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Dritter Essay Die Theorie des Grenznutzens „Werte unterscheiden sich, aber sie sind nicht eigenwillig.“ (F. Galiani, 1750) aDie Entwicklung der Grundlagen der Grenznutzentheorie in den Arbeiten von Galiani (1750), Senior, Rossi, Dupuit und anderen. – Die nachfolgende Phase: Gossen (1854) und die „Österreichische Schule“. – Die Grenznutzen- theorie in „entwickelter Form“: Die Arbeiten von Walras, Jevons, Launhardt, Auspitz und Lieben sowie anderen Vertretern der „mathematischen Schule“. – Die psycho-physiologischen Grundlagen der Grenznutzentheorie: Das Gesetz von Fechner-Weber; die Theorien von Buffon, Laplace, Bernoulli; die Ansichten der neuesten physiologischen Psychologie: Wundt und andere. Kapitel I Die Evolution der „Theorie des Grenznutzens“ (1750-1854) Bis jetzt nahmen wir die Form der „Nachfragekurve“ als empirisch gegeben an. Die Analyse an diesem Punkt einzustellen, wäre jedoch ein methodologi- scher Fehler, weil die Form der Nachfragekurve selbst noch von einem ökonomischen Faktor abhängt: Der Wirtschaftsrechnung der Konsumenten des Produktes. Wir können unsere Analyse erst dann als beendet ansehen, aGaliani, F., Della Moneta, Napoli 1750, Libro I, Capo II, S. 45. Eigene Übersetzung.

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Dritter Essay

Die Theorie des Grenznutzens

„Werte unterscheiden sich, aber sie sind nicht eigenwillig.“

(F. Galiani, 1750)⟨a⟩

Die Entwicklung der Grundlagen der Grenznutzentheorie in den Arbeiten von Galiani (1750), Senior, Rossi, Dupuit und anderen. – Die nachfolgende Phase: Gossen (1854) und die „Österreichische Schule“. – Die Grenznutzen-theorie in „entwickelter Form“: Die Arbeiten von Walras, Jevons, Launhardt, Auspitz und Lieben sowie anderen Vertretern der „mathematischen Schule“. – Die psycho-physiologischen Grundlagen der Grenznutzentheorie: Das Gesetz von Fechner-Weber; die Theorien von Buffon, Laplace, Bernoulli; die Ansichten der neuesten physiologischen Psychologie: Wundt und andere.

Kapitel I

Die Evolution der „Theorie des Grenznutzens“ (1750-1854)

Bis jetzt nahmen wir die Form der „Nachfragekurve“ als empirisch gegeben an. Die Analyse an diesem Punkt einzustellen, wäre jedoch ein methodologi-scher Fehler, weil die Form der Nachfragekurve selbst noch von einem ökonomischen Faktor abhängt: Der Wirtschaftsrechnung der Konsumenten des Produktes. Wir können unsere Analyse erst dann als beendet ansehen,

⟨a⟩ Galiani, F., Della Moneta, Napoli 1750, Libro I, Capo II, S. 45. Eigene Übersetzung.

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wenn sich als Resultat der Analyse Fakten ergeben, die das Gebiet der Wirtschaftswissenschaft verlassen und dem Studium durch andere Diszipli-nen (Psychologie, Physiologie, Biologie, Physik, Mechanik u.a.m.1) unterlie-gen. Wovon hängt der Verlauf der „Nachfragekurve“ ab, worin liegt die Erklärung für die täglich beobachtete Tatsache (deren Ausdruck auch die von uns angenommene Form der Nachfragekurve ist), dass zwischen der Höhe des Absatzes und dem Marktpreis ⟨Seite 108⟩ stets eine funktionale Abhän-gigkeit derart beobachtet wird, dass sich der Absatz bei jedem Preisrückgang erhöht und umgekehrt eine Einschränkung des Absatzes immer eine Preiser-höhung hervorruft?

„Eine völlig wissenschaftliche Erklärung für die längst bekannte Tatsache der Abhängigkeit des Preises der Waren von der Menge, in der sie auf dem Markt angeboten werden, gibt uns nur die Grenznutzentheorie“, sagt Tu-gan-Baranovskij⟨b⟩, „nur vom Standpunkt dieser Theorie aus kann man von einem Gesetz von Nachfrage und Angebot als von einem wissenschaftli-chen Gesetz, und nicht einer groben empirischen Verallgemeinerung, spre-chen.“2

1 „Die Erforschung der Ursachen des Wertes darf solange nicht eingestellt werden, solange wir nicht zu solchen Fakten gelangen, die aus dem Gebiet der Wirtschaftswis-senschaft hinausführen. Solche Fakten bei der Analyse der subjektiven Ursachen des Wertes werden physiologische und psychologische Gesetze sein, denn die Politische Ökonomie kann nicht die Aufgaben der Psychologie und Physiologie übernehmen. Bezüglich der objektiven Ursachen des Wertes werden die Fakten der äußeren Natur (z.B. die Tatsache der größeren Seltenheit von Gold im Vergleich zu Eisen …) und soziale Tatbestände, die vom allgemeinen Charakter der sozialen Struktur abhängen, von verschiedenen gesellschaftlichen Einrichtungen u.a.m., eine solche Grenze darstellen. Politische Ökonomie ist keine Naturwissenschaft und schließt den ganzen Bereich der Soziologie nicht ein. Das Forschungsgebiet jeder Wissenschaft sollte eingegrenzt sein, damit die Untersuchung ein Ende haben kann. Aber die Aufgabe einer wissenschaftli-chen Werttheorie kann erst dann als beendet angesehen werden, wenn die Untersuchung zu einem solchen Ende geführt wurde.“ (Tugan-Baranovskij, M. I., Učenie o predel′noj poleznosti chozjajstvennych blag, kak pričine ich cennosti ⟨Die Lehre vom Grenznutzen wirtschaftlicher Güter als Ursache ihres Wertes⟩, in: Juridičeskij Vestnik, Oktjabr′ 1890, S. 215 ⟨Hervorhebung durch Dmitriev.⟩). Eine ähnliche Ansicht äußert auch C. Menger in seiner Arbeit „Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der Politischen Oekonomie insbesondere“ ⟨Leipzig 1883⟩. ⟨b⟩ Sämtliche Zitate russischer Autoren legen wir in eigener Übersetzung vor. 2 Tugan-Baranovskij, M. I., Učenie o predel′noj poleznosti chozjajstvennych blag, kak pričine ich cennosti ⟨Die Lehre vom Grenznutzen wirtschaftlicher Güter als Ursache

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Man muss diesen Worten von Tugan-Baranovskij völlig zustimmen, nur darf man deswegen nicht denken, dass die Ehre der Lösung des Problems ganz und gar jener ökonomischen Schule (der Österreichischen, mit Menger an der Spitze) zukommt, mit derem Namen man gewöhnlich die „Grenznutzentheo-rie“ verbindet. Bei einer völlig unvoreingenommenen Analyse muss man zu dem Schluss kommen, dass die Österreichische Schule selbst (Menger, Böhm-Bawerk, Wieser u.a.) sehr wenig (wenn man der Einführung neuer Termini keine übermäßig große Bedeutung beimisst) zu dem hinzufügte, was vor ihr zur Lösung des Problems getan wurde. Abgesehen von solchen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts wie Senior, Rossi, Dupuit und einigen anderen, in deren Arbeiten die Hauptthesen der Grenznutzentheorie völlig klar begründet werden (über Gossen sprechen wir nicht, weil selbst die „Gründer der Schule“ des Grenznutzens ihn als ihren Stammvater ansehen), finden wir alle Daten für den Aufbau einer abgeschlossenen Lehre über den Grenznutzen schon in der Arbeit eines solch „alten“ Ökonomen wie Galiani3 (dieses ersten „Positivisten“ in der Politischen Ökonomie, der bis jetzt in der Literatur nicht genügend gewürdigt wurde). Wir wollen nicht sagen, dass im Jahre 1871, das gewöhnlich als Entstehungsjahr der Grenznutzenschule angegeben wird, zu dieser Frage alles gesagt wurde und nichts zu ergänzen blieb. Im Gegenteil, die Grenznutzenlehre bedurfte noch einer langen Bearbeitung, um zu einer vollkommen wissenschaftlichen Theorie zu werden, doch durch diese Bearbeitung ist sie in keiner Weise den genannten österreichischen Gelehrten verpflichtet, sondern einer Gruppe von Ökono-men, die in ihren Arbeiten die im vorliegenden Fall (angesichts der Kompli-ziertheit der Frage) einzig befruchtende Methode, die exakte Methode, die Mathematik anwandten. Dazu gehören Walras (der zu Recht als Schöpfer der Grenznutzentheorie gelten kann), Launhardt, Auspitz und Lieben, Jevons (obwohl wir Letzteren nur teilweise ⟨Seite 109⟩ zu den Vertretern der mathematischen Schule in der Politischen Ökonomie zählen können, ungeachtet dessen, dass man ihn nicht selten sogar als „Kopf“ dieser Schule bezeichnet). Weiter unten werden wir eine ausführliche Analyse der Grenz-

ihres Wertes⟩, in: Juridičeskij Vestnik, Oktjabr′ 1890, S. 212. ⟨Dmitriev zitiert Tugan-Baranovskij in etwas anderer Wortreihenfolge. Die zweite Kursivschreibung wurde von Dmitriev vorgenommen.⟩ 3 Galiani, F., Della Moneta, Napoli 1750.

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nutzentheorie in ihrer entwickelten Form geben (dabei werden wir kurz auf die Hauptetappen hinweisen, die von der Theorie in ihrer schrittweisen Entwicklung durchlaufen wurden), jetzt wenden wir uns den ersten Versu-chen zu, die Frage nach der funktionalen Abhängigkeit zwischen der Absatzmenge und dem Preis des Produktes zu lösen.

