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Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, Bd. 165, S. 109--126 (1951). Aus der fach~rztlichen Untersuchungsstelle Heidelberg der L. V. A. Baden. Zur Frage einer Grundhmktion des Hirnes nach Reizhaaruntersuchungen 1 bei Hirnverletzten. Von Konrad Zucker. (Eingeganyen am 12. Juni 1950.) Den folgenden Mitteilungen liegt eine nunmehr 19j~hrige Erfahrung in der Untersuchung mit Reizhaaren bei den verschiedensten neurologi- schen Erkrankungen zugrunde. -- Im Hinblick auf die, besonders ftir die Gutachtert~tigkeit, oft schwierige Entscheidung fiber das Vorliegen einer Hirnverletzung schien es mir wichtig genug, den Wert der Reiz- haaruntersuchung gerade auch fiir die ambulante Praxis in das ihr ge- bfihrende Licht zu rficken. -- Es wird sich am Schlusse dann die Ge- legenheit ergeben, auf theoretische Fragen unter funktionsanalytischem Gesichtspunkt zu sprechen zu kommen. -- Das Material, auf das ich mich dabei beziehe, sind 122 Fi~lle yon Hirnverletzungen, wie sie w~h- rend der letzten 1 ~--2 Jahre untersucht werden konnten. Ihre Aus- wahl geschah nach folgenden Gesichtspunkten. Einmal wurden alle groben F~lle beiseite gelassen, bei denen also eine ttirnverletzung schon sozusagen auf den ersten Blick aul~er Zweifel stand, so dab es sich hier nur um leichte, leichteste, ja oftmals bislang fragliche Fi~lle hundelt. -- Auf der anderen Seite wurde natiirlich Wert darauf gelegt, dal~ auiter dem Reizhaarbefund noch mindestens ein oder zwei sichere Zeichen yon organischem Hirn-Wert vorhanden waren, um dem Vorwurf einer petitio principii zu entgehen. Zun~chst die Frage: Was untersucht man mit Reizhaaren ? Man war li~ngere Zeit der Ansicht, dab man mit I~eizhaaren bzw. mit den eben- falls nach bestimmten St~rken geeichten Stachelborsten nur Zus~nde der Sensibilit~t untersuche. Das ist auch augenf~llig und ganz gewiB so. Es ist aber das nicht der einzige und nicht einmal der wichtigste Befund. Stein sah schon vor etwa 26 Jahren, daB, wenn man bei bestimmten Hirnerkrankungen ein und denselben Punkt viele Male mit einem l~eiz- haar gleicher St~rke reizte, der Reiz manchmal steigend seltener empfun- den und beantwortet wurde. Dieses Ph~nomen nannte er ,,Labilit~t der Schwelle". -- Nun mag der Begriff einer Reizschwelle fiir die Physiologie seinen Wert haben, fiir pathologische Verh~ltnisse wird er zu einem sehr

Zur Frage einer Grundfunktion des Hirnes nach Reizhaaruntersuchungen1 bei Hirnverletzten

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Page 1: Zur Frage einer Grundfunktion des Hirnes nach Reizhaaruntersuchungen1 bei Hirnverletzten

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, Bd. 165, S. 109--126 (1951).

Aus der fach~rztlichen Untersuchungsstelle Heidelberg der L. V. A. Baden.

Zur Frage einer Grundhmktion des Hirnes nach Reizhaaruntersuchungen 1 bei Hirnverletzten.

Von

Konrad Zucker.

(Eingeganyen am 12. Juni 1950.)

Den folgenden Mitteilungen liegt eine nunmehr 19j~hrige Erfahrung in der Untersuchung mit Reizhaaren bei den verschiedensten neurologi- schen Erkrankungen zugrunde. - - Im Hinblick auf die, besonders ftir die Gutachtert~tigkeit, oft schwierige Entscheidung fiber das Vorliegen einer Hirnverletzung schien es mir wichtig genug, den Wert der Reiz- haaruntersuchung gerade auch fiir die ambulante Praxis in das ihr ge- bfihrende Licht zu rficken. - - Es wird sich am Schlusse dann die Ge- legenheit ergeben, auf theoretische Fragen unter funktionsanalytischem Gesichtspunkt zu sprechen zu kommen. - - Das Material, auf das ich mich dabei beziehe, sind 122 Fi~lle yon Hirnverletzungen, wie sie w~h- rend der letzten 1 ~ - - 2 Jahre untersucht werden konnten. Ihre Aus- wahl geschah nach folgenden Gesichtspunkten. Einmal wurden alle groben F~lle beiseite gelassen, bei denen also eine tt irnverletzung schon sozusagen auf den ersten Blick aul~er Zweifel stand, so dab es sich hier nur um leichte, leichteste, ja oftmals bislang fragliche Fi~lle hundelt. - - Auf der anderen Seite wurde natiirlich Wert darauf gelegt, dal~ auiter dem Reizhaarbefund noch mindestens ein oder zwei sichere Zeichen yon organischem Hirn-Wert vorhanden waren, um dem Vorwurf einer petitio principii zu entgehen.

Zun~chst die Frage: Was untersucht man mit Reizhaaren ? Man war li~ngere Zeit der Ansicht, dab man mit I~eizhaaren bzw. mit den eben- falls nach bestimmten St~rken geeichten Stachelborsten nur Zus~nde

der Sensibilit~t untersuche. Das ist auch augenf~llig und ganz gewiB so. Es ist aber das nicht der einzige und nicht einmal der wichtigste Befund. - - Stein sah schon vor etwa 26 Jahren, daB, wenn man bei bestimmten Hirnerkrankungen ein und denselben Punkt viele Male mit einem l~eiz- haar gleicher St~rke reizte, der Reiz manchmal steigend seltener empfun- den und beantwortet wurde. Dieses Ph~nomen nannte er ,,Labilit~t der Schwelle". - - Nun mag der Begriff einer Reizschwelle fiir die Physiologie seinen Wert haben, fiir pathologische Verh~ltnisse wird er zu einem sehr

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110 Konrad Zucker:

unsicheren und stri t t igen Begriff. Wir sprechen daher besser und un- voreingenommener yon einer , ,pathologischen Ermf idung" ; und diese

ist es, mit der wir uns in erster Linie zu besch/~ftigen haben werden. - - Man untersucht also mit Reizhaaren zwei weitgehend voneinander ver- schiedene Dinge, und zwar je nach der Methode die man anwendet :

1. Den jeweiligen Z u s t a n d der Sensibilit/it fiir Beriihrung und ffir Schmerz. - - Zu diesem Zweck best immt man den sog. Z/ihlwert ffir eine gewisse Reizst/~rke. Man n immt ein Reizhaar oder eine Stachelborste yon einer St/ixke, die vom Normalen mit Sicherheit an der fraglichen KSrperstelle jedesmal empfunden wird. Sie liegt flit Reizhaare bei Sp. 5 und ftir Stachelborsten bei 1 Gramm (Durchbiegungs-Gewicht). Ich bleibe immer, urn ganz sicher zu gehen, um einiges darfiber, nehme also gewShnlich Sp. 7 bzw. 2 gr. Dami t appliziert man fiber die flag- liche KSrperstelle verteilt 10 oder 20 Reize und z/~hlt aul~erdem die davon beantworteten Reize. Das Resul ta t ist ein Bruch, dessen Nenner die applizierten und dessen Z~hler die beantworte ten Reize enth/~lt, der also normalerweise 10/10 bezw. 20/20 lauten mul3. Er kann in pathologi- schen F~tllen beliebig klein werden. - - Es lehrt, nun die Erfahrung, daft auch bei schweren hirn- und rfickenmarksbedingten Sensibilit/~ts-StS- rungen, - - wenn man yon Querschnitts-L/~sionen absieht, - - der Z/~hl- wert ganz selten einmal unter 1/20 liegt ; d. h. yon 20 Reizen wird meist noch der eine oder andere empfunden und beantwortet .

Mit dem Z/~hlwert h/~tten wir also das jeweilige Durchschnit ts-Niveau der Sensibilit/~t best immt.

2. E twas ganz anderes untersucht man nun aber, wenn man den gleichen Punk t der H a u t viele Male hintereinander mit dem gleichen Reizhaar bzw. mit der gleichen Stachelborste reizt. Man macht das so, dab man in wechselnden Abst~nden von e twa 1 ~ - - 4 sec reizt; und ich gebe so im Ganzen mindestens und meistens 20--25 Reize. - - Tausende yon Untersuchungen haben mich gelehrt, dab es wirklich nicht darauf ankommt, immer genau den gleichen Punk t zu treffen ; es genfigt vo]lst/indig, wenn man dabei innerhalb eines Areals von 3- -4 , ja 5 m m Durchmesser bleibt.

