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(Aus der Klinik ffir psychische und nerv6se Kr~nkheiten in Gie~en. Direktor: Geheimr~t Prof. Dr. Sommer.) Zur Frage des epileptischen Konstitutionstypus. Von St~bsarzt Dr. Hermann Hotmann, kommandiert zur Klinik. (Eingegangen am 19. September 1924.) R. Sommer 1) hat yon jeher den gro~en Wert grfindlicher Unter- suchung und methodischer Messung der kSrperlichen Beschaffenheit Geisteskranker hervorgehoben und insbesondere in seiner ,,Diagnostik der Geisteskrankheiten" auf deren Bedeutung als Teilaufgabe natur- wissenschaftlicher Betrachtung psychopathologischer Zust~nde hin- gewiesen. Seine psychophysiologische Arbeitsrichtung in der Psychia- trie h~tte stets die Objektivierung und Registrierung psychischer und somatischer Erscheinungen zum Ziele. Die naturwissenschaftliche Ein- stellung zu den psychiatrischen Problemen liel] ihn besonders geeignet erscheinen, zu dem Degenerationszeichenproblem und der Lombrososchen Lehre vom ,,geborenen Verbrecher" Stellung zu nehmen. In dem ihm tibertragenen Refer~te uuf der J~hresversammlung des Vereins deutscher Irren~rzte 1894 hat er in ~nalytischer Betrachtung das Ges~mtproblem in seine einzelnen Fragestellungen zerlegt und gegen die unkritische Sammlung und Verwertung dieser sog. Degenerationszeichen mit Recht Einspruch erhoben. Hier wie much sonst hat er vor der ~berwertung solcher Einzelsymptome gew~rnt und die Notwendigkeit betont, sie im geschlossenen Rahmen des Ges~mtorg~nismus zu betrachten. Diese Stellungnahme ist ger~de im letzten Jahrzehnt in der wissen- schaftlichen Psychiatrie von den verschiedensten Richtungen her als notwendig erkannt worden. H. Fischer 2) hat ~ls erster das Studium der morphologischen Ano- malien, und zwar ausgehend vonder Lombrososchen Fassung des Degene- r~tionszeichenproblems wieder ~ufgenommen. Mit Hilfe der ,,morpho- logischen Eigenschaftsttn~lyse" hat er in dem gesammelten Degenera- tionszeichenmaterial die yon sozialen Verh~ltnissen, Ernahrung und 1) R. Sommer, Diagnostik der Geisteskrankheiten. 2. Aufl. 1901. 2) H. Fischer, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 62. 1920.

Zur frage des epileptischen konstitutionstypus

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Page 1: Zur frage des epileptischen konstitutionstypus

(Aus der Klinik ffir psychische und nerv6se Kr~nkheiten in Gie~en. Direktor: Geheimr~t Prof. Dr. Sommer.)

Zur Frage des epileptischen Konstitutionstypus. Von

St~bsarzt Dr. Hermann Hotmann, k o m m a n d i e r t zur Klinik.

(Eingegangen am 19. September 1924.)

R. Sommer 1) hat yon jeher den gro~en Wert grfindlicher Unter- suchung und methodischer Messung der kSrperlichen Beschaffenheit Geisteskranker hervorgehoben und insbesondere in seiner ,,Diagnostik der Geisteskrankheiten" auf deren Bedeutung als Teilaufgabe natur- wissenschaftlicher Betrachtung psychopathologischer Zust~nde hin- gewiesen. Seine psychophysiologische Arbeitsrichtung in der Psychia- trie h~tte stets die Objektivierung und Registrierung psychischer und somatischer Erscheinungen zum Ziele. Die naturwissenschaftliche Ein- stellung zu den psychiatrischen Problemen liel] ihn besonders geeignet erscheinen, zu dem Degenerationszeichenproblem und der Lombrososchen Lehre vom ,,geborenen Verbrecher" Stellung zu nehmen. In dem ihm tibertragenen Refer~te uuf der J~hresversammlung des Vereins deutscher Irren~rzte 1894 hat er in ~nalytischer Betrachtung das Ges~mtproblem in seine einzelnen Fragestellungen zerlegt und gegen die unkritische Sammlung und Verwertung dieser sog. Degenerationszeichen mit Recht Einspruch erhoben. Hier wie much sonst hat er vor der ~berwertung solcher Einzelsymptome gew~rnt und die Notwendigkeit betont, sie im geschlossenen Rahmen des Ges~mtorg~nismus zu betrachten.

