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Zur Kenntnis der lyophilen Kolloide. XII. Mitteitung. Der Charakter der elektrischen Erscheinungen. Von H. R. Kruyt und H. G. Bungenberg de Jong. (Eiagega~gen am 28 Oktober 1931.) In unseren w~thrend des letzten Dezenniums gesondert bzw. ge- meinschaftlich ver6ffentlichten Abhandlungen betonten wir fortw~hrend mit groflem Naehdruck, dab die elektrischen Erscheinungen, welche bei lyophoben sowohl wie bei lyophilen Kolloiden auftreten, denselben Charakter haben. Zahlreiche Forscher haben auf den engen Zusammen- hang hingewiesen, welcher zwischen dem elektrischen Verhalten der lyophoben Kolloide und den Vorg~ngen besteht, welche man als kapiilar- elektrische bzw. elektrokinetische bezeichnet. Zu diesen gehSren be- kanntlich die Elektroendosmose (Perrin, Elissafoff, Labes), die Elektrophorese (Hardy, Burton, Powis und viele andere), sowie die Strtimungspotentiale (Kruyt, Freundlich und Ettisch). Cha- rakteristisch ftir diese Vorglinge ist der tiberproportionale EinfluB der Valenz des entgegengesetzt geladenen Ions (Schulze-Hardysehe Regel), sowie der spezifische EinfluB der Adsorbierbarkeit (yon Farb- stoff-, bzw. Sehwermetallionen usw.). Das Problem des elektrischen Verhaltens der lyophoben Kolloide wird infolgedessen auf kapillarelektrische bzw. elektrokinetische Vor- giinge zurtickgeffihrt, d.h. also auf VorgAnge, welche sich an einer Phasengrenze, an einer polymolekularen Oberfl~ehe abspielen. Einer- seits bildet die 1879 von Helmholtz gegebene Theorie eine sichere Grundlage ffir das physikalische Verst~ndnis dieser Vorg~nge, ander- seits bemtiht man sich noeh heute, eine Theorie aufzustellen, welche den Mechanismus der Wirkung yon Elektrolyten auf jene VorgS~nge v611ig beschreibt. Freundlieh versuchte dies 1907, indem er die Wir- kung der Elektrolyte v611ig auf einen Adsorptionsvorgang zurfiekffihrte; infolgedessen war es m6glich, die Schulze-Hardysche Regel und deren Abweichungen in demselben Gedankengang unterzubringen.

Zur Kenntnis der lyophilen Kolloide

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Zur Kenntnis der lyophilen Kolloide. X I I . M i t t e i t u n g .

Der Charakter der elektrischen Erscheinungen. Von H. R. K r u y t und H. G. B u n g e n b e r g de Jong .

(Eiagega~gen am 28 Oktober 1931.)

In unseren w~thrend des letzten Dezenniums gesondert bzw. ge- meinschaftlich ver6ffentlichten Abhandlungen betonten wir fortw~hrend mit groflem Naehdruck, dab die elektrischen Erscheinungen, welche bei lyophoben sowohl wie bei lyophilen Kolloiden auftreten, denselben Charakter haben. Zahlreiche Forscher haben auf den engen Zusammen- hang hingewiesen, welcher zwischen dem elektrischen Verhalten der lyophoben Kolloide und den Vorg~ngen besteht, welche man als kapiilar- elektrische bzw. elektrokinetische bezeichnet. Zu diesen gehSren be- kanntlich die Elektroendosmose (Perrin, E l i s sa fof f , Labes), die Elektrophorese (Hardy , Bur ton , Powis und viele andere), sowie die Strtimungspotentiale (Kruy t , F r e u n d l i c h und Et t i sch) . Cha- rakteristisch ftir diese Vorglinge ist der tiberproportionale EinfluB der Valenz des entgegengesetzt geladenen Ions (Schu lze -Hardysehe Regel), sowie der spezifische EinfluB der Adsorbierbarkeit (yon Farb- stoff-, bzw. Sehwermetallionen usw.).

