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Zwischen unbedachtem Aktivismus und verharmlosendem Wegschauen
Früherkennung von Gewalt an kleinen Kindern
Fachtagung MMI, 15. Mai 2014 Flavia Frei, Stiftung Kinderschutz Schweiz
Einige Vorbemerkungen ➤ In fast 80% der Fälle von Kindsmisshandlung, sind
Familienmitglieder die Verursacher (vgl. Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie,
Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen Kinderkliniken, 2013). ➤ Fachpersonen aus dem Frühbereich haben häufig einen vertieften
Einblick in den familiäre Kontext und auf die Situation des Kindes. Sie nehmen daher eine wichtige Funktion ein, wenn es um die Einschätzung und eine erste Intervention bei einer Kindswohlgefährdung geht.
➤ Ignorieren von psychischer und physischer Gewalt und Vernachlässigung darf keine Option für Fachkräfte und Institutionen im Frühbereich darstellen.
➤ Fachliches Wissen im Bereich des Kindesschutzes und Sicherheit in dessen Anwendung ist daher zentral.
Fakten und Zahlen
- Keine verlässlichen Zahlen für die Schweiz - 2012: 1136 Meldungen von Kinderschutzfällen durch
die Kinderkliniken - 21% waren Kinder von 0 – 1 - 46% waren Kinder von 0 – 6 - In 79.1% der Fälle wurde die Gewalt durch
Familienangehörige ausgeübt, in 13.9% durch Bekannte des Kindes
- Gefährdungsmeldung an KESB in 50% der Fälle
Quelle: SGP, Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen Kinderkliniken. Medienmitteilung vom 6.6.13.
Früherkennung ist wichtig
- Potenzielle Gefährdung, besonders von Kleinkindern, möglichst früh erkennen
- Im Idealfall, bevor Gewalt stattfindet, wiederholt wird oder eskaliert.
Denn: - Besonders schädlich, manchmal tödlich - Gewalt hemmt / verhindert gelungene Beziehung
zwischen Kind und Bezugspersonen - Gewaltspirale
Früherkennung durch Berufspersonen
z.B. - Kinderärztin, Kinderarzt - Früherzieherin und –erzieher - Hebamme - Kleinkinderzieherin und –erzieher - Spielgruppenleiterin - Mütter- und Väterberaterin - Logopädin, Logopäde - ...
Wissen: Aus- und Weiterbildung
Unterschiedliche Möglichkeiten, je nach Beruf: - Grundausbildung: kurze Einführung in Thema und
Grundsätze Gelerntes wird oft wieder vergessen oder reicht
nicht aus - Weiterbildung: ganz verschiedene, vertiefende
Angebote Freiwillig, Kosten, Zeit
- Interne Schulungen Je nach Institution
Wissen: Literatur, Instrumente
- Broschüren - Fachliteratur - Leitfäden von Fachverbänden oder Kantonen - Rechtliche Grundlagen
Beispiele Leitfäden
Kibesuisse: Leitlinien zur Prävention physischer und psychischer Gewalt in Kindertagesstätten und Horten 2013 http://www.kibesuisse.ch/fileadmin/user_upload/Kibesuisse/Dokumente/Intern/131220_Leitfaden_phys_psych_Gewalt_def-1.pdf
Leitfaden für das Vorgehen bei Gefährdung des Kindeswohls, St. Gallen:http://www.soziales.sg.ch/home/Kinder_und_Jugendliche/kinder-_und_jugendschutz/kinderschutz_/leitfaden_kindesschutz.html
Leitfaden Kindesschutz für Hebammen und Mütterberatinnen:http://www.baselland.ch/fileadmin/baselland/files/docs/vsd/gefoe/kinder/leifaden_muevaebe_heb.pdf
Fachliche Voraussetzungen eines wirkungsvollen Kindesschutzes
➤ Grundlagenkenntnisse über die Grundbedürfnisse und die Entwicklung von Kindern
➤ Vorkommen, Ursachen, Erscheinungsformen verschiedener Formen von Gewalt und ihre Folgen
➤ Wissen über die Organisation und zivilrechtliche Gesetzgebung im Bereich des Kindesschutz sowie über strafrechtliche Grundlagen
➤ Handlungskompetenzen bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung oder im Falle einer Aufdeckung von Erziehungsgewalt
➤ Erfahrung
Fachliche Voraussetzungen eines wirkungsvollen Kindesschutzes
