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Wintershall entsteht 5 Aus den Lebenserinnerungen des Schneidermeisters Heinrich Reinhardt in Lengers (1872-1941) Aufgezeichnet von seinem Sohn Valentin Reinhardt und für den Druck vorbereitet von Hamburg Februar 2018 ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTE, VOLKS- UND HEIMATKUNDE Nummer 2 Band 57

ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTE, VOLKS- UND HEIMATKUNDE€¦ · hannes meiner Frau, wurde. Schon damals merkten wir die Folgen der rückschlägigen Krankheit bei unserer Tochter Magdalene

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Page 1: ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTE, VOLKS- UND HEIMATKUNDE€¦ · hannes meiner Frau, wurde. Schon damals merkten wir die Folgen der rückschlägigen Krankheit bei unserer Tochter Magdalene

Schon 1993 erschien der erste Teil derLebenserinnerungen unter dem Titel„Kindheit und Jugend im Kaiserreich“ inMein Heimatland (Band 35). Auch für dieVeröffentlichung des zweiten Teils wur-den die Aufzeichnungen leicht gekürztund überarbeitet.„Mit großer Freude wurde uns am 5. Juni1901 das erste Kind geschenkt, ein Töch-terlein. Wir nannten es Magdalene; Patewurde die Schwester Eurer Mutter, FrauMagd. Bartholomäus, Vacha.

Wintershall entstehtIn jenen Jahren wurden Bohrungen imWerratal vorgenommen und es wurdeentdeckt, dass sich in einer Tiefe von 500– 800 Meter große Salzlager befanden.Nun ging es mit Hochdruck an die Ar-beit. Leute wurden eingestellt und auchdie Fuhrmänner hatten Arbeit. AlleHolz- und Eisenteile sowie Baumateriali-en mussten mit Wagen von Gerstungenund Hönebach herbeigefahren werden.Die Straßen und Wege kamen deshalb ineinen furchtbar schlechten Zustand. Eskam vor, dass wenn beim Kartoffelheim-fahren im Herbst ein Sack vom Wagenfiel und im Schlamm versank, man ihneinfach liegen ließ. Der Leiter des Unternehmens war da-mals ein Herr Rosberg, der heute Gene-raldirektor der „Wintershall AG“ in Kas-sel und ein reicher Mann ist. Damals hatihm meine Frau in der alten Mühle inWölfershausen noch die Stiefel geputzt.Mit großer Mühe ging es an die Aushe-bung des Schachtes, wobei man aufGrundwasser stieß, welches großeSchwierigkeiten bereitete. Den Arbei-tern, die am Ausschachten waren, wurdedas Wasser vom Leib weggepumpt. WäreRosterg nicht so ein willensstarker Manngewesen, der sich nicht scheute, in einerBude zu schlafen, bei Tag- und Nachtzeitauf den Beinen zu sein und selbst Handanzulegen, wäre der Schacht nicht fertiggeworden.Mittlerweile wurde auch stark an der Ei-senbahn gebaut, zunächst bis Heringen.Für diese Bahnbauten waren italienischeArbeiter da. Diese sind bekanntlich –

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»Mein Heimatland«, monatliche Beilage zur»Hersfelder Zeitung«. Gegründet von Wilhelm Neuhaus.Schriftleitung: Ernst-Heinrich Meidt, KirchheimVerlag: Hoehl-Druck GmbH + Co. Hersfelder Zeitung KG

Freud und Leid 1901 bis 1918Aus den Lebenserinnerungen des Schneidermeisters Heinrich Reinhardt in Lengers (1872-1941)

Aufgezeichnet von seinem Sohn Valentin Reinhardt

und für den Druck vorbereitet von Wolfgang G. Fischer, Hamburg

Februar 2018

ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTE, VOLKS- UND HEIMATKUNDE

Nummer 2 Band 57

Lengers mit Schacht Wintershall im Hintergrund. Ansichtskarte um 1903.

Ansichtskarte vom Kaliwerk Wintershall um 1903, kurz nach dem Abteufen.

Datum Bezeichnung Einnahmen Ausgaben

3. Juli 1,2 Pfd. Butter 12.0003. Juli Stromgeld 2.4003. Juli 10 Eier 10.0009. Juli 1 Pfd. Butter 15.0009. Juli 10 Eier 15.000

16. Juli 1,1 Pfd. Butter 33.00016. Juli 8 Eier 16.00017. Juli 2 Liter Maschinenöl 40.00017. Juli Umsatzsteuer 32.00017. Juli 2 kg. Tranfett 50.00023. Juli 1 Pfd. Butter 40.00023. Juli 10 Eier 30.00030. Juli 1 Pfd. Butter 60.00030. Juli 10 Eier 40.00028. Juli Unfallgeld 21.30028. Juli Viehsteuer 1.82028. Juli Bausteuer Staat und Kreis 7.08028. Juli Umlagen I u. II 62.80028. Juli Landwirtschaftskammer 4.32030. Juli 1 blaue Arbeitsjacke 120.000

8. Aug. ¾ Pfd. Butter 90.0008. Aug. 8 Eier 56.000

16. Aug. 1 Pfd. Butter 150.00024. Aug. Brotabgabe 30.00024. Aug. Einkommensteuer 1922 20.82024. Aug. Einkommensteuer 1923 3.716.00024. Aug. Kirchensteuer 9.29031. Aug. Stromgeld 448.000

3. Sept. 3 Zentner Roggen 42.000.0003. Sept. Landabgabe 13.545.000

14. Sept. 2 Zentner Roggen 170.000.00014. Sept. Landabgabe 165.510.00014. Sept. Umlagen, Bausteuer,

Landwirtschaftskammer 785.5803. Okt. Ruheabgabe 7.432.000

15. Okt. Feuerschadenversicherung 654.300

Warum Heinrich Euler über die letzten vier Inflationswochenkeine Notizen mehr machte, ist nicht bekannt – vielleicht konn-te er die ungeheuren Zahlen schon gar nicht mehr einordnen.