Das Problem des elektrischen Verhaltens der lyophoben Kolloide wird infolgedessen auf kapillarelektrische bzw. elektrokinetische Vor- giinge zurtickgeffihrt, d.h. also auf VorgAnge, welche sich an einer Phasengrenze, an einer polymolekularen Oberfl~ehe abspielen. Einer- seits bildet die 1879 von H e l m h o l t z gegebene Theorie eine sichere Grundlage ffir das physikalische Verst~ndnis dieser Vorg~nge, ander- seits bemtiht man sich noeh heute, eine Theorie aufzustellen, welche den Mechanismus der Wirkung yon Elektrolyten auf jene VorgS~nge v611ig beschreibt. F r e u n d l i e h versuchte dies 1907, indem er die Wir- kung der Elektrolyte v611ig auf einen Adsorptionsvorgang zurfiekffihrte; infolgedessen war es m6glich, die Schu lze -Hardysche Regel und deren A b w e i c h u n g e n in demselben Gedankengang unterzubringen.

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G o u y deutete den Einflutl der Ionenvalenz auf Grund statisch elek- trischer Betrachtungen, wAhrend S t e r n (1926 i versuchte, diese Theorie welter auszubauen, indem er die Adsorption der Wand als gesondertcs Potential einftihrte. S m o l u c h o w s k i vertiefte 1914 unseren Einblick sehr wesentlieh, indem er scharf unterschied zwischen den Gr6ilen, welche F r e u n d l i c h sp~iter mit den Namen e- bzw. ~'-Potential belegte. Ungeachtet dieser vielseitigen Anstrengungen dtirfte dennoch niemand befriedigt sein : es liegt hier sowohl ftir die Theorie wie ftir das Experiment noch ein weites Feld zur Bearbeitung often.

Obwohl wir somit den engeren Feinmechanismus des Elektrolyt- einflusses auf die elektrischen Grenzfl~ichenerscheinungen nicht v611ig zu durchschauen imstande sind, diirfte dennoch jeder Kolloidchemiker davon fiberzeugt sein, dab ein inniger Zusammenhang zwischen diesen zwar nicht nach allen Richtungen verstandenen, abet dennoch gut be- kannten elektrischen Oberfl~ichenvorglingen und dern Verhalten der Kolloide, wenigstens der ]yophoben Kolloide, existiert. Die Tatsache, dab diese Vorg~inge abet auch bestimmend sind ftir das elektrische Ver- halten der lyophilen Kolloide, war 1920, als wir unsere Untersuchungen anfingen, keineswegs Gemeingut. Zwar betonte der eine von uns stets die M6glichkeit einer derartigen Auffassung in seinen Vorlesungen, doch waren es erst unsere experimentellen Erfahrungen der Jahre 1920 und 1921, welche uns v o n d e r Riehtigkeit dieser Auffassung v6tlig fiber- zeugten. Wit fiihlten damals, daft dieser Standpunkt ein sehr revo- lution~irer war, da ja die hervorragendsten Forscher auf dem Gebiete der Eiweit3chemie einen v611ig anderen vertraten. Wir nennen hier S 6 r e n s e n , B r a i l s f o r d R o b e r t s o n in seinem bekannten Lehrbuch ,,Physikalische Chemie der Proteine", Wo. Yaul i , der noch in dem Jahre 1920 in seiner zusammenfassenden ,,Kolloidchemie der Eiweifi- k6rper" das Problem der Eiweiflstoffe g~inzlich auf das klassische Problem der Elektrolyte zurtickftihrte, und J a c q u e s L o e b , welcher in seiner 1918 angefangenen Reihe yon Ver6ffentlichungen im Journal of general Physiology ohne irgendwelchen Vorbehalt die Bedeutung von Grenzfl~iehenvorg~ingen im Verhalten yon Eiweit3systemen v611ig ablehnte.