Von einer solchen Reiz-Serie hat der Normale eigentlich jedert Reiz zu beantworten, d. h. er ermfidet nicht. Bei ihm stellen sich einzelne Ausf/~lle erst bei viel l~tnger ausgedehnten Serien ein und hal ten sich auch dann in sehr bescheidenen Grenzen. (Bei 50 Reizen mi t Sp. 5! werden im Durchschni t t e twa 4 - - 5 Einzelreize ausgelassen, und bei Anwendung yon 1! gr. Stachelborste pflegt vor dem 40. Reiz kaum einer unbeant- wortet zu bleiben.) Aber selbst wenn einmal bei 20 Reizen ein oder zwei ausgelassen werden, - - wie das bei spastisch vege~ativer Neurose vor- kommt, - - so wird man auch das nicht ohne weiteres als pathologisch

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zu bewerten haben. Werden allerdings 2 Reize hintereinander nicht empfunden, so beginnen bereits unsere Bedenken.

Die Ergebnisse der so gewonnenen Reiz-Serie protokolliert oder diktiert man am zweckmiCBigsten nach ,,Fehlwerten", d. h. man notiert die bis zur jeweiligen Beantwortung gegebene Anzahl von Einzelreizen. Beim Normalen, wo jeder Reiz beantwortet wurde, lautet demnach die Reihe: 1, 1, 1, 1, 1, l, l, und so fort, also 20 mal 1. - - Der Fehlwert 4 wfirde z. B. besagen, da6 der Patient 3 Reize auslieB und erst den vierten beantwortete.

Es gibt nun zwisehen einer kompletten pathologischen Ermfidung, bei welcher der Patient am Ende gar keinen Reiz mehr beantwortet und einer Reihe, in welcher die Fehlwerte zwischen 1 und 3 schwanken, alle l~bergi~nge, die natfirlieh s~mtlieh krankhafte Bedeutung haben.

Was sich uns in der so aufzeigbaren pathologischen Ermfidung often- bart, das ist eine Funktionsstiirung des Hirnes, die - - und das ist das Wiehtigste - - sinnesunspezi/isch ist. - - Das Recht, das zu sagen, gibt uns die Erfahrung, dab bislang keine Hirnschi~digung gefunden wurde, welcher Art sie aueh sein und wo auch immer sie lokalisiert sein mag, bei welcher die solcherart angestellte Reizhaar-Funktionsprfifung nicht einen pathologischen Befund ergab.

Bei reinen Commotionen finden sieh keinerlei vom Normalen ab- weiehende Besonderheiten bei dieser Untersuehung.

Mit Rficksicht auf die Tragweite der Behauptung soll die einzige Ausnahme, die mir in der Zeit, w~hrend ich die auf der Tabelle 1 aufge- fiihrten 142 F/~lle sammelte, - - die schwereren Hirn-Verletzungs-F~lle z~hlen dabei gar nicht mit - - vorkam, eigens erw/ihnt werden: Dieser Fall war bereits als Hirnverletzter im Versorgungs-Verfahren anerkannt, und zwar lediglich auf Grund des l~Sntgenbildes. Auf ihm fand sieh ein kleiner Splitter, zwar intracraniell, yon dem aber nicht sicher aus- gemacht werden konnte ob er auch intracerebral lag. Neurologisch be- stand bei genauester Untersuchung nur ein Iterieren, sonst gar nichts yon der Norm Abweichendes. - - Und hier ergab auch die Reizhaar- funktionsprfifung dieses eine Mal niehts Sicheres. - - Diesem wohl nicht auger jedem Zweifel stehenden Fall gegenfiber n a g ein anderer ange- ffihrt werden: Wegen einer methodischen Besonderheit bat ieh einen Kollegen, mir als normale Versuchsperson zu dienen, und bei ihm muBte ieh zu seiner eigenen ~berraschung eine, wenn auch geringergradige pathologische Ermfidung feststellen. Die darauf erhobene genauere Anamnese ergab eine hinreichende Besti£tigung ffir eine, etwa 12 Jahre zuriickliegende, leichte Hirnverletzung.

Die 122 Fi~lle von Hirnverletzungen finden sieh auf der Tabelle 1 gesondert in a)Verletzungen der Zentral-Region und b)solche aufler- halb der Zentralregion. Da ich fiber keine Autopsien verffige, so wurde

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112 Konrad Zucker:

die Lokal i sa t ion danach vorgenommen, au f welche Hi rn-Region sich die ~ui~ere Ver le tzung proj iz ier te , dabei wurde natf i r l ich auch der neuro- logische Befund nebs t e twaigen Cont re -coup-Wirkungen berf icksicht igt . Bei den 90 F~l len mi t Ver le tzungen auBerhalb der Zen t ra l -Region wurde abe t vor allen Dingen d a r a u f W e r t gelegt, dab keiner yon ihnen bei ge- nauere r , ,kl inischer" Sensibi l i t~ts-Prf i fung irgendwelche Besonderhei ten bot. Es wurde in allen F~l len un te r such t : Berfihrung, und zwar mi t Re izhaa ren (Sp. 7); Schmerz; Vibra t ionsempf inden (mit S t immgabe l C 128) an den Malleolen, Tibien, an den Handge lenken und Finger- knScheln; die Gelenksensibi l i t~t an F ingern und Zehen; das Erkennen yon auf die H a u t geschriebenen Zahlen (Oberschenkel, Un te ra rm) ; die Diskr iminat ion , auf 1 m m genau und die Stereognosis. - - Es s ind also

I. Hirn- Verletzungen. a) Central-Region

b)

TabeUe 1.

Centralis anerior links rechts

Centralis anterior u. posterior links , , , , , , , , reehts

Centralis posterior links ,, ,, rechts

Auflerhalb der Central-Region Pracentral links

rechts Frontal links

rechts Fronto temporal links

,, ,, reehts Temporal links

rechts Parietal links

rechts Occipital links

,, rechts beiderseits

Parieto-occipital rechts Nicht zu lokalisieren rechts

beiderseits Traumat. Epilepsie; nicht zu lokalisieren Traumat. Hydrocephalus

II . Nicht-traumatische HirnscMiden Endangitis obliterans Halbseitige Encephalitis lethargica Fleckfieber-Encephalitis Papatacci-Encephalitis Chorea Athetosis rechts//Athetosis links Striatum-Embolie Arteriosclerosis cerebri Carotis-Unterbindung rechts (symptomenarm) Abgeklungenes tIirnSdcm (Dystrophie)

Zahl der F/ille 32 4 3 6 6 6 7

90 8 2

l l 10 4 2 3 4 7 6 8 8 4 3 1 4 4 1

20 1 1 7 1 1 2 1 2 1 3

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die 90 Falle unter b) frei yon SensibilitatsstSrungen auch fehlerer Art. Dasselbe gilt auch yon den 20 unter I I aufgeffihrten und lediglich zur Erganzung des Vorzutragenden dienenden Fallen yon nicht-traumati- sehen Hirnsehaden.

Unter den 32 Fallen von Verletzung der Zentral-Region sind die- jenigen zusammengestellt, bei denen sich die auBere Verletzung auf diese Region projizierte oder wo sie direkt davor oder dahinter lag, aber die Untersuchung doeh eine Sensibilitats-StSrung ergab. Sie war in jedem Falle zwar nur gering, jedenfalls nie grob, aber doeh sieher nach- weisbar. - - Es dienen diese 32 Falle hauptsachlich zu dem Zweck, einen Vergleich zwischen Sensibilitats- und Funktions-St5rung anstellen zu kSnnen.