Richtfest der Autobahnbrucke bei Hattenbach im Jahre 1938 (Kreuzungsbauwerk).Vorne zweiter von rechts ist Heinrich Euler aus Allendorf, der im Inflationsjahr 1923Aufzeichnungen uber die Geldentwertung anfertigte. Die anderen Personen auf die-sem Bild sind nicht bekannt, düften jedoch aus der näheren Umgebung stammen. Ei-nige ähnliche Autobahnbrücken in unserem Raum sind bis heute erhalten.

Auswahl von Geldscheinen der Inflationsjahre 1919 bis 1923.Wie man an den beiden Scheinen links oben und links untensieht, brachten auch Städte Papiergeld in Umlauf. Die Geld-entwertung dieser Jahre lässt sich gut an den Werten vonBriefmarken beobachten, die ebenfalls dauernd stiegen. Diewirtschaftlichen Auswirkungen der Inflation waren unter-schiedlich. Da das Preisniveau von Gütern und Dienstleistun-gen gewaltig stieg, boomten Industrie und Handel. Die Geld-entwertung wurde jedoch schließlich völlig unkalkulierbar.Für Industrie und Handel blieb über die Inflation hinaus derGewinn an Sachwerten. Eindeutig geschädigt durch die Inflation wurden Lohn- undGehaltsempfänger, weil die Erhöhung ihrer Einkommen hin-ter der Geldentwertung zurück blieb. Inflationsgeld der Jahre 1919 – 1923 erzielt bei Ebay heutezum Teil einen höheren Wert als die jeweiligen Scheine sei -nerzeit hatten. (Foto und Bildunterschrift: Ernst-Heinrich Meidt, Kirchheim)

Page 2: ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTE, VOLKS- UND HEIMATKUNDE€¦ · hannes meiner Frau, wurde. Schon damals merkten wir die Folgen der rückschlägigen Krankheit bei unserer Tochter Magdalene

auch heute noch – die anspruchslosestenMenschen, die mit einem Stück Brot zu-frieden waren. Es folgten dann noch an-dere Schächte, wie Herfa, Neu-Heringen(der später „ersoffen“ ist), Hattorf, Mer-kers, usw. Es gab damals noch überallPetroleumfunzeln.Als die Schächte gebaut wurden, musstedas anders werden. Die alte LengerserMühle wurde von Wintershall angekauftund in ein Elektrizitätswerk umgewan-delt, welches auch den umliegenden Dör-fern Strom lieferte. Es gab auf einmal einganz anderes Leben in unserem sonst soverlassenen Tal. Es wurde eingerissenund gebaut , der Wohlstand besserte sichbedeutend.

Auch andere Handwerksleute bekamendas zu spüren. An mir ging das allesebenfalls nicht spurlos vorüber. Ich hattevollauf zu tun. Bis spät in die Nacht undmanche Nacht hindurch wurde gearbei-tet, besonders vor den Festtagen. MeineFrau hat da auch oft viel mithelfen müs-sen. Bis dahin wurde für eine Arbeitshose80 Pfennig bis eine Mark bezahlt, jetztstiegen auch die Preise.Unser Lenchen bekam ungefähr im Altervon drei Jahren die Masern, die ja beiKindern viel vorkommen. Aber wie Kin-der sind, ist sie anscheinend nicht immerim Bett oder zugedeckt geblieben, jeden-falls schlug sich die Krankheit ins Blut,

Pate wurde mein Bruder Valentin. Er warein sehr schwächliches Kerlchen, aberbrüllen konnte er fürchterlich. Besondersdann, wenn der Sauger nicht ständig mitZucker gefüllt wurde. Dabei war er vonAnfang an sehr sauber, Windeln hat erfast keine voll gemacht. Er besorgte dasalles schon wie ein Alter. Ein Kaufmannaus Heringen, der uns früher oft besuch-te, sagte mehrmals: „Den kriegt Ihr nichtgroß.“Nicht lange nach Max folgte Moritz. Un-ser letzter und jüngster Sohn, Ludwig, er-blickte am 26. September 1917 das Lichtder Welt. Als die Hausgenossen bei derKartoffelernte waren, kam die Kunde,dass ein gesunder Junge angekommen ist.Durch die Blockade der anderen Länder,hauptsächlich Englands, wurden die Le-bensmittel knapp. Da gab es dann dieberühmten „Karten“, an die mancher Va-ter und manche Mutter noch mit „Freu-den“ zurückdenkt. Es gab Brot-, Butter-,Käse, Fleisch-, Wurst- und Kunsthonig-karten, usw. Für jeden essbaren Gegen-stand gab es diese Karten. Die Menschenstanden mit hungrigen Mägen in langenKetten vor den Läden, um 4 Pfund Brot,100 Gramm Butter und dergleichen zubekommen. In den Städten war das nochviel schlimmer als auf dem Land. Dagab’s dann meistens Steck- (Kohl-)rüben.Dass bei solcher Knappheit von Lebens-mitteln sich viele nicht um Gesetze scher-ten und alles aufwendeten, um etwas zuessen zu bekommen, lässt sich denken.Die Bessergestellten konnten das bewerk-stelligen, zu hohen Preisen und durch