Zwei Tatsachen frappierten uns sowohl an und fiir sich wie wegen ihrer Konsequenzen. A_Is erste nennen wir das Zutreffen der S c h u l z e - H a r d y s c h e n Regel, wenn es den EinfluI~ gilt, den Elektrolyte auf die Viskositiit tiben, speziell im Falle der geringen Konzentrationen. Als zweite sei hier genannt der restlos lyophobe Charakter lyophiler Systeme naeh Zusatz eines wasserentziehenden Stoffes. Die erstgenannte Tat-

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sache liet3 sich mit der y o n S m o l u c h o w s k i s c h e n Theorie des quasi-

viskosen Effektes (wit ziehen den Ausdruck elektroviskosen Effekt vor) deuten. 1) Was die zweite betrifft, so stellte sich heraus, daft dieselbe bereits frtiher, von O. S c a r p a ~) beobachtet war. Dieselbe bestiitigte das Vorhandensein eines Zusammenhanges zwischen lyophilen und |yophoben Kolloiden. Es wurde bier also eine vollkommene Verwandt- schaft zwischen lyophilen und lyophoben Kolloiden, somit auch mit kapillarelektrischen VorgAngen festgestellt, wghrend irgendein Zu- sammenhang zwischen den beobachteten Erscheinungen und Elektrolyt- ]6sungen nicht vorhanden war.

,,Das elektrische Verhalten des Agarsols", so lauteten unsere Worte in unserer diesbeztiglichen Abhandlung3), ,,ist demjenigen eines Sus- pensoids vSllig gleichzustellen" und wir stehen auch heute noch auf diesem Standpunkt . 4)

Was ist nun an sich das elektrische Verhalten eines Suspensoids? Auf Grund des soeben mitgeteilten ist diese Frage eine Variante auf folgende: welches ist das elektrische Verhalten einer Wand, an der slch ein kapillarelektrischer Vorgang abspielt, d .h . also welches ist der elektrische Charakter eines E-Potentials? Diese Frage fiihrt uns somit ohne weiteres in das Problem der K o n s t i t u t i o n de r e l e k t r i s c h e n D o p p e l s e h i c h t .

Der eine yon uns (H. R. K r u y t ) hat in seinem Lehrbuche (Ein- fiihrung in die physikalische Chemie und Kolloidchemie, holl~ndische Ausgaben Amsterdam 1924, 1925, 1926 und 1929; deutsche Ausgabe, Leipzig 1926, sowie in dem Lehrbuche Colloids, Ausgaben Newyork 1927 und 1930, Chapter VI) seine (unsere) Auffassungen in dieser Materie mehrma|s er6rtert. Wir sagen nachdrticklich ,,Auffassungen", well auch auf diesem Gebiete das letzte Wort keineswegs gesprochen wurde und wir auch nicht Anspruch darauf erheben, imstande zu sein, dieses Wort

1) Wit haben stets v. Smoluchowskis Namen im Zusammenhang mit diesen Erscheinungen genannt, weil ursprfinglich nur seine Abhandlung uns bekannt war. Wo. Ostwald hat uns darauf aufmerksam gemacht, dal~ Hardy der erste war, der auf die Notwendigkeit eines Zusammenhanges zwischen Ladung und Viskosit/it hingewiesen hat [Ztschr. fi physik. Chem. 88, 398--399 (1904)1; ferner lenkte Wo. Ostwald unsere Aufmerksamkeit auf die yon ihm in seinem ,,GrundriB der KoUoidchemie" (1911), S. 211, 250 u. 260 fiber diese Materie ent- wickelten Ansichten, sowie auf die Tatsache, dab er sich an v. Smoluchowskis Abhandlung beteiligt habe in einer ausfiihrlichen Korrespondenz im Jahre 1916.