Diese Stellungnahme ist ger~de im letzten Jahrzehnt in der wissen- schaftlichen Psychiatrie von den verschiedensten Richtungen her als notwendig erkannt worden.

H. Fischer 2) hat ~ls erster das Studium der morphologischen Ano- malien, und zwar ausgehend vonder Lombrososchen Fassung des Degene- r~tionszeichenproblems wieder ~ufgenommen. Mit Hilfe der ,,morpho- logischen Eigenschaftsttn~lyse" hat er in dem gesammelten Degenera- tionszeichenmaterial die yon sozialen Verh~ltnissen, Ernahrung und

1) R. Sommer, Diagnostik der Geisteskrankheiten. 2. Aufl. 1901. 2) H. Fischer, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 62. 1920.

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310 H. Itofmann :

Milieu abh~ngigen morphologischen Modifikationen yon den durch die morphogenetische Wirkung der innersekretorischen Organisations- trgger bedingten KSrperbauanomalien geschieden.

Die Konstitutionsbiologie steht heute in der Erfassung psychophysi- scher Zusammenhgnge mit paralleler Gesetzm~igkeit in der charaktero- logischen Struktur im Vordergrunde des psychiatrischen Forschungs- interesses, dem durch die bekannten yon Kretschmer 1) aus den l~orm- kreisen des manisch-depressiven Irreseins und der Dementia praecox er- fal~ten Typen mit ihren flie~enden t)berg~ngen in die Normalpsycho- logic weitgesteckte Ziele gegeben sind.

Die Analyse der Konstitution eines Organismus soll uns die gegen- seitige Beziehung und Zuordnung morphologischer und psychischer Merkmale ermSglichen. Als Grundlage ffir diese Forschungen miissen wir die Ergcbnisse auf dem Gebiete der inneren Sekretion, insbesondere die Korrelationsforschung heranziehen. Auf die Definition des begriff- lichen Inhaltes des Wortes ,,Konstitution", die in der Literatur einen groBen Umfang einnimmt, wollen wir hier nicht eingehen. Der Inhalt dieses Begriffes hat sich im Laufe der Zeit erheblich verschoben, und eine vSllige Einigung ist auch zur Zeit noch nicht erzielt. Er wird oft, je nach der Arbeitsrichtung der einzelnen l~'orscher, verschieden geraint, was besonders bei den Fassungen, die der rein klinischen Anwendung dienen wollen, und den mehr erkenntnistheoretischen Definitionen zum Auso druck kommt.

W~hrend die genetische Analyse der aus endogenen Geisteskrank- heiten gewonnenen KSrperbautypen Kretschmers noch aussteht, hat H. Fischer 2) in seinen Untersuchungen fiber den Eunuchoidismus und die Affektepilepsie gezeigt, da~ Charakteranomalien mit morphologischen konstitutioneller Art in typischer und gesetzmgl~iger Weise parallel- gehen und ihre pathogenetische Grundlage beim Eunuchoidismus im Ausfall der Geschlechtsdrfisenreifung, bei der Affektepilepsie wahr- scheinlich in einer StSrung der korrelativen Verbindung von I-Iypophyse und Nebennieren haben. Die bei diesen beiden KSrperbautypen vor- handenen morphologischen Abnormit~ten sind also auf kSrperlichem Ge- biete einer psychischen Abnormitgt koordiniert, und zwar sind es solche Merkmale, wie man sic frfiher als ,,Degenerationszeichen" und heute allgemein als Dysplasien bezeichnet.

Ffir die im Rahmen der Gesamtgeisteskrankheiten zwar kleinen, durch die pathogenetische Klarung ihrer Erscheinungen aber besonders instruktiven Gruppen der Eunuchoiden und A~fektepileptiker sind so durch H. Fischer KSrperbautypen aufgestellt, die gesetzm~i~ige Korre- lationen psychischer und physischer Stigmata zeigen. Kretschmer hat

~) Kretschmer, E., KSrperb~u und Churakter. 2. Aufl. Springer, Berlin 1922. ~) Fischer, H., Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatric {;2, 1920.