Und nun zu den Resultaten: Mit Ausnahme des einen vorhin erwahn- ten, noch etwas fraglichen, Falles zeigten alle, aufder Tabelle aufgeffihrten, eine FunktionsstSrung im Sinne einer pathologisehen Ermfidung. Sie t r i t t das eine Mal frfiher, das andere Mal sparer in Erscheinung; das eine Mal ist sie nur leicht, das andere Mal wird sie alsbald k o m p l e t t . - Wann man sie als komplett ansehen will, ist natfirlieh Conventions-Sache; es schien mir ausreichend, sie dann als gegeben anzusprechen, wenn mehr a!s 30 Reize hintereinander nicht mehr beantwortet wurden. - - Meist verliiuft die pathologisehe Ermfidung in mehr oder weniger deut- lichen Schwankungen; nur in schweren Fallen mit starkeren Substanz- Verlusten, von denen hier aber keiner mit angeffihrt wurde, t r i t t sie ganz rasch, d .h . schon nach wenigen Reizen und ohne Schwankungen ein. Das gilt besonders auch ffir ausgedehnte, diffuse Prozesse; wie denn fiberhaupt die GrSBe des Herdes einerseits und die Diffusitat der zu- grunde liegenden Schadigung andererseits EinfluB auf Eintr i t t und Ver- lauf der pathologisehen Ermfidung haben.

Auf der Tabelle 2 finden sich 5 Beispiele von einseitiger (herdgekreuz- ter) pathologiseher Ermfidung, die natfirlieh die Mehrzahl aller Falle ausmaeht. Die Auswahl wurde so getroffen, dab fiir jede Hirn-l~egion ein Beispiel gegeben werden sollte, und dab aul3erdem verschiedene Schwere-Grade und darunter aueh leichteste Veranderungen zur Dar- stellung kommen sollten. Nach dem, was fiber die Art der Protokollie- rung nach Fehlwerten gesagt wurde, bedarf es zum Verstandnis der Bei- spiele wohl weiter keines Kommentars.

Die Tabelle 3 gibt die Protokolle von 3 Fallen, bei denen auch die Gegenseite, allerdings schwacher, mitbetroffen war. Ffir die ersten beiden sind auch die Ergebnisse bei Anwendung yon Schmerzreizen mitgegeben. In dem ersten yon ihnen kommt die pathologische Ermfidung bei Be- rfihrungs-Reizen deutlicher zum Ausdruck, ja bei Anwendung der Staehelborste findet sich auf der leichter betroffenen Gegenseite fiber- haupt nichts Besonderes. Im zweiten Falle ist das Verhaltnis gerade

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114 Konrad Zucker:

u m g e k e h r t . W o r a u f das b e r u h t , l i i~t s ich noch n i c h t sagen. - - Gleich- viel abe r , ob d ie p a th o lo g i s c h e E r m i i d u n g m i t Be r i i h rungs - ode r m i t S c h m e r z - R e i z e n d e u t l i c h e r s ich da r s t e l l t , da s Verh~ l tn i s des Schwere- G r a d e s v o n r e c h t s u n d l inks b l e ib t bei A n w e n d u n g be ide r R e i z a r t e n i m m e r dasse lbe .

Tabelle 2. Beispiele yon Fiillen mit FunktionsstSrungen, bei denen mit klinischen Priifungs- methoden an der gesamten Sensibilit~t kein Befund und keine Differenz zwischen rechts und links, erhoben werden konnte: (Beriihrung; Schmerz; Vibrations- empfinden; Gelenksensibilit~t; Diskrimination; Zahlen-Erkennen; Stereognosis.)

Verletzung: Frontal- Pol links. R. tL-Funktionsbefund mit Sp. 7 (Komplette pathologische Ermiidung).

rechts: 1, 1, 1, 4, 2, 9, 3, 2, 2, 3, 2, 1, l , 7, 4, 4, 2, 3, 2, 9, 3 ~30. links: 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 2 , 1 , 1 , 2 , 2 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 2 , 1 , 1 .

Yerletzung: Temporal links. R. H.-Funkt.-Befund mit Sp. 7 (Komplette pathologische Ermfidung).

rechts: 1, l , 1, 1, 7, 7, 7, 4, 5, 6, 4, 4, 4, 5, 5, 19, 10, l l , 7, ~ 30. links: 1, 1, 1, 1, 1, 1, usw.; im ganzen 25 Reize.

Verletzung: Priizentral rechts. R. t t . -Funkt.-Befund mit Sp. 7 (Sp~t einsetzende patholog. Ermiidung).

rechts: 1, 1, l , l , 1, l , usw.; im ganzen 25 Reize. links: 1, 1, 1, l , l , 1, 1, 1, l , i , 2, 1, 2, 2, 2, 1, 6, 6, 5, 4, 3, 6, 12.

Verletzung: Parietal links: R. H.-Funkt.-Befund mit Sp. 7 (mittelstarke patholog. Ermiidung).

rechts: 1, l , 2, 1, l , 2, 1, 2, 1, 2, 2, 2, 2, 3, 5, 8, 4, 3, 3, 6, 5, 5, 4, 5. links: 1, 1, 1, 1, 1, 1, l , usw.; im ganzen 25 Reize.

Verletzung: Occipital rechts: R. It .-Funkt.-Befund mit Sp. 7 (Leichtere patholog. Ermiidung).

rechts: l , 1, l , l , 1, 1, l , usw.; im ganzen 25 Reize. links: 1, l , 1, 1, 1, 3, 1, 2, l , 2, 1, 2, 2, 2, 3, 2, 1, 4, 3, 1, 3, l , 4, 2.

Tabelle 3. Beispiele /fir das Mitbetro//ensein auch der Gegenseite.

Verletzung: Occipital links, nahe der Mittellinie. R. H.-Funktionspriifung mit Sp. 7:

rechts: 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 2 , 2 , 2 , 1 , 1 , 1 , 1 , 3 , 1 , 4 , 6 , 1 , 2 , 1 , 2 , 2 , 3 , 5 , 1 , 2 , 1 , 5 . links: l , 1, l , 2, 3, 1, 2, 1, 1, 1, l , 1, 1, 1, 2, 3, 2, 2, 3, 2, 2, 2, 3, 3, 1,3,2,1.

R. t t . -F, mit 2 g Stachelborste : rechts: 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 2 , 3 , 1 , 3 , 3 , 3 . links: 1, 1, l , l , 1, 1, 1, 1, 1, l , l , 1, 1, l , 1, 1, l , 1, 1, 1, I, 1, 1, 1.

Verletzung: Frontal rechts (De£ekt grenz~ an die Mittellinie). R. tt .-Funktionsprtifung mit Sp. 7.

rechts: 1 , 1 , 2 , 1 , 2 , 2 , 1 , 1 , 1 , 2 ; 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 ; 1 , 1 , 2 , 2 , 1 . links: 1, 1, 1, 1, 2, 2, 2, 1, 1, 2; 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1; 2, 3, 1, 2, 5, 3.

R. l~.-Funktionspriifung mit 2 g Stachelborste: rechts: 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 ; 2, 2 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 2 ; 2 , 2 , 2 , 5 , 1 , 3 . links: 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 2 ; 1 , 2 , 4 , 2 , 5 , 3 , 1 , 1 , 1 , 5 ; 7, 7,1.

Verletzung: Temporal links (mit~ Contre-Coup rechts). R. tL-Funktionspriifung mit Sp. 7:

rechts: 1, 1, 1, 2, 2, l , 6, 5, 5, 5, 7, 4, 5, 6, 2, 7, 2, 8. links: l , 2, 2, l , 6, 3, 6, 2, 2, 3, 2, 2, 1, 3, 2.

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Zur Frage einer Grundfunktion des Hirnes nach Reizhaaruntersuchungen. ]15

Auf die verschiedenen qualitativen Veri£nderungen, wie sie sich bei besonderen Krankheitsformen und Lokalisationen im Hirn ergeben, soll in dieser Arbeit nicht nigher eingegangen werden, da sie bereits bei friiheren Gelegenheiten beschrieben wurden. Hier mSgen davon nur 2 Fiille Erw~hnung finden und zwar deshalb, well sie lehren kSnnen, dal~ sich selbst beim einzelnen Patienten zwei verschiedene Formen der Funktions-StSrung in vSlliger Klarheit und getrennt voneinander zur Darstellung bringen lassen.

Bei Epileptikern und zwar bei traumatisehen wie nichttraumatischen, sofern sie schon eine grSl~ere Anzah[ yon Anfi~llen hinter sich haben, findet man als FunktionsstSrung die ,,erschwerte Einsteltf/~higkeit". - - Es sei dazu bemerkt, dal~ die psychisch gemeinte erschwerte Einstelt- fiihigkeit nicht etwa die Ursache, sondern nur einen Ausdruck der funk- tionsanalytisch begriffenen bedeutet. - - Bei der Reizhaar-Funktions- Priifung stellt sie sich so dar, da[~ die Reiz-Serie mit miil~ig erhShten Fehlwerten beginnt, die dann alsbald einem vSllig normalen Weiter- verlaufe Platz machen. Die Tatsache, dal~ auch die erschwerte Einstell- fithigkeit nur einseitig vorkommen kann, ist prinzipiell wichtig genug, immerhin sind solche F~lle verh~ltnismi~Bige Seltenheiten, d. h. in der Mehrzahl trifft man sie beidseitig an.

