Ludwig-Maximilians-Universität MünchenInstitut für SoziologieHauptseminar Sommersemester 2010:Philosophische Texte - soziologisch gelesenDr. Irmhild Saake, Prof. Dr. Armin Nassehi
Das Subjekt der Moderne und seine Dekonstruktion in der SoziologieKann es in der Systemtheorie ein klassisches Subjekt geben?
Ein Kommentar zu Armin Nassehis Rekonstruktion des Soziologischen Diskurs der Moderne
27. September 2010
Florian Geisler HF: Politikwissenschaft, 4. FSPrinzregentenstraße 156 NF: Soziologie, 4. FS81677 München
Ich versichere, dass ich die vorgelegte Seminararbeit eigenständig und ohne fremde Hilfe verfasst, keine anderen als die angegebenen Quellen verwendet und die den benutzten Quellen entnommenen Passagen als solche kenntlich gemacht habe. Die Seminararbeit ist in dieser oder einer ähnlichen Form in keinem anderen Kurs vorgelegt worden.
Datum Unterschrift
i
Abstract
Modern systems theory neglects the classic idea of the subject as a term for contemporary sociology. The author of this essay goes through the three main stages of this deconstruction in order to point out his worries about the loss of normative standing ground for this kind of sociology. In the end, a reconceptualization of the term subject that would seek connection with Descartes rather than with Hegel is suggested.
ii
Inhalt:
i. Eigenständigkeitserklärungii. Abstractiii. Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung: ............................................................................................................................................. 1
II. Dekonstruktion des Subjekts im Soziologischen Diskurs der Moderne ............................... 2
II.I. René Descartes: Zweifel .......................................................................................................2II.II. Immanuel Kant: Vernunft ................................................................................................. 3II.III. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sittlichkeit ............................................................... 5
III. Ein Unbehagliches Gefühl ............................................................................................................. 9
III.I. Reaktions-Regress ...............................................................................................................9III.II. Verlust von normativer Aussagekraft .......................................................................... 10
IV. Eine Alternative zur Dezentrierung - Rettung des Subjekts? ................................................. 12
IV.I. Radikalisierung des Subjekts ........................................................................................... 13IV.II. Erhalt einer normativen Position ................................................................................... 16
V. Schluss ................................................................................................................................................. 18
iv. Literaturverzeichnis
iv
I. Einleitung:
Die Systemtheorie schafft das Subjekt als theoretische Figur für die Soziologie ab. Bei
einem romantisch veranlagten Beobachter stellt sich dabei unweigerlich ein
komisches Bauchgefühl ein, wenn er sieht, mit welcher Leichtigkeit die
Systemtheorie es schafft, das subjektphilosophische Erbe der Aufklärung einfach
hinfortzuwischen - und das auch noch auf in höchstem Maße plausible Weise.
Genauso unweigerlich ist man versucht, diesem klassischen Subjekt sofort zu Hilfe
zu eilen und es vor dieser Dekonstruktion zu retten, denn man befürchtet - nicht
zum ersten mal - , dass hier zusammen mit dem Subjektgedanken gleich das ganze
normative Projekt "Aufklärung" verabschiedet wird. Und tatsächlich stößt man auf
eine gewisse normative Neutralstellung der Systemtheorie - weswegen ihr und ihren
Vertretern oft schon unter Soziologie-Erstsemestern wohl intuitiv eine eher
konservative Note zugesprochen wird. Doch auch wenn man dieses Vorurteil nicht
teilt fällt es einem dennoch schwer, über dieses "starke Stück" der Abschaffung des
Subjekts einfach hinwegzusehen. Der angenehmste Schritt wäre, das Problem zu
umgehen und zu versuchen, Systemtheorie mit Subjekt zu denken. Dann steht man
vor der Frage: Kann es in der Systemtheorie ein Subjekt geben?
