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Wörterbuch der philosophischen Begriffe begründet von Friedrich Kirchner und Carl Michaëlis fortgesetzt von Johannes Hoffmeister vollständig neu herausgegeben von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Wörterbuch der philosophischen Begriffe

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Page 1: Wörterbuch der philosophischen Begriffe

Wörterbuch derphilosophischen Begriffe

begründet vonFriedrich Kirchner und Carl Michaëlis

fortgesetzt vonJohannes Hoffmeister

vollständig neu herausgegeben vonArnim Regenbogen und Uwe Meyer

FELIX MEINER VERLAGHAMBURG

Page 2: Wörterbuch der philosophischen Begriffe

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Wörterverzeichnis A– Z . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757

Abkürzungsverzeichnis zum Nachweis von Bibelstellen . . . . 761

Verzeichnis logischer Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762

Umschrift griechischer Buchstaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764

Literatur zur Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765

Autoren- und Werkeverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821

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Dieses Wörterbuch umfaßt in alphabetischer Anordnung mehr als4 000 Artikel mit Worterklärungen und Erläuterungen zu den zen-tralen Begriffen der Philosophie und der Philosophiegeschichte.Jeder Artikel unterrichtet über die Herkunft und ursprüngliche Bedeutung des genannten Begriffs, gibt Aufschluß über dessen Ent-wicklung und verweist auf philosophisch einflußreiche Strömungen,die seine Verwendungsweisen abgewandelt haben. Für alle Begriffewerden die am häufigsten gebräuchlichen Bedeutungen genannt, undin jedem Artikel wird die Begriffs- und Problemgeschichte gesondertabgehandelt.

Bei der Konzeption des neuen Wörterbuchs konnten die Heraus-geber auf die Leitideen ihrer Vorgänger Friedrich Kirchner, CarlMichaëlis und Johannes Hoffmeister zurückgreifen. In der Betonungdes ideen- und begriffsgeschichtlichen Aspekts in der Abhandlungder Lemmata unterscheidet es sich ausdrücklich von allen Fachwör-terbüchern und Enzyklopädien, die ausschließlich oder überwiegendproblemgeschichtlich ausgerichtet sind. So werden z. B. in beinahe al-len anderen Nachschlagewerken die Gegenstände der Kunsttheorieunter dem Lemma »Ästhetik« angeführt und erläutert. Die Geschich-te der ›Ästhetik‹ im heutigen Sinne läßt sich jedoch nicht bis in dieklassische griechische Antike umstandslos verfolgen, da der Fachbe-griff (Terminus) »Ästhetik« erst im 18. Jahrhundert gebildet wordenist. Aspekte der ›Künste‹ als Gegenstände der Philosophie (außerhalboder auch vor der Einführung der Disziplinbezeichnung 8Ästhetik)sind daher im vorliegenden Wörterbuch auch unter den Stichwörtern8Kunst, 8Kunstwerk, (ästhetische) 8Wahrheit, 8Rezeptionsästhetik,8Kunstphilosophie angeführt und erläutert worden.

Mit der Bewahrung dieses Zugangswegs zur Erschließung der philosophischen Tradition folgt das neue Wörterbuch seinen Vorgän-gern. Es sei daran erinnert, daß das Wörterbuch ursprünglich für denZweck erarbeitet worden war, die Eigenart der besonderen Begriffezu erschließen, die in den Textausgaben der »Philosophischen Bibliothek« (PhB) vorkamen, und die Reihe so um ein nützliches

Vorwort

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Werkzeug zu erweitern. Das erste »Wörterbuch der philosophischenGrundbegriffe« – verfaßt von Friedrich Kirchner, erschienen 1886 –hatte in den beiden folgenden Jahrzehnten mehrere Nachdrucke erfahren, wurde aber dann durch Carl Michaëlis im Rahmen vonzwei grundlegenden Neubearbeitungen erheblich erweitert (4. Aufl.1903, 5. Aufl. 1907). Nach der Übernahme der »Philosophischen Bibliothek« durch den Verleger Felix Meiner (1911) wurde das Wör-terbuch erneut einer vollständigen Bearbeitung unterzogen, zunächstunter der Federführung von Hans Leisegang, dann unter der Her-ausgeberschaft von Johannes Hoffmeister, der seine erste Neufassungerst während des Zweiten Weltkriegs vollendete. Diese – aufgrundder Wirren der Kriegsereignisse verspätet (1944) erschienene – Ver-sion des »Wörterbuchs der philosophischen Begriffe« (PhB Bd. 225)wurde 1955 in einer zweiten, gründlich überarbeiteten Auflage vor-gelegt. Sie zeichnete sich schon damals gegenüber der früheren Auf-lage durch die erhebliche Verbesserung der Artikel zur Logik, veran-laßt durch Paul Lorenzen, und durch die von Karl Larenz vollständigneu entworfenen zusätz-lichen Beiträge zur Rechtsphilosophie, erst-mals auch zur Theorie und Ideengeschichte des demokratischenRechtsstaats, aus.

Bei der gänzlichen Neubearbeitung wurde auf die vorherigen Kon-zeptionen insofern zurückgegriffen, als die historischen Definitionender Begriffe und die jeweils aktuellen Bedeutungen gleichberechtigtberücksichtigt wurden. Bei der Prüfung, welche Artikel zu über-arbeiten oder neu zu fassen waren, welche dagegen zu übernehmensich anbot, bewährten sich wegen ihrer hohen Qualität insbesondereviele Textteile zu den Lemmata der Philosophiegeschichte. Es botensich auch Abschnitte aus der reifsten Fassung des älteren »Kirchner-Michaëlis« von 1907 zur erneuten Übernahme an, die in den Neu-fassungen von Johannes Hoffmeister nicht mehr enthalten waren.Die vorliegende Fassung vereinigt somit erhaltenswerte Teile aus denAusgaben von 1907 und 1954, ergänzt um vielfältige Überarbeitungenund um zahlreiche neue Artikel zu den seither aktuell gewordenenWissenschaftsbereichen.

Das Spektrum dessen, was von einem philosophischen Wörter-buch erwartet wird, hat sich von den fünfziger bis zu den neunzigerJahren des 20. Jahrhunderts sehr verändert. Noch bis in die vierziger

Vorwort VIII

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Jahre wurden z. B. in der akademischen Lehre der Philosophie inDeutschland die Inhalte der professionellen Psychologie mitvertre-ten. Der »Hoffmeister« enthielt noch in der letzten Bearbeitung Erklärungen zu solchen psychologischen Begriffen in großer Zahl.Heute dagegen würde niemand mehr spezielle Termini der empiri-schen Psychologie oder gar Fachbegriffe der Psychopathologie in einem »philosophischen« Lexikon suchen. Solche Stichwörter sind inder Neufassung entfallen. Dagegen blieb die Terminologie grund-legender historischer oder auch erneut aktuell gewordener philoso-phisch-psychologischer Grenzgebiete (wie der Psychoanalyse, derKognitionswissenschaften oder auch der neuesten »Philosophie desGeistes«) erhalten oder wurde neu aufgenommen. Ferner ist in denletzten Jahrzehnten der Einfluß der 8Sprachphilosophie und der (for-malen) 8Logik auf die philosophische Diskussion insgesamt immensangewachsen. Entsprechend haben die Artikel zu diesen Bereichengegenüber den früheren Ausgaben an Zahl und Umfang deutlich zugenommen.

Da ein philosophisches Wörterbuch nicht nur darüber Auskunftgeben soll, was gegenwärtig unter »Philosophie« verstanden wird,sondern auch darüber, was in frühere Epochen darunter verstandenwurde, müssen in ihm auch »veraltete« Begriffe nachschlagbar bleiben. Das vorliegende Wörterbuch will deshalb, wie schon seineVorgänger, weiterhin den Anspruch einlösen, die Fachterminologiezu klären, die sich vor allem seit der Entwicklung der deutschen Sprache als Fachsprache der »Philosophie« (etwa ab Mitte des18. Jahrhunderts) entwickelt hat. Wenn im Mittelpunkt der Artikelhäufig die Aufhellung des Bedeutungswandels steht, den ein Wort inverschiedenen Sprachen erfahren hat, so soll damit implizit ver-ständlich werden, wie es dazu kommt, daß Begriffe in der Gegen-wartssprache mit unterschiedlichen Bedeutungen assoziiert werden.Für den Rückgriff auf weitere begriffsgeschichtliche Einzelunter-suchungen sei auf die Literaturliste im Anhang verwiesen; sie mußtewegen des beschränkten Umfangs dieses Bandes knapp gehaltenwerden. Aufsätze, Monographien oder enzyklopädische Artikel, die wiederum weitere Nachweise zur Begriffsgeschichte enthalten,sind in dieser Liste (mit *) eigens ausgezeichnet. Das vorliegendeWörterbuch erläutert im übrigen ausschließlich Begriffe, also keine

VorwortIX

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Namen. Doch können Autorennamen und wichtige Werke über diebeigegebenen speziellen Register erschlossen werden. Falls für einProblem oder einen Sachverhalt unterschiedliche Begriffe oder auchabweichende Bedeutungen in entsprechenden Wörtern fremderSprachen stehen, wird durch Verweis auf andere Lemmata oder auffremdsprachige Termini jede der unterschiedlichen Versionen fürsich erklärt. Redeweisen, Formeln und Begriffe aus diesen Sprachenkönnen außerdem über das Schlagwortregister erschlossen werden.

Diese Neubearbeitung des Wörterbuchs ist von den beiden Her-ausgebern in enger Verbindung mit dem Verlag konzipiert worden.Die Redaktion, z. B. auch von Artikelteilen aus früheren Ausgaben,und die Erweiterungen um neue Artikel verantworten die Herausge-ber jedoch allein. In die Zuständigkeit von Arnim Regenbogen fielendabei insbesondere Artikel zur Philosophiegeschichte, zum Verhält-nis von Philosophie zu Einzelwissenschaften, zu Gesellschaft undReligion, in die von Uwe Meyer vor allem Artikel zur Logik, Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft. Gleichwohl ist anzu-merken, daß die Durchführung dieses Projekts nur dank der tätigenMitwirkung weiterer Spezialisten möglich war: Richard Giedrys lieferte Erläuterungen zu Spezialgebieten der praktischen Philoso-phie; Jörg Zimmer verfaßte in größerer Zahl Artikel zur Theorie derGeisteswissenschaften und der Künste, Josef Fellsches Beiträge zurErziehungstheorie und zu klassischen Begriffen der Ethik; an unsererHeimatuniversität Osnabrück stand Wolfgang Lenzen den beidenHerausgebern als kritischer Leser und als Berater bei der Abfassungvon Texten zur analytischen Philosophie zur Seite; fachliche Korrek-turen, insbesondere zu naturwissenschaftlichen Begriffen, erhieltenwir hier auch von Robert Daumann; an der Zusammenstellung derLiteraturnachweise beteiligten sich Christian Möls, Veit Reuer undChristian Tepe; Margot Dreblow und Janina Bojara haben sich derTexterfassung mit großer Geduld gewidmet; Angelika Regenbogenhat als erste Leserin vieles auf Verständlichkeit geprüft und uns wertvolle Hinweise gegeben.

Osnabrück, im Sommer 1998 Arnim Regenbogen Uwe Meyer

Vorwort X

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Abakus, lat. von gr. abax ›Brett‹, Tafel; urspr. mathem. Zeichenbrett,Spielbrett, bis ins 16. Jh. Rechen-brett für die vier Grundrechnungs-arten (in Rußland, China und Ja-pan noch im 20. Jh. gebräuchlich).Logischer Abakus heißt eine vonW. S. Jevons (engl. Logiker und Ökonom) im 19. Jh. entworfene Ta-fel zur kombinator. Ausführungvon Schlüssen der 8Syllogistik undder algebraischen 8Logik (rechen-brettähnliche halbmechanischeVorrichtung), später desgl. von Je-vons weiterentwickelt zur erstenLogikmaschine (›logic piano‹) undzum Lochkartensystem.

