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E. Ebstein (ed.), Är ƶte-Memoiren © Julius Springer in Berlin 1923 mals so weit beherrscht, daB ich zuriicktreten wollte. Da war sie es, welche mich mit ihrer Energie hochhielt, und welche mich auch in der nachsten Folge, bis meine Krafte sich wieder einstellten, immer wieder anspornte. Man hat mich gefragt, und wiederholt mir vorgeworfen, daB ich in der Zeit, als mannigfache Berufslockungen an mich herantraten, diesen aus dem Wege ging. Es ware ein Verrat an meiner liebsten Kameradin gewesen, wenn ich in jener Zeit, wahrend sie bereits schwer litt, unser so lieb gewordenes Heim in Got- tingen zu gunsten von Bonn verlassen hatte. Sie hat nie etwas dagegen gesagt, aber ihre leuchtenden Augen, als mil' die Studenten mit einem Fackelzug fiir mein Bleiben dankten, lohnten mir, daB ich das Opfer, wenn es iiberhaupt ein solches war, gebracht. Und nun vollends: es ware eine nicht gut zu machende Gemeinheit gewesen, wenn ich den mir sicheren Ruf (I882) nach Berlin, nach Langenbecks Abgang, ange- nommen, und die, wie jetzt feststand, dem Tode Geweihte, noch aus unserem sicheren Heim in den Larm einer neuen anspruchsvollen Heimat hatte verpflanzen wollen. Sie hat iiberhaupt nichts da von erfahren, daB ich diese Lockung so- fort abgelehnt haUe. Wenn sich so mein Leben durch das Leiden meiner Frau anders gestaltet hat, als es sich mit ihr, der gesunden, gestaltet haben wfude, so empfinde ich dariiber keinen Kummer. Ich habe meinem besten Kameraden die Treue gehalten. Wilhelm Wundt (I832-I9I9) Wilhelm Max Wundt wurde am 16. August 1832 zu Neckarau in Baden geboren. Schon in seiner Tfibinger Studienzeit (1851 - 56) wurde es ihm zweifelhaft, ob der Beruf des praktischen Arztes der ffir ihn geeignete sei. Wie er den Entschluf3 faf3te, Physiologe zu werden, und seinen Entwicklungs- gang in der Heidelberger Zeit hat er in "Erlebtes und Erkanntes" (1920), das kurz nach seinem Tode erschien, dargestellt. Der Kliniker Hasse schreibt aus dieser Zeit in seinen "Lebenserinnerungen" fiber ihn: "Wundt hatte als Student eine physiologische Preisaufgabe riihmlich gelost und gedachte in derselben Richtung weiterzuarbeiten. Ich redete ihm ZU, vorerst bei mir als Assistent einzutreten, weil es mir von besonderem Nutzen schien, wenn

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E. Ebstein (ed.), Ärƶte-Memoiren © Julius Springer in Berlin 1923

mals so weit beherrscht, daB ich zuriicktreten wollte. Da war sie es, welche mich mit ihrer Energie hochhielt, und welche mich auch in der nachsten Folge, bis meine Krafte sich wieder einstellten, immer wieder anspornte. Man hat mich gefragt, und wiederholt mir vorgeworfen, daB ich in der Zeit, als mannigfache Berufslockungen an mich herantraten, diesen aus dem Wege ging. Es ware ein Verrat an meiner liebsten Kameradin gewesen, wenn ich in jener Zeit, wahrend sie bereits schwer litt, unser so lieb gewordenes Heim in Got­tingen zu gunsten von Bonn verlassen hatte. Sie hat nie etwas dagegen gesagt, aber ihre leuchtenden Augen, als mil' die Studenten mit einem Fackelzug fiir mein Bleiben dankten, lohnten mir, daB ich das Opfer, wenn es iiberhaupt ein solches war, gebracht. Und nun vollends: es ware eine nicht gut zu machende Gemeinheit gewesen, wenn ich den mir sicheren Ruf (I882) nach Berlin, nach Langenbecks Abgang, ange­nommen, und die, wie jetzt feststand, dem Tode Geweihte, noch aus unserem sicheren Heim in den Larm einer neuen anspruchsvollen Heimat hatte verpflanzen wollen. Sie hat iiberhaupt nichts da von erfahren, daB ich diese Lockung so­fort abgelehnt haUe. Wenn sich so mein Leben durch das Leiden meiner Frau anders gestaltet hat, als es sich mit ihr, der gesunden, gestaltet haben wfude, so empfinde ich dariiber keinen Kummer. Ich habe meinem besten Kameraden die Treue gehalten.