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KSrperbautypen gefunden, die eine biologische Affinit~tt zu den groi~en Formkreisen der endogenen Geisteskrankheiten der Schizophrenie und des manisch-depressiven Irreseins aufweisen. Die Frage eines fal~baren KSrperbautyps fiir die gro~e Gruppe der konstitutionellen Krampf- kranken ist dagegen noch nicht systematisch untersucht.

Die Beobachtungen auf kSrperlichem Gebiet erstreckten Sich vor- nehmlich auf Bildungsfehler des Schadels (Esquirol, Dumas, Lombro8o, F~r~) und auf das gehi~ufte Auftreten yon Degener~tionszeichen mannig- fachster Art. Neben diesen morphologischen Merkmalen land man ein Zurfickbleiben des KSrperwachstums von durchschnittlich 10 cm und Differenzen der KSrperproportionen gegentiber der Norm (SIclarek, H. Vogt, Kind, Ireland), wie z. B. das (~berwiegen der Klafterbreite fiber die KSrperl~nge sowie eine Organminderwertigkeit in quantitativer Be- ziehung besonders.bei den hochdifferenzierten inneren Organen. In dem Gesamteindruck schwankte die Beschreibung des KSrperbaues vom muskulOsen Athleten bis zum Kr~nken von ausgesprochen kindlichem Aussehen, und Untersuchungen und Versuche, einen konstitutionellen Typus des Epileptikers zu linden, wie sie in letzter Zeit ausffihrlich von Demianowski 1) angestellt worden sind, kamen zu einem negativen Er- gebnis.

Wenn nun trotzdem im folgenden ~n die Frage herangetreten werden soll, ob der Epilepsie ein bestimmt zu charakterisierender KSrperbau eigea ist, so geschieht dies einmal, weil bisher nach der von Kretschmer angegebenen Methode K(irperbauuntersuchungen bei Epileptikern nicht bek~nnt sind~), und weiterhin, weil die Rolle innersekretorischer Fak- toren in der Genese gewisser KSrperproportionen bei Epileptikern noch weiterer Kli~rung bedarf.

Die der Untersuchung zugrunde gelegten Fragestellungen lauten demnach :

1. Gibt es einen vorherrschenden KSrperb~utyp im Sinne der von Kretschmer gefundenen Typea bei genuinen Epileptikern ?

2. Ist ein sonst durch die konstitutionelle Zeichnung des KSrperbaues besonders gekennzeichneter Typ nachweisbar ?

3. Sind Abweichungen der KSrperproportionen von der Norm bei

1) Demianowski, A. Larowski tygodnik lekarski. Jahrg. 11, ~r. 8. 1921. Zentralbl. f. d. ges. ~eurol. u. Psychiatr. 28, 1922.

2) 5Iach Abschlu~ vorliegender Arbeit ist die Monographie yon Kehrer und Kretschmer, ,,t~ber die Veranlagung zu seelischen StSrungen", Berlin, Julius Springer, 1924, erschienen. -- Auf S. 161 betont Kretschmer das reichliche tter- vortreten dysglanduli~rer KSrperbaustigmen, das genuine Epileptiker mit der Schizophreniegruppe gemeinsam haben, l~bereinstimmend mit meinen Unter- suchungen scheint auch Kretschmer keine bctr~tchtliche Teilgruppe yon pyknischen Typen bei genuinen Epileptikern gefunden zu huben.

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312 H. Ho~mana :

genuinen Epfleptikern vorhanden, deren Genese auf StOrungen inner- sekretorischer Funktionen zuriickzufiihren ist ?

Das Material setzt sich aus Kranken der Klinik und der Provinzial- Heft- und Pflegeanstalten Giel~en und Herborn ~) zusammen und s t ammt grSl~tenteils aus den Provinzen Oberhessen und Hessen-Nassau.

Die Untersuchung der Kranken wurde nach dem yon Kretschmer in seinem Buche ,,KSrPerbau und Charakter" angegebenen Schema, das fiir den in Frage kommenden Zweck etwas modifiziert wurde, vorgenom- men, zur KSrpermessung das Anthropometer nach Mart in benutzt.