Abbild, nhd., seit dem 18. Jh. ge-br. für Bild, anschauliche Wieder-gabe, Nachahmung u. ä. im Unter-schied zu Vor- oder Urbild; dientzur Übers. der gr. Ausdrücke ei-dôlon, mimëma, ektypôma, mit de-nen Plato die Körper, die sinnli-chen Gegenstände, als Spiegelbil-der der unkörperlichen Ideenmeint. Plotin denkt sich das Urbild(8Idee) als Ursache des A.s – Nachder Abbildtheorie ist die 8Erkennt-nis eine Spiegelung, das erkennen-de Bewußtsein ein Spiegel derWirklichkeit. Diese naiv- realisti-sche Auffassung des Erkennensgeht bis auf Demokrit zurück. De-mokrit und die 8Epikureer erklär-ten das Zustandekommen der Sin-neswahrnehmung durch die An-nahme, daß von den Dingen Abbilder (eidôla, typoi) ausgehen

und durch Einwirkung auf die Sin-ne die Wahrnehmung auslösen(8adäquat). A.theorie wird auch je-de naiv- realistische Version von Er-kenntnis gen., nach der Dinge da-durch als wahrgenommen gelten,daß sie als A.er im Bewußtsein auf-treten. Nach der 8Widerspiege-lungstheorie, einer strengen Vari-ante der A.theorie, wird behauptet,daß bei einer 8Erkenntnis alle Ei-genschaften der Dinge und derenRelationen untereinander in denA.ern erhalten bleiben (so bei denmeisten Autoren der marxist.- leni-nist. Erkenntnistheorie, im Prinzipurspr. auch vertreten von denfrühen Autoren der 8AnalytischenPhilosophie B. Russell, G. E. Moo-re). Nach der Isomorphietheorie(8isomorph) treten im Unterschieddazu nur die strukturellen Eigen-schaften in den A.ern auf. Bei Plato(Kratylos) werden die einfachenNamen und Vorstellungen als Bil-der (mimëmata) nicht der Dingeselbst, sondern nur ihres Wesens,ihres Begriffs verstanden. Zu einerIsomorphietheorie haben Autorendes 8Logischen Empirismus undverwandte Autoren (z. B. L. Witt-genstein im Tractatus logico- philo-sophicus, 1921) Beiträge geleistet (R.Carnap, N. Goodman). Danachwerden abstrakte Gegenständedurch Modelle definiert, die sichdurch Isomorphie mit den gemein-ten Sachverhalten auszeichnen, ohne daß jene Gegenstände, wie

A

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noch bei Plato, als ›höhere‹ Realitätzu gelten haben.

Abbildung, in der Logik einezweistellige 8Relation (abgekürztR), die so beschaffen ist, daß es zujedem Gegenstand x genau einenGegenstand y gibt mit x R y (yheißt das R- Bild von x). Eine A.heißt umkehrbar, wenn sie auch je-den Gegenstand y auf genau einenGegenstand x abbildet (8eindeu-tig). In der Optik nennt man A. dieErzeugung eines Bildes von einemGegenstand mit Hilfe der von ihmausgehenden Strahlen oder Refle-xe. In der Mathematik überführteine A. die Punkte einer Objekt-menge (Urbildpunkte, Originale)in Punkte einer Bildmenge (Bild-punkte). So läßt sich z. B. eine räum-liche Struktur auf eine Ebene abbilden. A.en müssen eindeutigsein, d. h. daß jedem Urbildpunkt P jeweils nur ein Bildpunkt P’ent-spricht. Dagegen kann P’ Bild meh-rerer Originale sein. In der mathe-mat. Fachsprache werden häufig A.und 8Funktion als Synonyme ver-wendet.

Abduktion, von lat. abducere ›weg-führen‹; in der Physiologie dasWegbewegen eines Körperteils(z. B. Abspreizen von Fingern,Armheben); als Fachbegriff in dieLogik eingef. v. Ch. S. Peirce (Onthe Natural Classification of Argu-ments, 1867): Schluß von etwas, das als Resultat einer Regel aufge-faßt wird, und dieser Regel darauf,daß ein Anwendungsfall dieser Re-gel vorlag (von Peirce auch ›hypo-thesis‹ bzw. ›retroduction‹ genannt).Es handelt sich um einen 8Wahr-scheinlichkeitsschluß, der beson-

ders bei der wissenschaftl. Hypo-thesenbildung bedeutsam wird.

Aberglaube, gr. deisidaimonia, lat.diffidentia, desgl. superstitio, dt.Übers. urspr. i. d. F. ›Ober- glaube‹,›Über - glaube‹; abwertende Bez. fürirregeleiteten, abweichenden, un-sinnigen 8Glauben; seit dem 15.Jh. gebr. zur Kennzeichnung desje-nigen alten volkstümlichen Glau-bensgutes, das sowohl mit demtheolog. als auch mit dem natur-wiss. Rationalismus nicht überein-stimmt. A. beruht auf der Überzeu-gung von ›magischen‹, geheim-nisvoll wirkenden, dem Verstandwie dem religiösen Glauben (8Dog-ma) entzogenen, hilfreichen oderschädigenden Kräften in Natur undMenschenleben. Zum Verständnisder A. genannten abweichendenGlaubensvorstellungen ist dieKenntnis vorwissensch. Weltbildermit ihrem andersartigen Wirklich-keitsbegriff, ihren Gesetzen der8Partizipation, 8Analogie usw. so-wie der andersartigen Raum- undZeitvorstellungen notwendig.

Abgrund, gr. abyssos, mhd. abe-gründe; das, was hinab von der Er-de weg reicht (orientiert am Mo-dell der Erde als ›Scheibe‹ mitRand), das, was sich demnach un-terhalb, jenseits des noch erreich-baren Grundes befindet, die unter-ste Tiefe; von daher auch: dasUnergründliche, Unermeßliche, dasGrundlose, auch das 8Unendliche,das 8Nichts. Das Wort A. dient allg. auch zur Wiedergabe vongr.8chaos ›Kluft‹, bythos ›Tiefe‹ undfindet sich vielfach zusammen mitden mythischen Vorstellungen derUnterwelt (Hades) und der Hölle.

Abbildung 2

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Im 8Manichäismus erhielt es aucheinen Zusammenhang mit gr. hyle›Stoff‹ als dem Materiellen, Finste-ren, Bösen. Ausführliche Betrach-tungen über den A. stellte derGnostiker Valentinos an: der A.(abyssos auch: bythos) ist hier derUrvater (gr. propator ) oder Ur-grund (proarchë ), d. i. der unoffen-bare, unbegreifliche Gott (8deus absconditus), während die 8Offen-barung, das Sichoffenbarwerdenund Offenbarmachen Gottes »Va-ter und Grund« (gr. patër kai archë)genannt wird. Diese Spekulationensetzen sich über das Mittelalter bisins 19. Jh. fort. Für Eckhart ist dasHöchste der »ewige A. des göttli-chen Wesens«, der »grundloseGrund«. J. Böhme unterscheidetzwischen der Gottheit, dem 8Un-grunde, in dem »keine Offenba-rung ist, sondern ein ewig Nichts«,»eine stille Ewigkeit«, und dem A.Der A. ist die »finstere Welt«, dieWelt des Bösen, der 8Angst, die»Hölle«, im Unterschied zur »Lichtwelt«. Die »finstere Welt«hat ihren Grund in dem »ewigen,unergründlichen Willen, der Vaterheißt«. Die »finstere Welt« ihrer-seits ist »Grund und Urstand« derLichtwelt. Nur das Leben im A., inder »Verzweiflung und Selbstfein-dung, Bosheit und Falschheit« er-möglicht ein Eingehen des Men-schen in die Lichtwelt ( J. Böhme,Sex puncta theosophica, bes. Pkt. 2).An diese Bestimmung knüpft Fr. W. J. Schelling in der SchriftVom Wesen der menschl. Freiheit(1809) und in den ›Weltaltern‹(Phil. der Mythologie, EA 1856 ff.)an (8Grund). Im 18. Jh. bedeutet

Abgründigkeit soviel wie 8Irratio-nalität. J. G. Herder erklärt in derSchrift Vom Erkennen und Emp-finden (1778) die Seele als einen»A. dunkler Kräfte«. A. wird derAusdruck für das, was die rationaleSelbstsicherheit, den rationalisti-schen Optimismus in Frage stellt.Man spricht vom A. der Natur, desAlls, des Subjekts, des Herzens, desBösen. I. Kant z. B. erklärt »die absolute Notwendigkeit, die wir als den letzten Träger aller Dingeso unentbehrlich bedürfen«, als»den wahren A. für die mensch-liche Vernunft« (KrV, B 641), »das Überschwengliche der Einbil-dungskraft« als einen »A., worin siesich selbst zu verlieren fürchtet«(KdU § 27).

abhängig, nhd., ist etwas, wennsein Dasein oder seine Beschaffen-heit durch anderes bedingt odermitbestimmt ist (Seinsabhängig-keit), oder wenn es von uns nichtohne anderes verstanden, begriffenoder bewiesen werden kann (Denk-abhängigkeit). Bei I. Kant gehört die Abhängigkeit (»Dependenz«)zu den Kategorien der Relation(KrV, A 80). Fr. D. E. Schleierma-cher setzte das Wesen jeder Reli-gion, jeder Beziehung zu Gott,in das Gefühl und Bewußtsein»schlechthiniger Abhängigkeit«(Der christl. Glaube, 1821/22). Gegensatz: frei. In der 8Logik heißt eine Aussage B a. von einerMenge von Aussagen A1,...,An,wenn es eine 8Ableitung von B ausA1,...,An gibt bzw. wenn der 8Schlußvon A1,...,An auf B logisch gültig ist,d. h. wenn B aus A1,...,An folgt. An-dernfalls ist B unabhängig von

abhängig3

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A1,...,An. Beweise für die Unabhän-gigkeit einer Aussage B von ande-ren Aussagen spielen eine wichtigeRolle bei dem Aufbau 8axiomati-scher Systeme.

Ableitung, in der 8Grammatik die Bildung eines Wortstammesoder eines Wortes z. B. durchLautänderung (z. B. »Band« von»binden«) oder durch Kombinati-on mit Affixen (z. B. »hünd- isch«von »Hund«). In der 8Logik ein Be-griff mit zwei miteinander zusam-menhängenden Bedeutungen: DieA. eines Satzes in einem formalen8Kalkül meint seine Gewinnungaus anderen Sätzen mit Hilfe derim Kalkül zugelassenen Regeln(8A.sregeln; vgl. auch 8Kalkül);daneben nennt man auch denNachweis der 8Allgemeingültigkeiteines 8Schlusses, der von gewissenVoraussetzungen (8Prämissen) zueinem bestimmten Satz als8Konklusion führt, die A. dieses Satzes aus diesen Voraussetzun-gen. Im allgemeinen gilt, daß es genau dann eine A. eines Satzes Baus den Sätzen A1,...,An im erstenSinne gibt, wenn auch eine A. vonB aus A1,...,An im zweiten Sinneexistiert. So kann man in den übli-chen 8Kalkülen der elementaren8Aussagenlogik aus den Sätzen»Der Mond ist aus Weichkäse« und»Wenn der Mond aus Weichkäseist, dann ist er eßbar« mittels dersog. 8Abtrennungsregel rein for-mal den Satz »Der Mond ist eßbar«ableiten; zugleich ist der Schluß,der von den Prämissen »Der Mondbesteht aus Weichkäse« und»Wenn der Mond aus Weichkäsebesteht, dann ist er eßbar« zu der

Konklusion »Der Mond ist eßbar«führt, allgemeingültig. Geht eine A. von den 8Axiomen eines Kal-küls bzw. von wahren Aussagenaus, so spricht man von einem 8Beweis.

