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1 Juli/August 2003

An ausgefallenen Projekten man-gelte es beim Spielbodenchornoch nie. Widmete man sichunlängst noch zeitgenössischenProjekten von Gerold Amann oderGerald Futscher, so geht’s nun-mehr einen großen Schritt vor-wärts rückwärts – auf Klöster-reise. Vom 14. bis 26. August wirdder Spielbodenchor 12 Klöster imBodenseeraum, in der Schweiz, inDeutschland und im Elsass heim-suchen und mit frommen Gesän-gen erfreuen. Peter Füßl sprachmit Spielbodenchor-MastermindUlrich Gabriel über die Hinter-gründe dieses Projekts.

: Deine besondere Liebe zu Madrigalenist bekannt, und der Spielbodenchor hat ja dereinstauch schon Sakrales im Programm “Alleluja AusSchluss Amen” gesungen, jetzt kommt’s aber sehrgebündelt. 12 Klöster in 12 Tagen – was natürlichvon der Zahlensymbolik her an die 12 Apostel erin-nert. Dazu kommt noch die 12-Tonleiter. WelcheIdeen stecken denn hinter diesem Projekt?

Zusammenhänge ...

Gabriel: Ich interessiere mich grob gesagt fürZusammenhänge, z.B. interessiert mich die ein-fache Frage: Wie hängen wir zusammen? Woherkomme ich, woher kommt meine Kultur, wie

hängt mein Umraum - das Bodenseegebiet, indem ich die 60 oder 70 Jahre „wese“ - zusam-men? Der Besuch der Klöster hat dabei wenigermit Religion oder Kirche zu tun als mit der Tat-sache, dass die Klöster eben kulturelle Informa-tionsträger Nummer 1 sind. Wir nennen das

Projekt “Locus iste“ d.h. „dieser Ort“, an demwir nach Information suchen; auch nach „spiri-tueller“ Information, was immer auch darunterzunächst verstanden wird. „Grabe, wo dustehst,“ fällt mir gerade dazu ein. Junge Katzenetwa schnuppern penibel den Ort, in den siehineingeboren wurden, nach allen Informationenab, wenn sie sich ihren Lebensraum aneignen.Heute ist das Selbstverständliche - nämlich sichdort umzusehen, wo man lebt - eher ungewöhn-lich. Bei uns fährt z.B. die Schickeria nachLibyen oder Marokko auf eine meditativeWüstensafari, um danach mit „Ah“ und „Oh“erleuchtet zurückzukehren. Dieselbe Schickeriazeigt sich jedoch zumeist als Dummian in derKenntnis des A&O ihres eigenen kulturellenUmfelds. Das hängt auch damit zusammen, dassReisen für die meisten heute „Urlaub“ heißt undUrlaub wiederum bedeutet schlicht „arbeitsfreieZeit“, sog. „Entspannung“ und komfortablerKonsum. Man begnügt sich mit der Erkenntnis,dass man danach wieder dicker geworden istund zuhause einen Haufen Schmutzwäschewaschen muss. „Reisen“ erscheint heute zu-meist sinnentleert.Das Projekt „Locus iste“ bedeutet aber auchindividuelle und Gruppen-Erfahrung, Klangerfah-rung, Raumdurchquerung. Was hängt wie mitwem, wo, wie lang zusammen; was ist dabei her-ausgekommen und was kommt heraus. Das kannhistorisch, naturwissenschaftlich, allgemein kul-turell, musikalisch aber auch gruppendynamischgesehen werden – der Chor als Geflecht vonIndividuen, von denen jedes ungeahnte Zusam-menhänge - „sensations“ - erschließen könnte,wenn es den Bruch mit der Gewohnheit ris-kiert; bereit, sich mit Energie auf einen dyna-misch kreativen Prozess einzulassen und nicht inAltersträgheit zu erstarren. Erreichen z.B. dieMänner des Chores in der Einstimmigkeit desGregorianischen Chorals einen neuen Zusam-menhang? Gelingt es den Frauen, mit Hildegardvon Bingen eine bisher noch nicht erlebte Iden-tität wachzurufen? Wenn wir als gemischterChor die pathetische Wucht des romantischenBruckner neben Schweinegrunzen (Futscher),Glasharmonika (Amann), minimalistischenKlangflächen (Aberer), neben die 12 Töne undneben Jodler stellen, entsteht da etwas oderzerbröselt es zum dilettantischen Sonderange-bot? Was machen Pollak und Mörth im Film dar-aus? Das sind ziemlich spannende Fragen. Risikoist Voraussetzung neuer Erfahrung. Wir könnenalso auch scheitern.