I m ganzen standen 64 Krampfkranke zur Verfiigung, von denen 57 der genuinen Epilepsie, 2 der Sp~ttepilepsie und 5 der Affektepilepsie angehOrten. Sclbstverst~ndlich ausgeschieden wurden alle Fi~lle, bei denen in der Anamnese Anhaltspunkte fiir ein erlittenes Trauma oder eine iiberstandene Infektion gefunden wurden.

Das Untersuchungsmateriul wurde yon vornherein in zwei Gruppen geschieden, und zwar wurde der Abschlul~ der Wachstumsperiode zu- grunde gelegt, da vor diesem Zeitpunkt der KSrperbau in den verschie- denen Wachstumsperioden zu erheblichen Schwankungen unterworfen ist, um Typen heraussch~len zu kSnnen, die mit Sicherheit als pyknisch, asthenisch usw. bezeichnet werden kSnnten. Dieser Gesichtspunkt gilt iibrigens nicht nur fiir die intuitive Erfassung von KOrperbautypen mit nachtri~glicher Fixierung durch Mei~stange und Bandmal~, sondern auch fiir die Feststellung einzelner Proportionsverh~ltnisse, die, an sich anor- ma], in der Zeit vor der Pubert~t bis zum Reifungsabschlul~ als normal bezeichnet werden mfissen, und auf die welter unten n~her eingegangen werden wird.

Von der ersten Gruppe, den Krampfkranken fiber 30 Jahren, ent- fallen 38 auf die genuine Epilepsie und 2 auf die Sp~tepilepsie. Diese 40 Fi~lle verteilen sich auf folgende Lebensalter:

Tabelle I. Alter: 30 31 32 33 34 35 39 40 41 42 43 44 45 46 47 49 51 52 56 61 64 74 Zahl: 1 3 2 4 1 2 1 1 2 5 2 2 1 2 1 1 3 1 2 1 1 1

Von den 24 unter 30 Jahre alten Krampfkranken gehSren 19 der genuinen Epilepsie und 5 der Affektepilepsie an, die nach Lebensalte~' geordnet, folgende Zusammenstellung ergeben:

Tabelle I I . Alter: 16 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 Z~hl: 2 1 3 3 3 1 3 2 3 2 1

1) Es sei mir auch an dieser Stelle vergSnn~, Herrn l~Iedizinalrat Dr. Oswald, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Gieflen, und Herra Sanit~itsrat Dr. Snell, Direktor der Heft- und 1)flegeanstalt Herborn, ftir die liebenswiirdige t~ber- lassung des Untersuchungsmaterials meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.

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Zur Fr~tge des epileptischen Konstitutionstypus. 313

Die Untersuchung und Messung der 40 fiber 30 Jahre alten Krampf- kranken nach dem Kretschmerschen KSrperbauschema ergab, dal~ als

asthenisch . . . . . . . . . . . . . 6 ~ 15,0% athletisch . . . . . . . . . . . . . . 8 ~ 20,0~o asthenisch-athletisch . . . . . . . . . 7 = 17,5% pyknisch . . . . . . . . . . . . . . 6 ~ 15,0% pyknische Mischformen . . . . . . . . 2-~ 5,0~ dysplastisch . . . . . . . . . . . . . 2 = 5,0~ nicht rubrizierbare Formen . . . . . . 9 = 22,5o/o

zu bezeichnen waren. Hiernach entfallen die grSl~ten Zahlen mit 22,5% auf die nicht rubrizierbaren, verwaschenen Bilder und mit 20O/o auf die rein athletischen Typen. FaSt man die rein asthenischen, rein athleti- schen und deren Mischformen zusammen, so ergeben sie mit den dys- plastischen Typen, die dem zirkul~ren Formkreis fast ganz fremd sind, 57,5~/o gegenfiber 20~o pyknischer Formen. Rfickschlfisse hieraus auf eine biologische Affiniti~t mit dem schizophrenen ~ormkreis zu ziehen, ist wohl allcin schon wegen der noch kleinen Zahl der untersuchtcn F~lle nicht berechtigt, zumal die Differenzen zwischen den reinen Typen ge- ring und nur bei den Mischformen grS~er sind, dann aber auch wegen der grol~en Zahl der nicht rubrizierbaren Formen, die prozentual gegen- fiber allen anderen Typen an erster Stelle steht.