Ableitungsregel, in der formalen8Logik eine Regel, nach der manim Rahmen eines 8Kalküls von ge-wissen Aussagen A1,...,An zu einerAussage B übergehen kann. Diewichtigste A. der elementaren Aus-sagenlogik ist die Regel der Ab-trennung (auch 8Modus ponens ge-nannt): Aus zwei Aussagen »A«und »Wenn A, dann B« kann mandie Aussage »B« ableiten, symbo-lisch: A, A→B |-- B. A.n werdenauch als Deduktions- oder Schluß-regeln bezeichnet.

Abschattung, von E. Husserl fürdie phänomenolog. Philosophie(8Phänomenologie) eingeführter Be-griff zur Bezeichnung des Zugangszur Gegebenheitsweise eines physi-schen Dings: sowohl Prozeß alsauch Resultat aller perspektivi-schen Ansichten eines Gegenstan-des. Dessen Konstitution im Be-wußtsein entsteht nur durch dieMenge aller Ansichten unter Au-ßerachtlassung spezifischer Blick-perspektiven. Damit soll die Gege-benheitsweise des Gegenstandesvon der psychischen Erlebnisweiseder Präsenz dieses Gegenstandesim Bewußtsein unterschieden wer-den. Husserl nimmt an, daß dieKonstituierung räumlich verfaßterGegenstände im Bewußtsein nurüber die ideelle anschauliche Syn-thesis aller Erscheinungsweisenvon ihnen beschrieben werdenkann.

Ableitung 4

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Absicht (8Intention), Eindeut-schung des lat. 8intentio, als philo-sophischer Terminus von Chr.Wolff eingeführt. Wolff verwendet»A.« gleichbedeutend mit 8Zweckals »dasjenige, was wir durch unserWollen zu erhalten gedenken«(VGG I § 910). I. Kant bestimmt A.als das, was durch eine 8Handlungerreicht werden soll im Unter-schied zur Maxime einer Hand-lung: »eine Handlung aus Pflichthat ihren moralischen Wert nichtin der Absicht, welche dadurch er-reicht werden soll, sondern in derMaxime, nach der sie beschlossenwird« (Grundl. zur Met. d. Sitten,A13). G.W. Fr. Hegel bestimmt A.als die allgemeine Seite des Vor-satzes: »Der Vorsatz, als von einemDenkenden ausgehend, enthältnicht bloß die Einzelheit, sondernwesentlich jene allgemeine Seite –die Absicht« (GPhR § 119) – Mittedes 20. Jh. wurde der A.sbegriffdurch G. E. M. Anscombe (Inten-tion, 1957) wieder in das Zen--trum philosophischer, insbesonde-re handlungstheoretischer Betrach-tungen gerückt. Seitdem wird zwischen drei Hauptverwendungs-weisen des A.sbegriffs unterschie-den: ›beabsichtigen zu handeln‹(bzw. ›eine Absicht haben‹), ›ab-sichtlich handeln‹ und ›mit einerAbsicht handeln‹. In der neuerenhandlungstheoretischen Diskussi-on geht es insbes. um die Bestim-mung der A.sinhalte, d. h. um Wün-sche (motivationale Komponente)auf der einen und Überzeugungen,Pläne etc. (kognitive Komponente)auf der anderen Seite. Die in die-sem Zusammenhang seit den 70er

Jahren insbes. im US- amerikani-schen Raum entwickelten A.stheo-rien unterscheiden sich vor allemdurch die Hervorhebung unter-schiedlicher A.skomponenten. InAnknüpfung an Aristoteles betoneneinige Autoren den Zusammen-hang zwischen absichtlichen Hand-lungen und praktischen Überlegun-gen (s. a. 8Schluß, praktischer) undsehen praktische Überlegung als ei-gentliche (oder gar einzige) Quellefür absichtliche Handlungen (G. H.v. Wright), oder sie sehen die Rolle praktischer Überlegung in der Rekonstruktion absichtlicherHandlungen, ohne praktische Über-legung als tatsächlichen mentalenProzeß zu begreifen (Anscombe);andere weisen praktischer Überle-gung eine Doppelrolle zu, wonachdiese eine (aber nicht die einzige)Quelle für A.en darstellt und zu-dem der Rekonstruktion absichtli-cher Handlungen dient (R. Audi, A Theory of Practical Reasoning,Am. Phil. Quart. 19, 1982). EinigeAnsätze betonen die Rolle be-stimmter Überzeugungen für A.en,wonach »etwas beabsichtigen«heißt, zu glauben, daß man die ent-sprechende Handlung auch voll-ziehen wird, bzw. daß das beabsich-tigte Ergebnis durch die Handlungrealisiert wird (W. Davis, A CausalTheory of Intending, Am. Phil.Quart. 21, 1984; D. J. Velleman,Practical Reflection, Phil. Review94, 1985). Im Unterschied dazu re-konstruiert D. Davidson (Intending,1978) A.en als »uneingeschränkteUrteile«, wonach best. Handlun-gen im »Lichte aller Gründe« wün-schenswert sind, Urteile, die wie-

Absicht5

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derum durch verschiedene Verfah-ren gebildet werden können. NachChr. Lumer (Praktische Argumenta-tionstheorie, 1990, Kap. 6.2) basie-ren Absichten auf Wahlurteilenhinsichtlich dessen, was zu tun un-ter den gegebenen Umständen alsoptimal erachtet wird. Andere Po-sitionen sehen ›Pläne‹ (im Sinnevon mental repräsentierten Hand-lungsverläufen) als wesentlichen In-halt von A.en (M. Brand, Intendingand Acting, 1984; A. Mele, Springsof Action, 1992). In ähnlicher Wei-se versucht M. Bratman, A.en als eigenständige, auf der gleichenEbene wie Wünsche und Überzeu-gungen angesiedelte, propositiona-le Einstellungen zu rekonstruieren(Intention, Plans, and Practical Reason, 1987).

absolut, zu lat. absolutus ›abge-löst‹ (gr. apolytos), mit den Be-deutungen: in sich abgeschlossen,vollständig, vollkommen; vonnichts anderem abhängig, für sichbestehend, keiner näheren Bestim-mung bedürftig, unbedingt, unein-geschränkt. Das Absolute bez. das,was als von keiner Bedingung ab-hängig gedacht wird (in dieser Be-deutung ›absolutum‹ bereits in derröm. Antike – so z. B. bei Cicero,Seneca – als Gegenbegriff zu ›rela-tivus‹ gebräuchlich), ferner was als›Bedingung schlechthin‹, z. B. imSinne ›erste Bedingung alles Seien-den‹ oder ›letzter Grund‹ bez.wird. In unterschiedlichen Theori-en wird das Absolute als Synonymfür das schlechthin Notwendige,Wahre, Vollkommene, für das›Sein‹ im weitesten Sinne ge-braucht. In monotheistischen Theo-

logien wird damit auch 8Gott be-zeichnet, zuerst i.d.F. ›absolutum‹als Merkmal Gottes verstandenund so bei den lateinischen 8Kir-chenvätern und den mittelalt. 8Kir-chenlehrern mit Gott gleichgesetzt,z. B. bei Anselm von Canterbury(Monologion, zuerst 1, 29, 31); beiNikolaus v. Kues unabhängig vomGottesbegriff thematisiert, jedochmit den wichtigsten göttlichenMerkmalen ausgestattet: A. in Hin-blick auf Größe (›maximitas‹) undEinheit des Seienden (›unitas‹)(vgl. De docta ignorantia, Begriffs-einf. I,2, 5; I,5, 14). Das Univer-sum wird hier als ›similitudo‹(Gleichnis) des Absoluten begrif-fen (ebd. II,1, 96 und 4, 112).Schon in der auf Plato, Aristotelessich berufenden mittelalterl. (arabi-schen und scholastischen) Philoso-phie leitet sich die Annahme einesAbsoluten daraus ab, daß anders8Existenz und 8Bewegung (verstan-den als Abweichung vom Ruhezu-stand) nicht erklärt werden kann.Klassische griechische Denker nah-men daher einen ›ersten Beweger‹an, der sich selbst bewegt (Plato)bzw. selbst unbewegt ist (Aristote-les – vgl. 8unbew. Beweger). Plotinnahm ein a.es, unvergänglichesPrinzip an, das Existenz und Bewe-gung aus sich selbst hat. Für J. G.Fichte ist das Absolute das 8Ich, fürFr. W. J. Schelling die Einheit vonIdealem und Realem. Vgl. 8Meta-physik. Absoluter Geist, in der Phi-losophie G.W. Fr. Hegels Gestaltdes sich in der Geschichte entfal-tenden Geistes; im Unterschiedzum 8objektiven Geist ist der a.eGeist gekennzeichnet durch inter-

absolut 6

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nen Bezug auf das A.e. Hegel siehtdie 8Kunst, inbes. in ihrer klass. (an-tiken) Epoche, die 8Religion (in-bes. seit der Ausbreitung des Chri-stentums), ferner die Philosophieseiner Zeit (in ihrer Loslösung vontraditionellen religiösen Weltbezü-gen) als solche Gestalten an. DieseFormen sind in der frühen Antikein der Einheit von Kunst (in ihrerreligiösen Bedeutung), Religion (inihrer Weltbildfunktion) und Philo-sophie noch ungetrennt. Hegelordnet die spätere Kunst und dieneuzeitliche Religion nicht mehrdem ›Absoluten‹ zu. Als Gestaltdes a. Geistes zu seiner Zeit bleibtnur noch das absolute Wissen übrig(Phän. d. Geistes, 1807; Enzyklopä-die der philosophischen Wissenschaf-ten, zuerst 1817). Das a.e Wissen ist in der Philosophie Hegels dieletzte Gestalt der Entfaltung desGeistes in dessen historischer Ent-wicklung: in der Phän. d. Geistes›Wissenschaft‹, eine Gestalt, dieauf die ›Philosophie‹ folgt; in derEnzyklopädie der philosophischenWissenschaften die Philosophieselbst.

Absolutismus, Neubildung vonlat. absolutus, seit der 1. Hälfte des19. Jh. im dt. staatstheoret. Denkengebr., in die frz. Wörterbücher alsabsolutisme neben dem sonst übli-chen pouvoir absolu (unumschränk-te Macht) erst um 1850 aufgenom-men. Europäische Regierungsform,zuerst praktiziert in Spanien undFrankreich (16.- 18. Jh.), und Theo-rie zur Rechtfertigung von Herr-schaftsverhältnissen, nach der einHerrscher (i. d. R. ein Monarch)den Alleinbesitz der Herrschafts-

gewalt beanspruchen darf, der zu-gleich weder in der Machtaus-übung noch in der Gesetzgebung andie Mitwirkung politischer Ständegebunden ist. Zumeist gebräuchlichals histor. Begriff zur Bezeichnungeiner Übergangsepoche zwischenfeudalen Herrschaftsverhältnissen(Lehnsherrschaft) und modernenStaatsformen (z. B. parlamentari-sche Republik, konstitutionelleMonarchie). Im A. verliert der Feu-daladel, neben der Geistlichkeitund dem Bürgertum, bereits wich-tige politische Funktionen, die aufdie dem Monarchen unmittelbarverantwortliche Bürokratie übergehen. Rechtfertigungsversuchedurch J. Bodin (Hw.: Les six livresde la république, 1576), der demHerrscher ›absolute‹, d.h. unteilba-re, nicht an Konsens gebundeneStaatsgewalt (»puissance absolue etperpétuelle«) zubilligt, eine Herr-schaft, die aber an göttliches Rechtund 8Naturrecht gebunden ist (Bin-dung an Prinzipien der 8Gerechtig-keit, des 8Gemeinwohls, des Ei-gentumsschutzes, der Sicherheit).Elemente des A. werden gerecht-fertigt in der politischen Theorievon N. Machiavelli: Fähigkeit desHerrschers zum Machterwerb undzur Machterhaltung, unabhängigvon ethischen Normen und rechtl.Begrenzungen (vgl. Il principe,1532), in der Herrschaftstheorievon J. Lipsius (vgl. Politicorum sivecivilis doctrinae libri sex, 1589), ineingeschränkter Form ebenfallsvon Th. Hobbes (Elementa philoso-phica de cive, 1642; Leviathan,1651): alle Herrschaftsformen, damit auch absolute Herrschaft,

Absolutismus7

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bleiben gerechtfertigt, wenn sie aneinen 8Gesellschaftsvertrag gebun-den sind.