Hierher muss man vor allem alle sogenannten „Theorien von Nachfrage und Angebot“ einordnen. Es wäre ein unnützer Zeitaufwand, in eine detail-lierte Betrachtung der nebelhaften und unpräzisen Argumentation der Vertreter dieser Theorie einzutreten.

Angefangen von den Begriffen der Nachfrage und des Angebotes selbst ist hier alles verworren, alles unbestimmt. Jeder bestimmt sie nach seinem Gutdünken, und oft treffen wir sogar bei ein und demselben Autor (an verschiedenen Stellen) auf ein unterschiedliches Verständnis dieser Termini. (Als Beispiel kann J. S. Mill dienen, der in seinen Erörterungen oft von seiner ursprünglich gegebenen Bestimmung des Begriffs Nachfrage und ihres quantitativen Ausdrucks abweicht. Darauf weist Cairnes4 richtig hin.) Meistens vermeiden die Autoren jedwede genauen Definitionen völlig und begnügen sich mit allgemeinen, nichtssagenden Phrasen. Nicht weniger unbestimmt bleibt auch die eigentliche Form der Abhängigkeit zwischen dem Preis auf der einen Seite sowie Nachfrage und Angebot auf der anderen: Die Mehrzahl der Autoren definiert sie mit solchen, auf den ersten Blick sehr genauen Äußerungen: Der Preis hängt vom Verhältnis zwischen Nachfrage und Angebot ab, indem er sich direkt proportional mit der Nachfrage und umgekehrt proportional mit dem Angebot ändert. Aber diese Klarheit ist nur scheinbar, weil fast keiner der von uns betrachteten Ökonomen unter dem Verhältnis zwischen Nachfrage und Angebot ein Verhältnis im mathemati-schen Sinne versteht (Die wenigen Ausnahmen sind einige frühe italienische Ökonomen, wie z.B. Valeriani, Genovesi, Verri. Letzterer hat übrigens eine eigenartige Auffassung von der Höhe von Nachfrage und Angebot, indem er unter der ersten die Anzahl der Käufer, unter der zweiten die Anzahl der Verkäufer versteht, so dass die gesamte Formel bei ihm die Form annimmt: „Der Wert … ist gleich der Zahl der Käufer dividiert durch die Zahl der

4 Cairnes, J. E., Some leading principles of political economy newly expounded, New York 1874, S. 27-29.

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Verkäufer.“5)⟨c⟩, aber welchen anderen Sinn man dem Wort „Verhältnis“ geben soll, bleibt vollkommen ungeklärt.

⟨Seite 110⟩ Wenig hilft der Sache auch die von J. S. Mill eingebrachte Korrektur, der den Begriff des „Verhältnisses“ von Nachfrage und Angebot durch den Begriff des „Ausgleichs“ von Nachfrage und Angebot ersetzte (vgl. Mill, J. S., Grundsätze der politischen Ökonomie (1848), Bd. I, Drittes Buch, Kapitel II, § 4, S. 466-468 der deutschen Ausgabe von 1852).⟨d⟩ Ohne Zweifel ist die Formel Mills näher an der tatsächlichen Sachlage, aber das alles ist nur eine gelungenere Formulierung der Frage, jedoch keineswegs ihre Lösung.

Die „Theorie“ Mills sagt lediglich aus, dass der Preis, welcher de facto auf dem Markt festgelegt wird, jener Preis sein wird, bei dem die Nachfrage gleich dem Angebot ist. Dies zu sagen heißt jedoch, die allgemein bekannte Tatsache zu konstatieren, dass die Gesamtmenge, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auf dem Markt verkauft wird, weder größer noch kleiner sein kann als die Gesamtmenge, welche zu demselben Zeitpunkt gekauft wird (und umgekehrt). Die Frage, warum bei unterschiedlichen Preisen diese Gleichheit von Nachfrage und Angebot bei verschiedenen Größen des Gesamtabsatzes eines Produktes zustande kommt, bleibt in Mills Lehre nach wie vor völlig offen.

Mehr bringt uns für das Verständnis der Marktpreisbildung auch die weit-schweifige Lehre von Cairnes nicht.

5 Verri, P., Meditazioni sulla economia politica (1771), in: Custodi, P. (Hrsg.), Scrittori classici italiani di economia politica, Parte Moderna, Bd. XV, Milano 1804, § IV, S. 32 ff. ⟨c⟩ Eigene Übersetzung. Die von Dmitriev als wörtliches Zitat gekennzeichnete und von der französischen Übersetzung auf S. 210 so übernommene Aussage Verris konnte in der angegebenen Quelle im Wortlaut nicht nachgewiesen werden. Sinngemäß findet sich diese jedoch im § IV, am deutlichsten auf S. 47, was wahrscheinlich den Herausgeber der englischen Übersetzung auf S. 183 dazu veranlasste, das Dmitriev’sche Zitat durch ein anderes zu ersetzen: „Der Preis von Gütern ist direkt proportional der Anzahl der Käufer und umgekehrt proportional der Anzahl der Verkäufer.“ (Verri, P., op.cit., S. 47). Anstelle des von Verri in diesem Kapitel durchgängig benutzten Wortes „Preis“ (prezzo) verwendet Dmitriev des Weiteren den Ausdruck „Wert“ (valore). ⟨d⟩ Dmitriev verwendet eine russische Übersetzung von Mills Werk und verweist dort auf S. 515 des Ersten Bandes.

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Der von ihm eingeführte, in methodologischer Hinsicht sehr bequeme Begriff der „wechselseitigen Nachfrage“ (reciprocal demand6) steuert, wie auch die Korrektur von Mill, nur eine oberflächliche Verbesserung der Theorie von Nachfrage und Angebot bei, ohne das Wesen des Problems zu berühren. Näher als andere am richtigen Weg stehen jene Theorien von Nachfrage und Angebot, die sich nicht mit der quantitativen Darstellung von Nachfrage und Angebot begnügten und versuchten, die Sache durch die Einführung des Begriffs der „Intensität der Nachfrage“ (und des Angebots) zu erklären. Das taten Storch (Cours d'économie politique, St. Peterbourg 1815, Bd. I, S. 91-93) in diesem Jahrhundert und Steuart7 im vergangenen. Es ist jedoch so, dass diese Theorien schon nicht mehr zu den „reinen“ Theorien von Nachfrage und Angebot gezählt werden können, sondern an der Grenze zu den Theorien stehen, welche die Basis des Wertes im Nutzen der Produkte und folglich in letzter Instanz in den Bedürfnissen der Menschen sehen.8

⟨Seite 111⟩ Aber eine Lösung des Problems konnten sie alle nicht liefern, weil sie außerstande waren, den berüchtigten „Widerspruch“ zwischen Tausch- und Gebrauchswert zu lösen.

6 Vgl. Cairnes, J. E., op.cit., S. 29 f. 7 Deshalb ist die Schlussfolgerung Zaleskijs (op.cit., 1893, Vypusk II, S. 95), dass Storch als erster auf den Unterschied zwischen Höhe und Intensität von Nachfrage und Angebot hinwies, nicht richtig. Die Arbeit Steuarts (1767) erschien 48 Jahre früher als die Arbeit Storchs (1815). Für Storch bleibt jedoch der Vorzug der größeren Klarheit und Bestimmtheit im Ausdruck seiner Ansichten. 8 Zum Beispiel meinte Storch: „Der Wert der Sachen ist ihr relativer Nutzen, der ihnen von jenen Personen zuerkannt wird, die sie benutzen, um ihre Bedürfnisse zu befriedi-gen.“ (Cours d’économie politique, St. Peterbourg 1815, Bd. I, S. 58). ⟨Eigene Übersetzung.⟩ Was Steuart betrifft, so kann man seine Lehre über den Wert nur aufgrund eines Missverständnisses zu den Produktionskostentheorien zählen, weil er in den Produktionskosten (zu denen er den Gewinn nicht rechnete) nur die unterste Grenze sah, unter die der Verkaufspreis nicht fallen darf; den Überschuss im Verkaufspreis (über den notwendigen Kosten) stellt er in eine ausschließliche Abhängigkeit von den Nachfrage- und Angebotsbedingungen (der Begriff eines allgemeinen, mittleren Niveaus war ihm noch fremd), die auf diese Weise in seiner Lehre den letztlichen Regulator des Preises darstellen. Das Missverständnis konnte wegen der unklaren Terminologie Steuarts entstehen, der „real expence of making the goods“ und „intrinsic value“ als Synonyme benutzte (vgl. Steuart, J., An Inquiry into the Principles of Political Oeconomy, 1767, Book II ⟨S. 141-404 der Ausgabe von 1966⟩).

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So begehen alle Theorien von Nachfrage und Angebot, beginnend mit den ersten Versuchen und endend mit solchen „letzten Weisheiten“ der Wissen-schaft, wie z.B. die Arbeit von Pichenot („Das Gesetz von Nachfrage und Angebot“)⟨e⟩, welche in gewisser Weise eine Zusammenfassung all dessen darstellt, was zu dieser Frage von verschiedenen Vertretern dieser Theorie gesagt wurde, einen ihnen gemeinsamen Fehler. Indem sie eine detaillierte (manchmal sogar zu detaillierte) Beschreibung der Erscheinung geben, erfüllen sie überhaupt nicht das, was sie beanspruchen: Eine Erklärung der analysierten Erscheinung. Die Arbeit Pichenots ist in dieser Beziehung typisch für die vorliegende Richtung: Nachdem er mit erstaunlicher Ausführ-lichkeit alle Faktoren, die die Höhe der Preise beeinflussen können, aufge-zählt hatte, schließt er:

„Die aufgezählten Preisfaktoren … gehen in der Realität in den verschie-denartigsten Kombinationen ein, welche die sichtbare Vielfalt der Preise und ihr Schwanken hervorrufen.“ (op.cit., S. 85)

Aber nach welchen Gesetzen sich das Zusammenwirken dieser Faktoren untereinander vollzieht und welcher Art die funktionale Abhängigkeit zwischen ihnen (oder ihren Resultierenden) und dem Preis ist, das bleibt völlig außerhalb der Betrachtung.