Diese Frage soll und kann hier nicht beantwortet werden. Der Artikel ist als
Fragestellung zu lesen und als persönliches Resümee zu einem Seminar und einer
Lektüre über die Genese des Soziologischen Diskurs der Moderne, die beide viele
Fragen aufgeworfen haben. Insbesondere die Frage, ob und wenn ja, wo denn
eigentlich noch der "vernünftige Mensch" - falls es so etwas überhaupt gibt - , seinen
Platz in dieser Soziologie hat. Um die Dimensionen dieser Frage anzudeuten, soll in
drei Schritten vorgegangen werden. Zuerst werden die wichtigsten Stationen der
Entstehung der Subjektidee, so wie sie Prof. Nassehi von Descartes bis Hegel
rekonstruiert, noch einmal nachgegangen. Danach sollen zweitens zunächst das
Gefühl eines Verlusts von Normativität einer solchen Soziologie näher dargestellt
1
und anschließend am Beispiel der politischen Implikationen einer solchen Sichtweise
nochmals verdeutlicht werden. Drittens wird auf den empirischen Einwand von
Herrn Nassehi gegen die Subjektidee eingegangen und dahingehend ein
Gegenvorschlag zur Aufgabe dieser Idee gemacht.
II. (De-) Konstruktion der Subjektidee im Soziologischen Diskurs der Moderne -
Von Descartes bis Hegel
In dem Kapitel Kritik der handelnden Vernunft seines Soziologischen Diskurs der Moderne
zeigt Professor Nassehi auf, wie in der bürgerlichen Gesellschaft die Individuen zu
den Subjekten ihres Tuns werden. Die Subjektivität wird sozusagen erfunden und
zwar von den bürgerlichen Kreisen, die sich selbst tatsächlich als Autoren ihres
Handels erfahren. "Entscheidend [...] ist, dass die Semantik der Subjektivität des
Bewusstseins als Reflexionstheorie exakt dieser Trägergruppe gelesen werden muss,
die Erfahrungen mit einer multiinkludierenden, sich modernisierenden Gesellschaft
gemacht hat [...]."1
II.I. René Descartes
Den philosophischen Einstiegspunkt in diese Denkungsart stellt der Rationalismus
des René Descartes dar. Einfach gesagt ist der springende Punkt für Descartes´
Philosophie der radikale Zweifel. Doch auch beim radikalsten Selbstzweifel zeigt sich
für ihn eine Konstante, die sich nicht zu verändern scheint: "Ich denke, also bin ich"2.
Denn auch der größte Zweifel ist und bleibt letztlich ein Gedanke des Zweiflers. Und
auch wenn Descartes immer die Vorstellung eines guten Gottes benötigt, um seinem
eigenen Denken vertrauen zu können, wird hier doch der einzelne Mensch verstärkt
als das Subjekt seines Denkens etabliert. Letztenendes - einen guten Gott
vorausgesetzt - hängt das Denken dann nämlich vom Menschen ab, und von nichts
anderem, da sowieso Allem erst einmal misstraut werden muss. Descartes traut nur
1 Nassehi, Armin (2009): Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 832 Descartes, René (1997) [1637]: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der
wissenschaftlichen Forschung. Hamburg: Meiner, S. 28
2
dem Zweifel und nicht mal dessen Ergebnis, sondern nur dessen Vollzug. Und dieser
Vollzug passiert eben nicht irgendwo, sondern im Kopf des Menschen. Nassehis
Interpretation gibt dem eine besondere Note: Descartes brauche nicht etwa die
Vorstellung von einem guten Gott, sondern er will diese Vorstellung sozusagen
brauchen. Denn auch Descartes steht bereits vor der empirischen Erfahrung, dass die
als Subjekte gedachten Menschen sich ganz und gar nicht aus einer inneren
Unendlichkeit heraus völlig beliebig verhalten, sondern sich im Gegenteil einer
Ordnung fügen und Subjektivität ja überhaupt nur da zum Thema wird, wo es einen
anderen gibt, der ebenfalls Subjekt ist. "Das Grundproblem des Subjekts ist, dass
auch der andere ein Subjekt ist/sein soll/sein will."3 Die plausible Erklärung dafür
musste dann für Descartes wohl sein, dass ein Auftraggeber gesucht wird, der den
Individuen ihre Subjektivität einpflanzt. Nassehi analysiert: "Die Konzeption des