Wilhelm Wundt (I832-I9I9)

Wilhelm Max Wundt wurde am 16. August 1832 zu Neckarau in Baden geboren. Schon in seiner Tfibinger Studienzeit (1851 - 56) wurde es ihm zweifelhaft, ob der Beruf des praktischen Arztes der ffir ihn geeignete sei. Wie er den Entschluf3 faf3te, Physiologe zu werden, und seinen Entwicklungs­gang in der Heidelberger Zeit hat er in "Erlebtes und Erkanntes" (1920), das kurz nach seinem Tode erschien, dargestellt. Der Kliniker Hasse schreibt aus dieser Zeit in seinen "Lebenserinnerungen" fiber ihn: "Wundt hatte als Student eine physiologische Preisaufgabe riihmlich gelost und gedachte in derselben Richtung weiterzuarbeiten. Ich redete ihm ZU, vorerst bei mir als Assistent einzutreten, weil es mir von besonderem Nutzen schien, wenn

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ein Physiolog die Bediirfnisse des arztlichen Wissens und Handelns einmal grUndlich kennen lernte und kiinftig beriicksichtigen wurde. Wundt hat sich bekanntlich spltter der Philosophie und Psychophysik gewidmet. hat aber selbst. nachdem er in diesen Fachern berUhmt geworden. den Wert einer solchen praktischen Durchgangsbildung nicht verkannt." 1874 rief man Wundt nach Ziirich und 1875 nach Leipzig als Professor der Philoso­phie. Er begriindete dort das Institut fUr experimentelle Psychologie.

Ais ich in meinem ftinften Semester begann, zu den natur­wissenschaftlichen und anatomisch-physiologischen Studien der vorangegangenen Jahre die praktischen Facher hinzu­zuftigen, hatte ich mir fUr diese zur Regel gemacht, Theorie und Praxis wo immer moglichst zu verbinden. Bei den prak­tischen Fachern, besonders bei der inneren Medizin, schien mir das urn so mehr erforderlich, als Hilfsmittel, wie sie die naturwissenschaftliche Abbildung der Objekte gewamt, hier nicht zu Gebote stehen. Die Beschreibung eines Krankheits­falles ist kaum imstande, einen auch nur irgend zureichenden Ersatz der Wirklichkeit zu gewamen, denn sie setzt zwei Wirklichkeiten voraus: die Krankheitserscheinungen am lebenden Korper und die pathologischen Veranderungen an den durch sie affizierten Organen. Eine Vorlesung tiber Pathologie ist also im Grunde eine Anweisung auf Dinge, deren jedes besonderer Objekte und Hilfsmittel bedarf. In meiner Studienzeit pflegte nun meist die Pathologie zuerst in Vorlesungen behandelt zu werden, diesen lieB der Mediziner ein klinisches Semester folgen, in we1chem er an das Krankenbett geftihrt wurde, urn das ein Semester vorher Gehorte selbst zu sehen. Daran reihte sich noch ein Semester, spater ein Kursus an der Leiche, bei dem er Sek­tionen der verstorbenen Kranken ansehen durfte. Die zu dies en Sektionen gegebenen Erlauterungen bildeten zugleich eine Art Repetitorium zu den vorangegangenen Lehrkursen im Horsaal und am Krankenbett. Das war eine zeitraubende und fUr die rein theoretischen Vortrage ziemlich unntitze Zersttickelung des Stoffes. So habe ich sie denn auch fUr mich selbst von Anfang an abgeschafft, urn mindestens die zwei ersten unter diesen drei Kursen sofort zu verbinden, woran sich dann der dritte, der pathologisch-anatomische, von selbst

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anschloB. Hierdurch war dieselbe Verbindung hergestellt, die meines Wissens seitdem fast iiberall iiblich geworden ist, nur das gegenwartig die vorbereitenden Facher der Anatomie und der Physiologie zu kurz kommen.