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was ihr in den fol-genden JahrenGrund vieler Be-schwerden werdensollte.Im Jahre 1902 bau-ten wir einen Stallnebst Scheune, sodass wir in der Lagewaren, eine Kuhoder Ziege sowie einSchwein zu halten,und etwas Land-wirtschaft zu trei-ben. Die Ernährungder Familie warnunmehr einiger-maßen gesichert.Am 23. Mai 1904wurde uns ein Sohngeschenkt, den wirKarl nannten. Patewurde der BruderEurer Mutter in

Vacha. Drei Tage nach seiner Geburt warein schweres Gewitter, das einige Tagedauerte.Leider wurde in unsere Familie eineLücke gerissen. Meine liebe Mutter erkäl-tete sich auf einer Reise zu einer Gerichts-verhandlung nach Kassel schwer undstarb nach dreitätigem Krankenlager1906 im Alter von 70 Jahren. Sie hat unsals Kinder immer zum Beten angehalten.Wenn morgens, mittags und abends dieGlocke läutete, Betglocke nannten wir sie,falteten wir die Hände und beteten. Ichwar beim Arbeiten, als sie einschlief undwusste es gar nicht. Sie atmete noch eini-ge Male vernehmbar und dann war esstill. Hinzutretend gewahrte ich, dass sieentschlafen war. Nun ruht sie schon fast30 Jahre auf unserem Friedhof.Im Jahre 1908, am 10. Januar, wurde unsein weiterer Sohn Heinrich geboren, des-sen Pate Heinrich, der Sohn meines Bru-ders Georg wurde. Es folgte dann am 6.April 1910 Rudolf. Sein Pate wurde einBruder meiner Frau, der SchreinermeisterRudolf Möller in Vitzeroda.Die Familie war nun schon stark gewach-sen. Gleichzeitig wuchs auch die Arbeitmit. Meine Frau konnte mir in derSchneiderei fast gar nicht mehr helfen.Sie hatte in der kleinen Landwirtschaftund mit dem Haushalt allerhand Arbeit.Tagsüber hatte ich die Kinder bei mir inder Schneiderstube. Nebenbei hatte ich

noch das Amt desGemeinderechners.Bei der vielen Kopf-arbeit und in derSchneiderei war derLärm der Kinder ei-ne angenehme (!?)Abwechslung. Damusste oft derStock in Tätigkeittreten, der immergriffbereit lag. DieWirkung war auchmeist überraschend.In den Jahren vordem Krieg warDeutschland ja fi-nanziell ziemlichauf der Höhe. Aberdamals gab es dochnoch viel mehr armeLeute als heute.Auch das ganze So-zialwesen war nochlange nicht so orga-nisiert. Der Arbeiter

war das niedrigste Geschöpf. Wenn erkrank war, wurde er aus dem Betrieb ent-lassen. Krankenkassen gab es nicht, somusste die Familie darben und niemandkümmerte sich darum. Das ist ja heuteanders geworden. Auch dem Handwerkerging es noch nicht so rosig.Am 20. November 1913 erblickte unsereAuguste das Licht der Welt, deren PateAuguste Möller, die Frau des Bruders Jo-hannes meiner Frau, wurde.Schon damals merkten wir die Folgen derrückschlägigen Krankheit bei unsererTochter Magdalene. Mit 12 Jahren kamsie nach Hersfeld ins Krankenhaus. Eshatten sich Ausschlag und Geschwüre ge-bildet, was vom Blut kam.

Der Erste Weltkrieg beginntDann begann der schreckliche Weltkrieg.Zum Militärdienst war ich nicht herange-zogen worden, weil mein Fuß ein zugroßes Hindernis bildete. Als der Kriegkam, musste ich einige Male nach Hers-feld zur Musterung. Bis sich endlich einHerr erbarmte und dafür sorgte, dass ichnicht mehr hinzukommen brauchte.An einem schönen Augusttag 1914 schlugdie Botschaft über die Mobilmachung wieein Blitz aus heiterem Himmel ein. Eifrigwurde das Neue auf der Straße und imFeld besprochen. Bald reisten die wehr-fähigen Männer ab. Doch keiner ahnte,wie verhängnisvoll dieser Krieg werdenwürde. Ach, wie viele haben ihre Heimatnicht wiedergesehen. Alle waren der Mei-nung, der Krieg wäre in einigen Monatenbeendet und sie könnten dann siegge-krönt heimkehren. Da habe ich oft zu Eu-rer Mutter gesagt: „Jetzt weißt Du, war-um ich meinen Fuß habe; ich brauchtenicht mit fortzuziehen.“Bald läuteten die Glocken, Siege wurdenverkündet. Die Deutschen rückten sieg-reich vor. Aber schon trafen hier und daNachrichten von Verwundeten ein, leich-ten und schweren, von Vermissten undGefangenen. Ja sogar Todesnachrichtenschlugen wie berstende Granaten in man-che Familie ein. Hier der Vater, der einzi-ge Ernährer der Familie, dort der Sohn,auf den man alle Hoffnungen gesetzt hat-te, dort der Verlobte, die trauernde Brautzurücklassend. Viel Trübsal kam über dassonst so friedliche Land. Der Föhn desKrieges brauste über Europa, ja über denganzen Erdball, und wo er herfuhr, dablieben Trümmerhaufen, geknickte Bäu-me und verbleichte Menschenleiber.Der Kampf mit den Russen hat auch ausunserem Stamm ein Opfer gekostet: Va-lentin, ein Sohn meines Bruders Georg,fiel in den großen Wäldern Russlands.Dort liegt er bestattet. Ernst, ein Sohndes Kantors Kaiser hat ihm seine letzteRuhestätte gegraben. Ich sehe Valentinnoch vor mir, als er auszog. Er war der äl-teste. Mit Tränen in den Augen zog er vonuns fort. Unsere Kleinen lagen noch inder Wiege. Er ist immer ein netter Jungegewesen.Der Kampf zog sich hin. Es wurde gesätund geerntet. Die Männer fehlten beson-ders bei der schweren Feldarbeit. VielSchweres haben da unsere Frauen mitge-macht. Dann kamen auch die ersten Ge-fangenen, um in den Bergwerken und aufBauernhöfen zu arbeiten. Das war beson-ders für die Jungs eine Lust, als sie mitihren roten Hosen ankamen.Wieder wurde es Frühling. Die erstenVorboten zeigten sich schon. Da wurdeuns in dieser schweren Zeit am 15. Febru-ar 1916 unser Valentin geschenkt. Sein