Subjekts lebte zunächst von dem Bezugsproblem, dass das Individuum eben nicht als
Subjekt gedacht werden kann, sondern eine Quelle haben muss."4 Für Descartes
muss dies noch Gott sein: "Als ich nun überlegte, daß ich zweifelte, [...] wurde ich auf
die Untersuchung geführt, woher mir der Gedanke an ein vollkommeneres Wesen als
ich gekommen sei, und erkannte deutlich, dass es von einem Wesen herrühren
musste, das in Wirklichkeit vollkommener ist."5
II.II. Immanuel Kant
Ihren Höhepunkt erfährt diese Denkweise dann bei Immanuel Kant. Die Figur ist
ähnlich: Einerseits spricht Kant dem Menschen jegliche Erkenntnisfähigkeit der
Natur radikal ab: "Wir haben also sagen wollen: daß alle unsre Anschauung nichts
als die Vorstellung von Erscheinung sei; daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das
an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst
beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch
nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die
3 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 844 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 905 Descartes, René (1997) [1637]: a.a.O, S. 27
3
Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte in Raum und Zeit, ja selbst Raum und
Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur
in uns existieren können."6 So heißt es im § 8 der Kritik der reinen Vernunft. Das
Subjekt müsste demgemäß also das A und O sein, da man gar nicht darüber
hinausgehen kann. Normativ gewendet entspricht dem der Anfang von Kants
Grundlegung der Metaphysik der Sitten: "Es ist überall nichts auf der Welt, ja überhaupt
auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte
gehalten werden, als allein ein guter Wille"7 Das Gute findet sich also im Willen, im
Menschen, nirgends sonst. Und was letztendlich gut ist, bestimmt sich für Kant
"nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgendeines vorgesetzten Zwecks"8,
sondern allein von der menschlichen Vernunft: "So muß die wahre Bestimmung
derselben sein, einen [...] an sich selbst guten Willen hervorzubringen."9 Kant traut
also nur dem guten Willen und identifiziert die Vernunft als der dem Menschen
eingeschriebene Auftraggeber zu gutem Handeln. Er braucht diese Vorstellung eines
mit Vernunft begabten Subjekts für seine Argumentation so, wie Descartes die
Vorstellung von einem guten Gott braucht. Kants allseits bekannter kategorischer
Imperativ bringt das dann moralisch auf den Punkt: "[...] ich soll niemals anders
verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines
Gesetz werden."10 Das ist ein durch und durch vernünftiges Argument, d.h. es ist
gerade durch die zirkuläre Selbstanwendung auf den Sprecher ausschließlich der
Gesetzmäßigkeit der Vernunft (die den Sprecher, weil sie die Vernunft ist, nicht
betrügen wird) verpflichtet, genau so, wie Descartes Zweifel letztlich der
Gesetzmäßigkeit eines guten Gottes (der den Zweifler nicht betrügen wird, weil er
6 Kant, Immanuel (1977) [1781]: Allgemeine Anmerkungen zur transzendentalen Ästhetik. In: Ders.: Kritik der reinen Vernunft. Werksausgabe Band III, Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 86-96, hier: S. 87
7 Kant, Immanuel (1977) [1785]: Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen. In: Ders.: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werksausgabe Band VII, Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 18-33 hier: S. 18
8 ebd., S. 21 f.9 ebd., S. 2210 ebd., S. 28
4
Gott ist) verpflichtet ist. In beiden Varianten ist es, trotz der jeweiligen Annahme
eines transzendentalen Fixpunkts, dennoch der Mensch, von dem das Denken und
die Konsequenzen, die er daraus zieht, abhängt. Dennoch macht wohl auch Kant die
empirische Erfahrung, dass die Individuen - als vernunftbegabte Subjekte gedacht,
eben gerade nicht gemäß der Vernunft handeln.