Der Fall, der auf Tabelle 4 wiedergegeben ist, hat te einen Contre- Coup-Herd rechts mit stets linksseitig beginnenden Krampfanf~llen. Die Reizhaar-Funktionspriifung ergab nun ftir beide Seiten eine er- schwerte Einstellfahigkeit. Naeh 5 bzw. 6 anfitnglichen Fehlwerten folgt dann ein normaler Weiterverlauf bestehend nur aus l, 1, 1 usw. Wahrend sich nun auf der reehten KSrperseite daran aueh bis zum Sehlusse der 20gliedrigen Reizserie nichts ~ndert, sehen wir auf der dem Herd ent- sprechenden linken Seite eine v o n d e r ersehwerten Einstellf~higkeit g~nzlich unabhiingige und von ihr klar abgesetzte pathologische Er- miidung eintreten.

Tabelle 4. Beispiel ]iir zwei verschiedene Formen einer Funktionsst6run9 nach Verletzung der Regio praecentralis links mit traumatischer Epilepsie.

1. Erschwerte Einstellfi~higkeit beiderseits (Epilepsie !) 2. Patholog. Ermiidung nur links (Contre-Coup.)

R. H.-Funktionspriifung mit Sp. 7. rechts: 3, 2 ,1 ,1 ,2 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 . links: 4, 2 ,1 ,2 ,2 ,2 ,1 ,1 ,1 ,1 ,1 ,2 ,2 ,3 ,5 ,7 ,2 ,9 ,4 .

Der zweite Fall (Tabelle 5) ist vielleicht noch eindrucksvoller als Be- leg flit die Nachweisbarkeit zweier verschiedener FunktionsstSrungen beim gleichen Patienten. - - Er stellt aber auch an und und fiir sich ein seltenes Vorkommnis dar insofern, als der Patient einmal eine Occipital- Hirn-Verletzung rechts mit hemianopischen StSrungen des linken Ge-

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116 Konrad Zucker:

sichtsfeldes und auI3erdem eine Metencephalitis hatte und zwar mit ganz fiberwiegend einseitigem Betroffensein der rechten K6rperh~lfte. - Es konn- ten in frfiheren Arbeiten die krankhaften Erscheinungen bei der Metence- phalitis auf psychischem Gebiete wie auf dem der Motiliti~t und Sensi- bilitgt unter dem Funktions-Begriff einer ,,erschwerten Zuwendung" gemeinsam verstanden werden. Es konnte auch gezeigt werden, dab die erschwerte Zuwendung, ganz entsprechend dem gelegentlichen Vor- kommen fiberwiegend halbseitiger Motilit~ts-St6rungen, auch fiir die- an der Sensibilitgt abzulesenden Besonderheiten halbseitig in Erschei- nung tritt. Sie bestehen darin, dab bei der Reizhaar-Funktions-Priifung die anf~nglich normalen Werte ziemlich bald yon zunehmend h6heren Fehlwerten gefolg~ werden, ganz Khnlich wie bei der gew6hnlichen pathologischen Ermfidung. Nun gibt es aber verschiedene MaBnahmen. um die hohen Fehlwerte, d .h . bei der Encephalitis die nachlassende Zuwendung alsbald wieder zur Norm zuriickzuffihren. Dazu geh6rt u. a. die einfache, abet eindringliche Aufforderung zur Aufmerksamkeit auf die gereizte K6rperstelle. (Dal3 diese Mal3nahme sich nicht psychisch aUein verstehen lgBt, wurde dort mit gewichtigen Grtinden belegt.) Nach wieder erlangter Zuwendung bleiben die Werte jedoch nur kurze Zeit normale, um ziemlich bald wieder zu hSheren Fehlwerten anzu- steigen; und dann 1KBt sich das Schauspiel beliebig wiederholen.

Tabelle 5. Beispiel liar zwei verschiedene Schddigungen des Hirnes:

1. Occipital-Verletzung rechts. 2. Metencephalitis links (>>rechts) mit entsprechender halbseitiger ,,Zuwen-

dungs-St6rung". Bei ! erfolgt jeweils Aufforderung zu genauerem Aufmerken.

rechts: 1,1,1,1,2,2,2,2,1,7 !1,1,1,1,1,2, I3 ! l , l , l , l , l , 1, 1, 1, 2, 10 ! 1, 3, 13.

links: 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, l, 1, 1, 1, 3, 1, 1, 1, 1, 4, 5, ! >35.

Das Protokoll der Tabelle 5 zeigt nun dieses Verhalten sehr anschau- lich fiir die rechte, d. h. fiir die yon den encephalitischen St6rungen ganz fiberwiegend betroffene K6rperseite. - - Auf der linken Seite dagegen ist yon einer erschwerten Zuwendung nichts zu bemerken. Die ersten 18 Glieder stellen, nur einmal yon dem Fehlwcrt 3 unterbrochen, normale Werte dar. Nun steigen sie auf4 und 5 an. Aber die jetzt erfolgende energi- sche Aufforderung zum Aufmerken ~ndert nichts daran ; vielmehr mani- festiert sich der weitere Verlauf bier als eine veritable und komplette pathologische Ermiidung, die auch dutch noch weitere Aufforderungen zur Aufmerksamkeit nicht beeinfluBt werden konnte.

Wir mtissen nun noch auf die 32 F~lle mit Verletzungen dcr Zentral- Region eingehen, ffir welche die Tabelle 6 4 Beispiele gibt. Aus ihnen kann man ohne ni~here Erkl~rung ersehen, dal3 Hirnverletzungen mit

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Zur Frage einer Grundfunktion des Hirnes nach Reizhaaruntersuchungen. 117

mani fes ten Sensibil i t i~ts-StSrungen durchaus n icht besonders grobe Funk t ions -S tS rungen aufzuweisen brauchen. Ja , es sei ausdrf ickl ich be tont , daI~ es kein Zufal l und keine Angelegenhei t der Auswahl dieser 4 Beispiele ist, dal~ die Funk t ions -S tS rungen (im Sinne einer pa thologi - schen Ermi idung) bier eher geringere sind als ceteris pa r ibus (Ausdehnung des Hirndefektes) bei den anderen F/~llen. - - Die Tabel le 7 g ib t die jeweil igen HSchs t -Fehlwer te , die bei diesen 32 K r a n k e n v o r k a m e n

Tabelle 6. Beispiele ]fir relative UnabMingigkeit yon Sensibili~tsst6rung und Funktionsst6rung.

I. Verletzung : Central-Region rechts oben. Pelziges Gefiihl auf der ganzen linken Seite. ttemihypi~sthesie auf der ganzen linken Seite fiir alle Qualit~ten. Stereognosis links stark erschwert: Diskrimination am Unterarm: rechts = 1,2 cm (normal) links = 3,0 cm. R. I-L-Funktionspriifung mit Sp. 7 (Unterarme).

rechts: 1,1,1, l , l , l , l , l , 2 ,1 ,1 ,1 , l , l , l , l , l , l , l , l , 1. links: 2 , 1 , 2 , 1 , 1 , 1 , 1 , 3 , 1 , 2 , 1 , 1 , 1 , 1 , 3 , 2 , 1 , 1 , 1 , 2 , 1 , 2 , 2 .

lI. Verletzung : Central-Region links. Hyp~tsthesie im rechten Arm, inkl. Vibrationsempfmden. Gelenksensibilit/~t im rechten Arm und im rechten Bein herabgesetzt. Diskrimination: linker Unterarm = 1,4 cm; rechter Unterarm = 1,7 cm. R. H.-Funktionspriifung mit Sp. 7 (Unterarme).

rechts: 1 , 1 , 1 , 1 , 3 , 2 , 2 , 3 , 1 , 3 , 1 , 3 , 2 , 2 , 1 , 3 , 2 , 2 , 2 , 8 . links: 1, 1, 1, 1, l , 1, l, 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, l , 1, l, l, 1, 1.

]II . Verletzun9: Centro.parietal rechts. ttypi~sthesie der ganzen linken Seite, besonderes Betroffensein der ulnaren I-IMfte der linken Hand und angrenzendem Unterarm. Diskrimination am Unterarm rechts = 1,3 cm, links -- 1,8 cm. Reizha~rz~hlwert (mit Sp. 7) rechts = 20/20 {normal;) links = 9/20!

