, innerhalb der funktionalen Denkform Widerstand gegen sie zu artikulieren.

Im 17. Jahrhundert läßt sich das sehr schön an den Dramen Corneilles und Racines stu­

dieren, die sich beide den Vorgaben d’Aubignacs widersetzen – nicht ganz und gar: das

dramatische Paradigma der Neuzeit, das d’Aubignac auf den Begriff gebracht hat, kön­

nen sie nicht aufkündigen. Oder denken sie an die Musik Beethovens, die wohl nicht an­

ders als unter der Idee des Widerstands gegen ihre eigene Grundbedingung begriffen

werden kann. 

Ich muß es bei diesen Andeutungen belassen. Sie sind mir aber wichtig, um wenigs­

tens  die  Richtung  zu  verdeutlichen,   in  die   sich  Im Takt  des  Geldes  kunsttheoretisch

fruchtbar machen ließe. Und der Abbé d’Aubignac ist gewissermaßen der Türhüter, über

den wir in diese Gefilde der Kunstbetrachtung gelangen müssen. 

Ausblick: Beschleunigung und neuzeitliche Denkform

Eine letzte, allerdings sehr spekulative Bemerkung möchte ich noch zum Problem der

Beschleunigung machen. Wir hatten gesehen, daß d’Aubignac die Vorstellung eines abso­

luten Geschehenskontinuums dadurch gewinnt,  daß er  die  »reale  Zeit«  komprimiert.

Das, so meine ich, kann kein Zufall sein. Seit dem Mittelalter gewinnt das Phänomen

und der Begriff der Beschleunigung immer mehr an Bedeutung. So hat sich die Musik

nicht bloß durch ihre taktrhythmische Organisation verändert, sondern auch dadurch,

daß sie schneller geworden ist. Oder Bacon, der Heros des neuen Denkens in England –:

er sagt, daß der menschliche Erfindungsgeist den langsamen naturgeschichtlichen Pro­

zeß des Fortschritts beschleunige. In diesen Zusammenhang gehört – auch wenn sie erst

später greift  – natürlich auch die Veränderung  innerhalb der Produktionssphäre,  die

Marx im Kapitel über den relativen Mehrwert beschrieben hat: Verdichtung der Produk­

tionsprozesse, Überführung in ein Kontinuum der Produktion. Oder denken Sie an Virili­

os ›Dromologie‹; bzw, umgekehrt an die Diskussionen über ›Entschleunigung‹. Es scheint

so zu sein, daß der Gedanke der Beschleunigung die Neuzeit wie ein Schatten begleitet.

Das hängt vorab an ihrem Verhältnis zur Konzeption des Kontinuums. Dieses Ver­

hältnis ist wiederum doppelt bestimmt: Einmal ist die Beschleunigung ein Mittel zu dem

Zweck zu sein, ein Kontinuum zu erzeugen und zum anderen scheint ein beschleunigtes

Zeitempfinden  wiederum aus  der  Konzeption  des  Kontinuums  hervorzugehen  –:   ein

Kreislauf der Rückkopplung, in dem sich beides gegenseitig verstärkt. 

Rufen wir uns kurz in Erinnerung, was ein Kontinuums ist, oder besser: was ein

Kontinuum denkmöglich macht. Zu einem Kontinuums bedarf es zweierlei: Erstens müs­

sen alle einzelnen Dinge oder Geschehenisse, die einen Bestandteil des Kontinuums bil­

den, radikal punktualisiert, und das heißt entqualifiziert werden. Sehr schön wird dies in

Im Takt des Geldes an der Veränderung des Zahlenbegriffs gezeigt, zu dessen Inbegriff

statt der »1« die »0« avanciert. Und zweitens ist die Vorstellung des Kontinuums über­

haupt nötig, und zwar als des Insgesamt der Beziehungen aller Punkte zueinander.23 

Nichts anderes aber leistet auf der Erscheinungsebene die Beschleunigung. Ein ver­

ändertes, das heißt beschleunigtes Zeitempfinden gehört zur Neuzeit. Es ist der »Takt

des Geldes« selber.