Schmuggelei. Die raffiniertesten Sachenwurden gemacht. Auf dem Land trugenFrauen den Weizen um Mitternacht inKötzen zur Mühle, nur um etwas Mehl zubekommen. Wenn dann unverhofft je-mand in die Quere kam, wurde reißaus ge-nommen oder es gab eine gewaltige Ver-wirrung.Viele steckten das Getreide ins Heu, um esnicht abliefern zu müssen, andereschlachteten schwarz, d.h. sie schlachte-ten Vieh, das eigentlich abgeliefert wer-den musste. Mitten in der Nacht, bei ver-dunkelten Scheiben wurde das vorgenom-men. Einmal kam ein Sohn um Mitter-nacht zum Urlaub nach Hause. Als er imHaus niemanden fand, ging er in denStall. Die dort beschäftigten Hausgenos-sen meinten, es wäre ein Polizist, fasstenihn, schnitten ihm die Kehle durch undwickelten ihn in die Kuhhaut. Am nächs -ten Morgen merkte man mit Schrecken,dass es der eigene Sohn war. Solche undandere Fälle sind vorgekommen.Die Städter lernten das Land wieder lie-ben. In Scharen kamen sie mit Schließkör-ben und Taschen, um auf dem Land etwaszu kaufen. Wenn sie dann schließlich etwas hatten,wurde es ihnen am Bahnhof oft noch ab-genommen. Grausame Szenen haben sichda manchmal abgespielt. Viele schlugenaus alledem ihren Nutzen, wie das immerist. Kein Wunder, dass die Frauen von zuHause Klagebriefe schrieben, so dass ihreMänner im Feld den Mut zum Weiter-kämpfen verloren. Dazu kam 1917 Ameri-ka noch zu unseren Feinden.

Es folgte der schmachvolle Friedensver-trag von Versailles. Es erübrigt sich,hierüber Worte zu verlieren. Wir habendie Folgen jedenfalls in den kommendenJahren am eigenen Leib gespürt.“

Wohnhaus der Muhle in Wolfershausen, wo Elisabeth Mollerdem Direktor Rostberg von Wintershall begegnete.

Das frühere Wohnhaus von Heinrich Reinhardt und seiner Fa-milie in Lengers, Aufnahme um 1965.

Magdalene Reinhardt (5.6.1901-10.4.1925)mit ihrer kleinen Schwester Auguste inBad Hersfeld, Aufnahme Juni 1917.

Rasante Geldentwertung im Inflationsjahr 1923

Aufzeichnungen von Heinrich Euler aus Kirchheim-Allendorf

Von Brunhilde Miehe, Kirchheim-Gershausen

Laut Wikipedia wird mit Inflation eineallgemeine und anhaltende Erhöhung desPreisniveaus von Gütern und Dienstleis-tungen (Teuerung) bezeichnet, gleichbe-deutend mit einer Minderung der Kauf-kraft des Geldes. …„Eigentliche Ursache der schon ab 1919

beginnenden Hyperinflation war diemassive Ausweitung der Geldmengedurch den Staat in den Anfangsjahrender Weimarer Republik, um die Staats-schulden zu beseitigen“. War man dochnach dem Ersten Weltkrieg zu hohen Re-parationszahlungen an die Siegermächteverpflichtet worden, so dass der Staat ge-zwungen war, die Geldmenge auszuwei-ten. „Immer schneller verzehnfachte sichdie Abwertung gegenüber dem US-Dollar, bis schließlich im November 1923der Kurs von 1 US-Dollar 4,2 BillionenMark entsprach.“ (Wikipedia) Am 15. No-vember 1923 wurde dann die Geldent-wertung gestoppt und die Rentenmarkeingeführt. „Durch die inflationäre Geldentwertungwurden die ökonomischen und sozialenLasten des verlorenen Krieges von derMasse der abhängig Beschäftigten undden reinen Geldvermögensbesitzern ge-

tragen. Erst 1928 erreichten die Reallöhneim Durchschnitt wieder das Niveau desJahres 1913.“ (Wikipedia) Die finanziellen Rücklagen vieler Bürgerwaren aufgrund der Inflation dahinge-schmolzen und zahlreiche Familien warenschließlich verarmt. Gut, wenn man indieser Zeit wie die meisten Landmen-schen etwas Land besaß und sich von des-sen Erträgen ernähren und auch ein biss -chen Vieh halten konnte. Ja, wer etwasGeld eingenommen hatte, musste diesmöglichst gleich wieder anlegen. Dennbereits am nächsten Tag war das Geldschon wieder weniger wert – größere An-schaffungen konnte man aber schon garnicht mehr tätigen.

Aufzeichnungen von Heinrich Euler Die rasante Geldentwertung geht u.a. ausden Aufzeichnungen im Rechnungsbuchvon Landwirt und Zimmermann HeinrichEuler (1876 -1939) aus Kirchheim-Allen-dorf hervor. Dessen Enkelin MargareteSandner stellte die Aufzeichnungen dan-kenswerterweise zur Verfügung.Von Juli 1923 bis Mitte Oktober 1923 no-tierte Heinrich Euler die nachfolgend auf-geführten Einnahmen und Ausgaben:

Margarete Sandner zeigt die Aufzeich-nungen ihres Großvaters Heinrich Euler.