Bei diesen in der dreidimensionalen Wachstumsrichtung als klassi- fizierbare Typen nicht fai~baren F~llen finden sich nun ausnahmslos Auff~]ligkeiten in der Beschaffenheit der Hau t und im Haarwachstum, die mit dem von H. Fischer beschriebenen Habitus des Affektepileptiker weitgehende (~bereinstimmung zeigen. Das Muskelrelief ist sehr gering, die Hau t pigmentarm und etwas schlaff, die Linea alba ist meist schwach oder fiberhaupt nicht pigmentiert, die Stammbehaarung ist sehr dtirftig oder fehlt, wi~hrend das Kopfhaar meist dicht und struppig ist, die Scham- behaarung schneider horizontal, manchmal sogar konkav ab. Die Bart- behaarung ist sehr kfimmerlich und zeigt symmetrische mehr oder minder groi~e inselfSrmige Ausf~lle. Teilweise sind nun auch bei den als KSrper- bautypen im Sinne Kretschmers erkannten Krampfkranken diese Ano- malien vorhanden, und zwar weisen die

dysplastischen und pyknischen Mischformen in 100~/o, die rein Pyknischen . . . . . . . . . . . in 66~o, die asthenisch-athletischen Mischformen . . in 57~o, die rein Asthenischen . . . . . . . . . . . in 50~ die rein Athletischen . . . . . . . . . . . in 25O/o

der F~lle mindestens eines, meist mehrere dieser Zeichen auf. Von den unter 30 Jahre alten Krampfkranken, die zur Feststellung

yon Anomalien der Hau t und ihrer Anhangsgebilde mit herangezogen

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31 4 lI. Hofmann :

werden k6nnen, zeigen, abgesehen von den 5 Affektepileptikern, die in klassischer Weise die oben beschriebenen Stigmata aufweisen, ebenfalls 94% mindestens eines der besprochenen Anomalien.

Von den bekannten Abh~ngigkeitsverh~ltnissen der i~uBeren Er- scheinungsform vom endokrinen System wissen wir, dal~ die K6rper- behaarung und ihre Differenzierung unter dem Einflul~ des funktionellen Zusammenwirkens der Hypophyse, Schilddriise, Keimdriisen und Neben- nieren steht. Die Ursache der morphologischen Auff~lligkeiten im Haar- wachstum des Mfektepileptikers sucht nun H. Fischer 1) in einer konsti- tutionellen Isolierung des Nebennierensystems, und zwar derart, dal~ die normale korrelative Verbindung zwischen ttypophyse und Nebennieren getockert ist. Die hohen Prozentzahlen solcher Anomalien bei konsti- tutionellen Krampfkrankheiten, wie sie bei unseren Untersuchungen zutage getreten sind, insbesondere die hohe Prozentzahl konstitutioneller Krampfkranker, die sich in ihrem Habitus fast v611ig mit dem yon Fischer beschriebenen Mfektepileptiker decken, sprechen mit einer ge- wissen Wahrscheinlichkeit dafiir, da[~ zu den genetischen Grundlagen der erh6hten Krampfbereitschaft in diesen Fallen die oben erw~ihnte Isolierungsst6rung des Nebennierensystems geh6rt, da sie sich auf k6rperlichem Gebiete in den besagten morphologischen Auff~lligkeiten ~ul~ert.

Diese peripheren Isolierungen im Rahmen des innersekretorischen Systems heben sich in solchen Phasen, die als st~rkere endogene Schwan- kungen charakterisiert sind, entsprechend diesen Schwankungen rhyth- misch heraus und vertiefen so die urspriinglich vorhandene Anlage, eine Erscheinung, die sich in der klinischen J~uflerungsform als Kramp/ damtellt, denn erfahrungsgem~l~ ist ja gerade die Epilepsie eine aus- gesprochen durch periodische Wiederkehr der Anfi~lle charakterisierte Krankheit.