R. H.-Funktionspriifung mit Sp. 7 {Unterarme oben). rechts: 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 . links: 2, 1, 3, 4, 4, 3, 3, 1, 5, 1, 3, 4, 4, 4, 6, 4, 3, 2, 2, 1, 2, 2, 2, 6, 3.

IV. Verletzung: Central-Region oben rechts. Mittelstarke Hyp~sthesie der ganzen linken Seite, besonderes Betroffensein des Unterschenkels und des Unterarmes. Gelenksensibilit~t am linken FuB aufgehoben, an der linken Hand m~Big stark herabgesetzt. Reizhaarziihlwert (Ellenbeuge) rechts 20/20; links 8/20. R. H.-Funktionspriifung mit Sp. 7 (Ellenbeuge).

rechts: 1,1,1, l , l , l , l , l , l , l , l , l , l , l , l , l , 2, 3 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 , 1 . ! links: 2, 2, 4, ], l , 4, 9, l , 2, 1, 2, 1, 6, 1, 3, 2, 6, 15, 1, 7, 7, l , 6, 1, 15.

wieder. Dazu ist noch Folgendes zu bemerken : Die Unte r suchung erfolgte ja in einem von vornhere in hyp~s the t i schen Gebiete, also mi t schon k r a n k h a f t n iedr igen Z~hlwerten. Das bedeute t , dal~ schon im Beginne der Funk t ionspr t i fung die W e r t e oft fiber 1 l iegen muBten. Da die Unte r suchungen si imtlich an der Beugesei te der Un te r a rme vor- genommen wurden, fiel m a n c h m a l die Reizstel le sogar in das Gebie t der s t i i rks ten Hypas thes ie . - - Wenn wir sonst Grund haben, Sensibi l i ta ts-

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118 Konrad Zucker:

und Funkt ions-St6rung als von einander unabhangige Gr61]en anzu- sehen, dann mtissen yon den 4 fiber 30 liegenden Fehlwerten 3 nicht unbedingt als Ausdruck einer komplet ten pathologischen Ermfidung angesprochen werden. Das l~Bt sich auch direkt zeigen an Fallen mit starker Sensibilit~tsst6rung, dann namlich, wenn man mit entsprechend starkeren Reizen untersucht , wie in dem folgenden Fall, der als schwerer

Tabelle 7. H6chst-Fehlwerte der R.-F.-Pr. bei Verletzungen der Zentral-Region.

Die Zahlen in ( ) sind die Anzahl der Glieder der Reiz-Serie. i. h. G. ~ Die Reizungen erfolgten im Gebiet der st~rksten Hyp~sthesie. -- Gereizt mit Sp. 7.

c .p. 3 (20) c.p. lO (40) c. a.-b p. 3 (20) C.p. 10 (30)

C.p. 3 (25) C.a. 11 (30) C.a. 3 (50) C.p. 12 (30) C.p. 4 (20) C . a . + p . 12 (50) C.p. 5 (20) C.a .~-p . 13 (20)

C. a. + p. 5 (25) C.a. 13 (50) C.p. 6 (25) C . a . + p . 14 (20) i .h .G.

C . a . ÷ p . 6 (32) C.a .~-p . 15 (25) C.a. 6 (50) C.p. 16 (20) i. h. G. C.a. 6 (50) C.a. 19 (20) C.a. 6 (50) C . a . - - p . 20 (20) i .h .G. C.p. 7 (25) C.p. >30 (27)

C. a. + p. 8 (20) C. a. + p.>30 (18) i. h. G. C.p. 9 (30) C.a. + p.>30 (16) i. h. G.

C. a. ~-p. 9 ( 3 3 ) C.p.>30 (13) i. h. G.

lficht unter die bisher erwahnten aufgenommen wurde: Nach dem Be- funde (keine Pyramiden-St6rung) mui~te der Herd nur die Centralis posterior betroffen haben. Der Reizhaar-Zahlwert f/it Sp. 7 am Unter- arm betrug 3/20, und die Funktions-Prf i fung mit Sp. 7 ergab die kurze Reihe: 3, 10, > 3 0 . Als dann aber mit s tarkerem Reiz, namlich 10 g Stachelborste, untersucht wurde, betrug entsprechend der Schwere der Sensibili tats-St6rung der Zahlwert zwar noch 12/20; Die Funktions- Prfifung aber ergab folgende Reihe: l, 2, l, 1, 3, 1, 1, 1, 2, 2, l, 2, 3, 1, 2, 1, 1, 3, 1, 4, 4, 3, 1, 2, 3, 4. - - l~echnet man die Reihe auf Zahl- werte urn, so ergibt sich, dab bis zum 17. Gliede der Reihe der Zahlwert noch ungefahr 12/20 betragt. Erst danach setzt eine zwar sichere, aber unverhaltnismaBig leichte pathologische Ermiidung ein.

Berficksichtigt man das Gesagte, dann liegen im Durchschni t t die Fehlwerte gerade in diesen Fallen auffallend tief, jedenfalls tiefer als fiberhaupt mit der Vorstellung vereinbar ware, dab Funkt ions- und Sensibilitatsst6rungen yon einander abhangig seien. J a in eirfigen Fallen (auf Tabelle 6 bei 1 und 3) kann man im Zweifel sein, ob man fiberhaupt yon einer pathologischen Ermtidung sprechen darf, oder ob es sich da nur um Streu-Werte innerhalb eines zwar gesunkenen, aber

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Zur Frage einer Grundfunktion des ttirnes nach Reizhaaruntersuchungen. 119

sonst konstanten Leistungs-Niveau handelt. Es muB zugestanden werden, dab das Bild, wie es etwa das Beispiel 3 bietet, dem einer peri- pheren Sch~digung mit ,,Rarefizierung" sehr ~hnlich sieht, und wie es in dieser Form tier Verteilung der Fehlwerte yon einer noch so gering- fiigigen Schi~digung auBerhalb der Zentral-Region bestimmt nicht zu erhalten ist. - - Im tibrigen ist gewiB auch in diesen 32 F~llen der Grad der pathologischen Ermiidung abh~ngig yon der Ausdehnung des Herdes bzw. der Sch~digung.

Ob aber dariiber hinaus die Eigenart der Zentralwindungen im physio- logischen Zusammenspiel der Hirnfunktionen in der augenf~lligen Diskrepanz yon Sensibilit~ts- und Funktions-St6rung eine Rolle spielt, das kann man schon naeh diesen Ergebnissen vermuten.

Theoretisches.

Eines ist sicher: Mit der Reizhaar-Funktionspriifung untersuchen wit nicht den Zustand der Sensibiliti~t eines Hirngesch~digten, sondern wir benfitzen die Sensibiliti~t lediglich als Indikator ffir eine etwa vorhandene Funktions-StSrung. Da erhebt sich natiirlich die Frage, ob denn die von uns als unspezifisch, jedenfalls als sinnesunspezi- fisch aufgefaBte Funktions- StSrung etwa nur mit Reizhaaren, d.h. an Hand der Sensibilit~t als Indikator nachgewiesen werden kSnne ? Das ist keineswegs so. - - Wenn z. B. Hirnverletzte so h~tufig berichten, dab sie wohl lesen k6nnten, dab das Lesen sie aber bald stark ermiide, und dab ihnen die Buchstaben verschwSmmen, so haben wires hier offenbar mit prinzipiell dem gleichen Vorgang einer pathologischen Ermiidung zu tun, dernur durch die sehr isolierte Beanspruchung einer anderen Sinnes- leistung ausgel6st wurde.

P. Christian u. W. Schmitz 2 sind dieser Erscheinung zun~chst bei Occipital-Verletzten, auch solchen ohne Gesichtsfeld-Einschr~nkungen, nachgegangen und konnten sie durch das Experiment erh~rten. - - Und eine sehr ausgedehnte Erfahrung an vielen Hunderten von Hirnverletzten lehrte mich, dab ihre Ermiidbarkeit bei geistigen Leistungen, was das AusmaB und was die Schnelligkeit ihres Eintretens (z. B. beim Kri~pelin- schen Rechen-Test) betrifft, parallel geht mit dem Verlauf, wie ihn das jeweilige Reizhaar-Protokoll aufweist.