Nassehis Interpretation sieht das so: Kants Werk wird nicht als ein Versuch gelesen,
tatsächlich das Phänomen sozialer (Un-) Ordnung mit der Annahme (bzw. der
Erfahrung) eines vernunftbegabten Subjekts Vernunft zu vereinen. Stattdessen wird
die ganze Konstruktion als Strategie gesehen, auf die problematische Erfahrung von
Unbestimmtheit oder Kontingenz in der Moderne mit einer inneren Unendlichkeit
des Einzelnen zu reagieren, um ihm dann - als Subjekt seines Handelns - innere
Motive unterstellen zu können. Mit diese inneren Motiven kann dann einerseits erklärt
werden, warum der Mensch sich so verhält, wie er es eben tut, andererseits durch die
Differenz von vernünftiger Maxime und tatsächlichem Handeln ein moralischer
Horizont gezeichnet werden, vor dem bewertbar wird, wie gut die jeweilige Person
den moralischen Anforderungen entspricht. Nassehi formuliert: "Die Freiheit des
Bürgers, seine Subjektivität, also seine Konzentration auf erzähl- und
argumentierbare Motive machte es möglich, zu wollen, was man soll."11 Das Subjekt
(mitsamt seiner Freiheit und Vernunft?) war also von vornherein tatsächlich nicht als
romantische innere Unendlichkeit gedacht, sondern als Lösung, die die Erfahrung
von Unfreiheit erklären sollte. Das Problem, dass diese Erfahrung sich aber nicht
allein individualistisch durch eine innere Unendlichkeit, sondern nur durch die
Dimension des Anderen, des anderen Subjekts erklären lässt, wird dann zum
Bezugsproblem der Soziologie werden. Zunächst aber zur nächsten Station auf dem
Subjektphilosophie.
II.III. Georg Wilhelm Friedrich Hegel
In Hegels Philosophie sieht Nassehi die "theoretisch folgenreichste [...]
11 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 86
5
Dekonstruktion des Subjekts."12 Folgenreich, weil bei Hegel das, was bei Kant noch
als Problem auftaucht, nämlich die nicht-Übereinstimmung von gedachter innerer
Unendlichkeit/Vernunft des Menschen und seine tatsächlichen Beschränktheit
/Unvernunft, zum Bezugsproblem wird: Als Vermittlung von Allgemeinem und
Besonderem. Hegel erkennt, dass die Vernunft diese ambivalente Rolle spielt: Sie
entspringt einerseits dem Gedanken einer radikalen Subjektivität des Einzelnen,
stößt aber so hart an die Grenzen der Nicht-Subjektivität, die sich empirisch zeigt,
dass von dem eigentlich individualistisch als dem Besonderen entspringend gedachten
Subjektgedanken nur eine allgemeine Bewegung übrig bleiben kann.
Um dieses Problem aufzuheben, fasst Hegel das Dilemma in der Form der Dialektik:
Weder das Allgemeine, noch das Besondere sind einzeln für sich das Höchste,
sondern nur ihre Verbindung, aber nicht in dem Sinne eines Resultates, sondern nur
in der tätigen Vermittlung findet man das Wahre: "Denn die Sache ist nicht in ihrem
Zwecke erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das Resultat das wirkliche
Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden; der Zweck für sich ist das
unlebendige Allgemeine, wie die Tendenz das bloße Treiben, das seiner Wirklichkeit
noch entbehrt, und das nackte Resultat ist der Leichnam, der die Tendenz hinter sich
gelassen."13 Damit nimmt schon bei Hegel die theoretische Dekonstruktion des
Subjekts mit großen Schritten fahrt auf. Hegel distanciert sich von Descartes
Reflexion über den subjektiven Zweifel als Anfang aller Philosophie, die an Gott
glauben will und zugleich von Kants Moralimperativen, die an die Vernunft glauben
wollen: "Das Bedürfnis, das Absolute als Subjekt vorzustellen, bedient sich der Sätze:
Gott ist das ewige, oder die moralische Weltordnung [...] usf. In solchen Sätzen ist
das Wahre nur geradezu als Subjekt gesetzt, nicht aber als die Bewegung des sich in
sich selbst Reflektierendes dargestellt. [...] Allein zugleich ist dies nur antizipiert. Das
Subjekt ist als fester Punkt angenommen, an den als ihren Halt die Prädikate geheftet
12 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 8913 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986) [1807]: Phänomenologie des Geistes, Werke 3. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, S. 13
6
sind."14 Die Idee von der Subjektivität des Individuums vergeht damit zu einer Größe
im dialektischen Lauf der Welt. Der Subjektbegriff rückt hier viel weiter in die Nähe
dieser Bewegung, auf die Hegel so stark zählt. Sie selbst, die Bewegung oder
Vermittlung, wird zum Zentrum des Denkens, nicht mehr der zweifelnde oder
vernünftige Mensch. Es ist die Wahrheit, um die es Hegel letztlich geht, und die zu
sich selbst kommende Wahrheit, auf die es ankommt. Er schreibt: "Es kommt nach
meiner Einsicht [...] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr
als Subjekt aufzufassen und auszudrücken."15 Wichtig daran: Dadurch, dass das
einzelne Individuum nur noch als Teil dieser Bewegung gesehen wird, ist es
außerhalb dieser Bewegung nicht mehr ganz es selbst. Alleine kann es nicht komplett
sein. Ganz anders war das ja noch bei Descartes, der ausschließlich dem subjektiven,
isolierten Zweifel getraut hat. Bei Hegel aber wendet sich der Subjektbegriff
dahingehend, dass er immer den Anderen schon beinhalten muss und wird wird
damit automatisch zu einem politischen Begriff.