Auf alle diese Theorien sind die Worte Rossis völlig anwendbar, der schon in den 30er Jahren treffend und klar die Hauptfehler der Theorie von Nachfrage und Angebot formulierte:

„Einige Ökonomen“, spricht er9, „sagten, dass das Gesetz, nach dem die Güterpreise bestimmt werden, nichts anderes ist, als das Verhältnis von

⟨e⟩ Detailliertere Angaben zu Pichenots Arbeit, die wahrscheinlich unter dem Titel „La loi de l′offre et de la demande“ erschien, können von uns nicht gemacht werden, da es uns aufgrund der spärlichen Angaben bei Dmitriev nicht gelang, diese Arbeit bibliogra-phisch nachzuweisen. Ebenso erging es den französischen und englischen Herausgebern. 9 Rossi, M. P., Cours d’économie politique, 2. Aufl., Paris 1851, Bd. III, Lektion IV, S. 67 f. ⟨Eigene Übersetzung. Das von Dmitriev in Russisch angeführte Zitat weicht vom französischen Originaltext im Wortlaut an einigen Stellen ab, ohne jedoch den Sinn der Aussage zu verändern.⟩

An anderer Stelle sagt Rossi: „Es ist vollkommen wahr, dass von zwei Dingen im Moment des Tausches eins das andere wert ist. Aber ist das etwas anderes als die gleiche Frage ausgedrückt in anderen Worten? Zu sagen, dass der Tauschwert aus der Bezie-hung zwischen Angebot und Nachfrage resultiert, und zwar direkt aus der Nachfrage

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Angebot zu Nachfrage: Die Güterpreise befinden sich in direkter Bezie-hung zur Nachfrage und in umgekehrter zum Angebot … Obwohl diese Position, wie es scheint, keine Widerlegung zulässt („Gehen Sie nur auf irgendeine Auktion …“), so irrt sie doch im wichtigsten Punkt. Insbesonde-re irrt sie dadurch, dass ihre Formel nicht das Wesen der Frage berührt; mit anderen Worten, dies ist eher das Aufstellen einer Frage, nicht etwa ihre Lösung. Wir suchen ein Gesetz des Preises, aber man sagt uns, dass es in direkter Beziehung zur Nachfrage und in umgekehrter zum Angebot steht. Das ist gut und schön. Aber worin besteht das Gesetz von Nachfrage und Angebot? Infolge welchen Gesetzes sind Nachfrage und Angebot gerade so und nicht anders? Sie sehen, dass die Ökonomen hier an der Schwelle des Problems stehen blieben und nicht zu seinem Wesen vordrangen.“

⟨Seite 112⟩ Je klarer sich dieser oder jener Autor bemüht, eine Theorie der Nachfrage zu formulieren, desto offensichtlicher wird die Unzulänglichkeit der Daten, die alle diese Theorien daran hindert, über eine verbale, scheinba-re Lösung des Problems hinauszugehen. Deshalb bemüht sich auch die Mehrheit der Anhänger der Theorie von Nachfrage und Angebot, ihre Betrachtungen mit dem Nebel allgemeiner Phrasen zu umhüllen, hinter denen sich gar kein Inhalt verbirgt.

Für sie sind Angebot und Nachfrage keine Fakten, die der wissenschaftli-chen Analyse unterliegen, sondern „Beschwörungsformeln“ – „conjuring terms“ (wie Cairnes es ausdrückte10) – „durch Verkündung, welche Schwie-rigkeiten ausgetrieben und Hindernisse aller Art von unserem Weg entfernt werden könnten.“

und invers aus dem Angebot, bedeutet wieder etwas völlig Richtiges zu sagen, aber diese Formulierung beschränkt sich ebenso darauf zu erklären, wie externe Ereignisse vonstatten gehen. Es ist ein Ausdruck ausreichend für gewöhnliche Bedürfnisse … Der Ausdruck erklärt ausreichend die materiellen Wechselfälle der Märkte.“ (Cours d’économie politique, 2. Aufl., Paris 1843, Bd. I, Lektion IV, S. 76 f.). ⟨Eigene Übersetzung.⟩ 10 Cairnes, J. E., op.cit., S. 22 ⟨Eigene Übersetzung⟩. Es ist interessant, diesen Worten Cairnes’ die Worte Rossis gegenüberzustellen, welche denselben Sinn fast in derselben Form ausdrücken: „Es gibt keinen Ökonomen, der nicht bekräftigt, dass Angebot und Nachfrage die beiden marktregulierenden Kräfte sind; demnach gibt es keine Lücke in ihrem System. Nun fragen wir unsererseits: Was sind Angebot und Nachfrage? Was drücken diese beiden irgendwie magischen Wörter aus, mit denen man vorgibt, auf alle Fragen zu antworten und alle Probleme zu lösen?“ (Rossi, M. P., op.cit., Bd. I, Lektion IV, S. 67 f.) ⟨Eigene Übersetzung.⟩

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Jetzt, wo uns die Lösung des Problems bevorsteht, ist uns klar, dass der Grund für den Misserfolg aller dieser Theorien nicht in logischen Fehlern ihrer Überlegungen, sondern in der Mangelhaftigkeit der Daten selbst zur Lösung der Frage liegt. Für die richtige Lösung des Problems wäre es nötig, die Forschung über die Grenzen des Marktes im engen Sinne des Wortes hinauszuführen sowie nach den Gründen für die Veränderung der Preise bei Erhöhung und Verringerung des Absatzes im Konsumsektor und jenen psychologischen und psycho-physiologischen Gesetzen zu suchen, denen sie unterworfen sind.

Doch hier stieß der Forscher von den ersten Schritten an gegen ein Hin-dernis, das lange Zeit unüberwindlich schien. Wir sprechen über den „Widerspruch“ zwischen Tausch- und ⟨Seite 113⟩ Gebrauchswert, einen Widerspruch, der beständig als Argument gegen die Annahme des Gebrauchswertes oder des Nutzens als Regulator der Tauschverhältnisse vorgeschoben wurde. Auf diesen Widerspruch wies bereits Le Trosne hin.

In seiner Polemik mit Condillac sagt er, dass, wenn der Wert wirklich durch unsere subjektive Bewertung der Güter bestimmt würde (NB: Condil-lac meinte: „Der Wert liegt in der Wertschätzung, die wir Dingen entgegen-bringen, und diese Wertschätzung ist relativ zu unserem Bedürfnis“, und wies so auf unsere Bedürfnisse als Basis des Wertes hin. Vgl. Condillac, E. B. de, Le commerce et le gouvernement considérés relativement l’un a l’autre, Amsterdam 1776, S. 15 ⟨Eigene Übersetzung⟩), dann „hätten die notwendigs-ten Dinge den höchsten Wert“⟨f⟩ (Le Trosne, G. F., De l’intérêt social, Paris 1777, S. 892). Darauf weist auch Smith hin:

„Die Gegenstände, die den größten Gebrauchswert haben“, sagt er, „besit-zen häufig einen geringen oder gar keinen Tauschwert, während anderer-seits diejenigen, die den größten Tauschwert haben, oft einen geringen oder keinen Gebrauchswert besitzen.“⟨g⟩

⟨f⟩ Eigene Übersetzung. ⟨g⟩ Smith, A., Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen (Englisch 1776), übersetzt und eingeleitet von Peter Thal, 2. Aufl., Berlin 1976, Buch I, Kap. 4, S. 38 f. Bei Dmitriev fehlt die Quellenangabe zu Smith.

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216 Die Theorie des Grenznutzens

Dieselbe Ansicht wiederholt auch Ricardo11, wobei er sich auf Smith bezieht. Ohne Zweifel ist ein Teil der Fälle, wo, wie es scheint, ein solcher Wider-spruch beobachtet wird, einfach eine Folge falschen und willkürlichen Verständnisses der Termini „Nutzen“ und „Gebrauchswert“.12 Darauf wies schon Rossi hin:

„Smith hat gesagt“, meint er, „dass der Diamant einen Tauschwert hat, der weit größer als sein Gebrauchswert ist. Nein, meine Herren, der Wert des Diamanten ist perfekt proportional seinem Nutzen, versteht man dieses Wort in dem Sinne, den Ökonomen ihm geben müssen. Der Nutzen ist das Vermögen, ein Bedürfnis zu befriedigen, real oder fiktiv, permanent oder zeitweise, physisch oder intellektuell … Die Knappheit ist hier ein direk-tes⟨h⟩ Mittel der Befriedigung; sie befriedigt dieses Bedürfnis unserer Na-tur, das darin besteht, etwas haben zu wollen, was andere nicht haben. Das ist ein Bedürfnis, das der Moralist verdammen könnte, und das der Verstand innerhalb berechtigter Grenzen zurückhalten muss, aber es ist ein Bedürfnis, zu dessen Befriedigung die Menschen geneigt sind, große Opfer zu bringen.“ (Rossi, M. P., op.cit., Bd. I, Lektion IV, S. 73 f.)