Ffir eine funktionsanalytische Sicht sind solche Zusammenh~nge nicht fiberraschend; sie legen die Annahme einer einheitlichen aber un- spezifischen Gruncl/unktion des Hirnes nahe, auf welcher alle anderen, um als spezifische iiberhaupt in Erscheinung treten zu kSnnen, aufbauen. Sueht man nach einer Vorstellung fiir das Positive ihrer Leistung, so muB diese eine entsprechend sehr allgemeine sein; und man finder sie in der F~higkeit des ,,Isolierens". - - Wit sind uns bewuBt, dab wir, wenn wir die Grundfunktion ein Isolieren nennen, diese Behauptung zun~,ehst

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120 Konrad Zucker:

nur aus der Beobachtung ihres Versagens schSpfen. Solche Behaup- tungen k6nnen in die lrre ffihren, wie z. B. die alte Lehre yon den Hirn- Zentren. Jedoch genauer gesehen bleibt bei dem sehr allgemeinen Cha- rakter unserer Aussage kaum eine andere Qualifizierung denkbar, um so weniger als sie aul3erdem wirklich nut die einzig m6gliche Umkehr dessen ist, was wir aus ihrem Versagen beobachten kSnnen.

Sehen wir hier recht, dann mfil3te die Grundfunktion als ein Isolieren und die Ermfidung als ihr Versagen in allen anderen Funktionen des Hirnes wiederzufinden sein, da sie ja als unspezifisches Moment in jeder und zwar nicht nur in den Sinnesfunktionen enthalten ware. Oder anders gesagt: Es miiBte ihr Versagen oder ihr irgendwie vorhandener Mangel als im letzten Prinzip immer das Gleiche anschaulich werden k6nnen. - - Daftir sind wit nun einige Beispiele schuldig, die an sich nur eine andere Interpretat ion bekannter Tatsachen sind.

Es ist zu beachten, dab unsere neurophysiologischen Vorstellungen bis vor kurzem mit unreflektierter Selbstverst~ndlichkeit gehalten und geleitet blieben yon anatomischen Erkenntnissen. Danach erscheint bei den Hirngebieten mit somatotopischer Gliederung oder anderweitiger nach der Peripherie zu geordneter Entsprechung, also in erster Linie bei den Zentralwindungen, aber auch der Calcarina und der temporalen Querwindung die Funktion des Isolierens so augenf~llig, dal~ man sie a]s eine ftir diese Gebiete jeweils spezifische verstehen m6chte. Jedoch nehmen wir als Beispiel die motorischen Funktionen, so ist an jeder, sei es eine reflektorische, eine Ausgleich-Reaktion, sei es eine Massen- oder eine Einzelbewegung, das Spezifische daran nie das Isolieren sondern der irgendwie geleitete Bewegungs-Impuls oder dessen Hemmung, beides ausgehend yon einem spezifischen Zustand, dem Tonus. In dem, was wir etwa als Pyramiden-Leistung ansprechen, erh~lt durch die be- reitliegenden MSglichkeiten das Isolieren seine motorische Spezifizit~t. Zustande kommt sie durch den isolierenden Bewegungs-Entwurf, der Praxis, die sich jener M6glichkeiten bedient. - - Wie soll iibrigens schon in einem reflektorischen Vorgange ein Sehmerzreiz oder ein opti- scher oder akustischer Eindruck eine Bewegung ,,auslSsen", wenn er nicht zuvor das Spezifische seiner Sinnesqualiti~t, ja, - - und das gilt besonders ffir (lie ihren Weg iiber das Hirn nehmenden Vorgi~nge, - - wenn er nicht den spezifischen Rest, der ihm als einen ,,afferrenten" Vorgang anhaftet, verlor, um zu einem unspezifisch formativen zu werden ? - - Was es aber dabei zugleich mit dem Isolieren auf sich hat, das laBt sich aus Untersuchungen yon Christian (1. c.) entnehmen: ,,Reiz" sei im Grunde ein Obiekt, und ,,Empfindung" eine formal stark eingeengte Wahrnehmung. Beim Abtasten eines Gegenstandes 16sen durchaus nicht alle Empfindungen motorische Reaktionen aus, . Nur relevante Empfindungen wiirden herausgehoben (!) . Des sei

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aber etwas vSllig anderes als die automatisch ablaufende Elementar- eigenschaft eines Receptors. - -

Jenseits der Gebiete mit eigenem, peripher hin- oder herleitendem Stabkranz tr i t t das Unspezifische der Grundfunktion zunehmend deut- licher in Erscheinung. Und so kSnnen Bilder entstehen, die einem Defekt innerhalb des eigentliehen Projektionsgebietes ~hnlich sehen. Sie verhalten sich aber zu diesem, - - um ein sinnfi£11iges Beispiel zu w~thlen, - - wie das Spiel eines ungeiibten, schlecht ,,isolierenden" Klavier- spielers zu dem eines guten Spielers auf einem defekten Klavier. Wii, h- rend hier das relativ noch erhaltene Isolieren keine MSglichkeiten mehr findet, liegt dort der Vorgang des Isolierens selbst im argen. Wir sagen ,,relativ erhalten"; denn auch bei Defekten im Projektionsgebiete weist die wenn auch weniger deutlich auslSsbare Ermiidung auf eine unspezi- fische Funktion hin. (Vgl. die mitgeteitten Beobaehtungen fiber Reiz- haar-Funktionsprfifungen bei Sch/idigungen der Zentral-Region). Als Beispiele fiir die eben besagte .&hnlichkeit sei die motorische Apraxie genannt. - - Ferner: Die bei Defekten aul3erhalb der Zentralregion durch dauernd wiederholtes Reizen eines kleinsten Hautareals ausgelSste pathologische Ermiidung bleibt sehr oft nicht auf dieses beschr/i, nkt, sondern es ist dann ein mehr odor weniger ausgedehntes Gebiet von 1 ~ - - 8 cm Radius und darfiber mit yon der Ermiidung betroffen. Stein sprach dieses Ph/inomen als ein ,,Irradiieren" an. lVfan darf darunter nut nicht dem Wort zuliebe einen irgendwie aktiven Vorgang verstehen. Im Gegenteil, der aktive Vorgang, ni~mlich der des Isolierens, ist ffir das fragliche Gebiet, in dessen Zentrum sich die gereizte Stelle befindet, lahmgelegt. Es stellt aber dieses Gebiet ffir qualitativ andere Reize durchaus keinen blinden Fleck der Sensibiliti~t dar. Nur die Funktion, die den punktfSrmig gefiihrten uad gleichstark bleibenden Rinzelreiz sich abheben li~l~t vonder nicht gereizten Umgebung, ist innerhalb dieses Areals ermiidet. Und damit ist, je nach GrSi~e der , ,Irradiation" auch eine Heraufsetzung der Diskriminations-Grenze gegeben. - - Eine solche Verschlechterung der Diskrimination gehSrt nun aber bekanntlich auch zu den Symptomen einer durch Sch/idigung des Zentralis-Gebietes be- dingten wirlclichen Sensibilitiits-StSrung. - - In beiden Fiillen ist der Umstand derselbe, da[~ die 2 simultan gegebenen aber riumlich getrenn- ten Reize wohl ,,gefiihlt", aber nicht isoliert werden. Was ~ber im Falle der Zentralis-Sch/~digung iiberwiegend als spezifischer Defekt und yon einem pathologischen Zustand herrfihrend imponiert, das gibt sich jen- seits des Projektionsgebietes als unspezifische pathologische Funktion zu erkennen.