Abstammungslehre, Übers. für Deszendenztheorie (von lat. descen-dere ›herabsteigen‹, abstammen);die Lehre von der Entstehung derArten (8Phylogenese), nach dersich alle Lebewesen einschließlichdes Menschen aus einer oder eini-gen wenigen Urformen im Laufesehr großer Zeiträume durch all-mähliche Umbildung auseinanderentwickelt haben, im Gegensatzzur Schöpfungs- und Typentheorie,wonach die Gattungen und Arteneinmal geschaffen worden und seit-dem fest und unveränderlich sind(8Konstanz der Arten). Die A. wur-de – nach Ansätzen bes. bei G. W.Leibniz und I. Kant (KdU § 80) –zuerst von J. Lamarck in der Philo-sophie Zoologique (1809), dann vorallem von Ch. R. Darwin in demWerk On The Origin of Species byMeans of Natural Selection (1859)erneuert, von Th. Huxley kurz dar-auf erstmalig ausdrücklich auf denMenschen angewandt, von E.Haeckel (Generelle Morphologie derOrganismen, 1866; Natürl. Schöp-fungsgeschichte, 1868; Anthropogenieoder Entwicklungsgeschichte desMenschen, 1874; Systematische Phy-logenie. Entwurf eines natürl. Sy-stems der Organismen auf Grundihrer Stammesgeschichte, 1894- 96)weiter ausgebaut. Die A. ist – nachdem Grundgedanken der Variati-on der Lebewesen am Leitfadender Evolution, vor allem durch Se-lektion und Mutation – ein gesi-cherter Bestandteil des naturwis-senschaftl. Weltbildes geworden.

Urspr. behauptete die A. nur diereale Entwicklung der Arten aus ei-nem (Monophylie) oder mehreren(Polyphylie) Grundstämmen, ohnedamit schon die 8Evolution er-klären zu können.

Abstoßungskraft (lat. vis repulsi-va), der Gegenbegriff zu 8Anzie-hung.

abstrahieren, von lat. abstrahere›fortschleppen‹, rauben (gr. aphai-rein), abziehen, absehen von etwas.8Abstraktion, 8abstrakt.

abstrakt, lat. abstractum, Plural:abstracta, von Boethius eingeführtelat. Übers. der aristotel. Begriffechôrista (die von der Materie ›ge-trennten‹ Wissenschaften) und taex aphaireseôs (das mathem. ›Seien-de‹, das unabh. von physischenMerkmalen – wie z. B. Bewegung,Körperlichkeit – Existierende). Inder mittelalt. Philosophie wirdzunächst zwischen a.en Namen(z. B. deitas ›Gottheit‹; humanitas›Menschheit‹, Menschlichkeit) undkonkr. Namen (deus ›Gott‹; homo›Mensch‹) unterschieden (Aver-roes, Bonaventura, Thomas v.Aquino, Meister Eckhart, Nikolausv. Kues). A.e Namen und Begriffebezeichnen hier, wie die konkre-ten, ebenfalls ›Seiendes‹. Im Unter-schied dazu eliminiert Wilhelmvon Ockham die bis dato gültigeUnterscheidung zwischen a.en undkonkreten Namen, wonach Ab-strakta allgemein bzw. ideell Sei-endes kennzeichnen, während kon-krete Begriffe spezifisch Dingli-ches, materiell Seiendes bedeuten.›Deus‹ und ›deitas‹, ›homo‹ und›humanitas‹ sind für Wilhelm v.Ockham jeweils synonym, in einer

Abstammungslehre 8

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anderen Hinsicht äquivalent. Nicht-synonyme a.e Namen kennzeich-nen ›Subjekte‹ (z. B. ignis, ›Feuer‹),im Unterschied zu 8Akzidentien(igneus, ›feurig‹). A.e Namen kön-nen aber auch den Teil eines kon-kreten Ganzen bezeichnen (z. B.anima ›Seele‹, im Untersch. zu ani-matum ›das Beseelte‹). G. W. Leib-niz (Nouv. ess., 1765, III. 8) unter-scheidet noch einmal logischeAbstrakta (z. B. mathematische Gegenstände) und das real A.e (in Teilwesenheiten, 8Akzidentien). J. Locke nennt die aus partikularenIdeen gewonnenen Vorstellungen›abstract ideas‹, so daß alle Begriffe,ausgenommen Eigennamen, alsodie gesamte Begriffsbildung derSprache a. genannt wird (An EssayConcerning Human Understanding,III, 8), 8Abstraktion.

Abstraktion, spätlat., ›Abzie-hung‹, Beraubung (gr. aphairesis);der Vorgang oder auch das Ergeb-nis des Abgehens vom Besonde-ren, Zufälligen, Unwesentlichen,um das Allgemeine, Notwendige,Wesentliche zu erhalten. Dazu:8abstrahieren. Aristoteles hatte alserster einen logisch- metaphys. Be-griff der A.; abstrakt heißen bei ihmdie von der Materie losgelösten For-men, bes. die mathem. Größen(Anal. post. 81 b); der A. stellte erdie Konkretion (gr. prosthesis, lat.determinatio) gegenüber. Den psy-chologischen Begriff der A. als Vor-stellungakt, als des allmählichenHeraushebens gemeinsamer Eigen-schaften aus der Vielheit der Ge-genstände, entwickelte erst J. Locke(An Essay Concerning Human Un-derstanding, 1690). Seit dem 18. Jh.

wenden sich die Vertreter der da-mals neu entstandenen deutsch-sprachigen Philosophie gegen die›A.en des Verstandes‹: J. G. Herdergegen die Aufklärung und I. Kant,die histor. Schule einschl. L. v. Ran-ke gegen die Aufklärung und G. W.Fr. Hegel; auch Hegels Kritik der›leeren‹ A. und seine Theorie deskonkreten Begriffs ist nur aus dieser Frontstellung zu verstehen.Hegel billigt die A. als method.Prinzip, um die Erscheinung aufdas Wesentliche zurückzuführen(8abstrahieren); aber er lehnt sie abals Ergebnis, wenn dieses nicht wie-der in die Bewegung des Denkensaufgenommen, sondern fixiert, verabsolutiert oder in dieser sei-ner Abstraktheit unmittelbar »andie Wirklichkeit gewendet wird«:»A.en«, wie Freiheit, Gleichheit,Brüderlichkeit, »in der Wirklichkeitgeltend machen, heißt Wirklichkeitzerstören« (Gesch. d. Philos. III.,Kap. I. Kant). – In der modernenLogik bez. man mit A. eine Opera-tion, mit der durch invariantesSprechen über Gegenstände neueGegenstände gewonnen werden. Z.B. hat G. Peano (Le definizioniper astrazione, 1915) Zahlen alsA.en von Aggregaten von Gegen-ständen def., die untereinander zähl-gleich sind, wobei jedes dieser Aggregate als Repräsentation der-selben Zahl gilt.

Abstraktionsschema, in der for-malen Logik das Schema zur Ein-führung idealer Gegenstände. 8Ab-straktion.

abstrus, von lat. abstrudere ›weg-stoßen‹, verborgen, dunkel, unver-ständlich.

abstrus9

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absurd, lat., ›mißtönend‹, allg.svw. widersinnig, sinnlos; danebenauch Merkmal theolog. Aussagen,die sich nicht beweisen lassen, son-dern nur geglaubt werden können(8credo quia absurdum), daher diezusätzliche Bedeutung ›mit dermenschl. Vernunft nicht erfaßbar‹(so z. B. in der 8Existenzphiloso-phie: S. Kierkegaard, A. Camus; indieser Bedeutung bereits bei B. Pascal). Das A.e ist schon bei Kier-kegaard belegt als Synonym für8Paradox(on), das als das Unbe-greifliche nur durch den Glaubenbegriffen werden kann, vgl. ders.Philos. Brocken, EA dän. 1844, dt.1890, 3. Kap.); bei J.- P. Sartre ist a.Merkmal des Faktums des für denMenschen Gegebenen, dem dieserdurch seinen Entwurf noch keinen8Sinn gegeben hat (Das Sein unddas Nichts, EA frz. 1940), bei Ca-mus Erfahrung des Zwiespalts zwi-schen Sinnanspruch und fehlenderVerwirklichung (Der Mythos von Si-syphos, EA frz. 1942), der ständigzum Widerstand, zur Revolte moti-viert. Ad absurdum führen: den versteckten Widersinn einer Be-hauptung aufdecken und sie da-durch widerlegen; auch: eine ansich gute, zweckmäßige Zielsetzungo. ä. durch Übertreibung um ihrenSinn bringen (z. B. bei dem sog.»Dienst nach Vorschrift«).

Abtrennungsregel, vgl. 8Modusponens.

abundant, von lat. abundare›überfließen‹, überflüssig. A. heißt eine 8Definition, die zuviel, d. h.solche Merkmale enthält, die ausden übrigen gefolgert werden kön-nen und daher nicht zur Definition

erforderlich sind. Abundantia, lat.,Personifikation des Wohlstandes,allegorisch dargestellt in der röm.Antike als Füllhorn, Globus, Schiffoder durch Ähren. Abundanz, lat.,›überflutend‹; in der Rhetorik sti-list. Begriff (schon bei Quintilian,Institutio oratoria) zur Bezeich-nung der Fülle sprachl. Ausdrucks-formen, mit der derselbe Gedankein versch. Formen wiedergegebenwerden kann (auch: 8Pleonasmus).Auch Begriff der Demographie fürBevölkerungsdichte, vergleichbarauch in der 8Ökologie: die auf eineFläche, Raumeinheit bezogene In-dividuenzahl einer Art, das Maß für Artendichte, auch die Häufig-keit des Vorkommens von Indivi-duen einer Art im Verhältnis zurIndividuenzahl zu der dieser Artzuzuordnenden höheren systemat.Einheit (z. B. eine Käferart im Ver-hältnis zur Gesamtzahl der Käfer in einem best. Areal). Abundanzre-gel ist eine ökologische Regel, nachder in vielseitigen Lebensräumendie Arten mit großer Anpassungs-fähigkeit eine größere Individuen-dichte aufweisen (A.) als wenigeranpassungsfähige Arten, welche je-doch in einseitigen Biotopen mitextremen Lebensbedingungen ver-breiteter sein können (eine größereA. haben können).

acervus, lat. ›Haufen‹, Übers. vongr. 8sorites.