Aber neben diesen Ausnahmen bleibt trotzdem eine Masse von Fällen, wo Tausch- und Gebrauchswert nicht miteinander übereinstimmen. Mit höchster Genauigkeit entwickelte diesen ⟨Seite 114⟩ „Widerspruch“ zwischen Gebrauchs- und Tauschwert bekanntermaßen Proudhon in seiner Abhandlung „Système des contradictions économiques“ (1846). „Der Gebrauchs- und der Tauschwert befinden sich in fortwährendem Widerstreit“⟨i⟩, sagt er (S. 75); nach seiner Meinung kann für diesen Widerspruch keine Erklärung gefunden werden: „Es gibt für den im Begriff des Wertes inhärenten Widerspruch weder einen benennbaren Grund noch eine mögliche Erklärung.“⟨j⟩ (S. 71).

11 Ricardo, D., Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung (Englisch 1817), übersetzt von G. Bondi, hrsg. von H. D. Kurz unter Mitarbeit von C. Gehrke und O. Kotheimer, Marburg 1994, Kap. 1, S. 5. 12 Der erste Ökonom, der eine völlig richtige Definition des Begriffs Nutzen gab, ist zweifellos Galiani: „Ich nenne Nutzen die Tauglichkeit einer Sache, uns Glück zu schaffen … Nützlich ist alles, was echte Freude produziert.“ (Galiani, F., Della Moneta, Napoli 1750, Libro I, Capo II, S. 28 f.) ⟨Eigene Übersetzung.⟩ ⟨h⟩ Die englische Übersetzung spricht hier von „indirect“, obwohl in der französischen Quelle von „direct“ die Rede ist. ⟨i⟩ Eigene Übersetzung. ⟨j⟩ Eigene Übersetzung.

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Aber Proudhon kam mit seiner Behauptung zu spät: Ganz zu schweigen von den Arbeiten Rossis und Seniors, die früher als Proudhon darüber schrieben, finden wir schon bei Galiani eine Erklärung dieses scheinbaren Wider-spruchs. Die Proportion, in der Produkte getauscht werden, hängt nach Meinung Galianis ausschließlich von der subjektiven Bewertung des einen oder anderen Produktes durch den Menschen ab.13 Wovon hängt die Bedeu-tung einer Sache für den Menschen ab? Erstens vom Primärnutzen (utilità primaria) der Sache, d.h. von ihrer Bedeutung für den Menschen in dem Fall, in dem das Bedürfnis, zu dessen Befriedigung die Sache dienen soll, noch überhaupt nicht befriedigt ist (z.B. die Bedeutung von Brot und Gold für einen hungrigen Bettler).

So hängt der Primärnutzen der Sachen von der Wichtigkeit der Bedürf-nisse ab, denen sie dienen. Der konkrete Nutzen jedoch, d. h. der Nutzen in dem einen oder anderen konkreten Fall, hängt nicht nur vom primären Nutzen oder, mit anderen Worten, von der Wichtigkeit des Bedürfnisses ab, das die Sache befriedigt, sondern auch noch von dem Grad, bis zu dem dieses Bedürfnis befriedigt ist oder, mit anderen Worten, vom Verhältnis von Bedürfnis und Befriedigung.14 Für die Bezeichnung dieses konkreten Nutzens, des konkreten subjektiven Wertes, der in jedem gegebenen Fall das Tauschverhältnis bestimmt (und mit dem übereinstimmt, was man heute Grenznutzen, final degree of the utility, nennt), verwendet Galiani keinen besonderen Terminus; ja ein solcher ist dafür auch gar nicht nötig, da in seiner Sprache der Terminus Wert keine andere Bedeutung außer der subjektiven Bewertung der Sachen durch die Tauschpartner besitzt. Und so, die Lehre Galianis resümierend15, erhalten wir: Das Tauschverhältnis

13 “Deshalb könnte man sagen, dass die Bewertung oder der Wert ein Begriff für die Proportion zwischen dem Besitz einer Sache und dem einer anderen nach Meinung eines Menschen ist.“ (Galiani, F., op.cit., S. 27). ⟨Eigene Übersetzung.⟩ 14 Die Beziehung zwischen Bedürfnis und Befriedigung bezeichnet Galiani mit dem Terminus Knappheit (rarità), den er folgendermaßen definiert: „Ich nenne Knappheit das Verhältnis zwischen der Menge einer Sache und dem Gebrauch, der von ihr gemacht wurde.“ (Galiani, F., op.cit., S. 38). ⟨Eigene Übersetzung.⟩ 15 Wegen der Unzulänglichkeit der Termini, die Galiani zur Bezeichnung der verschie-denen ökonomischen Begriffe verwendete, können einzelne Formulierungen seiner Erörterung Anlaß zu einer unrichtigen Deutung seiner Lehre geben. Für eine richtige Einschätzung der Werttheorie Galianis muss man aufmerksam alle einzelnen Stellen seiner Erörterung vergleichen, welche die Frage des Nutzens und der Knappheit

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218 Die Theorie des Grenznutzens

⟨Seite 115⟩ wird durch den subjektiven Wert einer Sache für den Menschen bestimmt; der subjektive Wert einer Sache wird seinerseits durch zwei Momente bestimmt:

1) durch die Wichtigkeit des Bedürfnisses, das zu befriedigen die Sache imstande ist, und

2) den Grad der Deckung des Bedürfnisses.

In dieser Lehre wird der von Proudhon erwähnte „Widerspruch“ völlig vermieden: Das Bedürfnis, das eine Sache befriedigt, kann sehr wichtig sein, und nichtsdestoweniger wird eine Sache für den Konsumenten wertlos sein, wenn das Bedürfnis bereits fast völlig befriedigt ist. So entsteht auch die auf den ersten Blick sonderbare Tatsache, dass Gegenstände, die selbst alltäg-lichste Bedürfnisse befriedigen, unter gewissen Bedingungen (bei fast betreffen (viel tragen die von ihm angeführten Beispiele zur Klärung bei): Siehe ⟨Galiani, F., op.cit, wieder abgedruckt in:⟩ Custodi, P. (Hrsg.), Scrittori classici italiani di economia politica, Parte Moderna, Milano 1803, Bd. III, Buch I, Kap. 2, S. 58-89; Beispiele: S. 67-69 ⟨Original: Galiani, F., Della Moneta, Napoli 1750, Libro I, Capo II, S. 24-52; Beispiele: S. 33-35⟩; Bd. IV, S. 75 f. Bemerkenswert ist die Behauptung Galianis, dass die Preise, obwohl sie auch von den veränderlichen Bedürfnissen der Menschen abhängen, trotzdem nicht zufällig sind: „Werte unterscheiden sich, aber sie sind nicht eigenwillig“ (op.cit., S. 89 ⟨Original: S. 45⟩; vgl. auch vorher ab den Worten „Assai si è detto …“). So verstand Galiani, dass die Abhängigkeit der Preise von der subjektiven Beurteilung sie nicht daran hindert, gesetzmäßig zu sein, und folglich auch kein Hindernis für die Entdeckung von Gesetzen darstellt, welche die Preise steuern. Es ist interessant, dem die Überlegungen Ingrams aus Anlass der Arbeiten Cournots gegenüberzustellen (Ingram, J. K., A History of Political Economy, Edinburgh 1888, S. 180-182 ⟨Dmitriev bezieht sich hier wahrscheinlich auf eine russische Übersetzung Ingrams. Die von ihm angegebene S. 234 wird von den englischen Herausgebern auf S. 187, Fn. 3 kommentarlos übernommen. Offensichtlich haben diese das Original Ingrams nicht recherchiert, wie auch die falsche Angabe des Erscheinungsortes im dortigen Literaturverzeichnis belegt.⟩). Es zeigt sich, dass Galiani eine genauere Kenntnis der „positiven“ Wissenschaften als Ingram besaß, eines Vertreters der „Positiven Schule“ der Politischen Ökonomie. Wichtig ist auch, auf die von Galiani vorgenommene Trennung der Produkte in zwei Klassen (due classi) hinzuweisen: In Güter, deren Menge durch Hinzufügung von Arbeit erhöht werden kann, und in solche, deren Menge von ihrem natürlichen Überfluß abhängt. („Wenn wir nun dazu übergehen, über die Menge einer Sache zu sprechen, behaupte ich, dass es zwei Klassen von Gegenständen gibt. Bei den einen hängt sie ⟨die Menge⟩ von der unterschiedlichen Reichhaltigkeit ab, mit der die Natur sie hervorbringt, bei den anderen allein von der Mühe und der Arbeit, die dafür aufgewendet wird“; op.cit., S. 73 ⟨Original: S. 38 f.⟩.) ⟨Eigene Übersetzung.⟩

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Die Evolution der „Theorie des Grenznutzens“ (1750-1854) 219

vollständiger Befriedigung der Bedürfnisse) für den Menschen einen nicht sehr hohen Gebrauchswert haben können (was sich dementsprechend ebenso im Tauschverhältnis widerspiegelt). Darauf weist Galiani auch selbst hin:

„Wenn sich dann jemand wundert, wieso gerade all die nützlichsten Dinge einen niedrigen, während die weniger nützlichen einen hohen oder exhorbi-tanten Wert haben, wird er bemerken müssen, dass diese Welt mit erstaun-licher Vorsehung dermaßen zu unserem Wohl gestaltet ist, dass der Nutzen, generell gesprochen, niemals mit der Knappheit korrespondiert; sondern vielmehr je größer der Primärnutzen, desto mehr findet man Überschuss, deshalb kann der Wert nicht groß sein.“⟨k⟩ (Galiani, F., op.cit., S. 35)

Auf diese Weise finden wir bei Galiani den völlig klaren Gedanken über die Relativität des Gebrauchswertes.