Die hier im Prinzip gemeinten Verhi~ltnisse lassen sich auf optischem Gebiete wiederfinden: Dal~ die Bedingungen fiir das Spezifische des Sehens, ffir die optische AuflSsungsmSglichkeit (yon der Retina abge-

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sehen), an die Sehrinde und ihre Strahlung gebunden sind, das ent- spricht mutatis mutandis den Verhi~ltnissen der motorischen Rinde bzw. der Pyramiden-Bahn. Und so fanden denn Christian u. W. Umbach a bei Occipital-Verletzten, soweit sie keine hemianopische StSrungen hatten, oder soweit man in den erhaltenen Gesichtsfeld-Resten untersuchte, die Sehsch~rfe an sich intakt. Jedoch, wie sich aus diesen Untersuchungen und auch aus vorangegangenen, die Christian mit W. Schmitz durch- ffihrte, ergibt, ist die Intaktheit der Sehleistung Hirnverletzter an eine im praktischen Leben kaum ftir einige Dauer gew~hrleistete Konstanz yon Bedingungen geknfipft. Einmal fand sich eine pathologische Er- miidung dergestalt, dab die Verschmelzung gegentiber flimmernden Lichtern viel frfiher als beim :Normalen eintrat, ,,Verkleinerung des Feldes ffihrt hier sturzartig zum Zerfall der zeitlichen Diskrimination". Und zum anderen mul3te im Bereiche kleinster Sehwinkel die Beleuchtungs- st/~rke eine ungeheuer viel grSl3ere als beim Normalen sein, oder umge- kehrt, bei geringerer Beleuchtungsintensit~t bestand ein besonders sch[echtes AuflSsungsvermSgen, gemessen an den rapid zunehmenden Sehwinkeln. Praktisch laufe das, so sagt Christian, darauf hinaus, dab der Hirngesch~digte die kleinen Differenzen yon Erhellung und Beschat- ruing, wie ~ie sich bei fast jeder T~tigkeit im Blickfeld ereignen, nicht gebiihrend ,,auszusteuern" verm6ge. - - Was demnach gem~13 der In- taktheit des Projektionsgebietes der Calcarina zustandsmdflig garantiert zu sein scheint, das erweist sich bei Belastung der (isolierenden) Funk- tion als gesch/~digt.

Wir brachten das Zuletztgesagte in Zusammenhang damit, dab jen- seits der eigentlichen Projektionsgebiete das Unspezifische der Grund- funktion zunehmend deutlicher in Erscheinung tritt , bzw. dab sich das Spezifische in einer Gesamtfunktion jenseits der Projektionsgebiete mehr und mehr verliert. Es kann sich diese Auffassung inso/ern (aller- dings nur insofern) an die yon Kleist 4 vertretene anlehnen, als er yon ,,hirnpathologischen" und ,,psychopathologischen" Abschnitten des Hirns spricht, wobei die letzteren, wie man auf seinen Hirnkarten sieht, die ersteren (die Projektionsgebiete) jeweils umgeben. W~hrend Kleist in seinen Arbeiten fiberwiegend auf das Spezi/ische an einer Hirn- funktion bzw. an den krankhaften Ausf~llen ausgerichtet blieb und so zu seiner Lokalisationslehre gelangte, suchen wir gerade das Unspezi- /ische zu verfolgen. - - Ahnliche Bestrebungen lagen bereits den Arbeiten von Joflmann, Wolpert, Boumann u. Griinbaum, Biirger.Prinz, Zucker, vor allen natiirlich denen von Goldstein zugrunde. Ihnen gemeinsam war die Sicht, alle als verschiedene Einzelsymptome imponierenden Ausfallerscheinungen eines bestimmten Krankheitsfalles auf eine ge- meinsame Funktionsst6rungs-Formel zu bringen. - - Das Ziel, auf diese Weise zu einer, sich auf alle Gebiete des Hirns erstreckenden ~bersicht

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Zur Frage einer Grundfunktion des Hirnes nach Reizhaaruntersuchungen. 123

yon StSrungsformeln zu gelangen, wird - - neben anderen - - noch lange Zeit die Funktionsanalyse besch~ftigen. In dieser Suche, wie sie bis- lang verfolgt wurde, lag schon die deutliehe Tendenz, sich yon der spe- zifischen Material-Einkleidung einer StSrung, wie sic den bunten Bil- dern der Aphasien, Apraxien, Agnosien und Alexien usw. gegeben war, zu 15sen, um nach der jeweils abstrakten Struktur der St6rung zu fahn- den. - - Bei solchem Vorhaben kann die Frage nach einer allem zugrunde liegenden, d. h. abet yon allen Lokal-Momenten befreiten Grundfunktion bzw. ihrer StSrung nicht nebens/~chlich sein.

Biirger-Prinz und M. Kaila 5 sagen in ihrer funktionsanalytischen Untersuchung des amnestischen Symptomen-Komplexes: ,,Man vergal~ immer, dab lokale Ermiidung, Ermiidung fiir einen bestimmten, z. B. Auffassungsprozel] durchaus keine allgemeine bedeutet. Bei einer Be- anspruehung an anderem Ort und fiir eine andere Funktion zeigt sich, dab der Organismus zun/tchst wenigstens durehaus nicht ,allgemein', sondern ,spezifiseh' ermiidet ist". - - In dieser Behauptung steckt zwar eine der Funktionsanalyse allgemein gel~ufige Erfahrung, die jedoch in dieser Formulierung leicht miBverstanden werden kann. ,,Spezifisch" kann die Ermiidung nut im Hinblick auf ihre lokal-bedingte Einkleidung genannt werden, denn an der Gesamtfunktion, wie sie Biirger-Prinz meint, ist es gerade das unspezifische Moment, welches ermiidet. Das ergibt sieh erstens daraus, dab alle Leistungen, die wir durch l~ngere einseitige Beanspruchung untersuchen, beim Hirngesch~digten in der stets gleichen Weise, n/tmlich durch ein versagendes Isolieren ermiiden, so dab wir bei ihm auf eine generelle, sich auf alle Funktionen erstreckende erhShte Ermiidbarkeit treffen. Zweitens: suchen wir das Isotieren aber dort auf, w o e s relativ am reinsten greifbar wird, wo es am wenigsten yon spezifischer Material-Einkleidung verr~t, n~mlich in abstrahierenden Denkvorg~ngen, dann stol~en wir auf den Kern der sog. Hirnleistungs- Schw/Cche, die wir schon lange als das unspezifischste Versagen bei den verschiedensten Hirnsch~digungen kennen.

Nach dem Gesagten h~tte man also an jeder Leistung des Hirns grunds~tzlich zu unterscheiden: einen spezifischen und einen unspezifi- schen Anteil. Ersterer ist gegeben durch den jeweiligen Zustand eines bestimmten Hirngebietes; und in der Gesamtfunktion bedeutet er das Material, in welches sich Letzterer, die isolierende Yunktion, kleidet bzw. nut kleiden kann. Nach der materialen Seite pflegen wir, im Falle eines Hirnherdes zu lokalisieren. - - Liegt der Herd in einem der Pro- jektionsgebiete oder deren Strahlungen, (hirnpathologische Abschnitte Kleists) so finden wir einen spezifischen Defektzustand, der sich als solcher sehon beim ersten Beginn einer geforder~en Leistung zu erkennen gibt. Je mehr sich der Herd yon diesen Gebieten entfernt, um so mehr t r i t t das mangelnde Isolieren als rasch ermiidende Funktion in Erschei-

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nung und umso schwieriger wird dann ja auch unser Lokalisieren. - - Wie ahnlich sich beides sehen kann, wurde vorhin zu zeigen versucht. Da$ die Darstellung dieses Verhaltnisses in hohem MaSe davon abhangig ist, auf welche Einzelleistungen man als Untersueher sein Augenmerk richter, dafiir seien noch einige Beispiele angefiihrt :

B e i retrozentralen Aphasien, vorziiglich natiirlieh bei der amnesti- schen, irren die Patienten mit ihren Entgleisungen bekanntlieh iiber- wiegend nut innerhalb einer bestimmten ,,Sphare". Diese kann sieh beziehen auf bedeutungsmaBig, aber aueh auf optisch, klanglich, ja bis- weilenauehauftakti lVerwandtes. Das besagt : Esist demPatientensofort eine und zwar richtige Sphare gegeben, aber innerhalb dieses Gebietes kann er ohne weiteres nicht isolieren. - - Hier also blicken wit zustands- maBig auf ein sehon im Beginn herabgesetztes Leistungs-Niveau. - -

Man kann nun beim gleichen Patienten den Versuch aueh anders einriehten: Man bietet ihm etliehe Gegenstande, darunter einen (a), den er bei den verschiedensten Gelegenheiten immer riehtig benannte. Dureh Zeigen fordert man nun die Bezeichnung durch den Pat. in der Folge, dab alle iibrigen Gegensti~nde in dem Versuch nut 1 real, a dagegen bei jedem zweiten oder drit~en Male gefordert wird, mit dem sehr oft zu beobaehten- den Erfolg, dab der Pat. schon beim vierten oder ftinften Male a nicht mehr benennen kann; d.h. er ermiidete ftir a, und irrt sich nun irgendwie in der Sphere. - - Hier haben wir die (isolierende) Funktion gepriift. - - Die Falle yon Biirger-Prinz konnten zuni~chst sehr wohl die Farben rot und blau auf Papieren yon je 20 em Quadratfl~ehe erkennen und benennen. Wurde aber der Versuch mehrfaeh mit wechselnder GrSBe der Farbfli~chen wieder- holt, , ,dana auf einmal setzten die BenennungsstSrungen ein", und Biirger-Prinz w~hnte dabei selbst sehon, dab ,,eine allgemeine Ermii- dung nicht ausgesehlossen werden konnte" .