Page 3: ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTE, VOLKS- UND HEIMATKUNDE€¦ · hannes meiner Frau, wurde. Schon damals merkten wir die Folgen der rückschlägigen Krankheit bei unserer Tochter Magdalene

auch heute noch – die anspruchslosestenMenschen, die mit einem Stück Brot zu-frieden waren. Es folgten dann noch an-dere Schächte, wie Herfa, Neu-Heringen(der später „ersoffen“ ist), Hattorf, Mer-kers, usw. Es gab damals noch überallPetroleumfunzeln.Als die Schächte gebaut wurden, musstedas anders werden. Die alte LengerserMühle wurde von Wintershall angekauftund in ein Elektrizitätswerk umgewan-delt, welches auch den umliegenden Dör-fern Strom lieferte. Es gab auf einmal einganz anderes Leben in unserem sonst soverlassenen Tal. Es wurde eingerissenund gebaut , der Wohlstand besserte sichbedeutend.

Auch andere Handwerksleute bekamendas zu spüren. An mir ging das allesebenfalls nicht spurlos vorüber. Ich hattevollauf zu tun. Bis spät in die Nacht undmanche Nacht hindurch wurde gearbei-tet, besonders vor den Festtagen. MeineFrau hat da auch oft viel mithelfen müs-sen. Bis dahin wurde für eine Arbeitshose80 Pfennig bis eine Mark bezahlt, jetztstiegen auch die Preise.Unser Lenchen bekam ungefähr im Altervon drei Jahren die Masern, die ja beiKindern viel vorkommen. Aber wie Kin-der sind, ist sie anscheinend nicht immerim Bett oder zugedeckt geblieben, jeden-falls schlug sich die Krankheit ins Blut,

Pate wurde mein Bruder Valentin. Er warein sehr schwächliches Kerlchen, aberbrüllen konnte er fürchterlich. Besondersdann, wenn der Sauger nicht ständig mitZucker gefüllt wurde. Dabei war er vonAnfang an sehr sauber, Windeln hat erfast keine voll gemacht. Er besorgte dasalles schon wie ein Alter. Ein Kaufmannaus Heringen, der uns früher oft besuch-te, sagte mehrmals: „Den kriegt Ihr nichtgroß.“Nicht lange nach Max folgte Moritz. Un-ser letzter und jüngster Sohn, Ludwig, er-blickte am 26. September 1917 das Lichtder Welt. Als die Hausgenossen bei derKartoffelernte waren, kam die Kunde,dass ein gesunder Junge angekommen ist.Durch die Blockade der anderen Länder,hauptsächlich Englands, wurden die Le-bensmittel knapp. Da gab es dann dieberühmten „Karten“, an die mancher Va-ter und manche Mutter noch mit „Freu-den“ zurückdenkt. Es gab Brot-, Butter-,Käse, Fleisch-, Wurst- und Kunsthonig-karten, usw. Für jeden essbaren Gegen-stand gab es diese Karten. Die Menschenstanden mit hungrigen Mägen in langenKetten vor den Läden, um 4 Pfund Brot,100 Gramm Butter und dergleichen zubekommen. In den Städten war das nochviel schlimmer als auf dem Land. Dagab’s dann meistens Steck- (Kohl-)rüben.Dass bei solcher Knappheit von Lebens-mitteln sich viele nicht um Gesetze scher-ten und alles aufwendeten, um etwas zuessen zu bekommen, lässt sich denken.Die Bessergestellten konnten das bewerk-stelligen, zu hohen Preisen und durch

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was ihr in den fol-genden JahrenGrund vieler Be-schwerden werdensollte.Im Jahre 1902 bau-ten wir einen Stallnebst Scheune, sodass wir in der Lagewaren, eine Kuhoder Ziege sowie einSchwein zu halten,und etwas Land-wirtschaft zu trei-ben. Die Ernährungder Familie warnunmehr einiger-maßen gesichert.Am 23. Mai 1904wurde uns ein Sohngeschenkt, den wirKarl nannten. Patewurde der BruderEurer Mutter in

Vacha. Drei Tage nach seiner Geburt warein schweres Gewitter, das einige Tagedauerte.Leider wurde in unsere Familie eineLücke gerissen. Meine liebe Mutter erkäl-tete sich auf einer Reise zu einer Gerichts-verhandlung nach Kassel schwer undstarb nach dreitätigem Krankenlager1906 im Alter von 70 Jahren. Sie hat unsals Kinder immer zum Beten angehalten.Wenn morgens, mittags und abends dieGlocke läutete, Betglocke nannten wir sie,falteten wir die Hände und beteten. Ichwar beim Arbeiten, als sie einschlief undwusste es gar nicht. Sie atmete noch eini-ge Male vernehmbar und dann war esstill. Hinzutretend gewahrte ich, dass sieentschlafen war. Nun ruht sie schon fast30 Jahre auf unserem Friedhof.Im Jahre 1908, am 10. Januar, wurde unsein weiterer Sohn Heinrich geboren, des-sen Pate Heinrich, der Sohn meines Bru-ders Georg wurde. Es folgte dann am 6.April 1910 Rudolf. Sein Pate wurde einBruder meiner Frau, der SchreinermeisterRudolf Möller in Vitzeroda.Die Familie war nun schon stark gewach-sen. Gleichzeitig wuchs auch die Arbeitmit. Meine Frau konnte mir in derSchneiderei fast gar nicht mehr helfen.Sie hatte in der kleinen Landwirtschaftund mit dem Haushalt allerhand Arbeit.Tagsüber hatte ich die Kinder bei mir inder Schneiderstube. Nebenbei hatte ich