„Ich vernehme andere“, sagt er, „die meinen, ein Pfund Brot sei nützlicher als ein Pfund Gold. Ich antworte: Dies ist ein schändlicher Trugschluss, abgeleitet aus Unkenntnis darüber, dass mehr nützlich und weniger nützlich relative Ausdrücke sind und je nach unterschiedlicher Lage der Personen gemessen werden. Wenn man von einem spricht, dem sowohl Brot als auch Gold fehlt, dann ist das Brot sicher nützlicher; und die Fakten sind dem nicht konträr, sie korrespondieren dazu, weil man niemanden finden wird, der das Brot läßt und an Hunger stirbt, indem er sich das Gold nimmt. Die-jenigen, welche die Minen ausgraben, vergessen niemals zu essen und zu schlafen. Aber was ist für eine satte Person unnützer als Brot? Es ist also gut für sie, dann andere Leidenschaften zu befriedigen. Deshalb sind diese Metalle Begleiter des Luxus, d.h. eines solchen Zustandes, in dem die Pri-märbedürfnisse bereits befriedigt sind.“⟨l⟩ (Galiani, F., op.cit., S. 34 f.)

⟨Seite 116⟩ Für ein und dieselbe Sache, für ein und dasselbe Produkt ist der Gebrauchswert nicht irgendwas Unveränderliches (das ausschließlich von der Wichtigkeit jenes Bedürfnisses abhängt, dem es dient), die Bedeutung einer Sache für den Menschen kann sich von einer beliebig großen Höhe bis auf Null verändern, nach Maßgabe der Bedürfnisbefriedigung an dieser Sache. Aber weil nach Meinung Galianis das Tauschverhältnis ausschließlich von der relativen Bedeutung der ausgetauschten Dinge für den Menschen (Konsumenten) bestimmt ist, wird jene Tatsache völlig verständlich, dass der Wert jeder Sache (relativ zu anderen) im Maße der Erhöhung ihres Angebo-

⟨k⟩ Eigene Übersetzung. ⟨l⟩ Eigene Übersetzung. Kursivschreibungen wurden von Dmitriev hinzugefügt.

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220 Die Theorie des Grenznutzens

tes fällt. Auf diese Weise wurde das Problem der Abhängigkeit des Markt-preises von „Nachfrage und Angebot“ im Prinzip bereits von Galiani völlig gelöst, und zwar ganz genauso, wie es die Grenznutzenschule löst. In den Arbeiten der Österreichischen Schule finden wir sehr wenig Neues (wenn man von der stärker herausgearbeiteten Terminologie und der sich hieraus ergebenden größeren äußeren Harmonie der Lehre absieht) im Vergleich mit der Theorie Galianis. Sogar in der Lehre über die „Produktivgüter“ (Produc-tivgüter), die in den Arbeiten dieser Schule soviel Platz einnimmt, finden wir dieselben Ansichten, welche bereits von Galiani (anlässlich des Arbeitswer-tes) geäußert wurden, der annahm, dass die Produktivgüter ihren Wert von den Gütern erster Ordnung ableiten, zu deren Produktion sie dienen. Neu ist in diesem Bereich nur das sogenannte Wieser’sche Gesetz16, das jenen Fall löst, ⟨Seite 117⟩ in dem ein und dasselbe Produktivgut zur Produktion mehrerer Güter erster Ordnung dient. Auch in der Frage der Bedeutung der Arbeit als Produktivgut höherer Ordnung stimmen die aktuellen Grenznut-zentheoretiker vollkommen mit Galiani überein (vgl. Galiani, F., op.cit., Libro I, Capo II, S. 41-44; Böhm-Bawerk, E. v., Wert, Kosten und Grenznut-zen, 1892, S. 333; Wieser, F. v., Über den Ursprung und die Hauptgesetze des wirthschaftlichen Werthes, Wien 1884, S. 105-107; Wieser, F. v., Der natürliche Werth, Wien 1889, S. 168).17

Galianis Lehre blieb unbemerkt und der Widerspruch zwischen Tausch- und Gebrauchswert kommt in den Arbeiten Smiths, Ricardos und anderer Vertreter der klassischen Schule erneut zum Vorschein. Eine weitere Entwicklung erfährt die Lehre über die funktionale Abhängigkeit des

16 Vgl. Wieser, F. v., Über den Ursprung und die Hauptgesetze des wirthschaftlichen Werthes, Wien 1884.

„Kein Theil des Productivvorrathes soll in irgend einem Productionszweige zur Hervorbringung eines minder wichtigen Erzeugnisses verwendet werden, während er in einem anderen zur Hervorbringung eines wichtigeren verwendet werden könnte.“ (S. 148 f.).

Dasselbe Gesetz wird von Böhm-Bawerk wie folgt formuliert: „Der Wert der Pro-duktivmitteleinheit richtet sich nach dem Grenznutzen und Werte desjenigen Produktes, welches unter allen, zu deren Erzeugung die Produktivmitteleinheit wirtschaftlicherwei-se hätte verwendet werden dürfen, den geringsten Grenznutzen besitzt.“ (Böhm-Bawerk, E. v., Grundzüge der Theorie des wirtschaftlichen Güterwerts, 1886, S. 69). 17 Originell ist nur die Theorie Wiesers über die unterschiedliche Einschätzung der Arbeit in unserer Zeit und zu Urzeiten.

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Die Evolution der „Theorie des Grenznutzens“ (1750-1854) 221

Gebrauchswertes eines Gutes von seiner, dem Konsumenten zur Verfügung stehenden Menge (worin auch das Wesen der Grenznutzentheorie besteht) in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in den Arbeiten von Senior und Rossi.

Senior meint:

„Es gibt nicht nur Grenzen des Vergnügens, die Waren jeder gegebenen Klasse bereiten können, sondern das Vergnügen verringert sich mit schnell steigender Rate lange bevor diese Grenzen erreicht sind. Zwei Artikel der-selben Art werden selten das doppelte Vergnügen eines bereiten, und noch weniger werden zehn fünfmal das Vergnügen von zwei bereiten. Deshalb ist im Verhältnis, wenn irgendein Artikel reichlich vorhanden ist, die Zahl derer, die mit ihm ausgestattet sind und nicht oder nur wenig wünschen, ihre Ausstattung zu erhöhen, wahrscheinlich groß; und soweit es sie be-trifft, verliert das zusätzliche Angebot jeden bzw. fast den gesamten Nut-zen. Und im Verhältnis zu seiner Knappheit wird die Zahl derer, die ihn möchten und der Grad, zu dem sie ihn wünschen, wahrscheinlich ansteigen; und sein Nutzen oder, in anderen Worten, das Vergnügen, das der Besitz einer bestimmten Menge davon bereiten wird, steigt proportional.“ (Senior, N. W., An outline of the science of political economy, London 1836, S. 133)

Und weiter bemerkt er:

„Wir haben bereits angeführt, dass der Nutzen einer Ware in unserem er-weiterten Sinne des Ausdrucks Nutzen oder, mit anderen Worten, die Nachfrage nach ihr als ein Kauf- oder Mietobjekt prinzipiell von den Hin-dernissen, die ihr Angebot beschränken, abhängig ist.“ (Senior, N. W., op.cit., S. 135)⟨m⟩

Die Klarheit der Formulierung der Grenznutzentheorie lässt hier nichts mehr zu wünschen übrig. Es blieb, den Mechanismus des Grenznutzenausgleichs beim Tausch ausführlicher zu klären (wenn auch nur für Fälle des isolierten Tausches, weil ⟨Seite 118⟩ schwierigeren Fällen nur durch mathematische

⟨m⟩ Eigene Übersetzung. Dmitriev verwendet die französische Ausgabe von Seniors Werk unter dem Titel „Principes fondamentaux de l’économie politique“ in der Übersetzung von Graf Jean Arrivabene aus dem Jahr 1835. Die angeführten Zitate befinden sich dort auf den Seiten 85 bzw. 97. Allerdings entsprechen diese Zitate in der französischen Übersetzung von Arrivabene nur sinngemäß – bei weiter Auslegung – denen des Senior’schen Originals, im Wortlaut unterscheiden sie sich erheblich.

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222 Die Theorie des Grenznutzens

Analyse beizukommen ist).18 Eine solche Analyse liefert uns Rossi in seinem bereits mehrfach zitierten „Cours“.

Rossi sieht, wie auch die modernen Grenznutzentheoretiker, die Grundla-ge des Tausch(Markt-)wertes im Nutzen, wobei er, wie auch diese letzteren, den Nutzen eines Gegenstandes nicht als konstante, für ein und dasselbe Produkt immer gleiche Größe, sondern als Funktion der Menge erkennt:

„Diejenigen, die den Grund des Tauschwertes im Nutzen suchen, achten darauf zu erklären, dass je knapper ein nützliches Objekt wird, desto mehr sich sein Nutzen vergrößert.“ (Rossi, M. P., op.cit., Bd. 1, Lektion V, S. 83)⟨n⟩

Als Rossi zum Einfluss des Gebrauchswertes auf das Tauschverhältnis übergeht, wendet er sich der Hypothese des isolierten Tausches zu:

“Wir haben zwei Menschen in einer gegebenen Situation zusammenge-bracht, der eine besitze zwei Brote, der andere zwei Flaschen Wasser; der eine steht unter dem Druck eines unwiderstehlichen Bedürfnisses nach Wasser, der andere unter dem Druck eines gleich großen unwiderstehlichen Bedürfnisses nach Brot, und beide sind in gleichem Maße davon überzeugt, dass sie heute sterben werden, wenn sie das drückende Bedürfnis nicht befriedigen können, und dass dieses Bedürfnis am folgenden Tag ver-schwunden sein wird. Wir haben uns gefragt, was der Tauschwert dieses Brotes und Wassers ist, und wir haben erkannt, dass das Brot den Wert des Wassers und das Wasser den Wert des Brotes repräsentiert, weil es in unse-rer Hypothese einerseits ein unendliches Bedürfnis nach Brot gibt, soweit man dieses Wort ⟨„unendlich“⟩ auf einen Menschen anwenden kann, und die Überzeugung, dass die zweite Flasche Wasser nutzlos ist sowie ande-rerseits ein unendliches Bedürfnis nach dieser Flasche Wasser und die Ü-berzeugung, dass das zweite Brot nutzlos ist. Ist es nicht offensichtlich, dass, wenn beide Kontrahenten sich mit gleicher Kraft an die Gurgel gehen – Sie gestatten mir den Ausdruck – dem einen die Flasche Wasser, dem

18 Es ist an dieser Stelle interessant, die für die Charakteristik der methodologischen Sichtweisen der Historischen Schule insgesamt typische Meinung Roschers zur Kenntnis zu nehmen, dass „der Vortheil der mathematischen Ausdrucksweise immer mehr verschwindet, je complicirter die Thatsachen werden, auf die man sie anwendet.“ (Roscher, W., System der Volkswirthschaft, Erster Band: Die Grundlagen der National-ökonomie (1854), Einleitung, Kap. III, § 22, S. 41 der Ausgabe von 1868). ⟨Dmitriev verwendet eine russische Übersetzung. Dort steht das Zitat auf S. 47.⟩ ⟨n⟩ Eigene Übersetzung.