Achill, gr. Achilleus, heißt einerder Scheinbeweise des Zeno vonElea, durch die er nachweisen wollte, daß die 8Bewegung Scheinsei: A., der schnellste Läufer, kanndie Schildkröte, das langsamsteTier, niemals einholen, wenn sie

absurd 10

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nur einen geringen Vorsprung hat;denn wenn er diese Strecke durch-laufen hat, ist sie inzwischen einkleines Stück vorwärtsgekommen;während er dieses durchläuft,kommt sie wieder ein Stück voranusf. bis ins 8Unendliche, da A. im-mer erst wieder dahin kommenmuß, wo die Schildkröte kurz vor-her schon war. Vgl. auch Aristote-les (Physik VI 9. 239 b 14) und Sim-plicius (in seinem Kommentar zudieser Stelle 1013, 31). Die Be-hauptung, daß der unendliche Pro-zeß unendlich viel Zeit erfordert, istfalsch; vgl. 8Paradoxie.

Achtung, germ. Wurzel ah ›mei-nen‹, ›denken‹, mhd. ahte (verw.mit got. aha ›Verstand‹, ahjan ›mei-nen‹), ›Aufmerksamkeit‹, erhaltenin achthaben, achtgeben, auch imKommando »A.!«. Von hier ausentwickelte sich A. zu der engerenund gesteigerten Bedeutung vonWertgefühl, Hochschätzung, ins-bes. die Anerkennung einer Per-son. Sie ist nach I. Kant ein »durcheinen Vernunftbegriff selbstgewirk-tes Gefühl«, also auch als Haltungvernunftgeleitet (Grundl. zur Met.d. Sitten, BA 17 Anm.). Hierher rühre die A. vor einer Person; sie»ist eigentlich nur Achtung fürs Ge-setz ... , wovon jene uns das Beispielgibt« (ebd.). Zwar gilt: Die »A. gehtjederzeit nur auf Personen, niemalsauf Sachen« (KpV, A 136), woraufsich aber auch 8Ehrfurcht bezie-hen kann. A. zielt jedoch auf diePerson selbst, nicht auf die Lei-stung des Menschen. Denn »A., dieich für andere trage, oder die einanderer vor mir fordern kann ..., ist ... die Anerkennung einer Wür-

de ..., d. i. eines Werts, der keinenPreis hat« (Met. d. Sitten, A 139).Dadurch erhält die in den 8Men-schenrechten geforderte »A. derMenschenwürde« eine theoretischeGrundlage, die den konkretenMenschen betrifft. ›A. gebieten‹können sich die empirischen Men-schen nur selbst, in Selbstanspruchund Selbstverbindlichkeit. Sie alsGehorsam zu fordern ist widersin-nig, insofern A. eine sittliche Hal-tung ist. Darüber hinaus führte Kant mit dem Begriff der 8Pflichtden der A. als Beurteilungsvermö-gen in die Ethik ein. »Die unmittel-bare Bestimmung des Willensdurchs Gesetz und das Bewußtseinderselben heißt A., so daß diese alsWirkung des Gesetzes aufs Subjektund nicht als Ursache desselbenangesehen wird. Eigentlich ist A.die Vorstellung von einem Wert,der meiner Selbstliebe Abbruchtut ... Alle A. für eine Person ist ei-gentlich nur A. fürs Gesetz (derRechtschaffenheit usw.)«, die Per-son nur »das Beispiel eines Geset-zes« (Grundl. zur Met. d. Sitten,1785, BA 16/17 Anm.). In der Kri-tik der Urteilskraft (§ 27) wird A.definiert als »das Gefühl der Unan-gemessenheit unseres Vermögenszur Erreichung einer Idee, die füruns Gesetz ist«. Der Gegenstandder A. ist in diesem Kontext das»moralische« Gesetz, nicht die8Person, sondern »die Idee derMenschheit in unserem Subjekte«(s. ebd.). Fr. Schiller erklärt im An-schluß an Kants Kritik der Urteils-kraft (§ 27) die A. aus dem »Wider-streit zwischen dem Bedürfnis derNatur und der Forderung des Ge-

Achtung11

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setzes, dessen Gültigkeit wir docheingestehen«: »Sie ist ein Gefühldes empirischen Willens von demreinen.« Während der Mensch inder Begierde diesen Abstand garnicht erfährt, hat er ihn in der Lie-be überwunden. In der A. ist dasGemüt »angespannt«, hingespanntzu dem Vernunftgesetz. »Hochach-tung hingegen geht schon auf diewirkliche Erfüllung des Gesetzesund wird nicht für das Gesetz, son-dern für die Person, die demselbengemäß handelt, empfunden ... A. istZwang, Hochachtung schon einfreieres Gefühl.« (Über Anmut undWürde, 1793). Für J. G. Fichte ist der»Trieb zu gegenseitiger A. dasBand, was die Menschen zur Ein-heit des Sinnes verknüpft«. Selbst-achtung und A. anderer bedingeneinander: »Im Kinde, ausgehendvon unbedingter A. für die erwach-sene Menschheit außer sich«, ge-staltet sich dieser Trieb dazu, »vondiesen geachtet zu werden und anihrer wirklichen A., als seinem Maß-stabe, abzunehmen, inwiefern esauch selbst sich achten dürfe ... Dermündige Mensch hat den Maßstabseiner Selbstschätzung in ihm sel-ber und will von andern geachtetsein, nur inwiefern sie selbst erstseiner A. sich würdig gemacht ha-ben« (Reden an die dt. Nation,1808, 10. Rede). Ähnlich G. W. Fr.Hegel: »Der Mensch, da er Geistist, darf und soll sich selbst desHöchsten würdig achten« (Vorles.üb. d. Gesch. d. Phil., Einl.). Bei E.Durkheim (L’Education morale,1925) wird A. vor den gesellsch.Regeln als zentrales Ziel öffentl.profaner Erziehung bez.; in der

Moralsoziologie von N. Luhmann(ders. u. a., Theorietechnik u. Moral,1978) wird A. als die elementaremoralbegr. Sozialbeziehung von›Ego‹ (8Ich) und ›Alter‹ (8alter ego)analysiert. Vgl. 8Ehrfurcht.

actus purus, lat. ›reines Wirken‹,lauteres Tun; die stofflose Form,Tätigkeit oder Wirklichkeit (im Sin-ne von Wirksamkeit), im Unter-schied zur stoffgebundenen Form,Möglichkeit (8Potenz), ein auf Ari-stoteles (Met. XI 7, 1072 b ff.)zurückgehender scholastischer Be-griff zur Bestimmung Gottes, der al-les, was er sein kann (was möglichist), auch wirklich ist: Deus est a. p.,non habens aliquid de potentialitate(Thomas v. A., Summa theol. qu. 3art. 2). Die Auffassung des Urseinsoder Weltgrundes als a. p. war einVersuch, die Frage nach dem Ver-hältnis von 8Grund und 8Existenzzu beantworten.

Adaption (auch Adaptation), vonlat. adaptare ›anpassen‹; in der Psy-chologie die 8Anpassung eines Or-gans an den Reiz, z. B. der Netz-haut an die Lichtstärke oder derHaut an die Temperatur, ganz all-gemein des beseelten Lebewesensan die Umweltbedingungen, z. B.Akklimatisierung. In unterschiedli-chen Wissenschaften wird A. auchallg. verwendet zur Bezeichnung einer Fähigkeit organischer oderauch technischer selbstregulieren-der Systeme, auf Änderung der Um-gebung mit einer Änderung des eigenen Systemzustandes zu rea-gieren, so z. B. in der Sozialpsy-chologie die Anpassung des Men-schen an die soziale Umwelt. Inder Sprachwissenschaft heißt A.

actus purus 12

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Übertragung eines Formelementes(z. B. grammat. oder semantischeFunktion) auf ein anderes Wort (z. B. bei der Flexion), in den Lite-raturwissenschaften die Umarbei-tung eines literar. Werks, um es einem anderen Kommunikations-mittel bzw. einer anderen Kunst-gattung anzupassen (z. B. A. von Erzählwerken für die Bühne, denFilm u.a.). Der Begriff wurde vonH. Aubert (Physiologie der Netz-haut, 1865) eingeführt, um die An-passung der Sensibilität von Sin-nesorganen an unterschiedlicheReizintensitäten zu bezeichnen. Inder 8Evolutionstheorie verstehtman unter A. die Fähigkeit zur Re-produktion eines Genotyps. DerAnpassungswert einer Populationbemißt sich daran, wie viele überle-bende Nachkommen ein bestimm-ter Genotyp gegenüber einem an-deren hervorbringt. In der Biologieund Psychologie versteht man un-ter A. eines Organismus die Ab-schwächung einer Erregung oderReaktion als Folge kontinuierlicheinwirkender Reize von bleiben-der Intensität. In der Psychologienennt man A. außerdem den Sach-verhalt, der eintritt, wenn bei einerDauerreizung die Empfindungsin-tensität subjektiv abnimmt, auchwenn sich die objektiv meßbareReizintensität vergrößert oder nichtverändert.

Adäquanztheorie, lat./gr. Neu-bildg., beschäftigt sich mit dem Problem adäquater Verursachung:Ursache eines Erfolgs (bzw. Scha-dens) ist jede Bedingung, die nichtweggedacht werden kann, ohnedaß der Erfolg (Schaden) ausbleibt

(8conditio sine qua non). Der Begriffwird in der Philosophie, in den Na-turwissenschaften und in der Juris-prudenz gebraucht. In der Straf-rechtslehre spielt sie eine Rolle beider Klärung der Frage, ob einemTäter 8Schuld zugeschrieben wer-den kann. Für die Lehre vom Zivil-recht, das auch eine Haftung ohneVerschulden kennt, ist sie ebenfallsvon Bedeutung. Nach der A. liegteine haftungs- bzw. strafrelevanteBedingung nur dann vor, wennnach der Lebenserfahrung mitdem Auftreten des Erfolgs (desSchadens) zu rechnen war.

adäquat, von lat. adaequare ›an-gleichen‹, gleichmachen; angemes-sen, übereinstimmend, gleichkom-mend; in der Scholastik gebr. zurBez. der Übereinstimmung der Vor-stellung, die wir uns von einem Ge-genstand bilden, mit diesem Ge-genstand selbst. Durch adaequatio›Übereinstimmung‹ (gr. homoiôsis)ist der traditionelle Begriff derWahrheit überhaupt charakterisiert(8Wahrheitstheorien). Nach Aristo-teles (De interpretatione I 16a 1)sind die in der Seele hervorgerufe-nen Vorstellungen Abbilder (ho-moiômata) der Dinge. Thomas v. A.definiert: veritas est adaequatio reiet intellectus »Wahrheit ist die Übe-reinstimmung des Gegenstandesund des Verstandes« (Summa theol.qu. XVI, art. 1, 3); er sagt statt adaequatio auch correspondentia›Entsprechung‹ und convenientia›Übereinkunft‹. 8Abbildtheorie.

additiv, von lat. addere ›hinzu-fügen‹, summenhaft, durch bloßesZusammensetzen zustande gekom-men.

additiv13

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Zahl (gr. arithmos, lat. numerus),ahd. zala, mhd. zal, von urgerm. ta-lo ›Einschnitt‹ (nämlich ins Kerb-holz, als primitive Zählweise), auchsvw. Aufzählung, Bericht, urspr. ei-ne Abstraktion aus der Gesamtge-stalt einer Menge oder Gruppe vonGegenständen (Herde, Schwarm u.dergl.) oder eines vielgliedrigenzusammenhängenden Ganzen. Be-reits in den ältesten Hochkultu-ren Ägyptens und Mesopotamienskommt es zu einer systematischenZ.schreibung, bei den Sumerern so-gar schon zu einem sexagesimalen(relativen) Positionssystem, bei denspäteren Indern (etwa des 7. Jh.n. Chr.) zu dem noch heute ge-bräuchlichen dekadischen absolu-ten Positionssystemen. Bei denGriechen behält die Z., streng ge-schieden von der kontinuierlichenGröße (megethos) und deren Ver-hältnissen (logoi), einen gewissenGestaltcharakter, der auch philo-sophisch von Bedeutung ist (z. B.für die 8Pythagoreer und Plato).