Als Sozialphilosophie hat das Konsequenzen: Wenn die vermittelnde Bewegung
philosophisch zum Höchsten erklärt wird, so hat Hegel den modernen Nationalstaat
im Blick, wenn es um die gesellschaftliche Vermittlung geht. Deshalb schreibt er seine
Grundlinien der Philosophie des Rechts. Darin geht es ihm um die tieferliegende Logik,
die hinter dem für ihn nicht zufälligen Phänomen des Staates steht. Hegel bezeichnet
seine Arbeit selbst als "[...] Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu
begreifen und darzustellen"16, und widmet sich damit ganz dem
Vermittlungsproblem. Das Subjekt wird dabei zu einem Teil in dem Spiel der großen
Bewegung degradiert: "Was ist Sittlichkeit? Daß mein Wille als dem Begriff gemäß
gesetzt sei - seine Subjektivität aufgehoben sei."17 Die Sittlichkeit, also ebenjene Logik
im Hintergrund, die der Staat nach vorne projiziert, ist "die Einigkeit [...] - daß ich -
14 ebd., S. 2615 ebd., S. 22 f.16 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1967a): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hamburg: Meiner. S. 1-
18, hier S. 1517 ebd., S. 413
7
denkend - d.i. als Allgemeines - das Allgemeine will - und dieses Wollen des
Allgemeinen bin.18 Die Subjektivität wird hier fast schon zu einem Mittel zum Zweck,
und zwar dem Zweck, die Erfahrung des eingeschränkt-Sein mit dem Anspruch an
sich selbst, ein innerlich unendliches Individuum zu sein, versöhnen soll. Und
wieder Nassehis Schlüsselsatz: "Die Freiheit des Bürgers, seine Subjektivität [...]
machte es möglich, zu wollen, was man soll."19 Das Subjekt dreht sich also im Laufe
seiner Geschichte von Descartes bis Kant von einem letztlich universalkritischen zu
einem universalaffirmativen Begriff. Interessant zu sehen ist dabei, dass die Soziologie
- auch und gerade kritische Soziologie - eben gerade an der hegelsch-affirmativ
gewendeten Variante anzudocken scheint. Indem sie sich den so konstruierten
integrativ-affirmativen Anspruch zum Bezugshorizont macht, entfaltet sie ihre
Kritikfähigkeit dadurch, dass sie Abweichungen von diesem Anspruch als falsch
diagnostiziert. Gleichzeitig dekonstruiert sie dann die Hegelsche Subjektvariante
dahingehend, dass sie aufzeigt, dass eine solche tätige Versöhnung von innerlich
unendlichem Besonderem und äußerlich Allgemeinem daran kranken muss, dass die
Subjekte eben von vornherein nicht mit dieser inneren Unendlichkeit ausgestattet
sein können.