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Die Evolution der „Theorie des Grenznutzens“ (1750-1854) 223

anderen das Brot überlassen werden muss? Die beiden treibenden Kräfte sind dieselben, der Tausch muss stattfinden.

Jetzt ändern Sie irgendetwas in einer dieser Positionen; nehmen Sie an, dass das Bedürfnis nach Wasser nicht mehr so dringend ist, oder multipli-zieren Sie die Brote, oder schwächen Sie die Überzeugung ab, dass diese Gegenstände am nächsten Tag unnütz sein werden: Kurz, führen Sie ge-danklich irgendeine Veränderung in die Situation ein, und Sie werden fin-den, dass die Resultate nicht mehr die gleichen sein werden. Ökonomen werden Ihnen sagen, dass sich die Bedingungen des Angebots und der Nachfrage verändert haben, aber was hat sich in Wirklichkeit geändert? Das Hauptelement des Wertes, das Bedürfnis, hat entweder aufgehört, das gleiche zu sein, weil der Nutzen geringer ist, oder weil sich die Mittel zur Beschaffung der Sachen erhöht haben, oder weil sich die vorgefundene Menge der Sachen veränderte, so dass sie nicht mehr so rar oder so reich-lich wie früher vorhanden sind.“ (Rossi, M. P., op.cit., Bd. I, Lektion V, S. 92 f.)⟨o⟩

⟨Seite 119⟩ Man muss wohl kaum hinzufügen, dass weder Rossi noch Senior die Möglichkeiten eines unmittelbaren Einflusses der Produktionskosten auf das Zustandekommen der Marktpreise anerkennen: Eine Übereinstimmung der Marktpreise mit den Produktionskosten kann ihrer Meinung nach ausschließlich mittels einer Änderung des Produktangebotes auf dem Markt zustande kommen. Senior unterstreicht diesen Umstand mit besonderer Schärfe:

“… wenn alle durch den Menschen benutzten Waren durch die Natur be-reitgestellt würden, ohne jedwede Intervention irgendeiner Art menschli-cher Arbeit, und sie würden bereitgestellt in genau denselben Mengen wie jetzt, dann gäbe es keinen Grund anzunehmen, dass sie aufhörten nützlich zu sein, noch sich in anderen Proportionen als heute auszutauschen.“19 ⟨Senior, N. W., op.cit., S. 138⟩⟨p⟩

⟨o⟩ Eigene Übersetzung. 19 Denselben Gedanken drückte Malthus in der These aus: „… keine Veränderung der Marktpreise von Waren kann ohne eine vorherige Änderung im Nachfrage-Angebots-Verhältnis stattfinden.“ (Malthus, T. R., Principles of political economy, 2. Aufl., London 1836, Kap. 2, Sektion III, S. 71 ⟨S. 59 f. der Ausgabe von 1986⟩). ⟨Eigene Übersetzung. Dmitriev zitiert aus einer französischen Ausgabe des Werkes von Malthus. Das Zitat findet sich dort auf S. 79.⟩ ⟨p⟩ Eigene Übersetzung.

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224 Die Theorie des Grenznutzens

Gegen diese Worte Seniors lässt sich überhaupt nichts einwenden. Eine Verringerung der Produktionskosten für sich allein kann noch kein Fallen des Marktpreises eines Produktes verursachen: Solange sich die Produktion eines Erzeugnisses nicht erhöht, werden übermäßige Gewinne der in diesem Zweig tätigen Unternehmer das einzige Resultat einer Verringerung der Produkti-onskosten sein. Aber sogar bei einer Erhöhung der Produktion kann, wie wir gesehen haben, manchmal durchaus keine Erhöhung des Absatzes und folglich auch keine Verringerung des Marktpreises die Folge sein. Der Marktpreis fällt dann und nur dann, wenn sich das Angebot eines Produktes erhöht, weil nur eine Erhöhung des Absatzes (die eine gegenüber vorher vollständigere Befriedigung des Bedürfnisses nach dem vorliegenden Produkt hervorruft) die Bewertung des Produktes durch die Käufer (von der allein der Marktpreis des Produktes abhängt) ändern kann. Kämen die Verkäufer auf den Gedanken, ohne das Angebot zu erhöhen den Preis unter jenen zu senken, den die Käufer bei einer bestimmten Absatzmenge zu zahlen bereit sind, dann wäre das einzige Resultat dessen die Entstehung einer Klasse von Zwischenhändlern zwischen ihnen und den Verbrauchern, in deren Hände auch der gesamte „Unterschiedsbetrag“ fallen würde. ⟨Seite 120⟩

„Der Preis … erweist sich als fixiert“, sagt Cournot20, „durch das Gesetz der Nachfrage, egal ob oder ob nicht Konkurrenz herrscht“ (d.h. zwischen den Eigentümern); „und die Großzügigkeit jener Eigentümer, die sich mit einem niedrigeren Preis zufrieden gäben, würde als Folge der Konsumen-tenkonkurrenz nur den Zwischenhändlern zugute kommen.“

Deshalb hat Mill ganz und gar nicht Recht, wenn er behauptet, dass der Preis bei einer Verringerung der Produktionskosten fallen kann, obwohl sich die Produktion und das Angebot dieser Produkte nicht verändert haben (vgl. Mill, J. S., op.cit., Bd. I, Drittes Buch, Kapitel III, § 2, S. 474 f. der deutschen Ausgabe von 1852).

Mill glaubt, dass der Grund für das Fallen des Preises in diesem Fall die Befürchtung der Verkäufer sei, dass der von ihnen erzielte, bedeutende Gewinn neue Konkurrenten in diesen Zweig locken wird. Die Überlegung ist geradezu naiv: Ganz zu schweigen davon, dass eine solche Handlung einem korrekten wirtschaftlichen Kalkül widersprechen würde (die Unternehmer

20 In seiner letzten Arbeit aus dem Jahre 1863: Cournot, A., Principes de la théorie des richesses, Paris 1863, S. 112.

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Die Evolution der „Theorie des Grenznutzens“ (1750-1854) 225

selbst würden Gewinnüberschüsse völlig ablehnen aus Angst, dass ... sich dieser Überschuss im Laufe der Zeit unter dem Einfluss der Konkurrenz verkleinern kann!), das ganze moderne Handelssystem, das gerade auf der Jagd nach dem konjekturalen Gewinn basiert, widerspricht dem, was Mill annimmt.

Eine weitere Entwicklung erfährt die Grenznutzentheorie in den Arbeiten von Dupuit, wobei sie unter seiner Feder erstmals einen mathematischen (graphischen) Ausdruck erhält.21

Schon bei Dupuit finden wir vollständig dargestellt den Gegensatz zwi-schen dem Gesamtnutzen, d.h. der Summe des Nutzens, die in einer bestimm-ten Menge des Produkts enthalten ist, und dem Grenznutzen, d.h. dem Nutzen der zuletzt hinzugefügten Einheit, die auch den Preis bestimmt, welchen der Verbraucher bereit sein wird ⟨Seite 121⟩, für die ganze Menge zu zahlen, obwohl auch Dupuit noch keinerlei besonderen Terminus für die Bezeichnung des Nutzens der zuletzt hinzugefügten Einheit liefert (der Terminus „Grenznutzen“ – „final degree of the utility“ – wurde, wie bekannt, erstmals von Jevons festgelegt; Wieser übertrug ihn mit dem Terminus „Grenznutzen“ in die deutsche Sprache; bei Gossen und Menger finden wir auch noch keinen speziellen Terminus für die Bezeichnung des Grenznut-zens; Walras verwendet für die Bezeichnung dieses Begriffs den Terminus „Seltenheit“ (rareté) und bestimmt sie als „die Intensität des durch eine von

21 Wir zählen Cournot nicht zu den Grenznutzentheoretikern (wie das z.B. Zaleskij tut, op.cit., 1893, Vypusk II, S. 188, der Cournot sogar für den ersten hält, der diese Theorie aufstellte), weil in seinen Arbeiten die „Nachfragekurve“, welche die Abhängigkeit der Größe der Nachfrage von der Höhe des Preises darstellt, als empirisch gegeben angenommen wird. So finden wir bei Cournot keine Erklärung der Tatsache des Fallens des Preises bei Ausweitung des Absatzes, aber gerade darin besteht auch das Wesen der Grenznutzentheorie. In der letzten Abhandlung Cournots (1863) finden wir auch nur einzelne Hinweise bezüglich der Form der „Nachfragekurve“ für verschiedene Kategorien von Gütern (vgl. Cournot, A., op.cit., S. 95, 96 und einige andere). Interes-sant ist die (auch für die Grenznutzentheorie wichtige) Bemerkung Cournots, dass, obwohl „im Allgemeinen die Nachfrage nach einem Produkt steigen muss, wenn sich der Preis vermindert“ (Cournot, A., op.cit., S. 95) ⟨Eigene Übersetzung.⟩, es demnach Dinge gibt, nach denen die Nachfrage bei Verringerung des Preises nur in bestimmten, engen Grenzen wächst; eine weitere Verringerung des Preises kann die Nachfrage vollkommen eliminieren; solcherart sind z.B. Juwelen: „In diesem Fall würde eine enorme Preissenkung die Nachfrage nahezu vernichten.“ (Cournot, A., op.cit., S. 95). ⟨Eigene Übersetzung.⟩

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226 Die Theorie des Grenznutzens

der Ware vorhandene Menge befriedigten letzten Bedürfnisses“ ⟨Walras, L., Eléments d’économie politique pure, Lausanne 1874, S. 80, kursiv im Original⟩).