Diesem Streben, durch eigene Erfahrung einen Einblick in die verschiedenen hier einander durchkreuzenden Gebiete der Pathologie zu gewinnen, kam nun ztmachst ein zufal­liges Ereignis zu Hilfe, das mit meinem Eintritt in die prak. tischen Facher zusammenfiel. Es bestand in einer Preisauf­gabe, welche die Heidelberger medizinische Fakultat fUr den Herbst I854 gestellt hatte. Dies war die Zeit, in welcher ich nach dem iiblichen Lehrplan eben erst den Anfang der Vor­lesung iiber Pathologie gehort hatte, in welcher mir aber sogar die pathologische Anatomie, vollends die operativen Facher noch fremd waren. Dennoch reizte mich die Auf­gabe, die eine Untersuchung der auf die Durchschneidung der Lungen-Magennerven folgenden Veranderungen der Lun­gen verlangte, als eine physiologische zu ihrer Bearbeitung, obgleich sie eine gewisse operative trbung an Tieren, nament­lich aber pathologisch-anatomische Kenntnisse voraussetztc. Aber ich suchte mir seIber zu helfen, indem ich in den geeig­neten Lehrbiichern die Schilderung der Anlegung von Luft­rohrenfisteln las und dann diese Operation selbst an Kanin­chen ausfiihrte, und auBerdem ein antiquarisches Exemplar von Rokitanskys pathologischer Anatomie erstand, in welcher ich das Kapitel iiber Lungenerkrankung griindlich studierte, um die vortrefflichen Beschreibungen dieses Autors mit meinen Beobachtungen an den operierten Tieren zu vergleichen. Da die Ausfiihrung der Experimente dringend einen Assisten­ten erforderte, der dem Operierenden beim Aufbinden und Festhalten der Tiere sowie bei den nach der Operation aus­gefiihrten Temperaturmessungen und anderen Manipula. tionen beistand, so unterstiitzte mich meine gute Mutter an Stelle eines solchen. Noch schwebt mir in der Erinnerung vor, wie sie bei der Ausfiihrung der Vivisektionen das Gesicht zur Seite wandte, um sich den Anblick der Operation zu ent­ziehen, dabei aber mit der groBten Geduld sich die erforder·

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lichen Fertigkeiten aneignete und schlieBlich das Manuskript der Arbeit ins Reine schrieb. Da von dem Lungenmagen­nerven direkte Nervenfasern zur Lunge gehen und auBerdem soIche weiter unten sich zu einem besonderen Nerven sammeln, der zuriickHiuft und sich in den Kehlkopfmuskeln aus­breitet, so zerlegte sich die gestellte Aufgabe von selbst in eine doppelte Experimentalreihe, von denen die eine ;n der Durchschneidung des Vagusstammes am Hals, die andere in der des eng der Luftrohre anliegenden Nervus recurrens bestand. Ais Resultat ergab sieh, daB die durch die Rekur­renstrennung bewirkte KehlkopfHihmung eine den Eintritt der Bronchien umgebende Lungenentziindung erzeugte, die ihre manifeste Ursache in den durch den geHihmten Kehl­kopf eintretenden Speisemassen hatte, wogegen, wenn der Vagusstamm durchschnitten wurde, dazu eine zweite, nament­lich bei jugendlichen Tieren iiber die ganze Lunge verbreitete eigenartige Affektion hinzukam, die ich nach meinem Rat­geber Rokitansky als eine "Atelectasis pulmonum" diagno­stizierte, und die beim Menschen, namentlich bei neugebo­renen Kindern, infolge mangelhaft zustand gekommener Atmung beobachtet wird.