Prof. Nassehi beginnt daher auch seine Kritik der handelnden Vernunft mit den Worten:
"Soziologie ist [...] stets tätige Dekonstruktion des Subjekts"20. Folglich ist es also nur
konsequent, über den Beginn der Soziologie als Beginn dieser Dekonstruktion
nachzudenken. Nassehi tut das anhand der Soziologien von Emile Durkheim und
Max Weber. Dabei stößt er darauf, dass weder Durkheims Variante, das Soziale als
außer-menschliches Ding aufzufassen, noch die Webersche Variante, dass Soziale
durch eine idealtypische Sinnunterstellung zu erklären, die Idee vom Subjekt
wirklich aufgibt, da sie letztendlich beide das soziale Handeln einem Akteur, also
einem vernünftigen Subjekt zurechnen. War das Subjekt in der Moderne eben jene
18 ebd., S. 413, Hervorhebung F.G.19 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 8620 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 67
8
Denkfigur der bürgerlichen Gesellschaft zur begrifflichen Fassung der Erfahrung
einer inneren Unendlichkeit, stellt die klassische Soziologie dieser Vorstellung die
empirische Widerlegung dieser Unendlichkeit entgegen. "Die Idee der Soziologie
entsteht dort, wo die Grundlagen des Verhaltens der Menschen nicht mehr deren
innerer Unendlichkeit [...] entnommen werden, sondern den äußeren Verhältnissen
des Menschen."21 Dadurch schlüpft die Soziologie aber sozusagen automatisch in
eine gesellschaftskritische Rolle aus ganz besonderer Perspektive, weil sie der
Gesellschaft eben dieses Ideal vorhält und ihr empirisch zeigt, wie und warum es
gerade nicht erfüllt ist. Der Subjektbegriff spielt also eine ambivalente Rolle für die
Kritikfähigkeit der Soziologie: Einerseits baut sie den Löwenanteil ihrer kritischen
Tradition genau auf diesen Begriff auf, andererseits öffnet dieser Begriff nur eine
ganz bestimmte Kritikansätze, während er andere möglicherweise verschließt.
III. Ein unbehagliches Gefühl
Dennoch stellt sich bei der Lektüre von Prof. Nassehis Rekonstruktion, je weiter die
Auflösung dieses Subjektgedankens voranschreitet, ein gewisses Unbehagen ein. Es
fühlt sich so an als ob, trotz aller - durchaus plausibler - gegenteiligen Beteuerungen
doch irgendwo etwas an der aufklärerischen Subjektidee verloren geht, was man
eigentlich lieber bewahren möchte. Obwohl man sich dessen bewusst ist, dass es sich
um einen wissenschaftlichen Text über Perspektiven theoretischer und empirischer
Soziologie (und unter anderem über die Aufweichung dieser strikten Trennung)
handelt, wird man das Gefühl nicht los, dass hier doch einem Ideal die Absage erteilt
wird, für dessen Verabschiedung man sich noch nicht bereit fühlt.
III.I. Reaktions-Regress, aufgelöst im Subjekt?
Die Annäherung an dieses Gefühl beginnt am wiederkehrenden Thema der Reaktion:
Das Individuum reagiert, die Wissenschaft reagiert, die Gesellschaft reagiert. Sie
reagieren auf sich verändernde Erfahrungen, die durch eine Veränderung des
21 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 67
9
dominanten Differenzierungsmusters der Gesellschaft entstehen. Das gefühlte
Problem daran: Diese Veränderungen der Differenzierungsmuster treten ja nicht
einfach von selbst auf oder werden durch technische Veränderungen von jetzt auf
gleich wahllos erzwungen sondern müssen schließlich irgendwie hergestellt werden.
Irgendwo muss dieser Vorgang sich ja verorten lassen, muss es eine Art Steuerung -
nicht im Sinne einer geplanten oder gar verschwörerischen Manipulation, aber doch
im Sinne einer Art Zentrum - geben, einen Ort der Herstellung, oder falls nicht einen
Ort, dann zumindest in der prozessierenden Gegenwart einen Moment der
Entscheidung. Dass diese Sphäre der Entscheidung, dieser Moment der Wahl bisher in
dem gesellschaftlichen Subjekt - also dem Bürger - verortet wurde, ist sicherlich
kritikwürdig und produziert wie man gesehen hat eine Art falsches Bewusstsein für
die Soziologie. Und zwar insofern, als dass es sie durch ihr eigenes Bemühen, dem
Subjekt möglichst gerecht zu werden, dazu verleitet, systemisch zu denken, und dabei
aus den Augen zu verlieren, wie sich die Praxis, die Welt als den Subjekten zurechenbar
zu beschreiben tatsächlich stabilisiert. Doch für die Aufgabe, dies zu überwinden,
scheint mir die Aufgabe des Subjektbegriffs nicht der richtige Weg zu sein. An dem
Kapitel über die Herstellung des Individuums durch die Individualisierungs- und
Subjektivierungspraktiken, so wie sie Herr Nassehi beschreibt, möchte ich
verdeutlichen, was mir an dieser reinen Dekonstruktion so problematisch erscheint.