„Die verschiedenen Betrachtungen“, meint Dupuit,22 „die wir soeben über den Nutzen angestellt haben, können geometrisch in sehr einfacher Weise präsentiert werden.

N

n

r ′′ n ′′

rr′ n′q

q′

Pp ′′p′0 p

Abb. 3.1

Wenn man annimmt, dass entlang einer unbestimmten Linie 0P (Fig. A) ⟨Abb. 3.1⟩ die Längen 0p, 0p′, 0p″, … den Preis einer Ware und die Senk-rechten pn, p′n′, p″n″, … die Anzahl der zu diesem Preis korrespondieren-den konsumierten Waren repräsentieren, dann kann man auf diese Weise eine Kurve Nnn′n″P konstruieren, die wir Kurve des Konsums nennen werden. 0N repräsentiert die konsumierte Menge bei einem Preis von Null, 0P ist der Preis, bei dem der Konsum Null wird.

Wenn pn die Anzahl der zum Preis 0p konsumierten Waren repräsen-tiert, drückt die Fläche des Rechtecks 0rnp die Produktionskosten der np Waren aus, und gemäß J. B. Say, auch ihren Nutzen. Wir glauben demonst-riert zu haben, dass der Nutzen jeder dieser np Waren mindestens 0p, aber für fast alle größer als 0p ist. In der Tat, durch Errichten einer Senkrechten von p′ aus erhält man eine Menge n′p′ von Waren, die einen Nutzen von mindestens 0p′ haben, weil sie zu diesem Preis gekauft werden. Unter die-sen np Waren gibt es deshalb nur np – n′p′ = nq, deren Nutzen tatsächlich nur 0p ist (oder vielmehr ein Mittelwert zwischen 0p und 0p′): Für die an-deren ist er mindestens 0p′. Wir gelangen also zu der Schlussfolgerung, dass der Nutzen für nq Waren repräsentiert wird durch den waagerechten Abschnitt rnn′r′, und dass er für den Rest, qp oder n′p′, größer ist als das

22 Dupuit, J., De la mésure de l’utilité des travaux publics, in: Annales des ponts et chaussées, tome VIII, No 116, Paris 1844, S. 373 f.

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Die Evolution der „Theorie des Grenznutzens“ (1750-1854) 227

Rechteck r′n′p′0; wenn wir eine erneute Erhöhung des Preises p′p″ anneh-men, können wir demonstrieren, dass für n′p′ – n″p″ = n′q′ Waren der Nut-zen ein Mittelwert zwischen 0p′ und 0p″ ist, gemessen durch den Bereich r′n′n″r″ etc. etc., und uns gelingt es zu demonstrieren, dass der absolute Nutzen dieser np Waren für den Konsumenten das Gemischtlinien-Trapez 0rnP ist. Wenn man den relativen Nutzen haben möchte, bedarf es der Subtraktion der Produktionskosten, dem Rechteck rnp0, was nicht mehr als das Dreieck npP als Nutzen übrig lässt, der unserer Meinung nach für die Konsumenten der np Waren verbleibt, nachdem sie diese bezahlt haben. Man sieht, dass die Fläche dieses Dreiecks, vor der Linie np, in keinerlei Beziehung zu jener des ihm vorausgehenden Rechtecks steht.

Falls es sich um ein natürliches Produkt handelt, das keine Beschaffungskosten erfordert, dann wird der Nutzen durch das große Dreieck N0P ausgedrückt.

Man sieht, dass in dem Maße wie der Preis einer Ware steigt, der Nut-zen sinkt, jedoch immer weniger schnell, und dass wenn dieser Preis sinkt, er andererseits ansteigt, und zwar immer schneller, weil er durch ein Drei-eck ausgedrückt wird, welches sich entweder verkürzt oder verlängert.“⟨q⟩

⟨Seite 122⟩ Aus der Betrachtung heraus lässt Dupuit jene psycho-physiologischen Gründe, welche die Verringerung des Nutzens eines Produktes im Maße des Anwachsens dessen Menge verursachen. Mehr Aufmerksamkeit widmete dieser Frage ein anderer französischer Ökonom, der etwa um dieselbe Zeit schrieb und durch seine Ansichten über den Wert ohne Zweifel einer der Vorläufer der entwickelten Grenznutzentheorie ist.

Wir meinen G. de Molinari, der in seinem Artikel über die Preisbildung⟨r⟩, erschienen 1851 im „Journal des économistes“ (Bd. XXIX, S. 117), die Frage über die Wechselbeziehung zwischen Nutzen und Wert ganz im Geiste der Grenznutzentheorie löst⟨s⟩ (vgl. auch seinen „Cours d’économie politique“, Kapitel „Tausch und Wert“ ⟨Bd. I, Lektion 3⟩). Im Übrigen bemüht sich Molinari, seine Grundformel der Preisveränderung („wenn sich das Mengen-verhältnis zweier Waren, die zum Tausch gebracht werden, arithmetisch progressiv ändert, dann ändert sich das Verhältnis der Werte oder Preise

⟨q⟩ Eigene Übersetzung. ⟨r⟩ Molinari, G. de, Observations sur la formation des prix. ⟨s⟩ Hier liegt in der englischen Ausgabe auf S. 194 offenbar ein Übersetzungsfehler vor. Anstelle „im Geiste der Theorie“ (v duche teorii) wird dort von „in zwei Theorien“ (v dvuch teorijach) ausgegangen, was aber bei Dmitriev nicht steht.

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228 Die Theorie des Grenznutzens

dieser Waren geometrisch progressiv“⟨t⟩, vgl. „Cours“, Bd. I, S. 91 und 94) auf statistische Daten zu gründen und nähert sich in dieser Beziehung bereits an eine andere Strömung in der Politischen Ökonomie an, deren Hauptvertre-ter Gregory King und Tooke waren, die versuchten, auf dem Wege einer Analyse der Geschichte der Preise eine empirische Formel der Preisverände-rung zu finden. Gregory King versuchte, wie bekannt ist, auf der Grundlage äußerst dürftigen Materials, das ihm zur Verfügung stand,23 ein allgemeines Gesetz für die Abhängigkeit zwischen Getreidedefizit und dem Anwachsen des Getreidepreises aufzustellen.24 Tooke, vorsichtiger, lehnt das Aufstellen irgendeines allgemeinen Gesetzes ab, selbst wenn es ⟨Seite 123⟩ auch nur für Getreide allein gelte:

„Alles, was man sagen kann“, meint Tooke, „ist, dass ein bestimmtes An-gebotsdefizit im Falle des Getreides gegenüber den meisten anderen Sachen gewöhnlich von einer größeren Preiserhöhung begleitet wird, die das Aus-maß des Defizits bedeutend übertrifft.“⟨u⟩ ⟨Tooke, T., A history of prices and of the state of circulation from 1793-1837, London 1838, vol. I, S. 13⟩

(Weiter bemüht sich Tooke, eine Erklärung für diesen Fakt zu geben; vgl. Tooke, T., op.cit., vol. I, ch. II: „Effects of quantity on price“, S. 10-17. Diese Erklärung ist übrigens schon deshalb überflüssig, weil eine solche, unverhält-nismäßig große Preisveränderung auch bezüglich anderer Waren beobachtet

⟨t⟩ Eigene Übersetzung. 23 Die Arbeit Kings ist am Ende des 17. Jahrhunderts einzuordnen. 24 Zur Darstellung dieser Abhängigkeit erstellte G. King die folgende Tabelle, die bei Tooke gebracht wird (vgl. auch Roscher, W., op.cit., Buch II, Kap. II, § 103, S. 200 der Ausgabe von 1868). Ein Getreidedefizit von 10 % erhöht den Preis um 30 %

– ″ – 20 % – ″ – 80 %– ″ – 30 % – ″ – 160 %– ″ – 40 % – ″ – 280 %– ″ – 50 % – ″ – 450 %

⟨Tooke, T., A history of prices and of the state of circulation from 1793-1837, London 1838, vol. I, S. 12⟩ ⟨u⟩ Eigene Übersetzung. Dmitriev bringt diese Aussage als wörtliches Zitat auf Russisch, welches allerdings nur sinngemäß mit dem Original übereinstimmt. Die englische Ausgabe kennzeichnet die Aussage Tookes auf S. 195 nicht als wörtliches Zitat.