Zum weiteren Versti~ndnis ist es notwendig, noch kurz auf die l~olle des Nebennierensystems hinzuweisen, die ihr H. Fischer bei der Genese des Krampfes zugesprochen hat, und die nicht etwa, wie dies in der Lite- ratur wiederholt fglschlich behauptet ist, von ihm als ,,epileptogene" charakterisiert worden ist. Fischer hat vielmehr ausgehend v o n d e r vielfach im Tierexperiment erwiesenen Bedeutung des Nebennieren- systems fiir die Muskelleistung und Ansprechbarkeit der Muskulatur die Stellung dieses Systems im gesamten Krampfmechanismus, d. h. also sowohl im Rahmen anderer innersekretorischer Organe wie auch der selbstverst~ndlich dazu geh6rigen nerv6sen Substrate, er6rtert. Bei den daraufhin angestellten Versuchen zeigte sich, dal~ dem Nebennieren- system tatsachlich auch fiir die Muskelarbeit als Krampf dieselbe Bedeutung zukommt, wie es sie fiir die Muskelarbeit im weitesten

1) H. Fischer, Psych.-Neurol. Wochenschr. ~4, Nr. 34/35--39/40. 1922.

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Zur Frage des epileptischen Konstitutionstypus. 315

Sinne hat. Diese Tierexperimente sind von J. Fischer, Bri~ning, Seitz, Kersten besti~tigt worden, wiihrend Specht abweichende Resultate ge- funden hat.

Dieser Typ, der in seiner Morphologie auf die oben n~her charakteri- sierte Beteiligung des Nebennierensystems in den genetischen Grund- lagen hinweist, finder sich bei unserm, allerdings kleinen Untersuchungs- material in der Mehrzahl. Ihm gegeniiber steht ein , ,Type musculaire", ein ausgesprochen athletischer Epileptiker, der sich bei kr~ftigem Muskelrelief durch eine ausgedehnte, teilweise sehr starkc Stammbehaa- rung, relativ diinnes Kopfhaar , starken Bartwuchs, reichliche Scham- behaarung und pigmentreiche H a u t auszeichnet.

Diese Gruppe steht der Zahl nach an zweiter Stelle und l~l~t sich im K6rperbau vielleicht dem athletischen Typ Kretschmers vergleichen. Ihre besonderen Merkmale, die eine fiber den Durchschnitt hinausgehende Weiterbildung von Masse und Relief der Muskulatur, Pigment und Stamm- behaarung zeigen, lassen auch bei den genetischen Beziehungen dieser konstitutionellen Aul]eneigenschaften des K6rpers zum Nebennieren- system an eine Beteiligung dieses Systems denken.

Welter kommen wit dann zu den Beziehungen innersekretorischer Funktionen zu den besonderen Proportionsverhi~ltnissen des KSrpers und zu der Frage, ob uns fiir die Pathogenese des Gesamtbildes beson- dere Hinweise gegeben werden.

Aus den detaillierten Messungen, die an dem Epileptikermateri~l vorgenommen worden sindl), sollen in der folgenden Tabelle nur die Mal]proportionen herausgegriffen werden, die in ihrer Genese besondere Beziehungen zu innersekretorischen Funktionen haben, was vor allem fiir das wichtige Proportionsverh~iltnis der Oberli~nge zur Unterl~nge gilt.

Tabelle 11I. K r a m p f k r a n k e t iber ;~0 J a h r e un te r ,~ J a h r e

Z~hl der Fi~lle . . . . . . . . . . . 40 24 l~berragende Oberlgngen . . . . . . 0 - - 0 % 0 ~ 0 % t~berragende Unterl~ngen . . . . . . 40 :- I00 % 24 : 100% ]~berr~gende Schulterbreiten . . . . 39 =- 97,5% 24 :- 100~o tJberragende I-Itiftbreiten . . . . . . 1 : 2,5% 0 :0 % t~berragende K6rperl~ngen . . . . . 6 :- 15 % 0 : : 0 % (~berragende Sp~nnweiten . . . . . . 34 : 85 % 24 :: 100%

Aus der Tabelle ist zu ersehen, da~ in 100% die Unterlange die Ober- li~nge fiberragt, und zwar nicht nur bei den unter 30 Jahre alten, sondern auch bei den i~ber 30 J~hre ~lten Krampfkranken. Zur Beurteilung dieser auffallenden Erscheinung ist es erforderlich, kurz auf die Genese dieser

1) Eine eingehende Auswertung und graphische Darstellung der Mel~resultate verbietet sich hier durch den beschri~nkten tr und soll n~ch Vermehrung des Untersuchungsm~terials einer sp~teren Ver6ffcntlichung vorbehalten bleiben.