noch das Amt desGemeinderechners.Bei der vielen Kopf-arbeit und in derSchneiderei war derLärm der Kinder ei-ne angenehme (!?)Abwechslung. Damusste oft derStock in Tätigkeittreten, der immergriffbereit lag. DieWirkung war auchmeist überraschend.In den Jahren vordem Krieg warDeutschland ja fi-nanziell ziemlichauf der Höhe. Aberdamals gab es dochnoch viel mehr armeLeute als heute.Auch das ganze So-zialwesen war nochlange nicht so orga-nisiert. Der Arbeiter

war das niedrigste Geschöpf. Wenn erkrank war, wurde er aus dem Betrieb ent-lassen. Krankenkassen gab es nicht, somusste die Familie darben und niemandkümmerte sich darum. Das ist ja heuteanders geworden. Auch dem Handwerkerging es noch nicht so rosig.Am 20. November 1913 erblickte unsereAuguste das Licht der Welt, deren PateAuguste Möller, die Frau des Bruders Jo-hannes meiner Frau, wurde.Schon damals merkten wir die Folgen derrückschlägigen Krankheit bei unsererTochter Magdalene. Mit 12 Jahren kamsie nach Hersfeld ins Krankenhaus. Eshatten sich Ausschlag und Geschwüre ge-bildet, was vom Blut kam.

Der Erste Weltkrieg beginntDann begann der schreckliche Weltkrieg.Zum Militärdienst war ich nicht herange-zogen worden, weil mein Fuß ein zugroßes Hindernis bildete. Als der Kriegkam, musste ich einige Male nach Hers-feld zur Musterung. Bis sich endlich einHerr erbarmte und dafür sorgte, dass ichnicht mehr hinzukommen brauchte.An einem schönen Augusttag 1914 schlugdie Botschaft über die Mobilmachung wieein Blitz aus heiterem Himmel ein. Eifrigwurde das Neue auf der Straße und imFeld besprochen. Bald reisten die wehr-fähigen Männer ab. Doch keiner ahnte,wie verhängnisvoll dieser Krieg werdenwürde. Ach, wie viele haben ihre Heimatnicht wiedergesehen. Alle waren der Mei-nung, der Krieg wäre in einigen Monatenbeendet und sie könnten dann siegge-krönt heimkehren. Da habe ich oft zu Eu-rer Mutter gesagt: „Jetzt weißt Du, war-um ich meinen Fuß habe; ich brauchtenicht mit fortzuziehen.“Bald läuteten die Glocken, Siege wurdenverkündet. Die Deutschen rückten sieg-reich vor. Aber schon trafen hier und daNachrichten von Verwundeten ein, leich-ten und schweren, von Vermissten undGefangenen. Ja sogar Todesnachrichtenschlugen wie berstende Granaten in man-che Familie ein. Hier der Vater, der einzi-ge Ernährer der Familie, dort der Sohn,auf den man alle Hoffnungen gesetzt hat-te, dort der Verlobte, die trauernde Brautzurücklassend. Viel Trübsal kam über dassonst so friedliche Land. Der Föhn desKrieges brauste über Europa, ja über denganzen Erdball, und wo er herfuhr, dablieben Trümmerhaufen, geknickte Bäu-me und verbleichte Menschenleiber.Der Kampf mit den Russen hat auch ausunserem Stamm ein Opfer gekostet: Va-lentin, ein Sohn meines Bruders Georg,fiel in den großen Wäldern Russlands.Dort liegt er bestattet. Ernst, ein Sohndes Kantors Kaiser hat ihm seine letzteRuhestätte gegraben. Ich sehe Valentinnoch vor mir, als er auszog. Er war der äl-teste. Mit Tränen in den Augen zog er vonuns fort. Unsere Kleinen lagen noch inder Wiege. Er ist immer ein netter Jungegewesen.Der Kampf zog sich hin. Es wurde gesätund geerntet. Die Männer fehlten beson-ders bei der schweren Feldarbeit. VielSchweres haben da unsere Frauen mitge-macht. Dann kamen auch die ersten Ge-fangenen, um in den Bergwerken und aufBauernhöfen zu arbeiten. Das war beson-ders für die Jungs eine Lust, als sie mitihren roten Hosen ankamen.Wieder wurde es Frühling. Die erstenVorboten zeigten sich schon. Da wurdeuns in dieser schweren Zeit am 15. Febru-ar 1916 unser Valentin geschenkt. Sein

Schmuggelei. Die raffiniertesten Sachenwurden gemacht. Auf dem Land trugenFrauen den Weizen um Mitternacht inKötzen zur Mühle, nur um etwas Mehl zubekommen. Wenn dann unverhofft je-mand in die Quere kam, wurde reißaus ge-nommen oder es gab eine gewaltige Ver-wirrung.Viele steckten das Getreide ins Heu, um esnicht abliefern zu müssen, andereschlachteten schwarz, d.h. sie schlachte-ten Vieh, das eigentlich abgeliefert wer-den musste. Mitten in der Nacht, bei ver-dunkelten Scheiben wurde das vorgenom-men. Einmal kam ein Sohn um Mitter-nacht zum Urlaub nach Hause. Als er imHaus niemanden fand, ging er in denStall. Die dort beschäftigten Hausgenos-sen meinten, es wäre ein Polizist, fasstenihn, schnitten ihm die Kehle durch undwickelten ihn in die Kuhhaut. Am nächs -ten Morgen merkte man mit Schrecken,dass es der eigene Sohn war. Solche undandere Fälle sind vorgekommen.Die Städter lernten das Land wieder lie-ben. In Scharen kamen sie mit Schließkör-ben und Taschen, um auf dem Land etwaszu kaufen. Wenn sie dann schließlich etwas hatten,wurde es ihnen am Bahnhof oft noch ab-genommen. Grausame Szenen haben sichda manchmal abgespielt. Viele schlugenaus alledem ihren Nutzen, wie das immerist. Kein Wunder, dass die Frauen von zuHause Klagebriefe schrieben, so dass ihreMänner im Feld den Mut zum Weiter-kämpfen verloren. Dazu kam 1917 Ameri-ka noch zu unseren Feinden.