Zahlenmystik, Geheimwissen, dasauf der Annahme basiert, daß 8Zah-len über ihren numerischen Werthinaus zusätzliche Bedeutungenenthalten, die von Inhabern eines›Geheimwissens‹ als relevant fürdas Leben oder die Ordnung des8Kosmos gedeutet werden können.Eine solche Zahlensymbolik, dieaus zusätzl. Zuschreibungen vonSinn (z. B. ›7‹ als Glücks- oder Un-glückszahl) bestehen kann, läßt sich

sich rekonstruieren aus den sonsti-gen Bedeutungen anderer Ziffernim Rahmen eines einheitlichenDeutungssystems (z. B. dem der8Astrologie). Die ersten naturphilo-soph. Thesen über die numerischeOrdnung des 8Kosmos bei denVorsokratikern (8Pythagoreer) wür-de man im heut. Sinne als Z. klassi-fizieren (vgl. auch 8Kabbala).

Zeichen, aus germ. Wurzel, ver-wandt mit zeihen, bezichtigen, allg.Ausdruck für das, was etwas bedeu-tet. Man unterscheidet zwischennatürlichen Z. (auch ›Anzeichen‹)und künstlichen oder konventionel-len Z. Die Bedeutung eines natürli-chen Z.s ergibt sich aus einer kau-salen Relation: In diesem Sinnewird z. B. aufsteigender Rauch alsein Z. (oder Anzeichen) für Feuerverstanden. Die Bedeutung eineskünstlichen Z.s beruht auf einer8Konvention im Sinne einer still-schweigenden Übereinkunft zwi-schen den Mitgliedern einer be-stimmten Gemeinschaft: Daß etwadas Wort »gelb« im Deutschen dieFarbe Gelb bezeichnet, ist das Er-gebnis einer solchen Konventionund damit in gewisser Hinsicht ar-biträr (willkürlich). Wichtig ist dieu. a. von F. de Saussure (Cours delinguistique générale, 1916) beton-te Unterscheidung zwischen demZ.körper (der lautlichen oder gra-phischen Gestalt eines Z.s, oft Sig-nifikant genannt) und dem da-durch bezeichneten Gegenstand

Z

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(Bezeichnetes, Signifikat). Ikoni-sche Z. sind solche, deren Z.körperin einer gewissen Ähnlichkeitsbe-ziehung zum Bezeichneten steht(z. B. Piktogramme). Die Disziplin,die sich mit allg. Charakteristikavon Z. befaßt, heißt 8Semiotik. Vgl. auch 8Sprache, 8Symbol, 8Chiff-renschrift, 8Semantik, 8Syntax.

Zeit (ahd. mhd. zit ), idg. Wurzeldi- ›teilen‹, zerschneiden, urspr.wie lat. tempus (vgl. gr. temnein ›ab-schneiden‹), bez. bei einer Abfolgevon Ereignissen (im Unterschiedvom 8Raum, dem Nebeneinander)das Nacheinander in einer nichtumkehrbaren Richtung. Z. wirdaufgefaßt als homogenes, teilbares8Kontinuum, das, je nach wis-sensch. oder philos. Grundannah-men, als 8unendlich oder als 8end-lich bezeichnet wird. Die kleinstewahrnehmbare Z.einheit ist der8Moment. Häufig wird Z. als eineReihe, eine fortlaufende gerade Li-nie veranschaulicht, die nach rück-wärts ins Unendliche (die Vergan-genheit) und ebenso nach vorwärts(in die 8Zukunft) verläuft. JedemWirklichen wird seine Stelle odersein Abschnitt auf dieser einenZ.reihe zugeschrieben. Damit wirddas Modell der ›objektiven Z.‹ dar-gestellt. Diese Z. ist meßbar. Ge-messen wird sie allerdings nicht ansich selbst, sondern an der gleich-mäßigen Fortbewegung von Kör-pern, deren Bahn in gleiche Ab-schnitte zerlegt wird, so daß dieGliederung der räumlichen Bewe-gung zugleich eine Zerlegung derZ. in Z.abschnitte ermöglicht. Hier-auf beruht das Prinzip der Uhr, deren Gang nach dem gedachten

Modell einer großen Weltuhr, derBewegung der Gestirne, geregeltwird. Diese Z.messung ermöglichtdie exakte Naturwissenschaft, dieWissenschaft von der berechenba-ren Natur. (Über die Relativierungder meßbaren Z.: 8Zeitdilatation8Relativitätstheorie.) Von dieser ob-jektiven Z. hat I. Kant gelehrt, daßihr in Wahrheit nicht objektiveRealität zukomme: sie sei eine immenschlichen Subjekt liegende»reine Form der Anschauung«bzw. auch »reine Form der Sinn-lichkeit« (KrV B 34 f.), als solcheselbst »reine Anschauung« (ebd.und Proleg., § 10). Das vom Ich re-zipierte Material der 8Sinnlichkeitwerde von diesem in die Form desRaumes (Form des »äußeren« Sin-nes) und in die Form der Zeit(Form des »inneren« Sinnes) aufge-nommen und erhalte so seine ersteOrdnung durch 8Anschauung. DieGeltung der durch die Naturwis-senschaft gewonnenen Erkenntnis-se habe die »Apriorität« (8a prio-ri) dieser beiden »Formen der An-schauung« zur notwendigen Vor-aussetzung: »Die Z. ist nicht et-was, was für sich selbst bestündeoder den Dingen als objektive Be-stimmung anhinge, mithin übrig-bliebe, wenn man von allen sub-jektiven Bedingungen der An-schauung derselben abstrahiert:denn im ersten Fall würde sie etwassein, was ohne den wirklichen Ge-genstand dennoch wirklich wäre.Was aber das zweite betrifft, sokönnte sie als eine den Dingenselbst anhängende Bestimmungoder Ordnung nicht vor den Ge-genständen als ihre Bedingung vor-

Zeit747

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hergehen und a priori durch syn-thetische Sätze erkannt und ange-schaut werden ... Die Z. ist nichtsanderes als die Form des innerenSinnes, d. i. des Anschauens unse-rer selbst und unseres inneren Zu-standes ... Die Z. ist die formale Be-dingung a priori aller Erscheinun-gen überhaupt« (KrV, § 6, B 49 f.).Mit dieser Bezeichnung der Z. alsder Form der inneren Anschau-ung, des inneren Sinnes weistI. Kant auf die zweite Wurzel desZ.begriffs hin, auf das Z.- erleben,dessen Analyse schon in den ›Be-kenntnissen‹ des Augustinus ein-setzt. Dieses Erleben ›durchläuft‹nicht die Zeitreihe wie eine Linie,deren Punkte einer um den ande-ren passiert werden. Es ist niemalsin einen ›Jetztpunkt‹ eingeschlos-sen, sondern stets ein zusammen-fassendes und überschauendes Be-wußtsein von einer gewissen Dauer(psychologischer Begriff der ›Prä-senzzeit‹). Zum histor. Begr. der Z.: 8Zeitalter; 8Zeitgeist; 8Anna-len, 8Geschichtlichkeit, 8Epoche,8Periode.

Zeitalter, längerer historischerZeitabschnitt, der durch gemeinsa-me vorherrschende Denkströmun-gen, Lebensweisen und Gesell-schaftsordnungen (z. B. Antike, Mit-telalter, Neuzeit), auch durch un-tereinander verwandte Stilrichtun-gen in den Künsten oder vergleich-bare Grundsätze der Raumgestal-tung (z. B. 8Renaissance, 8Roman-tik, 8Postmoderne) definierbar ist.

Zeitdilatation, Zeitdehnung, auchEinstein- Dilatation gen.; nach derSpeziellen Relativitätstheorie ver-läuft die 8Zeit kontinuierlich ledig-

lich in einem einem System, wel-ches sich gleichförmig bewegt. ImUnterschied dazu erscheint dieZeit, gesehen von einem ›ruhen-den‹, einem langsamer (oderschneller) sich bewegenden Stand-punkt aus, als schneller (oderlangsamer) ablaufend (8Relativi-tätsprinzip, 8Relativitätstheorie).

Zeitgeist, Bez. für die für einen ge-schichtl. Abschnitt (8Epoche, 8Peri-ode, 8Zeitalter) spezifischen Auffas-sungen, Ideen und bewußten Le-bensweisen; bei G. W. Fr. Hegeleine Ausprägung des 8Weltgeistes,soweit er sich als 8objektiver Geistverwirklicht.

Zeitlichkeit, Merkmal der im Be-wußtsein von 8Zeit, insbes. nachden Kriterien Vergänglichkeit,8Werden, Veränderung, 8Konti-nuität beurteilten Sachverhalte;svw.: 8Geschichtlichkeit; bei M.Heidegger (Sein und Zeit, 1927, §§61- 82) ist Z. Grundstruktur des8Daseins des Menschen, vor allemausgezeichnet durch 8Endlichkeitund Sterblichkeit, welche lange vordem tatsächliche Ableben (8Tod)durch die Begrenztheit mensch-licher Lebensentwürfe das Leben(bei M. Heidegger: die Seinsweisedes Menschen, das ›Dasein‹) be-stimmen.

Zeitlogik, vgl. 8Temporallogik.Zen, jap. ›Meditation‹, chin. ch’an

(von sanskr. dhyana, d. i. urspr. eineMeditationsstufe des achtstufigen8Yoga); eine von dem buddh.Mönch Bodhidharma im 5./6. Jh.begründete und zunächst in Chinaverbreitete, mit Meditationspraxenverbreitete Lehre. Diese ch’an- Leh-re wurde später von Hui Neng

Zeitalter 748

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(7. Jh.) durch die Anleitung zur›plötzlichen Erleuchtung‹ (chin. wu,jap. satori) als Ziel der 8Meditationweiterentwickelt. Er gilt als Verfas-ser des ›Lin- tsu t’an- ching ‹ (wörtl.:Plattform- Sutra). Der Meditations-weg verläuft über ›nicht- unterschei-dendes Denken‹ (chin. wu-nien),welches in Dialogen zwischen Mei-ster (jap. san-zen) und Schüler geför-dert wird. Dies geschieht über Fra-gen, welche Antworten erzwingen,die nach den Kriterien westlicher8Rationalität auch mehrdeutig,sinnlos oder absurd sein können.Dadurch soll ein schrittweises ›Be-greifen‹ (jap. koan) erreicht werden,das sich aber nicht in sprachl. For-mulierungen eindeutig artikulierenläßt. In Japan wurden die Medita-tionspraxen dieser Richtung be-sonders intensiv weiterentwickelt.Sie fanden unter der jap. Bezeich-nung Z. in abgewandelter Formauch in anderen Kontinenten (z. B.in kleinen Gruppen in Westeuropaund Nordamerika) Verbreitung.

Zerebralsystem (lat. cerebrum), das8Gehirn und die Hirnnerven; Zere-brospinalsystem, die Gesamtheitdes Zerebral- und des Spinal-systems.

Zetetiker (gr. zëtëtikos ›zum Un-tersuchen neigend‹), Bez. der gr.8Skeptiker.

Ziel, im allg. ein bestimmter, zuerreichender Zustand, insbes. svw.8Zweck. Dazu Zielstrebigkeit, vonK. E. v. Baer (Über den Zweck in denVorgängen der Natur, 1874, in: Re-den und Aufsätze, Bd. 2) eingef. zurBez. der Entwicklung und des Ver-haltens der Organismen, deren Ergebnisse vorher bestimmt sind,

jedoch nicht durch eine bewußteZwecksetzung; svw. 8Entelechie.