: Nach welchen Gesichtspunkten ist dasProgramm zusammengestellt?

... Programm

Gabriel: Ein Gesichtspunkt ist der Kontrast, einweiterer die Absicht, an Hand einer punktuellenAuswahl von Kompositionen einen musikhistori-schen Bogen zu spannen, ein dritter, einzutau-chen in die schwarzen Löcher des Spirituellen.Das ist gefährlich und, um nicht ganz im Bruck-ner zu ersaufen, gibt es eben die Vertonungendesselben Textes von Aberer, Amann, Futscherund mir. Der alpenländische Jodler ist deraußerkirchliche Kontrast ... nicht nur Kirchen-räume haben Musik hervorgezaubert, auch dieNaturräume. “Locus iste” ist also in jedem Fallein grenzüberschreitendes Projekt.

: War es schwierig, geeignete Auf-führungsorte zu finden, wie hat man in den Klösternauf eure Pläne reagiert? Gab es auch Absagen?

Gabriel: Es gab und gibt dort Schwierigkeitenaufzutreten, wo der Kirchentourismus regiert.Aber das Projekt legt keinen Wert auf öffentli-che, sondern auf innere Konzerte - „con-cert-are“ heißt ja „zusammen-streiten“ - daher ist esvöllig egal, ob wir in der Kirche singen. Ich kannmir gut vorstellen, eines unserer „Locus iste“ alsKontrast in einem Einkaufszentrum zu singen.

: Du konzipierst für den Spielbodenchorsehr gewagte Projekte, und nicht selten waren dieSängerinnen und Sänger zumindest anfangs skep-tisch. Wie wurde das Klosterprojekt vom Chor auf-genommen?

Mühsame Diskussionen ...

Gabriel: Einige wenige waren sofort überzeugtvon der Idee und haben mir sehr geholfen, diezum Teil sehr mühsamen Diskussionen durchzu-

Spielbodenchor

“Locus iste - Singend gegen die Zeit reisen”*

Do, 14.8., 20.30 Uhr, Propstei St. GeroldFr, 15.8., 15 Uhr, Kloster Marienberg/SüdtirolFr, 15.8., 20 Uhr, Kloster Mustair/CHSa, 16.8., 18 Uhr, Kloster DisentisMo, 18.8., 18.30 Uhr, Kloster Maria EinsiedelnDi, 19.8. ca. 19 Uhr, Kartause Ittingen/ThurgauMi, 20.8., 12 Uhr, Münster BaselDo, 21.8., 20 Uhr, Sainte Foye,Selestat/ElsassFr, 22.8., ca. 18 Uhr, St. Blasien/Schwarz-waldSo, 24.8., 10 Uhr, Obermarchtal/Ober-schwabenDi, 26.8., ca. 12 Uhr, Kloster BirnauDi, 26.8., ca. 18 Uhr, Kloster Mehrerau

“Locus iste - Singend gegen dieZeit reisen”

Der Spielbodenchor auf Klösterreise

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2 Juli/August 2003

stehen. Es gab Widerstände, weil manche darin das Projekt als „unkritischkirchenverherrlichend“ missverstanden, also über ihre eigenen ideologi-schen Balken nicht hinweg kamen. Umgekehrt gab es an Hand des Fut-scherstücks Diskussionen, dass man Leute in ihrer Religiosität verletzenkönnte und die übliche „Was soll das?”-Frage, die gerade von wirklichNeuer Musik provoziert wird. Zum Teil halten die Diskussionen undWiderstände auch noch an. Es spielen natürlich auch Finanzierungsfragenund Zeitfragen eine Rolle, da es für Frauen nach wie vor schwieriger ist,sich für 12 Tage allein loszueisen als für Männer. „Locus iste“ erfasst „die-sen Ort“ als Prozess und wer noch was anderes „hören und sehen“ willals das Übliche, muss eben da durch. Basta.