III.II. Verlust von normativer Aussagekraft
Am deutlichsten wird das Problem, das mit der Aufgabe des Subjektbegriffs
einhergeht, wenn man nach den konkreten politischen Implikationen fragt. An der
Diskussion um das (oder die) politische(n) System(e), normativ aufgeladen wie sie
nun mal ist, lässt sich der mögliche impact einer solchen Konzeption durchdenken. Kann
man dann noch eine kritische Perspektive erwarten? Gibt es überhaupt noch
Adressaten für normative oder moralische Reden? In der Systemtheorie weiß man
10
(und das ist auch durchaus plausibel): Prinzipiell geschlossene Komplexe wie "die
Wirtschaft" oder "die Politik", das gibt es gar nicht, sondern es ist eine empirische
Frage, wie sich bestimmte Kommunikationsanschlüsse praktisch so stabilisieren, dass
sie als Wirtschaftssystem wahrgenommen werden. Welche praktischen
Möglichkeiten gibt es aber denn, um mit der gefühlten Erfahrung der tatsächlichen
Geschlossenheit solcher stabilisierten Anschlüsse (politisch?) umzugehen? Kann man
sich überhaupt - sollte man das denn wollen - "gegen das System" wenden? Man
wird wohl scheitern, denn das System, das gibt es ja so nicht. Schlimmer noch:
Dadurch, dass das z.B. "die Wirtschaft" a) überhaupt als solche adressiert und sie dann
vielleicht auch noch b) auf das hört, was gesagt wird, trägt ja eigentlich nur noch zu der
Plausibilität des Systems überhaupt bei, lässt genau die Sinnanschlüsse, die als "die
Wirtschaft" erscheinen, sogar noch stabiler werden. Hier sind wir wieder an dem
Problem angelangt, mit dem wir eingestiegen sind: Auf der Suche nach
Steuerungsinstanzen, nach Subjekten.
Aber als einziges Subjekt, wenn man das dann noch so bezeichnen will, bleibt nur
noch die Praxis selbst übrig. Eine kritische Perspektive hat daran erstmal zu knabbern.
Denn sich nur gegen "die Praxis" zu richten ist sogar noch abstrakter, als nur "gegen
das System" zu sein. Tatsächlich entsprechen zwei aktuelle politische Phänomene
ziemlich genau dieser Problemlage: Die gern diagnostizierte Politikverdrossenheit und
die oft wiederkehrende Phrase vom Sachzwang: Sie wenden sich gegen die
Machtlosigkeit der Verantwortlichen und gegen das Gefühl der Unsteuerbarkeit
dessen, was da passiert. Aber das nur am Rande; was an dieser Stelle eigentlich
interessiert, ist, dass die Systemtheorie hier im Zuge der Dekonstruktion des Subjekts
in genau dieses Horn stößt. Nur geht sie nicht den Weg, zu denken, dass diese
Phänomene tatsächlich ein Problem darstellen könnten, weil sie das Politische von
vornherein andersherum konzipiert: In Prof. Nassehis Dekonstruktion taucht das
Politische nicht als Praxis eines Ausgleichs von Interessen, die von Subjekten
11
getragen werden, auf, wie es die klassische politische Theorie formulieren würde.
Stattdessen kommt das Politische als eine genau der "Individualisierungs- und
Subjektivierungspraktiken"22 vor, die die Idee eines Subjekts überhaupt erst erzeugen.