2) O. Scarpa, Koll.-Ztschr. 15, 8 (1914). 3) Ztschr. f. physik. Chem. 100, 250 (1922). *) DaB eine weitgehende Ahnlichkeit zwischen Suspensoiden und Emulsoiden

existieren muB, wurde iibrigens seitens Wo. Ostwald 1919 betont. Koll.- Ztschr. 26, 80 (1919).

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zu sprechen. Solange die Exist enz einer Doppelschicht sich nicht mittels direkter Beobachtung nachweisen l~iI3t, bleibt man gezwungen, jegliche Sehltisse auf Grund indirekter (lberlegungen zu ziehen mit der Sub- jektivitat, welche letzteren innewohnt.

Die Ionen, welche die Doppelschicht bilden, werden entweder infolge einer Adsorption aus der intermizellaren Fltissigkeit in die Oberfl~iche gebracht oder durch das Material der Wand selbst, je nach- dem in Wechselwirkung mit den Bestandteilen der intermizellaren Fltissigkeit. HgS wird peptisiert yon H~S, wobei die Schwefelionen als Innenbelegung, die Wasserstoffionen als Auflenbelegung auftreten. SnO~ dagegen wird yon KOH peptisiert infolge der Wechselwirkung der ~uBeren SnO2-Molekeln des Teilchens mit KOH, wobei SnOsH- Ionen die Innenbelegung, die K-Ionen die AuBenbelegung erzeugen.

DaIt das Goldsol mit seiner Auratdoppelschicht diesem Typus an- gehSrt, ist zweifelsohne aus den Untersuchungen yon P a u l i hervor- gegangen. Entspreehendes gilt ftir das Pt-Sol nach den Untersuc!mngen yon Y e n n y c u i c k , und zahllose andere Sole lieBen sich flier nennen. Lrbrigens ist es nicht immer leicht mit Sicherheit zu sagen, welche Ionen die Doppelsc!aicht bilden, und man ist dann gen6tigt, sich mit der An- nahme zufrieden zu geben, daft dissoziierte Wassermolekiile die Doppel- schicht bilden: so z. B. bei Str6mungspotentialen yon Leitf~thigkeits- wasser in einer Paraffinkapillare. Weder das Material der Wand noch die Fliissigkeit, welche das Milieu bildet, lassen eine andere Annahme m6glich erscheinen.

Diese zweifache M6glichkeit, Adsorption yon Stoffen, welche dem Material des Teilchens gegentiber als Fremdstoffe zu betrachten sind, oder Mitbeteiligung der Molekeln der Grenzfl~che an dem Bau der Dop- pelschicht, haben wir auch im Falle der lyophilen Kolloide yon Anfang an im Auge behalten. In unserer oben zitierten Abhandlung des Jahres 199.2 wandten wit bereits das zweite Erkl~irungsprinzip an auf die Wechselwirkung zwischen Eiweitlstoffen und S~ture bzw. Alkali des Milieus: Als Konstituenten der Doppelschicht betrachteten wir auch damals die Molekeln der Grenzfl~iche, welche mit ihrer COO-Gruppe die negativ geladene, bzw. mit ihrer NH3-Gruppe die positiv geladene Innen- belegung der Doppelschicht bilden. Auch bei Nicht-Eiweit3stoffen er- kannten wir, falls die Tatsachen darauf deuteten, Oberfl~tchenionisierung als Arehitektur der Doppelschieht bei lyophilen Kolloiden an. Die Ab- handlungen von H. R. K r u y t und J. P o s t m a 1) (SiO~-Sol, vgl. dort

x) Rec. Tray. Chim. 44, 765 (1925).

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w und H. G. B u n g e n b e r g de J o n g und J. L e n s 1) (Arabischer Gummi und Lecithin) lassen dariiber keinen Zweifel.