Das bedeutet aber umgekehrt, daß wir auf alle Versuche, unser Zeitempfinden zu

verlangsamen, achtgeben sollten. Sie rühren zwar nicht an die Grundbedingung, aber

an ein Grund­Symptom unseres, des neuzeitlichen Denkens. Zwei Beispiele für solche

Versuche möchte ich anführen. Zum einen die sogenannte Neue Musik des zwanzigsten

Jahrhunderts. Was immer man gegen sie sagen mag: Kritik am Taktschema ist ihr über

weite Strecken wesentlich. Und damit reduziert sich – automatisch – ihr  Tempo. Neue

Musik – ich glaube, man kann es so summarisch formulieren – ist langsam. Und zum an­

deren denke ich ans dramatische Werk Heiner Müllers – vor allem ab der Hamletmaschi­

ne. Es ist von der Idee der Verlangsamung geprägt. Müller schreibt – damit möchte ich

meinen Vortrag beschließen: 

»Es gibt diese tradierte Vorstellung von Revolution als Beschleunigungsinstrument.

Vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht geht’s immer darum, die Zeit anzuhalten, um

Zeit­Verlangsamung.«

Darin, so meine ich, bestünde eine Möglichkeit, lebensweltlich und gesellschaftlich

an die Grundlagen unseres Denkens zu gelangen und diese zu verändern. 

1 Shakespeare, auf den sich der Sturm und Drang so enthusiastisch berief, diente bereits als Gegenpol zuden als zunehmend zu eng empfundenen Kategorien des   théâtre classique . Diese Berufung blieb aberein   Intermezzo.   Im   Grunde   haben   jene   Kategorien   ihre   Herrschaft   aber   weit   ins   19.   und   20.Jahrhundert hinein fortgesetzt. 

2 Daß in ihnen so häufig erörtert  wird, wieweit die  Poetik  des Aristoteles,  für das ›moderne‹  TheaterGültigkeit besäße, spricht nicht gegen sondern für dieses Bewußtsein von etwas Neuem. Zu einen liegtes im Charakter der Rückversicherung selbst, daß unter ihrem Schutz allerlei ganz Unantikes legitimiertwerden konnte. Zum andern aber lassen sich auch Punkte namhaft machen, in denen die Theoretikerdem Aristoteles widersprechen; an ihnen läßt sich das Neue dann direkt ablesen. 

3 Es gehört nicht zum Gegenstand dieses Vortrags, sei aber am Rand bemerkt, daß sich das Phänomender griechischen Tragödie einem vergleichbaren Epochenumschwung verdankt, der gleichfalls auf einerökonomischen Grundlage beruht. 

4 Die Entwicklung in England ist etwas anders verlaufen. Obwohl man Elisabeth I. wohl auch den Titeleiner absolutistischen Herrscherin zugestehen sollte, hat das Theater dieser Regierungsform nicht ganzentsprochen. Es blieb Volkstheater; das Globe Theatre gewährte allen Bevölkerungsschichten Einlaß(vgl. hierzu: Robert Weimann, Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters, Berlin­Ost, 1967). Fürdas   aristokratische   Publikum   wurden   die   Stücke   der   elisabethanischen   Dramatiker  zusätzlich  imBlackfriars Theatre auf der anderen Seite der Themse aufgeführt. In die formale Zusammensetzung derDramen vor allem Shakespeares reicht dieses gesellschaftliche Verhältnis tief hinein. 

5 Von hier aus führt der Weg zur sokratischen Philosophie, die mit der Frage nach dem Guten (vgl. diesogenannten  arete­Dialoge)   in  dem Augenblick  einsetzt,   in  dem –  offenbar  –  die  Versuche,   sie   imTheater zu stellen, als nicht mehr genügend empfunden wurde. 

6 Vgl. Peter Szondi, Versuch über das Tragische, Frankfurt am Main 1961.7 Diese These muß historisch eingeschränkt werden: Sie gilt nur für die Tragödie der Neuzeit. Die antike

Tragödie   kennt   den  ausschließenden  Gegensatz,   aber   nicht   den   Gegensatz   als  rein   immanentes,»nicht­inhaltliches« Verhältnis. Entsprechend verhält  sich die antike Dialektik zur neuzeitlichen. Ausdiesem Grund gibt es – in der griechischen Tragödie – den Chor. Idealtypisch sagt der Chor, daß beideRecht haben (vgl. etwa Sophokles, Antigone, 681f./724f.). In der tragischen Situation nützt das zwarniemandem   etwas,   aber   es   formuliert   doch   Anwartschaft   auf   einen   transzendenten   Grund   desauseinandergetriebenen Gegensatzes. Das ist in der Tragödie der Neuzeit nicht mehr der Fall; deswegensind alle Versuche, den antiken Chor zu renovieren, Episode geblieben. 