Es folgte der schmachvolle Friedensver-trag von Versailles. Es erübrigt sich,hierüber Worte zu verlieren. Wir habendie Folgen jedenfalls in den kommendenJahren am eigenen Leib gespürt.“

Wohnhaus der Muhle in Wolfershausen, wo Elisabeth Mollerdem Direktor Rostberg von Wintershall begegnete.

Das frühere Wohnhaus von Heinrich Reinhardt und seiner Fa-milie in Lengers, Aufnahme um 1965.

Magdalene Reinhardt (5.6.1901-10.4.1925)mit ihrer kleinen Schwester Auguste inBad Hersfeld, Aufnahme Juni 1917.

Rasante Geldentwertung im Inflationsjahr 1923

Aufzeichnungen von Heinrich Euler aus Kirchheim-Allendorf

Von Brunhilde Miehe, Kirchheim-Gershausen

Laut Wikipedia wird mit Inflation eineallgemeine und anhaltende Erhöhung desPreisniveaus von Gütern und Dienstleis-tungen (Teuerung) bezeichnet, gleichbe-deutend mit einer Minderung der Kauf-kraft des Geldes. …„Eigentliche Ursache der schon ab 1919

beginnenden Hyperinflation war diemassive Ausweitung der Geldmengedurch den Staat in den Anfangsjahrender Weimarer Republik, um die Staats-schulden zu beseitigen“. War man dochnach dem Ersten Weltkrieg zu hohen Re-parationszahlungen an die Siegermächteverpflichtet worden, so dass der Staat ge-zwungen war, die Geldmenge auszuwei-ten. „Immer schneller verzehnfachte sichdie Abwertung gegenüber dem US-Dollar, bis schließlich im November 1923der Kurs von 1 US-Dollar 4,2 BillionenMark entsprach.“ (Wikipedia) Am 15. No-vember 1923 wurde dann die Geldent-wertung gestoppt und die Rentenmarkeingeführt. „Durch die inflationäre Geldentwertungwurden die ökonomischen und sozialenLasten des verlorenen Krieges von derMasse der abhängig Beschäftigten undden reinen Geldvermögensbesitzern ge-

tragen. Erst 1928 erreichten die Reallöhneim Durchschnitt wieder das Niveau desJahres 1913.“ (Wikipedia) Die finanziellen Rücklagen vieler Bürgerwaren aufgrund der Inflation dahinge-schmolzen und zahlreiche Familien warenschließlich verarmt. Gut, wenn man indieser Zeit wie die meisten Landmen-schen etwas Land besaß und sich von des-sen Erträgen ernähren und auch ein biss -chen Vieh halten konnte. Ja, wer etwasGeld eingenommen hatte, musste diesmöglichst gleich wieder anlegen. Dennbereits am nächsten Tag war das Geldschon wieder weniger wert – größere An-schaffungen konnte man aber schon garnicht mehr tätigen.

Aufzeichnungen von Heinrich Euler Die rasante Geldentwertung geht u.a. ausden Aufzeichnungen im Rechnungsbuchvon Landwirt und Zimmermann HeinrichEuler (1876 -1939) aus Kirchheim-Allen-dorf hervor. Dessen Enkelin MargareteSandner stellte die Aufzeichnungen dan-kenswerterweise zur Verfügung.Von Juli 1923 bis Mitte Oktober 1923 no-tierte Heinrich Euler die nachfolgend auf-geführten Einnahmen und Ausgaben:

Margarete Sandner zeigt die Aufzeich-nungen ihres Großvaters Heinrich Euler.

Page 4: ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTE, VOLKS- UND HEIMATKUNDE€¦ · hannes meiner Frau, wurde. Schon damals merkten wir die Folgen der rückschlägigen Krankheit bei unserer Tochter Magdalene

Schon 1993 erschien der erste Teil derLebenserinnerungen unter dem Titel„Kindheit und Jugend im Kaiserreich“ inMein Heimatland (Band 35). Auch für dieVeröffentlichung des zweiten Teils wur-den die Aufzeichnungen leicht gekürztund überarbeitet.„Mit großer Freude wurde uns am 5. Juni1901 das erste Kind geschenkt, ein Töch-terlein. Wir nannten es Magdalene; Patewurde die Schwester Eurer Mutter, FrauMagd. Bartholomäus, Vacha.