Wit haben diese ~lteren Betrachtungen hier nochmals erw~hnt, well Au~Berungen yon anderen Seiten uns davon iiberzeugt haben, dab wir in dieser Angelegenheit miflverstanden sind. Zweifelsohne liegen prin- zipielle Meinungsverschiedenheiten zwischen Wo. P au l i und M. S a m e e einerseits und uns andererseits vor. Derartige Differenzen sind ver- st~ndlich und k6nnen f6rdernd for die Wissenschaft sein. Dieselben miissen dann aber klar ausgesprochen werden und sollen sich nicht be- fassen mit Punkten, fiber welehe tats/ichlich eine Meinungsverschieden- heir nieht vorliegt.

Es seien bier nur einige tier neueren .~uBerungen wiedergegeben: M. S a m e c schreibt in seiner soeben erschienenen Abhandlung2): ,,Wir stehen auf dem Standpunkte, dab die mit dem St~rke-Polysaccharid ge- koppelte Phosphors~ure sowie die im Agar gebundene Schwefels~ure ftir das Ausma~3 der Ladung wesentlich bestimmend ist, und sttitzen uns vielfach auf die Wo. Pau l i schen Ansichten iiber den Aufbau der Kol- loidionen; H. R. K r u y t und seine Schule hingegen sehen bei den Poly- sacchariden kapillarelektrische Ph~nomene als maflgebende Aufladungs- faktoren an und glauben die Beteiligung der am Kolloid festhaftenden Phosphat- bzw. Sulfationen gegeniiber den ersteren vernachl~ssigen zu k6nnen." Und auf Seite 9,76 nochmals: ,,H. R. K r u y t steht, wie er- w/~hnt, auf dem Standpunkte, dab die kapillarelektrische Aufladung bei den Polysacchariden der ausschlaggebende Faktor ist, und dab im Vergleich zu diesem der EinfluB der ionogenen Gruppen (Phosphors/iure in tier St/irke, Schwefels/iure im Agar) keiner besonderen Berticksich- tigung bedarf."

Hier wird somit zweimal ein ganz unwesentlicher Gegensatz be- tont: Ionen der Grenzfl~ichenmolekeln kontra kapillarelektrische Auf- ladung. Die Frage, ob tats~iehlich Phosphationen bzw. Sulfationen die Innenbelegung der Doppelschicht bilden, wollen wir bier auf sich beruhen lassen; wir haben indes niehts dagegen, dies fiir einen Augenblick v611ig zu akzeptieren. Es handelt sich dann aber um die Diskussion der Frage: W e l c h e s ind die K o n s t i t u e n t e n der D o p p e l s c h i e h t , w ~ h r e n d der soeben zitierte Passus den Eindruck erweckt, als handle es sich urn das Wes en der Doppelsehicht, urn die Frage also, welche elektrischen Eigen- schaften einer derartigen Schicht beizulegen sind, welches der Einflut3 zugesetzter Elektrolyte auf diese Schicht ist und schliet31ich, welche

l) Biochem. Ztschr. 225, 174 (1931). 2) Koll.-Beih. 38, 269 (1931}.

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Rolle dieser Schicht in der Stabilitiit des betreffenden Sols zuf/~llt. Dies

alles wird aber nicht best immt durch die Antwort auf die Frage, welches die K o n s t i t u e n t e n der Doppelschicht sin& Im Gegenteil, es ist (so- lange wenigstens unl6sliche Produkte, wie es z. B. beim SnO~-Sol der Fall ist, keine Roite spielen) ganz g l e i c h g / i l t i g , w e l c h e Ionen die Doppelschicht bilden. Es handelt sictl hier urn ganz andere Fragen, und zwar um die Potentialdifferenz zwischen der betreffenden Wand und der sie bertihrenden Fltissigkeit, um den Potentialfall in der Uber- gangsschicht, um die Dicke des unbewegten Teiles der Doppelschicht usw.