Die Preisaufgaben der medizinischen FakulHit pflegten damals in der Klinik oder dem Institut des Professors gelost zu werden, von dem die Aufgabe gestellt war. Der Preis­trager war daher in der Regel schon zuvor bekannt, und meine vorschriftsmaBig anonym eingereichte Arbeit setzte deshalb die Fakultat einigermaBen in Erstaunen .. War sie doch in meiner Studierstube entstanden, ohne daB jemand auBer meinem Hause davon etwas wuBte. Aber da ieh mit HiHe meines Rokitansky zu genau denselben Resultaten gelangt war wie mein Konkurrent mit der Unterstiitzung seines Professors, so war man in einiger Verlegenheit, wer mit dem Preis zu kronen sei. Die Fakultat half sieh jedoch dadurch, daB sie ausnahmsweise beiden Bewerbern den Preis erteilte. Das geschah besonders unter Befiirwortung des altesten Ordi­narius, der es als ein besonderes Verdienst des unerwarteten Bewerbers ansah, daB dieser seine Schrift sowohl in deutscher

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wie in lateinischer Sprache eingereicht hatte. Freilich war dies nur infolge eines MiBverstandnisses geschehen. Die Fakul­tat hatte namlich die alte Sitte beibehaIten, die Preisauf­gaben in lateinischer Sprache zu stellen, wogegen die andere, sie auch lateinisch zu schreiben, langst aus der Mode gekom­men war. Als ich nach Fertigstellung meiner ziemlich mOO­seligen 'Obersetzung meiner Arbeit zufallig horte, man pflege sichschon aus Rucksicht auf die Bequemlichkeit der Fakultat mit dem deutschen Texte zu begnugen, hatte ich beschlossen, beider Versionen einzureichen, urn auf aIle FaIle den et­waigen Anspruchen zu genugen.

DaB ein Autor, der in seinem Leben mancherlei Arbeiten zum Druck befordert hat, durch keine spatere mehr in glei­chern Grade erfreut wird, wie durch die erste, ist eine be­kannte Erfahrung. Von meiner Arbeit uber die Durchschnei­dtmg des Vagus gilt das aber in besonderem Grade, weil sie zu einem Briefwechsel mit Johannes Muller fiihrte, dem ich mein deutsches Manuskript zur Aufnahme in das von ihm herausgegebene "Archiv fur Anatomie und Physiologie", die angesehenste physiologische Zeitschrift, ubersandt hatte, und weil Johannes Muller sie mit einigen anerkennenden Worten in den Jahrgang I865 dieser Zeitschrift aufnahm.

In Heidelberg trat ich nach dieser privaten vivisektori­schen Vorbereitung als Schiller in den gesamten Lehrumfang' des zu seiner Zeit hauptsachlich als pathologischer Anatom geschatzten Klinikers Ewald Hasse ein. Seine Vortrage zeich­neten sich durch groBe Klarheit aus. Besonders aber seine Sektionen und Demonstrationen an der Leiche waren muster­gilltig, und ihr Wert erhohte sich dadurch, daB jeder dieser Vortrage ein in sich zusammenhangendes Ganzes bildete, was die Nachteile der in dem damaligen Lehrplan liegenden Zersplitterung der Facher wieder einigermaBen aufhob. Instruktiv fiir den spateren Arzt war es auch, daB er die ambulatorische Klinik selbst abhie1t, so daB sein Unterricht durch die Einfuhrung in jenen Wechsel zwischen verschie­denen Formen der Krankenbehandlung, genau wie sie im taglichen Leben vorkommt, weit mehr ein Bild der Wirk-

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lichkeit bot, als es bei der Verteilung der inneren Medizin auf mehrere Personen der Fall zu sein pflegt.