8 »Je dois à ma maîtresse aussi bien qu’à mon père, / J’attire en me vengeant sa haine et sa colère, /J’attire ses mépris en ne me vengeant pas –«. Pierre Corneille, Der Cid. Französisch/Deutsch. Übersetztund herausgegeben von Hartmut Köhler, Stuttgart 1997, V. 322–324.

9 »Qu’un homme sans honneur ne te méritait pas, / Que malgré cette part que j’avais en ton âme, / Quim’aima généreux me haïrait infâme, / Qu’écouter ton amour obéir à  sa voix,  / C’était m’en rendreindigne et diffamer ton choix.« Ebd., V. 888–892.

10 Für die folgende Darstellung habe ich zurückgegriffen auf das Vorwort Pierre Martinos in der von ihm1927 herausgegebenen Ausgabe der Pratique du Théâtre. Alle (in der Regel von mir übersetzten) Zitateaus d’Aubignacs Werk folgen dieser Ausgabe.

11 Chapelain »demonstrierte im Beisein des Kardinals, daß man die drei berühmten Einheiten der Zeit, desOrtes und der Handlung unbedingt einhalten müsse. (...) Nichts überraschte so wie diese Doktrin: siewar neu nicht bloß für den Kardinal, sondern für alle Dichter, die in seinem Dienst standen.« D’Olivet,Histoire de l’Académie francaise, Band II, S. 130 (Übersetzung von mir). 

12 Es handelt sich dabei um die Rolle der Infantin. Vgl. Hartmut Köhler, Anmerkungen, in: Der Cid, a.a.O.,S. 248 f.

13 Die folgende Darstellung bezieht sich auf die Kapitel I/6, I/7 und II/2 der Pratique du Théâtre. 14 II/2 Schluß.15 Eske Bockelmann, Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens, Springe 2004, S. 175. 16 Ebd., S. 182 f.17 Nur in einem Punkt unterscheidet sich d’Aubignac von den Philosophen und Naturwissenschaftlern –

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Anmerkungen

auch eine durchaus sympathische Weise. Obwohl er nämlich statuiert, daß das, was die Zuschauer derdramatischen Handlung erfahren, nichts anderes als die »Nature des choses«, die Natur der Dinge sei(Pratique   du   Théâtre,   a.a.O.,   S.   38),   gibt   er   doch   zu,   daß,   wie   bemerkt,die   Übertragung   dieserangeblichen Naturordnung auf die Welt der Bühne trainiert werden müssen – daß sie, mit anderenWorten, also nicht natürlich ist. Zu der Erkenntnis, daß es sich um ein historisches Phänomen handelt,ist allerdings noch ein weiter Weg.

18 Sie ist gänzlich unantik. Wenn überhaupt, beschränken sich die antiken Tragödien auf die numerischeEinheit des Ortes.

19 Aristoteles,   Poetik,   Kap.   5   (übersetzt   von   Manfred   Fuhrmann   in   der   Reclam­Ausgabe   der  Poetik,Stuttgart 1982, S. 17).

20 Das   ist   ein   Mittel,   zu   dem   das   epische   Theater   (in   einem   weiteren,   über   Brechts   Dramatikhinausgehenden Sinn) immer wieder gegriffen hat. 

21 D’Aubignac   projiziert   also   den   aristotelischen   Begriff   der   Peripetie   auf   das   Verhältnis   zwischendramatischer Handlung und Zuschauer. Der Zuschauer gerät in die Rolle des dramatischen Helden, der,wie   Ödipus,   alle   Zeichen   mißdeutet,   bis   ihm   plötzlich   die   Wahrheit   offenbar   wird.   Der   antikeZuschauer,  der  die  Geschichte  kennt,   befindet   sich  dagegen   in   einer  anderen  Lage.  Er  wird  nichtüberrascht.  Vielmehr  hat   er  Gelegenheit,   darüber  nachzudenken,  wie  der  Heros   sich  anders  hätteverhalten können. Die antike Tragödie ist epischer als ihr Ruf. 

22 Vgl. Ette, Die Aufhebung der Zeit in das Schicksal, a.a.O., S. 11 ff.23 Bockelmann, Im Takt des Geldes, a.a.O., S. 302 ff.

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