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316 H. YIofmann :

K6rperproportion einzugehen. Wie ich a. 0:1) gezeigt habe, ist das Pro- por~ionsverh~ltnis zwischen Ober- und Unterl~nge in der Zeit yon der Pubert~t his zum ReifungsabschluB bei gesunden und normal gebauten Individuen in Rich~ung einer vermehrten Unterl~nge verschoben, und zwar derart, dab dies bei 17j~hrigen M~nnern in mehr als 50% vor- handene Proportionsverh~ltnis bei zunehmendem Alter langsam abnimmt und erst gegen das 29. Lebensjahr hin v611ig verschwindet. Die Gesetz- m~l~igkeit, mit der sich das zunehmende Oberwiegen der Oberl~ngen im Laufe der Jahre steigert, l~l~t dieses ,,tempor~re Proportionsverh~ltnis" als ein physiologisches erscheinen. Als pathologische, eunuchoide Dis- proportion kann es nut im Rahmen des Gesamtbildes des Eunuchoidis- mus angesprochen werden. Aus diesem Grunde ist die oben erw~hnte Einteilung der Krampfkranken bei unseren Untersuchungen vorgenom- men worden.

Die biologischen Grundlagen dieses ,,normalen" Pubert~tspropor- tionsverh~ltnisses sind nun, wie wir mit H. Fischer ~) annehmen, in den besonderen Faktoren zu suchen, die dem L~ngenwachstum in der Puber- ta t zugrunde liegen, und zwar einmal in dem gesteigerten L~ngenw~chs- turn bis zum Eintr i t t des Epiphysenschlusses und dann in dem tempo- r~ren l~berwiegen der eosinophflen Zellen im Hypophysenvorderlappen w~hrend der Pubert~t. Das ausnahmslose Oberwiegen der Unterl~nge fiber die Oberl~nge bei den jenseits der Wachstumsperiode stehenden Krampfkranken bedeutet also einen ,,anormalen" Zustand und l~Bt darauf schliel~en, dab in der korrelativen Bindung der Hypophyse in dieser sensiblen Phase eine Anomalie vorhanden sein mul~, die zu diesem nach dem Reifungsabschlul~ als pathologisch zu bezeichnenden Propor- tionsverh~ltnis fiihrt und deren Genese vielleicht in dem fehlenden Aus- gleich der relativen Zellverh~ltnisse zwischen eosinophilen und baso- philen Zellen im Hypophysenvorderlappen zu suchen ist.

Makroskopische und histologische Befunde an der Hypophyse von Epileptikern liegen bisher nut in geringem Mal~e vor. Claude und Schmiergeld a) fanden bei Kranken, die im Status epilepticus gestorben waren, Ver~nderungen der t typophyse, die sie im Sinne einer Hypo- funktion deuteten. Volland 4) land in den Hypophysen geh~tufte intra-, peri- und extranuclei~re Lipoidk6rnchen und schliel~t sich auf Grund seiner histologischen Untersuchungen bei epfleptischen Kr~nkheits- bildern ~) der schon von Alzheimer, Binswanger und H. Vogt ge~uf~erten

~) H. Ho[mann, Ver6ffentl. u. d. Geb. d. Milit/~r-S~nit~tswesens Heft77. Berlin 1923.

~) H. Ho]mann und H. Fischer, Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. ~ . 1924.

~) Claude und Schmiergeld, Ref. in Neurol. Zentr~lbl. 1909, Nr. 3. ~) Volland, Zeitschr. f. d. gcs. Neurol. u. Psychiatrie 1010. ~) Volland, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie ~1. 1914.