Einen vollen Gegensatz zu dieser der Wirklichkeit ange­paBten vielseitigen Lehrweise Hasses bildete die gewisser­maBen dem Lebensalter dieser Klinik entsprechende des Professors der Chirurgie. Hasse gehorte zu den jiingeren Ordinarien. Ein geborener Sachse, war er ein Jahr vorher von ZUrich, dieser Anfangsprofessur so vieler deutscher Ge­lehrter, nach Heidelberg berufen worden, und er stan<;l be­sonders in der Therapie noch in mitten der jiingeren Genera­tion. Diese war aber eine vorwiegend skeptische. Bel den inneren Krankheiten iiberlieB man diese womoglich sich selbst oder begniigte sich mit der Anwendung von auBeren Mitteln, namentlich von Gegenreizen. Die "Moxa", ein auf die Haut gesetzter brennender Zylinder, der sich tief bis in das Unter­hautgewebe einbrannte, war ein Gegenreiz, mit dem Hasse selbst bei verschiedenen Leiden sich qualte. Die inneren Mittel, die er beim Patienten anwandte, waren groBenteils bloBe Scheinmittel, die er zum Zweck der Beruhigung des­selben verschrieb. Ein "Decoctum Salep", ein AufguB der Sale pwurzel , der an Heilwirkung ungefahr einer Wasser­suppe gleichkommt, war bei ihm beinahe zum UniversaJ­mittel geworden. Das Wesentliche der Medizin bestand ihm aus Diagnose und pathologischer Anatomie, die eigentIich wissenschaftliche Grundlage allein aus dieser. Der Chirurg eheliusl ) dagegen, der sich bereits der Achtzig naherte, war der alteste aktive Lehrer der Universitat. Er vertrat aber nicht bloB die eigentliche Chirurgie, sondern auch die Augen­heilkunde nebst den iibrigen heute als Dependenzen der Chirurgie von ihr gesonderten Pathologien der Ohren, der Nase, sowie der noch jetzt ein schwankendes Dasein zwischen Spezialfach und Teil der gesamten inneren Medizin fiihrenden Sondergebieten der Haut, des Magens, der Kinderkrank­heiten usw. Alles das war noch zu einem einzigen gloBen Gebiet verbunden, wobei dann freilich die alteren Arzte von

1) Vgl. oben (5.2I5f.) die 5childerung Pagenstechers.

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den damals bereits iiblichen diagnostischen und zum Teil auch therapeutischen Hilfsmitteln meist keinen Gebrauch machten. Chelius nahm vielleicht sogar darin eine Ausnahme­ste1lung ein, daB er erkHirte, ein einzelnet Fall wiirde sich zur Untersuchung mit dem Augenspiegel eignen, wenn nicht dieser eine zu gefabrliche Reizung des Auges verursachte. Einen Augenspiegel zu sehen bekamen wir Schiller aber niemals. Urn so reicher war der Vorrat an Arzneimitteln, teils vegetabilischer, teils mineralischer Abstammung, ilber die er verfiigte, die iibrigens meist seit alter Zeit unter einem einheitlichen Namen in den Apotheken vorratig waren. So war ein besonders beliebtes Mittel eingewisses "Pulvis antiscro­phulos", das aus einigen zwanzigStoffen,groBenteilsKrautern, zusammengesetzt war, als einen wesentlichen Bestandteil aber auBerdem die Asche alter verbrannter Schuhsohlen enthielt.

Auch CheliU5 trug die Chirurgie teils rein theoretisch in einer sechsstiindigen Vorlesung vor, teils demonstrierte er sie am Krankenbett, wobei jedoch die Operationen sein ihm assistierender Sohn ausfiihrte. Charakteristisch waren dabei die Krankenbesuche, bei denen sich ihm eine Schar studenti­scher Schiiler als Zuhorer anschlossen. Freilich verhielt sich Che1ius bei dies en in der Regel vollkommen schweigend, daher denn auch seit Jahren die chirurgische Klinik den Namen der "Stillen Klinik" bei den Studierenden fiihrte. Etwas anders ging es allerdings in der meist von Landleuten der Heidelberger Umgebung besuchten ambulatorischen Kli­nik zu. Hier bot die Unterhaltung zwischen Chelius und dem liindlichen Patienten einen eigenartigen GenuB, man konnte sagen, sie war eine Abart des Sokratischen Gesprachs, die auch der Sokratischen Ironie nicht entbehrte. Diese ergotz­lichen Bestandteile des Unterrichts zeigten, daB diese Klinik dereinst einmal bessere Tagegesehen hatte, aber sie zeigten auch deutlich die Folgen, die das Altwerden im Beruf mit sich fuhrt, und die beim Arzte nur vie11eicht auffallender zu Tage treten, als sonst, weil der arztliche Beruf als Neben­bestandteil eine vulgare Konversation zwischen Arzt und Patient mit sich fOOrt, die bei allmahlich erliihmender Energie