: “Locus iste” wird auch filmisch festgehalten. Robert Pollak führtRegie, Wolfgang Mörth liefert die Drehbuchtexte und übernimmt die dramatur-gische Assistenz. Wie sehen eure Filmpläne konkret aus?

... und die Nachbereitung

Gabriel: Was die Arbeit von Robert Pollak und Wolfgang Mörth betrifft,so ist es am authentischsten, die beiden zu zitieren: „Ein Chor bereistzwölf Klöster. Jeden Tag ein anderes Kloster. Jeden Tag singen. Nicht alsKonzert vor Publikum. Nur der Chor, die Musik und der besondere Ort.Zwölf Orte verbunden durch die Reise eines Chores. 49 Menschen,Frauen und Männer, verbunden durch die Lust am Gesang. Sonst ist allesoffen. Die Bilder, die Gespräche, die Motive. Die einen haben bestimmteErwartungen, die anderen unbestimmte und manche lassen sich einfachüberraschen. Die einen reisen wegen der seelischen Erbauung, die ande-ren wegen der geistigen Anregung, einige vielleicht nur zur Entspannung.Eine Pilgerfahrt? Eine Kulturveranstaltung? Eine Vergnügungsreise? Waswird sich ereignen, was wird sich verändern? Das ist Thema des Films.“

: Plant ihr auch noch andere Formen der Nachbereitung?

Gabriel: Es gibt bereits jetzt eine 90 Seiten starke Broschüre zum Projektmit vielfältigsten Informationen vom Historischen bis zur Klostersuppe,und von Oskar Panizza bis zum AT, exklusiv nur über den Chor erhältlich(20 Euro). Das Projekt sieht die Fertigstellung und Aufführung des Filmesan allen zwölf Orten für 2004 und 2005 vor, sowie weiterführende Kon-taktbildungen mit diesen Orten im Bereich des Künstlerischen und Kultu-rellen (Ausstellungen, Klangveranstaltungen, Texte) und vielleicht noch aufanderen Gebieten. Das soll sich ergeben. Bis jetzt wurde das Fundamentgeschaffen und im August wird mit der 12-tägigen Klangreise der Rohbauerrichtet, die Firstfeier wird bei der Rückkehr am 26. August in der Meh-rerau sein.

: Ist so eine Wallfahrt in Chorformation plus Filmteam nicht sehrkostspielig? Wie lässt sich so etwas finanzieren?

Finanzierung noch offen ...

Gabriel: „Immer schön bitten ...“. Zum Teil finanzieren wir das Projektüber Beiträge der Mitglieder. Darüber hinaus haben wir ein Firmenspon-soring eingerichtet, das bereits positiven Anklang gefunden hat und ein„Ameisen“-Sponsoringprojekt geschaffen, bei dem jeder, der bereit ist, fürdas Projekt 50 Euro zu zahlen und damit diesen kreativen Ansatz zuunterstützen, die Broschüre erhält und zusätzlich exklusiv signiert ausjeder der 12 Stationen eine Karte. Ich würde mich sehr freuen, wenn sichauf diesen KULTUR-Artikel noch einige melden. Freilich lässt sich damitdas Projekt nicht allein finanzieren, es laufen Ansuchen bei zwei Stiftungen,beim Land Vorarlberg, bei der Stadt Dornbirn und wir hoffen auch überdas Interregprogramm (EU) auf Unterstützung. Auch das ist ein Prozess,dessen Ausgang nicht klar ist. Es gibt bis zur Stunde keine einzige Zusage,obwohl wir für das gesamte Projekt 2003/04 nicht mehr als drei Monats-gehälter eines politischen Edelpensionärs benötigen. Aber die brauchen’swahrscheinlich selbst ... für eine Afrikasafari ... (lacht)

Peter Füßl


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