DaB bei Schadigungen der Centralis anterior bzw. des Pyramiden- Systemes, wo darm nut Massenbewegungen mSglich sind, ein Defekt- Zustand vorlieg~, ist offensiehtlich. Es lagt sich abet aueh das Ph~nomen der Ermiidung im Sinne des Versagens der isolierenden Funktion in der Centralis anterior selbst sogar demonstrieren : Reizte F6rster 6 den Dau- men-Focus der C.a. etliehe Male hintereinander, so reagierte yon tier ersten his vierten Reizung nut der Daumen, bei der f'tinften Reizung reagierte dieser nut noeh angedeutet, dafiir abet die iibrigen Finger (!). Sparer f ie lder Daumen ganz aus, um erst bei der elften wieder isoliert zu reagieren. - - DaB es der unphysiologisehen Beanspruehung des Daumen-Foeus zuzusehreiben ist, dab diese Erseheinung sieh dar- stellte, wird gewi$ zutreffen, andert abet niehts an dem behaupteten Prinzip. - - Sieht man yon der spezifisehen Material-Einkleidung ab, dann las t sich dieses Prinzip als dasselbe erkennen wie in den vorauf-

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Zur Frage einer Grundfunktion des Hirnes nach Reizhaaruntersuchungen. 125

gegangenen Beispielen und in dem der pathologisehen Ermtidung bei der Reizhaar-Funktionspriifung, v o n d e r hier ausgegangen wurde.

t)berall im krankhaften Hirngeschehen t r i t t uns diese r unspezifische Funktions-Defekt entgegen, allerdings in vielfach wechselnder Form und in verschiedenster Einkleidung. Die Aussagen, der Hirngesch~- digte sei ein konkreter erlebender Mensch geworden, er sei auf Umwege oder auf komplexe Leistungen, bzw. auf ,,sinnliche Anreicherungeu" angewiesen, (lie abst.rahierenden F~higkeiten seien erschwert, sein Z/~sur-Erleben (bei Frontal-Sch/~digungen) sei gest6rt, sind alle m~r andere Ausdriicke ffir einen, in vielf/~ltigster Weise un(t an mannig- faltigen Substraten sich i~ul~ernden Mangel an isolierender Funktion. - - In besonderer Form finden wir ihn in den bekannten ,,Syn/£sthesien" bei Intoxikationen (Fieber, Meskalin, Haschisch), und in den sogenannten Kontaminationen des verzSgerten Erwachens.

Und endlich sei noch ein - - allerdings sehr globaler - - Hinweis ge- geben: Es konnte a. a. 0. 7 dargelegt werden, daf3 in unserem Erleben die ,,Bedeutungen" ihren Ursprung nehmen aus den ungeformten basa- len Affekten. Sie stellen demnach ,,Isolate" aus diesen dar, und er- halten ihre spezifische Formung dadurch, dal~ sie an jeweils ganz be- s t immte anschauliche Gehalte gebunden werden. - - Damit w/~re, jeden- falls fiir die Funktionsanalyse, ein Weg gegeben, auch pathologische Veri~nderungen des affektiven bzw. des Bedeutungs-Erlebens, etwa bei der Ratlosigkeit oder ihrem leichtesten Grade, dem sog. ,,Verhangen- sein" bei Hirnverletzten, in ihre Untersuchungen einzubeziehen*. Die bekannte , ,Katastrophen-Reaktion", die beim Hirnverletzten nach ~berforderung und als Ausdruck sti~rkerer Ratlosigkeit einsetzt, kann als Beispiel fiir das Versagen des Bedeutungs-Erlebens bzw. als ein Irradi ieren auf den unausgestalteten basalen Affekt der Angst gelten. ~hnliches l~l~t sich fiir die Verh~ltnisse bei der sogenannten Reizbarkeit des Hirnverletzten wie auch des Arteriosklerotikers sagen

Auf der anderen Seite geht jeder Neuerwerb zun~chst mit einem Isolieren einher : Wir denken an die Motorik des Si~uglings, die mit bila- teral symmetrischen Massenbewegungen beginnt . . . Wenn v. S e n d e n ~

berichtet, dal~ die durch Operation sehend gewordenen Blindgeborenen fiir die erste Zeit niehts als ein ,,zittriges, unscharfes Farbenehaos" wahrnehmen, in welches erst ganz allmi~hlich Struktur und Ordnung hineinkommt, d. h. also Einzelheiten isoliert werden, so kann man aueh hier sagen: Gesehen wird schon, aber noeh nicht isoliert. - - Der Weg, den das rationale wie auch das abstrahierende Denken ausgehend von dem komplexen Denken des Kindes einerseits und von dem Denken in Komplexen des Primitiven andererseits n immt bzw. nahm, besteht

* Experimentelle Ans~tze dazu finden sich bei B i i r g e r . P r i n z u. M . K a i l a 1. c.

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126 Konrad Zucker: Grundfunktion des Hirnes nach Reizhaaruntersuchungen.

ebenfa l l s in e inem s t~ndig we i t e r f o r t s c h r e i t e n d e n Iso l ie ren . Die ver -

s ch iedenen S p r a c h e n u n d Begr i f f sb i ldungen der VSlker legen Zeugnis

daff i r ab, e inmal , welche l~ ich tung das I so l i e ren n a h m , und wie we i t es

jewei ls v o r g e t r i e b e n wurde . Dasse lbe g i l t in noch h S h e r e m Ma•e y o n

d e m W e r d e n der v e r s c h i e d e n e n Schr i f t en l°.

Z u m Schlul~ sei be ton t , dal] h ier nu r v o m Isolieren als der unspezi]i-

schen Grund-Funk t ion des Hirnes gesp rochen wurde . A u f d e m Iso l ie ren

b a u t e rs t die S y n t h e s e auf. Die s y n t h e t i s c h e n F u n k t i o n e n s t ehen a u f

e inem a n d e r e n B la t t , y o n i hnen w u r d e hier n i ch t g e h a n d e l t .

Literatur.

1 Beziigl. Reizhaar-Untersuchungen wird hingewiesen auf: Stein: Dtsch. Z. Nervenhk. Bd. 80. - - Stein u. v. Weizsdcker: Dtsch. Z. Nervenhk. Bd. 99. - - v. Weizsiicker: Handb. Neur. 1937 b. Springer Bd. I I I , 2. --Zucker: Z. 5Teur. Bd. 140. - - Msehr. Psychiatr. Bd. 84. - - Z. Neur. Bd. 142. - - Z. Psyehiatr. Bd. 106. - - Ffir Methodik: Allg. Z. Psychiatr. Bd.106. - - 2 Christian, P., u. W. Schmitz: Dtsch. Z. Nervenhk. Bd. 154. - - 3 Christian, P., u. W. Umbach: Dtsch. Z. Nervenhk.Bd. 158. - - 4 Kleist, K.: ,,Gehirnpathologie", Leipzig 1934. - - Verh. Ges. dtsch. Neu- rologen u. Psychiater b. Springer 1937. - - 5 Biirger-Prinz u. M. Kaila: Z. Neur. Bd. 124. - - 6 F6rster, 0.: Handb. Neur 1937 b. Springer, Bd. VI, S. 57. - - 7 Zucker: ,,Vom Wandel des Erlebens", Heidelberg 1950, Allgem. Tell. - - s 1. c. - - 9Sen- den, M. von: ,,Raum- und Gestaltauffassung bei operierten Blindgeborenen- ", Leipzig 1932. - - 10 Petrau, A. : ,,Schrift und Schriften im Leben der VSlker". Jahr u. Verlag nicht erkennbar. Weitere Literatur kann beim Verfasser angefordert werden.

Prof. Dr. Konrad Zucker, (17a) Heidelberg, KarlstraBe 6.

Berichtigung des N a c h r u f s a u f P ro fe s so r Dr . B. Brouwer (Dtsch . Z. N e r v e n h e i l k .

B a n d 164, S. 317- -320) .

D u r c h ein Ve r sehen w u r d e der V o r n a m e y o n P ro fe s so r Dr . Brouwer

im N a c h r u f als B e n j a m i n angegeben , sein w i rk l i che r V o r n a m e is t

Bernardus . G. Schaltenbrand.