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schlieBlich als def einzige Bestandteil ubrig blieb. Dieselbe Alterserscheinung findet sieh natiirlich im Grunde ebenso innerhalb anderer Berufe, aber sie ist wegen der aus Wissen­schaft, Kunst und Leben zusammengesetzten Beschaffen­heit des arztlichen bei ihm wohl aufHi1liger als bei irgend­einem anderen. Er fordert teils eine Scharfe der Sinne, teils technische Fertigkeiten, denen im allgemeinen der Mensch nur in der Jugend vollkommen gewachsen ist, und die er sieh bis zu einem gewissen Alter erhalten kann, wenn er sie ein­mal erworben hat, aber nieht mehr erwerben kann, wenn er sie verloren hat. Dies bringt es mit sieh, daB der Wandel der Wissenschaft hier im allgemeinen die altere Generation schneller als anderwarts hinter ihrem Fortschritt zuruck­bleiben oder auch von ihr der Untauglichkeit der neuen Hilfsmittel zuschreiben laBt, was in dem Versagen der eigenen Krafte seinen Grund hat. Daneben gehen dann aber noch Wandlungen der allgemein verbreiteten Anschauungen einher, an denen alt und jung teilnehmen. So ist dem skeptischen Charakter, den die innere Medizin in meiner Jugend besaB, ein Zeit alter verschwenderischer Therapie vorangegangen, und, soweit ieh es aus einiger Ferne beobachten kann, nieht minder nachgefolgt. Beidemal jedoch unter verschiedenen Bedingungen, zwischen denen eben die skeptische Therapie eine Art Dbergang bildete. Der Arzt der alten Schule muBte sieh aus den in der Natur vorkommenden Stoffen als echter Pharmazeut seine Heilmittel selbst zusammensetzen, und er griff daher zu moglichst vielen auf einmal. Nachdem die Pharmazie zu einem bloBen Anwendungsgebiet der Chemie geworden ist, bietet ihm das chemische Laboratorium Pra­parate dar, die in konzentrierter Form und womoglich als rationell zusammengesetzte chemische Verbindungen sofort komplizierte therapeutische Wirkungen hervorbringen, so daB der Reichtum, mit dem der pharmazeutische Markt mit neuen und immer neuen Mitteln iiberschwemmt wird, zu einem Experimentieren mit den Produkten dieses Marktes anspornt. So traten die beiden Perioden jenseits und dies­seits jener skeptischen Zwischen zeit nach ihren Mitteln in

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einen scheinbaren Gegensatz zu einander, wahrend sie in ihren Zwecken zusammengingen.

Erscheinungen dieser Art sind wie gesagt typisch, aber das arztliche Gewerbe bietet sie in einer durch die Gebun­denheit der Hilfsmittel und Methoden an bestimmte auBere Bedingungen besonders augenfallige Form dar. Diese Be­dingungen konzentrieren sich in der vollendeten Anpassung der Behandlung an die Personlichkeit des Patienten, die in erster Linie in dem auBeren, von den eigentlich medizinischen Hilfsmitteln unabhangigen Verkehr mit demselben zum Aus­druck kommt. Sie sind es, die dem Arzt den Ruf des "groBen Arztes" zu verschaffen pflegen und die dieser Bezeichnung ein gewisses Recht verleihen, denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daB die der Seite des sozialen Verkehrs zugehorige rein humane Behandlung, die den Menschen nach seinen personlichen Eigenschaften abschatzt, ungefahr ebenso einen wichtigen Teil des arztlichen Berufs bildet, wie etwa der Erziehungsberuf nicht bloB im Unterrichten des Schulers, sondern in den mannigfaltigsten Beziehungen des Zusammen­lebens mit ihm einen Ausdruck findet. In diesem Sinne konnte man von dem alten Chelius sagen: er war ein vollendeter arztlicher Padagoge, und wenn seine Schiiler in dieser Rich­tung seinem Vorbild einigermaBen nahezukommen ver­mochten, so hatten sie mehr erreicht, als was ihnen ein noch so vortrefflicher medizinischer Unterricht zu bieten vermochte. In dieser Beziehung bildeten a ber gerade Hasse als Typus des modernen Arztes, der die landlichen Patienten durch seine rauhe, die stadtischen durch seine ironische Behandlung mehr abzuschrecken als ihr Vertrauen zu erwecken wuBte, und Chelius als Typus des alten welterfahrenen Arztes, der durch seine vortrefflich den Charakter angepaBte Behand­lung das Vertrauen des Patienten, welcher Klasse von Men­schen dieser auch angehorte, zu gewinnen verst and, vollendete Gegensatze. FUr die Nachteile und die Vorziige, die das Alter und die Jugend im Verhrutnis zueinander bieten und die sich bis zu einem gewissen Grade ausschlieBen, waren sie glanzende Beispiele ....