Ziffer, mlat. cifra aus arab. Adj.sifr ›leer‹, gelangt im 13. Jh. mit derBedeutung ›Zahlzeichen ohne ab-soluten Wert‹, ›Null‹ in die roman.und german. Sprachen, wird, nach-dem ital. nulla diese Bedeutungübernommen hat, zu ›Zahlzeichenüberhaupt‹, frz. 8chiffre; danebenentwickelt sich im 18. Jh. die Be-deutung ›Geheimzeichen‹, da in al-ten Geheimschriften die Buchsta-ben durch Zahlen ersetzt wurden;8Chiffrenschrift.

Zirkelbeweis, zuweilen auch Zir-kelschluß, ein fehlerhafter 8Beweis,in dem die zu beweisende Behaup-tung implizit schon vorausgesetztwird; vgl. auch 8circulus vitiosus.

Zirkeldefinition, eine fehlerhafte8Definition, in der der zu definie-rende Begriff bereits als bekanntvorausgesetzt, in der also ›dasselbedurch dasselbe‹ (lat. idem per idem)erklärt wird: »Ein Quadrat ist einRechteck, das ein Quadrat ist« (vgl.auch 8circulus vitiosus).

zivil, von frz. civil, ›bürgerlich‹, gesittet; Merkmal eines gesell-schaftl. Zustandes, orientiert anstaatsbürgerl. Tugenden (8Zivilisati-on). Als Rechtsbegr. gebr. im Un-terschied zu Militär, militärisch:für den von staatl. Dirigismus un-abh. Teil einer 8Gesellschaft; alsSubst. auch verw. als Bez. für nicht-uniformierte Kleidung. Zivilcou-rage: 8Mut bei der Vertretung eige-ner Positionen in der Öffentlichkeitund bei der Durchsetzung politi-scher Ziele. Zivilrecht, svw. bürger-liches 8Recht. Ziviler Ungehorsam,engl. civil disobedience; ein Begr., der

zivil749

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von H. D. Thoreau (Üb. d. Pflichtzum Ungehorsam gegenüb. d. Staat,engl. 1849, dt. 1967) in die Politi-sche Philosophie eingef. wurde zurBez. von Widerstandsformen in-bes. gegen staatl. 8Gewalt (vgl. auch8Macht), die sich auf die passiveVerweigerung bei der Erfüllungstaatl. Pflichten (z. B. Steuern zuzahlen) oder auf den gezielten undbegrenzten Verstoß gegen öffentl.Normen (z. B. Verkehrsregeln) be-schränken, insofern untersch. vonder 8Revolte. Z.er Ungehorsamwird in der polit. Theorie insbes.dann gerechtfertigt, wenn die jurist.Normen eines Staates dadurch un-glaubwürdig gemacht werden sol-len, daß Akteure freiwillig die Sank-tionen gegen den Regelverstoß aufsich nehmen (z. B. Strafhaft), umdie Fragwürdigkeit eines Rechtssy-stems (z. B. eines, das Rassen-schranken errichtet oder das bes.Vorrechte von Kolonialherren ge-genüber den Beherrschten schützt)öffentlich zu demonstrieren.

Zivilgesellschaft, engl. civil society,frz. société civile, ital. società civile,von lat. societas ›Bündnis‹, civilis›bürgerlich‹ (bez. auf Stadt- , späterauch auf Staatsbürger). Der Begr. er-setzt im Dt. neuerdings häufigerden der ›Bürgerl. Gesellschaft‹ (zurunterschiedl. Bedeutung von ›bür-gerlich‹ im Dt. für Staatsbürger undfür Besitzbürger, für frz. citoyen undbourgeois vgl. 8Bürger). Die Festle-gung der Bedeutung ›bürgerlich‹ fürAngehörige einer besitzenden Klas-se, damit die Festlegung der Be-deutung ›bürgerliche Gesellschaft‹als von der Bourgeoisie beherrsch-te Klassengesellschaft ist im Dt. erst

durch die politische Theorie des8Marxismus eingeführt worden. ImUnterschied dazu bedeutete civilsociety im Engl. seit dem 18. Jh.Staatsbürgergesellschaft, entspr. al-so annähernd dem, was G. W. Fr.Hegel in seinen Grundlinien derPhilosophie des Rechts ›bürgerlicheGesellschaft‹ nennt: den von derstaatl. Administration unabhängi-gen Bereich, der sich z. B. in be-rufsständischen Kammern eigeneSelbstverwaltungsorgane schafft.Der Begr. Z. fand in die dt. polit.Terminologie erst mit der Rezepti-on der politischen Schriften vonA. Gramsci (inbes. in Quaderni delcarcere, 6 Bde., ersch. seit 1947) Ein-gang. Während der bisher verw. Be-gr. ›bürgerl. Gesellschaft‹ nochnicht immer eindeutig unterschei-det zwischen 1. staatsunabh. Berei-chen der 8Gesellschaft und 2. be-sitzbürgerl. Klassenherrschaft (inder Bedeutung, auf der insbes.K. Marx und Fr. Engels insistierthaben), umfaßt Z. bei Gramsci, dar-über hinausgehend, auch die politi-schen Organisationen, welcheauch und schon unter besitzbürgerl.Klassenherrschaft eine kulturelleund damit ideologische Hegemo-nie erlangen können. Z. bez. in derpolit. Philosophie gegen Ende des20. Jh. Unterschiedliches, z. B. inder Sprache des nordamerik. 8Li-beralismus die von der staatl. Ad-ministration unabh. Gesellschaftder einzelnen Staatsbürger, in derTheorie des 8Kommunitarismusdagegen das soziale Netzwerkstaatsunabhängiger Gemeinschaf-ten, die durch unterschiedl. kultu-relle Traditionen geprägt sind.

Zivilgesellschaft 750

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Zivilisation (lat. civis ›Bürger‹),allg. der Kulturzustand, die Ord-nung des Gemeinschaftslebens imUnterschied zum Zustand sog. Na-turvölker (8Naturzustand). In unse-rer Zeit ist Z. mitunter zum Gegen-begriff der 8Kultur geworden. Z.meint dann den Inbegriff des äuße-ren Lebens, wie es sich durch dieBeherrschung der Natur in derTechnik und die staatliche Organi-sation ergibt, und die Befriedigungin diesen Formen. Z. als Maßstabzur Selbstbeurteilung einer Gesell-schaft wurde erst in der frühenNeuzeit eingeführt, insbes. in Frank-reich nach dem Ideal des ›zivili-sierten‹ Verhaltens. Der frz. Begr.civilisation stammt von civil (›bür-gerlich‹) und civilité (›Gutbür-gerlichkeit‹) und ersetzte im fran-zös. Gesellschaftsleben des 8Abso-lutismus das urspr. nur höfische Ide-al der courtoisie (›Höflichkeit‹).Nach N. Elias (Der Prozeß der Z.,2 Bde, EA 1939) entstehen und er-halten sich gesellschaftl. 8Normendurch Einführung von Verhaltens-mustern, die nicht mehr alleindurch Fremdzwänge durchgesetzt(8Zwang), vielmehr durch Selbst-kontrolle (Elias: »Selbstzwänge«) in-ternalisiert werden. Von Z. kannnach Elias nur bei Gesellschaftord-nungen gesprochen werden, wel-che Techniken der zeitlichen undräumlichen Abstimmung des Ver-haltens ihrer Glieder (einheitl. Zeit-maß, Kalender, Verkehrswege, kon-tinuierliche Nachrichtenübermitt-lung) entwickelt haben und dieseauch tradieren.

zôon, gr. ›Lebewesen‹, auch:Tier; dazu: Zoologie, urspr. die

Lehre von den Lebewesen – sonoch bei J. Lamarck (Philosophiezoologique, EA 1809; vgl. 8Abstam-mungslehre, 8animal, 8Evolution,8Evolutionstheorien, 8Lamarckis-mus); später nach Einf. des Wissen-schaftsbegr. 8Biologie nur nochTeilgebiet ders. als Tierkunde; zô-on logon echôn, gr. das ›über Spra-che verfügende Lebewesen‹, beiAristoteles Wesensbestimmungdes 8Menschen (vgl. 8Logos) alseines vernünftigen ›Tieres‹; zôonpolitikon, gr. das ›städtische Lebe-wesen‹, das ›politische Tier‹, lat.animal sociale, ebenfalls auf Aristo-teles zurückgehende Wesensbest.des Menschen als eines auf Ge-meinschaft angewiesenen Lebe-wesens.

Zufall, zuerst bei Eckhart zuovalfür lat. accidens (8Akzidenz), dannim weiteren Sinne alles, was nichtals notwendig oder beabsichtigt er-scheint und für dessen unvermute-tes Eintreten wir keinen Grund an-geben können. Dementsprechendhat das Wort Z. die drei Bedeutun-gen des Nichtwesentlichen, desNichtnotwendigen oder des Nicht-beabsichtigten. Wird unter Z. dasNichtnotwendige verstanden, ist al-so absoluter Z. gemeint, so bedeu-tet Z. eine Durchbrechung des8Kausalgesetzes und setzt die Mög-lichkeit teilweise freien, willkürli-chen Geschehens voraus, im Un-terschied von dem relativen Z., dernur die Unberechenbarkeit, Un-voraussagbarkeit eines Gesche-hens im einzelnen meint, währenddie Berechnung des durchschnittli-chen Eintreffens solcher zufälligenEreignisse und ihrer 8Wahrschein-

Zufall751

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lichkeit bei einer großen Zahl derGegenstand der Wahrscheinlich-keitsrechnung und der 8Statistik ist.

Zukunft, Dimension der 8Zeit; imUntersch. zur 8Gegenwart das zuErwartende, noch nicht Realisierte,auf uns ›Zukommende‹; als Gegen-stand philos. Reflexion vor allemin der 8Geschichtsphilosophie undin 8Utopien behandelt; in der 8Existenzphilosophie, insbes. beiM. Heidegger und J.- P. Sartre Di-mension der 8Zeitlichkeit im ›Ent-wurf‹ (frz. projet) des 8Daseins (frz.réalité humaine) auf 8Möglichkei-ten hin. Zukunftsforschung, auch›Futurologie‹ gen.: interdisziplinär.Wissenschaftsbereich, der sich mit natur- und gesellschaftswissen-schaftl. 8Prognosen, Planungsalter-nativen und mit Theorien über Zu-kunftsmodelle beschäftigt, z. B. inder 8Geschichtsphilosophie, beider systemat. Kritik utopischer Modelle und in der 8Ideologiekri-tik von politischen Programmen,die auf Z.sprognosen aufbauen; vgl. 8Fortschritt, 8Aufklärung, 8hi-storischer Materialismus, 8Marxis-mus.

Zuordnung, allg. ein durch eineVorschrift festgelegter Vorgang,bei dem unterschiedl. Sachverhalteregelmäßig miteinander in Bezie-hung gesetzt werden. In der Ma-thematik und in der Logik sind Zu-ordnungsvorschriften Definitionenz. B. für 8Funktionen, 8Operatoren,in der Physik z. B. für Meßanwei-sungen. Zum Begr. Zuordnungsre-gel vgl. auch 8Korrespondenzregel.