Trägerinnen und Träger dieses Wissens sind
Personen
und
Institutionen
Institutionen
- Konzepte und Vereinbarungen - Abläufe - Verantwortlichkeiten - Kommunikation / Gefässe - Vernetzung - Betriebskultur - Grundhaltungen
Interne Richtlinien
- Gemeinsame Standards - Gemeinsame Haltungen - Gemeinsame Sprache / Begrifflichkeit fördern - Handlungssicherheit - Schutz der Mitarbeitenden - Schutz des Kernauftrags
3 „Leitfäden Früherkennung“
Leitfäden zur Früherkennung von Kindeswohlgefährdungen, für verschiedene berufliche Kontexte:
Medizin Frühbereich Soziale Arbeit
Wozu ein Leitfaden zur Früherkennung für den Frühbereich? - Weil kleine Kinder besonders gefährdet sind - Weil die Fachpersonen im Frühbereich eine
Schlüsselrolle spielen können - Lücken in der Aus- und Weiterbildung - Sensibilisierung - Arbeitsinstrument für den Alltag (nachschlagen) - Instrument für die Aus- und Weiterbildung Ziel: Hilfestellung in der Früherkennung von
Belastungssituationen und der adäquaten Reaktion darauf.
Bereiche des Kindesschutzes: Prävention, Früherkennung, Intervention Prävention:
Kompetenzen / Zuständigkeiten bei den Kantonen und Gemeinden. Verschiedene Akteure können eine Rolle spielen ( Bsp. Kibesuisse, Elternbildung, Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt)
Früherkennung: Fachlichkeit, Berufsbildung, Weiterbildung, Aufmerksamkeit. An der Schnittstelle zwischen Prävention und Intervention
Intervention: Im ZGB und StGB geregelt
System des Kindesschutzes
Quelle: Hauri und Zingaro 2013, leicht veränderte Version von Häfeli, 2005
Themen des Kindesschutzes in der Politik / in den Medien - Umsetzung des neuen KESR: seit
1.1.2013 - Melderechte und –Pflichten an
die KESB: Projekt - Gemeinsames Sorgerecht im
Regelfall: ab 1.7.2014 - Besserer Schutz von Kindern bei
Partnerschaftsgewalt - Verletzung der sexuellen
Integrität von Minderjährigen - Ausbau der Kinderbetreuung
(Qualitätsdiskussionen) - Fremdplatzierung ...
- Was bringt die Professio-nalisierung der KESB?
- Warum schaut niemand hin?
- Geschiedene Väter fordern Sorgerecht mit Pflastersteinen
- Amoklauf: Vater löscht seine Familie aus
- Kinderschänder sollen härter bestraft werden
- Sparmassnahmen bei der Kinderbetreuung
- Verdingkinder; Jugendkriminalität
Begriff „Kindeswohl“
Der Begriff Kindeswohl ist zu verstehen als die für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen.
(Dettenborn (2001). In: Dettenborn, H. Kindeswohl und Kindeswille. München, Reinhardt)
Begriff „Kindeswohl“, Art. 3 UN-KRK
- (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
- (2) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind; zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmassnahmen.
- (3) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass die für die Fürsorge für das Kind oder dessen Schutz verantwortlichen Institutionen, Dienste und Einrichtungen den von den zuständigen Behörden festgelegten Normen entsprechen, insbesondere im Bereich der Sicherheit und der Gesundheit sowie hinsichtlich der Zahl und der fachlichen Eignung des Personals und des Bestehens einer ausreichenden Aufsicht.
Begriff „Kindeswohl“, Art. 3 UN-KRK
3 Ebenen: - Materielles Recht, auf dessen Gewährleistung das Kind
ein Anspruch hat - Regel zur Auslegung rechtlicher Bestimmungen - Leitprinzip für das Verfahren zur Ermittlung von
Massnahmen für das Kind
- Siehe Allgemeine Bemerkung 14 zur UN-KRK, Dossiers auf www.humanrights.ch oder www.skmr.ch
UN-Kinderrechtskonvention, Art. 19 (1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmassnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschliesslich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.