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... Ein Bekannter, der seit einiger Zeit als klinischer Assistent bei dem von mir geschatzten Lehrer Hasse tatig gewesen, aber sein medizinisches Staatsexamen noch nicht gemacht hatte, wiinschte der Vorbereitung zu diesem ein halbes Jahr zu widmen und schlug mich fiir diese Zeit als seinen Stellvertreter vor. Hasse nahm den Vorschlag an, und so bezog ich denn als Assistent bei der Frauenabteilung der Heidelberger Klinik meine Wohnung fiir die nachste Zeit. Es war ein etwas verantwortungsvoller Beruf, denn ich war def einzige Assistent auf dieser Abteilung, und ich muBte bei Tag und Nacht mit meinen Hilfeleistungen bereit sein, sowie den Direktor der Klinik bei seinen taglichen Besuchen liber aIle Vorkommnisse orientieren.

Das war die Zeit, in der ich im Gebiet der Medizin, wenn iiberhaupt, wirklich etwas gelernt habe. Freilich war es eine etwas einseitige Schulung, die ich hier genoB. Denn die Frauenabteilung einer stadtischen Klinik gewahrt aus der FiiIle der Kranken, die dem Arzt begegnen konnen, ~ine eigenartige Auslese, die sonst wohl nirgends wiederkehrt. Sie bestand damals, wo das Kontingent der Fabrikarbeiterinnen noch kaum vorkam, wesentlich aus stadtischen Dienstboten, einigen Landleuten und mehreren, in einer besonderen Ab­teilung untergebrachten Dienerinnen der Venus vulgivaga, deren Anzahl keineswegs klein und deren Behandlung nicht die leichteste war. Da die Mannerabteilung der inneren und die chirurgische Klinik in dem gleichen Gebaude. der jetzigen Infanteriekaserne von Heidelberg, untergebracht und jede von ihnen eben falls einem einzigen Assistenten unterstellt war, so bildete sich aber natiirlich zwischen diesen drei Assistenten ein freundschaftliches Verhaltnis, das jeden dieser ungefahr dem Examenalter angehorigen Mediziner auch zu einer gewissen Teilnahme an den Berufspflichten der beiden anderen aufforderte.

Dabei drangte sich mir mm sehr bald die Beobachtung auf, daB die Stellung des jungen Arztes dem weiblichen Geschlechte gegeniiber die verhaItnismaBig schwierigste ist. Auf der allgemeinen Frauenabteilung herrschte namentlich