Zurechnung, lat. imputatio, dasUrteil, durch das jemand entwederals Urheber einer Handlung (Z. zur

Tat, lat. imputatio facti, objektiveZ.) und ihrer Folgen erkannt odermit der 8Schuld für sie belastet (Z.zur Schuld, lat. imputatio juris, sub-jektive Z.) wird. In dem zurechnen-den Urteil liegt ganz allgemein, daßdie zugerechnete Tat die eigenedes Täters ist, d. h., daß sie in sei-nem freien Willen ihren Ursprunghat. I. Kant (Met. d. Sitten, Einl.)sagt: »Z. in moralischer Bedeutungist das Urteil, wodurch jemand alsUrheber (causa libera) einer Hand-lung, die alsdann Tat heißt und un-ter Gesetzen steht, angesehenwird.« Die heutige Rechtswissen-schaft versteht unter Z. als Beurtei-lungskriterium nur noch die Z. zurSchuld, zumal die Z. zur Tat mitder Zuschreibung von ›Kausalität‹,d. h. des ursächlichen Zusammen-hangs zwischen der Handlung undihren Folgen, gegeben ist. Zurech-nungsfähigkeit bedeutet ihr sovielwie Schuldfähigkeit, d. i. (strafrecht-liche oder zivilrechtliche) Verant-wortungsfähigkeit.

Zwang, 1. Bestimmung zu einemHandeln gegen den eigenen 8Wil-len durch Androhung oder Voll-zug physischer 8Gewalt; 2. Sam-melbegr. für rigorose soziale Rollen-und Verhaltenserwartungen; 3. inder Psychopathologie das Be-herrschtsein von unfreiwillig aus-geübten Handlungsmustern (z. B.Kaufzwang, Kleptomanie) odervon 8Zwangsvorstellungen; 4. inder 8Pädagogik Mittel zur Durch-setzung des Erzieherwillens (z. B.durch Tadel, als Strafe verstehbarenegative Sanktion, Entzug von Zu-wendung, Versprechen unter Be-dingungen); 5. im Strafrecht eine

Zukunft 752

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mit Strafe oder mit Strafandrohungverbundene Maßnahme. Darüberhinausgehend gibt es Formen staat-licher Einwirkung auf Personenund Sachen durch körperl. 8Gewaltoder Waffengebrauch, die aber ge-gebenenfalls als ›unmittelbarer Z.‹gerechtfertigt werden müssen. Alsadministrative Maßnahme in einerrechtsstattl. Ordnung ist Z. nurdann 8legal (z. B. im Polizeirechtoder Strafvollzug), wenn mildereMittel nicht zum Erfolg führen (vgl.auch 8Strafe).

Zwangsvorstellung, eine sichdem Menschen aufdrängende8Vorstellung, derer er sich nicht er-wehren kann, obwohl er sie alskrankhaft empfindet.

Zweck, mhd. zwec, 1. Nagel vonHolz oder Eisen, Bolzen, 2. Nagelinmitten der Zielscheibe, daher3. das 8Ziel, die vorgestellte und er-strebte Wirkung, die Endursache(8causa finalis im Gegensatz zu8causa efficiens) insofern, als dieZielvorstellung die Ursache für denVerlauf einer Tätigkeit, für die Aus-wahl der Mittel zur Erreichung desZ.s und ihre ›zweckmäßige‹ Anwen-dung ist (8Teleologie; 8Zweck-mäßigkeit). Der Z.begriff steht in einem Bedeutungsspektrum, das zuerst Aristoteles in der 8Naturphi-losophie (Physik), in der 8›Metaphy-sik‹ und auch für die 8Ethik ent-wickelt hat. Seiendes wird als 8Ent-elechie aufgefaßt, als ein Prozeß, derseinen Z. der 8Möglichkeit nach insich trägt. Die Natur enthält nachdiesem Modell latent die in ihr an-gelegte Vollendung und 8Vollkom-menheit alles Seienden. Natur wirdals Entwicklung auf den Z. voll-

kommener Verwirklichung aller inihr angelegten Möglichkeiten hingedacht. In der Ethik hat Aristote-les zuerst systematisch die intentio-nale Gerichtetheit menschlichenHandelns, seine prinzipielle Orien-tierung im Handeln auf Z.e durch-dacht (Nik. Ethik, 3. Buch). In der Moderne tritt der Z. im wesent-lichen in Zusammenhängen der8Ethik auf: I. Kant etwa läßt alsSelbstzweck nur noch das vernunft-begabte 8Subjekt gelten (Grundl.zur Met. d. Sitten, 1785). Jede 8Hand-lung ist zweckgerichtet und als sol-che ebenso willkürlich wie der Z.,auf den sie als 8Mittel gerichtet ist.Erst wo Z. und Mittel einem mora-lischen Prinzip unterworfen wer-den – in der autonomen Selbstge-setzgebung durch den die Hand-lungsmaxime bestimmenden 8kate-gorischen Imperativ – ist eine Ab-straktion von den Privatzweckenzum Ganzen aller möglichen Z.e er-reicht und die Handlung selbst alsZ. bestimmt. Im 20. Jh. hat M. We-ber die moderne Vernunft als ei-nen an der Abwägung von Z. undMittel orientierten Vernunfttypusder 8Zweckrationalität begriffen,der außerhalb dieser Nützlichkeits-beziehung keinerlei außer ihr lie-genden, an sich als wertvoll zu ver-folgenden Z. mehr kennt (im Un-tersch. zur reinen Wertrationalität u.anderen für weniger rational beur-teilten Handlungstypen).

Zweckmäßigkeit, 1. das Prinzipder Betrachtung der organischenNatur (8Organismus) in Analogiezum zielgerichteten Handeln desMenschen (8Absicht, 8Teleologie),auch Begriff für eine philosophi-

Zweckmäßigkeit753

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sche Betrachtungsweise der Naturnach dem Prinzip der inneren8Vollkommenheit; 2. in der 8Ethikdient Z. zur Kennzeichnung sol-cher Handlungen, die der 8Absichteines sie verursachenden Subjektsentsprechen. Aristoteles spricht inder Metaphysik in der ersten Bed.von der 8Entelechie in der Natur,die in ihren Entwicklungsprozes-sen 8Ziele, die sie latent in sichträgt, zur Vollendung bringt (Met.,Buch IX). 8Natur entwickelt sichnach zweckgerichteten 8Anlagen.Der an der klassischen Physik ori-entierte Naturbegriff der moder-nen Philosophie hat in seiner Aus-richtung auf die 8Kausalität der Na-tur ihre 8Finalität weitgehendausgeblendet. I. Kant, für den es ei-ne Z. der Natur nur noch im Refle-xionszusammenhang der 8Urteils-kraft, d. h. als subjektives und regu-latives Prinzip gibt, die Einheit desMannigfaltigen der Natur im Den-ken herzustellen (vgl. KdU 1790,§§ 61ff.), denkt Z. nicht mehr als ob-jektive Eigenschaft der Natur, son-dern thematisiert sie primär als sub-jektives Handeln aus einer Absicht(KdU § 10). Der Z. 1. in der 8Na-turphilosophie und 2. in der Ethik,denen beiden ein (dort objektiver,hier subjektiver) 8Zweck zugrunde-gelegt wird, stellt I. Kant 3. eineästhetische Zweckmäßigkeit ohneZweck entgegen, die ihren Ur-sprung allein in der subjektivenEinheit des Mannigfaltigen im 8Ge-schmacksurteil hat, das durch dieReflexion nichts als die »bloßeForm der Z. in der Vorstellung«(ebd., § 11) ermittelt. Diese »bloßformale Z.« eines Gegenstandes

kommt ohne den metaphysischenBegriff innerer Vollkommenheitaus, ist unabhängig von jedem äuße-ren Zweck der Nützlichkeit undsteht somit für die 8Autonomie derKunst bzw. des Schönen (§§ 15- 17;vgl. 8auch schön).

Zweckrationalität, Begriffsschöp-fung von M. Weber für ein Merk-mal eines an rationalen Krite-rien allein orientierten techn. odersozialen Handelns, welches vor al-lem nach einem Kosten- Nutzen-Prinzip beurteilt wird, wobei die er-wünschten Folgen und die kal-kulierbaren Nebenfolgen mit ein-bezogen werden (M. Weber, Wirt-schaft u. Gesellschaft, posthum 1922,Soziol. Grundbegriffe II, § 2).

Zweifel, mhd. zwivel aus germ.Stammwort, verwandt mit zwei;der Zustand der Unentschieden-heit, das Schwanken zwischen ver-schiedenen Ansichten, insbes. inder Überzeugung von der Wahrheitoder Unwahrheit einer Lehre: dertheoretische Z.; zwischen Billigungund Mißbilligung einer Handlungoder Gesinnung: der moralische Z.;zwischen 8Glauben und Unglau-ben: der religiöse Z. Der grundsätz-liche erkenntnistheoretische Z. inbezug auf die Außenwelt würdezum 8Solipsismus führen, der Z. ander Erkenntnisfähigkeit des Men-schen überhaupt zur 8Skepsis; posi-tiv indessen in der ›methodische‹ Z.,das einstweilige Dahingestelltseindes noch nicht Geprüften. Gegen-satz: 8Gewißheit.

Zweiwertigkeitsprinzip, vgl. 8Bi-valenzprinzip.

Zyklentheorie, von gr. kyklos›Kreis‹, Ring; 1. Geschichtstheorie,

Zweckrationalität 754

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nach der, im Unterschied zu einerlinearen Vorstellung von ge-schichtl. 8Zeit, sich die Mensch-heitsgeschichte in großen Abstän-den wiederholt (8ewige Wieder-kunft). 2. in der Geologie dieAnnahme, daß die Entwicklungender Erdkruste in mehreren geotek-tonischen Zyklen abgelaufen sind.

Zynismus, die Lebensanschau-ung der 8Kyniker, insbes. ihre ehr-furchtslose, Anstand und Sittenicht achtende Ausdrucksweise;daher das ›zynische‹, Scham undAnstand absichtlich verletzendeReden und Benehmen. Unter ei-nem Zyniker versteht man allg. ei-nen Menschen, der sich so dar-stellt, als ob ihm nichts ernst, ehr-würdig oder heilig ist, der daherbestrebt ist, die Wertgläubigkeit sei-ner Mitmenschen zu erschüttern.Das grundlegende Werk des modernen Z. ist Rameaus Neffevon D. Diderot (übers. v. J. W. v.Goethe 1805). Z. ist im allgemeinenSprachgebrauch höhnisch- bissiger,auch verletzender Spott. Kynisch, von gr. kynikos, hündisch, hieß eineLebensweise und Philosophie, diedurch auffälliges Benehmen sowiedurch gewitzte und anstößige Re-den die Bürgerschaft des zerfallen-

den Athens bzw. Roms attackierte.Begründer soll der SokratesschülerAntisthenes sein, als Protokynikeraber gilt dessen angeblicher Schü-ler Diogenes von Sinope, eine nurin Anekdoten und Legenden be-zeugte Gestalt. Er soll wegen seinesabgerissenen Aussehens und seinerschamlosen Frechheit ›Hund‹(kyôn) geschimpft worden sein, woraus er prompt eine Selbstbe-zeichnung gemacht habe, die zumNamen der ›Schule‹ führte (8Kyni-ker). Um die Zeitenwende erfährtder 8Kynismus ein Wiederaufle-ben in Rom und wirkt dort bis ins 5. Jahrhundert. ›Zynisch‹ hältnur noch eine Seite des Kynismusfest: Moralverachtung. Im 18. Jahr-hundert wird aufgrund einer christ-lichen Vereinnahmung der Dio-genes- Literatur die Tugend der8Autarkie ›diogenisch‹ genanntund alles Spöttische und Scham-lose ›cynisch‹. Im Spätkapitalismusist Z. (so P. Sloterdijk, Kritik d. zyni-schen Vernunft, 1983) als Haltungs-muster in einer Gesellschaft, in der Menschen sich den Regeln desWarentausches unterwerfen, »zumSystem geronnen« (248), »ein universales und diffuses Phäno-men« (34).

Zynismus755