Wintershall entstehtIn jenen Jahren wurden Bohrungen imWerratal vorgenommen und es wurdeentdeckt, dass sich in einer Tiefe von 500– 800 Meter große Salzlager befanden.Nun ging es mit Hochdruck an die Ar-beit. Leute wurden eingestellt und auchdie Fuhrmänner hatten Arbeit. AlleHolz- und Eisenteile sowie Baumateriali-en mussten mit Wagen von Gerstungenund Hönebach herbeigefahren werden.Die Straßen und Wege kamen deshalb ineinen furchtbar schlechten Zustand. Eskam vor, dass wenn beim Kartoffelheim-fahren im Herbst ein Sack vom Wagenfiel und im Schlamm versank, man ihneinfach liegen ließ. Der Leiter des Unternehmens war da-mals ein Herr Rosberg, der heute Gene-raldirektor der „Wintershall AG“ in Kas-sel und ein reicher Mann ist. Damals hatihm meine Frau in der alten Mühle inWölfershausen noch die Stiefel geputzt.Mit großer Mühe ging es an die Aushe-bung des Schachtes, wobei man aufGrundwasser stieß, welches großeSchwierigkeiten bereitete. Den Arbei-tern, die am Ausschachten waren, wurdedas Wasser vom Leib weggepumpt. WäreRosterg nicht so ein willensstarker Manngewesen, der sich nicht scheute, in einerBude zu schlafen, bei Tag- und Nachtzeitauf den Beinen zu sein und selbst Handanzulegen, wäre der Schacht nicht fertiggeworden.Mittlerweile wurde auch stark an der Ei-senbahn gebaut, zunächst bis Heringen.Für diese Bahnbauten waren italienischeArbeiter da. Diese sind bekanntlich –

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»Mein Heimatland«, monatliche Beilage zur»Hersfelder Zeitung«. Gegründet von Wilhelm Neuhaus.Schriftleitung: Ernst-Heinrich Meidt, KirchheimVerlag: Hoehl-Druck GmbH + Co. Hersfelder Zeitung KG

Freud und Leid 1901 bis 1918Aus den Lebenserinnerungen des Schneidermeisters Heinrich Reinhardt in Lengers (1872-1941)

Aufgezeichnet von seinem Sohn Valentin Reinhardt

und für den Druck vorbereitet von Wolfgang G. Fischer, Hamburg

Februar 2018

ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTE, VOLKS- UND HEIMATKUNDE

Nummer 2 Band 57

Lengers mit Schacht Wintershall im Hintergrund. Ansichtskarte um 1903.

Ansichtskarte vom Kaliwerk Wintershall um 1903, kurz nach dem Abteufen.

Datum Bezeichnung Einnahmen Ausgaben

3. Juli 1,2 Pfd. Butter 12.0003. Juli Stromgeld 2.4003. Juli 10 Eier 10.0009. Juli 1 Pfd. Butter 15.0009. Juli 10 Eier 15.000

16. Juli 1,1 Pfd. Butter 33.00016. Juli 8 Eier 16.00017. Juli 2 Liter Maschinenöl 40.00017. Juli Umsatzsteuer 32.00017. Juli 2 kg. Tranfett 50.00023. Juli 1 Pfd. Butter 40.00023. Juli 10 Eier 30.00030. Juli 1 Pfd. Butter 60.00030. Juli 10 Eier 40.00028. Juli Unfallgeld 21.30028. Juli Viehsteuer 1.82028. Juli Bausteuer Staat und Kreis 7.08028. Juli Umlagen I u. II 62.80028. Juli Landwirtschaftskammer 4.32030. Juli 1 blaue Arbeitsjacke 120.000

8. Aug. ¾ Pfd. Butter 90.0008. Aug. 8 Eier 56.000

16. Aug. 1 Pfd. Butter 150.00024. Aug. Brotabgabe 30.00024. Aug. Einkommensteuer 1922 20.82024. Aug. Einkommensteuer 1923 3.716.00024. Aug. Kirchensteuer 9.29031. Aug. Stromgeld 448.0003. Sept. 3 Zentner Roggen 42.000.0003. Sept. Landabgabe 13.545.000

14. Sept. 2 Zentner Roggen 170.000.00014. Sept. Landabgabe 165.510.00014. Sept. Umlagen, Bausteuer,

Landwirtschaftskammer 785.5803. Okt. Ruheabgabe 7.432.000

15. Okt. Feuerschadenversicherung 654.300

Warum Heinrich Euler über die letzten vier Inflationswochenkeine Notizen mehr machte, ist nicht bekannt – vielleicht konn-te er die ungeheuren Zahlen schon gar nicht mehr einordnen.

Richtfest der Autobahnbrucke bei Hattenbach im Jahre 1938 (Kreuzungsbauwerk).Vorne zweiter von rechts ist Heinrich Euler aus Allendorf, der im Inflationsjahr 1923Aufzeichnungen uber die Geldentwertung anfertigte. Die anderen Personen auf die-sem Bild sind nicht bekannt, düften jedoch aus der näheren Umgebung stammen. Ei-nige ähnliche Autobahnbrücken in unserem Raum sind bis heute erhalten.

Auswahl von Geldscheinen der Inflationsjahre 1919 bis 1923.Wie man an den beiden Scheinen links oben und links untensieht, brachten auch Städte Papiergeld in Umlauf. Die Geld-entwertung dieser Jahre lässt sich gut an den Werten vonBriefmarken beobachten, die ebenfalls dauernd stiegen. Diewirtschaftlichen Auswirkungen der Inflation waren unter-schiedlich. Da das Preisniveau von Gütern und Dienstleistun-gen gewaltig stieg, boomten Industrie und Handel. Die Geld-entwertung wurde jedoch schließlich völlig unkalkulierbar.Für Industrie und Handel blieb über die Inflation hinaus derGewinn an Sachwerten. Eindeutig geschädigt durch die Inflation wurden Lohn- undGehaltsempfänger, weil die Erhöhung ihrer Einkommen hin-ter der Geldentwertung zurück blieb. Inflationsgeld der Jahre 1919 – 1923 erzielt bei Ebay heutezum Teil einen höheren Wert als die jeweiligen Scheine sei -nerzeit hatten. (Foto und Bildunterschrift: Ernst-Heinrich Meidt, Kirchheim)