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in den groBeren KrankensaIen fortwahrend eine lebhafte Konversation, und diese steigerte sich in der Abteilung der offentlichen Personlichkeiten nicht selten zu einem Skandal, der die Disziplin des mit der Aufsicht betrauten Arztes heraus­forderte. Auch konnte man sieher sein, daB jeder auffallendere Vorgang, der sich an einem Ende der Klinik ereignete, nach kiirzester Zeit auch am anderen bekannt war, urn so mehr, da die Krankenwarterinnen, denen die nachste Pflicht der Uberwachung zufiel, hier ungleich mehr in dies en sozialen Verkehr eingriffen, als die Warter und Warterinnen der Man­nerabteilung. Das hing damit zusammen, daB es auf dieser iiberhaupt viel stiller zuging. Hier galt umgekehrt die Regel, daB zahlreiche Kranke sich vollkommen schweigsam ver­hielten, dadurch aber einen Verkehr auch fiir die anderen erschwerten. EinigermaBen wirkte hierzu freilieh der Um­stand, daB die Frauen schon bei leiehteren Erkrankungen die Klinik aufsuchten, als die Manner. Die schwereren Kran­ken, die bei diesen die Hauptrolle spielten, waren iiberdies vorzugsweise Typhuskranke und Tuberkulose, von denen zu jener Zeit die ersteren als in hohem Grad ansteckend, die letzteren fiir vollig ungefahrlich galten und selbst gegen Ansteckung geschiitzt sein sollten, daher man eine regel­maBig wechselnde Anordnung der Krankenbetten vorzog. Eine besondere Erschwerung lag endlich noch bei der Be­sorgung der Frauenabteilung darin, daB die Kranken viel geneigter waren, die nachtliche Hilfe des Arztes in Anspruch zu nehmen. Fiir einen jugendlichen Assistenzarzt, der eines griindlichenSchlafes bedurfte, war dies eine schwere Belastung, urnso mehr als er sich noch dazu bei der kurzen Strecke, die er zuriickzulegen hatte, wie ich von mir bekennen muB, zuweilen in einem an Hypnose grenzenden Halbschlaf befand. Dabei hatte ich bei einem solchen nachtlichen Krankenbesuch ein Erlebnis, das mir beim volligen Erwachen einen schweren Schrecken erregte. In den Krankenzimmern standen friedlich nebeneinander, das damals unter dem Namen Laudanum Sydenhami bekannte Opiumpraparat und die Jodtinktur. Ich reichte aber der Patientin und noch da.zu mit dem BewuBt-

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sein, daB es die Jodtinktur war, diese statt des Opiums. Hasse, dem ich am folgenden Morgen ein Siindenbekenntnis abgelegt, vermied zunachst vorsichtig das Bett der Patientin mit der kurzen Bemerkung: "Es wird ihr wohl nichts gescha­det haben!" Mir aber blieb ein so tiefer Eindruck, daB ich mich wochenlang mit dem Bedenken trug, ob jemand, dem eine solche Verwechslung begegnen konnte, befiihigt sei, den arztlichen Beruf auszuiiben.

Neben diesem und ahnlichem MiBgeschick, zu dem auch die auf der Frauenabteilung durch das wechselseitige Bei­spiel sich steigernden Hysterieanfalle gehorten, bot jedoch die Klinik manche reiche Belehrung, die auf anderem Wege kaum zu gewinnen war. In erster Linie gehorten hierher Sektionen, die Hasse zuweilen seinen Assistenten iiberlieB und die mir nicht, wie manchem meiner Kollegen widerstreb­ten, sondern die durch die reiche Anschauung, die sie boten, und durch die fortschreitende Obung mir eher zu einem fiihl­baren GenuB wurden, so daB mir manchmal def Gedanke durch die Seele ging, ob nicht der Beruf des pathologischen Anatomen eill meinen Neigungen und Talenten entsprechen­der sei. Aber er wurde doch bald durch den alten EntschluB, mich der Physiologie zu widmen, zuriickgedrangt.

Moritz Benedikt (r835-1920)

Geboren am 4. Juli 1835 zu Eisenstadt in Ungarn, kam er jung nach Wien, studierte seit 1853 anfangs Mathematik und Physik, dann Medizin. Aus dieser Zeit stammen seine Erinnerungen an Hyrtl und Rokitansky, die er in seinen Memoiren: "Aus meinem Leben" niedergelegt hat. Nach seiner Promotion (1859) habilitierte er sich 1861 fUr Elektrotherapie. 1868 wurde er Extraordinarius und 1899 Ordinarius. Er starb im April 1920. Seine Arbeiten umfassen auBer der eigentlichen Nervenheilkunde und deren elektrischer Behandlung auch die Anthropologie, Kriminalanthropologie sowie verschiedene Gebiete der Psychologie, Biologie und Biomechanik.

An der medizinischen Fakultat (Wien) r854-r858. Es waren auBere Verhaltnisse, die mich .zur Medizin drang­

ten. . .. Der Gedanke an den Seziersaal· floBte mir solange