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Vermutung an, daI~ fiir die Genese der Epilepsie toxische -- vielleicht auf Stgrungen der inneren Sekretion beruhende -- Einwirkungen i~tio- logisch in Frage kommen kSnnen. Auch schon ~lteren Autoren waren bei der Autopsie von Epileptikern Hypophysenbefunde aufgefallen, die auf krankhafte Ver/inderungen schlicl~en lief~cn; so schreibt Esquiroll): ,,Die Gl&ndula pituitaria hattc Wenzels Aufmerksamkeit besonders auf sich gezogen. Er land bei 20 Epileptischen 7 real die Glandul~ pituitari~ sehr entwickelt; 10 real sah er in ihrem Innern eine gclbe, feste Masse, 5 real eine triibe Fliissigkeit. Oft zeigt ihm dieses Organ Spuren einer Entziindung, w~thrend das Gehirn und die Gehirnh~ute unver~ndert waren." Griesinger 2) beobachtete bei Epileptischen hypertrophische Ver~nderungen an der Hypophyse. Wenn auch die Bcfnnde durch die mangelnde Auswertung nur ganz allgemein fiir eine m6gliche Beteiligung der Hypophyse am Krankheitsbild der Epilepsie sprechen, so weisen sie doch darauf hin, dal~ vielleicht eine systematische histologische Unter- suchung zur Kli~rung der Frage beitragen kann, welche Rolle der Hypo- physe im Gesamtkrampfmechanismus zukommt.

Fassen wir unsere Untersuchungsergebnisse zur Beantwortung der oben gestellten Fragen zum Schlul] nochmals kurz zus~mmen:

Unter den untersuchten konstitutionellen Krampfkranken finder sich keiner der yon Kretschmer beschriebenen K6rperbautypen in vor- herrschender Zahl.

Die gr61~te Prozentzahl der F~lle zeigt in ihrer morphologischen Beschaffenheit Auff~tlligkeiten auf dem Gebiete des Haarwachs- turns, der Pigmentbildung und Hautbeschaffenheit, die sich fast v611ig mit dem yon Fischer beschriebenen Habitus des Affektepi- leptikers decken.

Dariiber hinaus weisen die Mehrzahl der als K6rperbautypen im Sinne Kretschmers erkannten Kr~mpfkr~nken in mehr oder weniger voll- kommener Weise die oben erwi~hnten Anomalien auf. Den geringsten Prozents~tz stellen dabei die rein athletischen Typen, die in ihrer Haut- und Haarbeschaffenheit das gegensi~tzliche Bild zu der kSrperlichen Be- schaffenheit des Affektepileptikers zeigen. Beide Formen, sowohl der muskelschwache, durch seine Haarunom~lien gekennzeichnete Typ wie der ,,Type musculaire", lassen in der Genese ihrer morphologischen Auf- fi~lligkeiten auf eine StSrung in der Korrelation zwischen Hypophyse und Nebennierensystem schliel~en.

Als unser wichtigstes Untersuchungsergebnis betrachten wir, dal~ si~mtliche untersuchten Fi~lle auch nach Abschlu/] der Wachstumsperiode _ _ . _ _

1) Esquirol, Die Geisteskrankhciten in Beziehung zur Medizin und Staats- arzneikunde. I. Bd., S. 183. Berlin 1838.

~) W. Griesinger, Pathologic und Thcrapic der psych. Krankhciten. 4. Aufl. 1876.

Z. f. d. g. N e u r . u . l~sych. X C I V . 2 1

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318 H. Hofmann: Zur Frage des epileptischen Konstitutionstypus.

eine Verschiebung des t)roportionsverhi~ltnisses yon Oberli~nge zu Unter- l~nge in Richtung einer fiberwiegenden Unterli~nge aufweisen.

Die innersekretorische Genese dieser 1)roportionsanomalie liifit sich auf eine Korrel~tionsstSrung im endokrinen System zttrfickfiihren, ffir die eine Verschiebung in dem cellul~ren Struktur~ufbau der Hypophyse verantwortlich gemacht werden kann.

Damit ergibt sich als weiteres wichtiges Resultat unserer Unter. suchungen, dal~ diese innersekretorische KorrelationsstSrung neben der schon erw~hnten Bedeutung des Nebennierensystems auch in der Genese der konstitutionellen Krampfkrankheiten eine Rolle spielt, auf die schon H. Fischer in seinea Untersuchungen fiber den Eunuchoidismus und dessert Beziehungen zur Epflepsie hingewiesen hat1).

1) Vgl. H. ~'ischer, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. 1)sychiatrie 50, 46. 1919.