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Die Evolution der „Theorie des Grenznutzens“ (1750-1854) 229

wird, die keine solch existenznotwendigen Dinge darstellen wie das Getrei-de.25)

Insgesamt muss man feststellen, dass bis jetzt die Analyse der Geschichte der Preise sehr wenig für die „Erklärung“ des Zustandekommens und der Bewegung der Marktpreise brachte (in Teil II der vorliegenden Arbeit werden wir ausführlich auf die Bedeutung jenes Zahlenmaterials, das über das Preisniveau auf den Großhandelsmärkten berichtet, für die theoretische politische Ökonomie eingehen).

Schließlich erscheint 185426 die Abhandlung Gossens.⟨v⟩ Im Vergleich mit dieser Arbeit sind die Erörterungen der aktuellen Vertreter der Grenznut-zenschule (ausgenommen übrigens die Mathematiker) blasse Darstellungen, die sich im Vergleich mit dem Original durch Weitschweifigkeit und Kompliziertheit auszeichnen. Viel Verwirrung wurde von den aktuellen Vertretern der Schule z.B. in der Lehre über den Wert von Komplementärgü-tern (nach Mengers Terminologie) gestiftet. Interessant ist es, in diesem Zusammenhang eine seltsame Unkenntnis der vorhandenen Literatur über die Fragen, deren Lösung sie in Angriff nahmen, bei den Theoretikern der Österreichischen Schule festzustellen. So war z.B. die Frage über den Wert von Komplementärgütern, die in ihren Arbeiten so viel Raum einnimmt (besonders bei Böhm-Bawerk, E. v., Grundzüge der Theorie des wirtschaftli-chen Güterwerts, 1886, S. 56-59 und Wieser, F. v., Der natürliche Werth, Wien 1889, S. 81-84), bereits in der ersten Arbeit Cournots (1838; § 57,

25 Vgl. z.B. das von Scharling angeführte Beispiel (Scharling, W., Werttheorien und Wertgesetz, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, N. F., Bd. XVI, 1886, S. 557): Die Einfuhr von Baumwolle im Jahre 1864 war um 32 % niedriger als gewöhnlich, der Preis stieg um 384 % an. 26 Üblicherweise werden zu den Ökonomen, die „den Boden“ für die Grenznutzentheo-rie „bereiteten“, Bruno Hildebrand und Karl Knies gezählt, aber jene Lösung des Proudhon’schen „Widerspruchs“, die sie in ihren Arbeiten vorschlagen, hat eigentlich nichts mit den Ideen des Grenznutzens gemein (vgl. Hildebrand, B., Die Nationalöko-nomie der Gegenwart und Zukunft, Frankfurt 1848, S. 318 f. ⟨S. 258 f. der Ausgabe von 1922⟩; Knies, K., Die nationalökonomische Lehre vom Werth, in: Zeitschrift für Staatswissenschaft, 1855, S. 433-438 und andere Stellen). Dabei können all diese naiven Abhandlungen kaum ernsthaft die Bedeutung einer „wissenschaftlichen Theorie“ beanspruchen (nicht einmal im anspruchslosesten Sinne des Wortes). ⟨v⟩ Gossen, H. H., Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, Braunschweig 1854.

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230 Die Theorie des Grenznutzens

S. 89 f. der deutschen Ausgabe von 1924) einer Analyse unterzogen worden, und die Bekanntschaft mit dieser tadellosen, nichts Besseres zu wünschen übrig lassenden Analyse ⟨Seite 124⟩ hätte viel zur Klärung jenes ganzen Wirrwarrs beitragen können, welchen die schleierhaften und weitschweifigen Betrachtungen der aktuellen dialektischen Ökonomen in diese Frage hinein-gebracht hatten. Aber die Arbeiten Cournots blieben den deutschen Ökono-men unbekannt (die einzige Ausnahme bilden wieder die mathematischen Ökonomen: Auspitz und Lieben, Launhardt u.a.).

NB: Es muss übrigens bemerkt werden, dass auch Jevons selbst, der so-genannte Kopf der Mathematischen Schule, nicht zögerte zu bekennen, dass er nicht kompetent sei, die Arbeiten Cournots zu verstehen (infolge unzurei-chender Kenntnis der höheren Mathematik: Vgl. Jevons, W. S., The Theory of Political Economy (1871), S. XXIX der Ausgabe von 1888 ⟨S. XLV der deutschen Ausgabe von 1924⟩).

Zur Vermeidung von Wiederholungen werden wir die ohnehin hinrei-chend bekannte, wenn auch nur durch ihre Reproduktion in den Arbeiten Mengers u.a., Lehre Gossens27 nicht darstellen und gehen direkt zur Erörte-rung der Grenznutzentheorie in ihrer am weitesten entwickelten Form über, wobei wir uns hauptsächlich auf Walras, Launhardt, Jevons sowie Auspitz und Lieben beziehen werden.

Nur eine einleitende Bemerkung stellen wir voran: Die Mehrzahl der Vertreter der Grenznutzentheorie, welche das Problem des Zustandekom-mens des Tauschverhältnisses in den Fällen des isolierten Tausches lösten, richteten ihr Hauptaugenmerk auf das Nutzenmoment; bezüglich des

27 Siehe Gossen, H. H., Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, Braunschweig 1854. Über das Gesetz der Aufteilung der Produktivkräfte auf die Produktion verschiedener Güter siehe S. 33, 39, 45 („… hat der Mensch seine Zeit und Kräfte auf die Bereitung der verschie-denen Genüsse der Art zu vertheilen, daß der Werth des letzten bei jedem Genuß geschaffenen Atoms der Größe der Beschwerde gleich kommt, die es ihm verursachen würde, wenn er dieses Atom in dem letzten Moment der Kraftentwicklung schaffte.“). Über den Ausgleich des Grenznutzens beim Tausch siehe S. 85 („Es muß jeder der beiden Gegenstände nach dem Tausche unter A und B der Art sich vertheilt finden, daß das letzte Atom, welches jeder von einem jeden erhält, beiden gleich großen Werth schafft.“). Über den Mechanismus der Verteilung der Produzenten auf die einzelnen Zweige in Übereinstimmung mit dem aufgestellten Gesetz des Nutzenausgleichs siehe S. 90-98. Über das psychologische Gesetz der Nutzenverminderung siehe S. 4 f.

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Die Evolution der „Theorie des Grenznutzens“ (1750-1854) 231

Einflusses der gesamten Kaufkraft der Konsumenten auf das Zustandekom-men des Marktpreises beschränkten sie sich auf sehr allgemeine Betrachtun-gen, ohne auch nur zu versuchen, den Einfluss dieses Faktors quantitativ genau auszudrücken. Dieses Moment wurde nur von den mathematischen Ökonomen in seinem vollen Umfang in Betracht gezogen, für welche die Kompliziertheit der Abhängigkeit zwischen gegebenen und gesuchten Größen kein Hindernis für eine genaue Lösung der Frage darstellte. Einzeln jedoch, unabhängig von der Grenznutzentheorie, ⟨Seite 125⟩ wurde der Einfluss des Unterschieds in der Kaufkraft der Konsumenten auf das Zustandekommen der Marktpreise viel früher zum Gegenstand der ökonomi-schen Analyse gemacht („Statistisches Gesetz des Konsums“ von französi-schen Autoren28). In Wahrheit ist die Erklärung, die durch das „Statistische Gesetz des Konsums“ gegeben wird, grob und primitiv, aber trotzdem zeigte diese Theorie einen der Gründe für die Verringerung der Nachfrage bei einer Erhöhung des Preises des Produktes richtig auf. Der Einfluss der Kaufkraft

28 So formulierte z.B. der populäre französische Ökonom J. Garnier (J. B. Say folgend) in einer seiner frühen Arbeiten den Einfluss dieses Faktors: „Nehmen wir an“, schreibt er, „dass die Pyramide“ (Fig. B) ⟨Abb.3.2⟩ „das Vermögen der Bürger darstellt, und dass die Skala auf der Seite die Preise der Erzeugnisse misst. Man sieht, dass, wenn die Erzeugnisse nichts kosten, alle Vermögen, die die Grundfläche der Pyramide bilden, sie sich verschaffen können; dass bei einem bestimmten Preis (100 Franken z. B.) nur noch eine sehr kleine Anzahl von Individuen, die die Spitze der Pyramide bilden, sie kaufen wollen, und dass sie schließlich bei 125 Franken in niemandes Reichweite mehr sind, oder, was auf das Gleiche hinauskommt, dass alle es ablehnen, sie zu kaufen.“

125100

7550250

DC

BA

Abb. 3.2

„… Jeder Pyramidenabschnitt kann auch den Teil des Vermögens darstellen, den jeder Einzelne dem Erwerb eines Erzeugnisses mit einem bestimmten Preis opfern kann und will. Diese Zahlen sind willkürlich, aber es ist leicht, sie durch reale Daten zu ersetzen.“ (Garnier, J., Éléments de l′économie politique, 2. Aufl., Paris 1848, S. 317 f.). ⟨Eigene Übersetzung. Dmitriev verwendet eine russische Übersetzung. Dort findet sich das Zitat Garniers sowie die Abbildung auf S. 351. Die englische Ausgabe verweist auf S. 196 f., Fn. 3 auf eine andere Schrift Garniers aus dem Jahre 1796. Unsere Recherchen ergaben jedoch, dass weder das Zitat noch die Graphik darin enthalten sind.⟩

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232 Die Theorie des Grenznutzens

der Konsumenten auf das Zustandekommen des Marktpreises der Produkte fand seinen wahren Platz in der Grenznutzentheorie in ihrer entwickelten Form, die sie in den Arbeiten von L. Walras und anderen Vertretern der „Mathematischen Schule“ erhält.

Zur Erörterung dieser „entwickelten“ Grenznutzentheorie gehen wir nun ins nächste Kapitel über.