,,Das elektrische Verhalten des Agarsols ist demjenigen eines Sus- pensoids v611ig gleichzustellen." Dieser frtiher von uns aufgestellte Satz schlief3t in sich, dab wir prinzipiell auch nicht das geringste da- gegen haben, bei lyophilen Kolloiden eine Ionenbildung aus Oberfliichen- molekeln anzunehmen; im Gegenteil: das ist in v6lliger Ubereinstim- mung mit dem Bau des lyophoben SnO2-Teilchens.

Gelegentlieh der Besprechung yon S a m e e s verdienstvoller Arbeit schreibt Wo. P a u l i l ) : , ,In allen neueren kolloidchemischen Arbeiten steht die Frage nach dem Ursprung der elektrischen Teilchenladung immer mehr im Vordergrunde. Sie ist mit den angefiihrten Arbeiten yon S a m e c in mustergfiltiger Weise in dem Sinne geltist worden, dab es sieh bei den untersuehten h6heren Kohlehydraten um echte Kolloid- elektrolyte handelt, die ihre Aufladung einer Dissoziation ionogener Gruppen verdanken.

,,Vielleicht vermag nichts die Bedeutung dieser Befunde besser zu illustrieren als das Zitat aus einer zuf~ilig gleichzeitig mit der aufkl~iren-

den Untersuchung yon S a m e e am Agar erschienenen Arbeit yon K r u y t und de J on g, zweier Anh~inger einer nicht ionogenen, sondern kapillar- elektrischen Auffassung des Ladungsursprunges der lyophilen Kolloide. Diese Autoren sehreiben einleitend: ,,Wir haben nun ausftihrliche Unter- suchungen am Agarsol angestellt, das ein hi3heres Kohlehydrat und des- halb kein Elektrolyt ist, dennoch aber ein typisches lyophiles Sol liefert."

Auch hier wiederum eine irreftihrende Problemstellung, die nichts illustriert als die Tatsache, wie schwierig es ist, sich zu verstehen, wenn man von verschiedenen Grundgedanken ausgeht. Ja, wir haben Agar ein Kohlehydrat genannt, in derselben Art und Weise, wie man das Ma- terial eines Goldsols mit dem Namen ,,Gold" oder ,,Metall" belegt, ob-

woht man sich dabei v61iig bewuflt ist v o n d e r Gegenwart yon Aurat- molekeln, selbst als wesentliehen Bestandteil des kolloiden Teilehens. Aufierdem aber nannten wir Agar ein Kohlehydrat im Gegensatz zu den

1) Arch. Hemiju Farmaciiu 5, 149 (1931).

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EiweiBstoffen, die bisher stets die Grundlagen ftir die StabilitAtstheorie der tyophilen Kolloide geliefert hatten. Zwar waren wir der Meinung, daft wir uns bei der ErklS~rung unserer Versuche auf den Standpunkt zu stellen hatten, daft wir tats~tchlieh einem reinen Kohlehydrat gegen- tiberstiinden, die SehluBfolgerungen yon S a m e c s Untersuchungen, dab hier noch eine Sulfonsiiuregruppe vorhanden ist, ~indern n i c h t s

an der allgemeinen Tendenz unserer Sehltisse; jene Schlut3folgerungen S a m e e s kSnnten uns hSchstens yon unserer Beweisftihrung a for t io r i entheben.

Der Gegensatz zwischen unseren Auffassungen und denen P a u l i s und S a m e c s liegt tats~chlich an einer anderen Stelte. Uber die Frage, ob beim Agar Sulfons~ureionen, bei der St~rke Phosphors~ureionen die Innenbelegung der Doppelschicht bildet, kSnnten wir uns wohl unschwer einigen. Was uns voneinander trennt, ist nicht ein Problem, das sich mit der Frage befaBt tiber Dinge, die sich auf ihre Richtigkeit bzw. Nicht-Richtigkelt kontrollieren lassen, sondern vielmehr ein solches tiber die Frage, ob ein best immter Gesichtspunkt fruchtbar ist oder nicht. Unsere Differenz liegt in der Antwort, welche wit geben auf die Frage: Wie ist das Problem der Kolloide zu 15sen ? Ist dabei als Ausgangspunkt zu ~ h l e n unsere Kenntnis der Makroerscheinungen oder unsere An- sichten tiber Ionen in wahrer LSsung?