(Siehe Allgemeine Bemerkung 13 zur UN-KRK, Dossiers auf www.humanrights.ch oder www.skmr.ch)
Bedeutung für das Schweizer Recht
Art. 3, Abs. 1 UN-KRK ist direkt anwendbares Recht: Bei Entscheiden, die das Kind betreffen, hat das Kind
das Recht, dass seine Interessen im Hinblick auf das Kindeswohl ermittelt werden
Worin besteht das Kindeswohl? Das Kind steht dabei im Zentrum
Ziel: die bestmögliche Lösung für das Kind zu finden.
Bundesverfassung und Gesetzgebung
Art. 11 BV Schutz der Kinder und Jugendlichen 1 Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. 2 Sie üben ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit aus.
ZGB: Art. 307 ff StGB und JStGB OHG
Gefährdung des Kindeswohls
Eine Gefährdung liegt vor, sobald nach den Umständen die ernstliche Möglichkeit einer Beeinträchtigung des körperlichen, sittlichen oder geistigen Wohls des Kindes vorauszusehen ist. Nicht erforderlich ist, dass diese Möglichkeit sich schon verwirklicht hat.
(Cyril Hegnauer)
Was gilt es zu erkennen?
- Risiken, welche Gewalt begünstigen können - Symptome für diese Risiken - Signale dafür, dass etwas nicht stimmt - Belastungssituationen - Anzeichen von Gewalt
Formen von Gewalt an Kindern
- Vernachlässigung - Körperliche Misshandlung - Psychische/emotionale Misshandlung - Sexuelle Misshandlung - Partnerschaftsgewalt - Münchhausen Stellvertreter-Syndrom - Misshandlung durch Autonomiekonflikt - Misshandlung durch Erwachsenenkonflikt um das Kind - Strukturelle Misshandlung/Gewalt
Wichtige Prinzipien der Früherkennung
- Gefühle ernst nehmen - Ruhe bewahren - Beobachten, Einordnen, Dokumentieren - Erkennen und einschätzen - Überprüfen - Austausch - Interne Abläufe befolgen - Unterstützung in Anspruch nehmen - Keine Diagnose
Wichtige Prinzipien
„Gemeinsam statt einsam“ Schutz der Mitarbeitenden Aufgabenteilung und Verantwortlichkeiten definieren Unterstützung bei der Klärung von Situationen Schutz des Kindes
Was nun?
- Anzeichen für Kindeswohlgefährdung vs. Anzeichen von individuellen Entwicklungsarten
- Richtig handeln bei „echten“ Anzeichen von Gefährdung
Wo liegt die Grenze? Wann handelt es sich um eine Gefährdung? Wann braucht es eine Gefährdungsmeldung an die KESB?
Melderecht/Meldepflicht
Art. 443 ZGB: 1. Jede Person kann der Erwachsenenschutzbehörde Meldung
erstatten, wenn eine Person hilfsbedürftig erscheint. Vorbehalten bleiben die Bestimmungen über das Berufsgeheimnis.
2. Wer in amtlicher Tätigkeit von einer solchen Person erfährt, ist meldepflichtig. Die Kantone können weitere Meldepflichten vorsehen.
Empfehlung: - Abklärung bei der jeweiligen Trägerschaft oder dem
Kanton.
Gefährdungsmeldung
- Der Inhalt ist verbindlich, er sollte klar und authentisch sein. Er darf keine ehrverletzenden Äusserungen enthalten.
- Zum Schutz des Kindes kann in Ausnahmefällen die GFM ohne Information an die Eltern erfolgen. Wenn immer möglich sollen die Eltern darüber informiert werden und je nach Alter das Kind.
- Im Verfahren besteht ein Akteneinsichtsrecht nach Datenschutzgesetzgebung.
Wichtige Prinzipien
- Weiter mit der Familie arbeiten - Begleitung und Betreuung des Kindes durch eine
konstante Vertrauensperson. - Transparente, auf-/erklärende Kommunikation
gegenüber den Eltern