Handelt es sich um ein , ,Entweder --- oder", so dtirfte es wohl stets einsichtsvoll sein, sich auf beide Standpunkte zu versetzen, und wit wer-

den uns also wohl darin einigen kSnnen, dab jeder Gesichtspunkt sich zu best immter Zeit als fruchtbar erweisen kann.

Man hat stets die Neigung, in einer bestimmten Periode den einen Weg als fruchtbarer als den anderen zu betrachten, und nun ist die Sach- lage hier die, dab P a u l i und S a m e c ftir ihre Theorie der lyophilen Kol- loide es vorziehen, Anschlufi zu suchen bei der Theorie der Elektrolyte, wiihrend wir lieber die elektrokinetischen Vorg~.nge als Ausgangspunkt w~h|en und dann versuchen, mittels der lyophoben Kolloide die lyophilen zu studieren. Wit erblicken in der Wand eines Kolloidteilchens eine Ver- kleinerung der Kapillarwand, wie sie bei den Str6mungspotentialen und der Elektroendosmose eine Rolle spielt. Mittels deren Spiegelbild, der Kataphorese, betreten wir dann ohne weiteres das Gebiet der Kolloide. P a u l i und S a m e c dagegen erblicken in dem Kolloidteilchen einen poly- valenten Elektrolyten, und wir geben unbedingt zu, dab sie formell duzu das Recht haben. Wir bezweifeln indes, dab dieser Standpunkt ein frucht- barer sei; wir sind der Meinung, daft die Diskontinuit~t zwischen ein-,

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zwei-, drei- und vierwertigen Ionen einerseits und den meist mehr als hundertwertigen Kolloidteilchen andererseits eine zu bedeutende ist, als daft eine Extrapolierung fruchtbar sein kSnnte, und wir ziehen es vor, uns zu stfitzen auf die Analogie zwischen Kapillarwand und der Wand der Teilchen. Aufierdem erscheint uns das Gleichnis zwischen einem polyvalenten Ion und den Kolloidteilchen ein zu sehr oberflgch- liches, zu sehr ausschliet31ich morphologisches. Sich auf dieses zu stfitzen, verleitet dazu, die tiefgehenden Unterschiede, die energetisch zwischen Elektrolyten und Kolloiden bestehen, zu vertusehen.

Wir maehen keineswegs Anspruch darauf, dab wir evident die- jenigen w~tren, welche hier recht haben; 1/~ge die Evidenz vor, so wtirden unsere hochgesch/~tzten Opponenten dieselbe zweifelsohne zugeben. Diese Evidenz liegt aber nicht vor, es handelt sich hier vielmehr unl das in verschiedener Weise Anfiihlen eines Problems. Die Zukunft wird zeigen, wer recht h~tte o d e r . . , wie sich der Gegensatz in einer h6heren Einheit aufzulOsen vermag. Die Llbereinstimmung zwischen der Theorie von G o u y ffir die Doppelschicht bei kapillarelektrischen Vorg/~ngen und der D e b y e - H f i c k e l s c h e n Theorie ffir starke Elektrolyte dfirfte wohl in die letztgenannte Richtung deuten. Vorderhand abet bleiben wir der ~lberzeugung, dab unsere Richtung die fruchtbarere sei, mit aller Ehrerbietung ffir andere, die einen anderen Weg vorziehen. Deshalb betonten wir oben, dab unsere ~u fiber den Hauptpunkt ver- st~ndlich waren und der Wissensch~ft ntitzlich. ,,Du choc des opinions jaillit la v6rit6."

Utrecht Leiden' Oktober 1931.