In der Konzeption des Politischen gibt es das Subjekt gar nicht, man braucht es nicht,
es lenkt eher von der operativen Konzeption ab. Und "deshalb gibt es in der
Systemtheorie keinen Platz für das Subjekt (oder seinen kleinen Bruder: den Akteur),
sondern nur die Idee von Subjektivierungspraktiken [...]."23
Hier entsteht ein Gefühl von Orientierungslosigkeit: Das Politische wird sozusagen
restlos entlarvt. Gleichzeitig wird aber auch jede integrative Idee von Gesellschaft
entlarvt. Das führt zu der Befürchtung, dass eine solche Theorie das jedes Gespür für
das Normative verliert. Und zwar wirklich verliert in dem Sinne, dass diese
Soziologie nicht nur einen oberflächlich-normativen Bias zugunsten einer
wissenschaftlicheren Perspektive aufgibt (was ja eine gute Sache ist), sondern
tatsächlich nicht mehr zu normativen Stellungnahmen fähig wäre, selbst wenn das an
einem bestimmten Punkt gewollt würde.
IV. Eine Alternative zur Dezentrierung - Rettung des Subjekts?
Die Systemtheorie verlegt das Subjekt also in die Praxis. Diese Verschiebung
(Dezentrierung) wird in der Systemtheorie durch den Begriff Sinn festgenagelt: Sinn,
als letztes und einziges, nicht transzendierbares Medium, als potentieller
Verweisungshorizont für die Kommunikation von operativ geschlossenen
Bewusstseins- und Sozialsystemen bringt eine radikale Vergegenwärtlichung des
Sozialen mit sich. Als Horizont aller möglichen Anschlüsse kann es keinen
vergangenen oder zukünftigen Horizont geben. Das wäre selektiv und somit nicht
mehr ein Horizont, sondern ein Ausschnitt. Die Welt kann damit nur noch in der
Gegenwart, als in der operativen Praxis kontingent vollzogene Sinnanschlüsse,
22 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 28223 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 283
12
verstanden werden. "Er ist ein für operierende Systeme - ob psychischer oder
kommunikativer Natur - ein Horizont äußerer Unendlichkeit."24 Damit wird ein
klassisches Konzept vom Subjekt, dass die Vergangenheit kennt, sich in der
Gegenwart bewegt und die Zukunft antizipiert scheinbar unhaltbar. Deshalb meint
Nassehi: "Das Subjekt als theoretische Figur kann nur Thema einer
systemtheoretischen Reflexion sein, nicht ihr Ausgangspunkt."25
IV.I. Radikalisierung des Subjekts
Prof. Nassehi argumentiert, dass es das Subjekt, so wie es hier verabschiedet wird,
sowieso nie gegeben hat - es war schließlich nur eine Konstruktion, eine
transzendentale Figur des vernünftigen Subjekts, die auf die empirische Unvernunft
des Menschen reagiert.26 Doch gibt es zu diesem Schritt überhaupt eine Alternative?
Ich meine, ja. Ich möchte den Gedanken verfolgen, ob man dem Problem nicht auch
auf dem umgekehrten Weg zu Rande kommt: Nämlich mit einer Radikalisierung des
Subjektbegriffs statt seiner Verabschiedung. Mit Radikalisierung meine ich, dass man
die innere Unendlichkeit, die Nassehi empirisch widerlegt sieht, um-konzipieren
kann als potentielle innere Unendlichkeit, analog zur potentiellen äußeren
Unendlichkeit des Sinns. Selbstverständlich ist es unmöglich, einen völlig oder auch
nur annähernd selbstbestimmten Menschen zu finden. Das ist schließlich wie bereits
festgestellt der Grundgedanke der Soziologie. Die Soziologie bewegt sich hier auf
einem schmalen Grad: Die Einsicht, dass das Subjekt empirisch nie innerlich
unendlich erscheint, muss doch noch nicht bedeuten, dass das es nicht innerlich
unendlich ist? Nur falls man diese Folgerung automatisch so zieht, dann wäre die
Idee vom Subjekt tatsächlich obsolet. Aber im Gegenteil, auch die empirische (also:
im Seienden) Widerlegung des klassischen Subjekts setzt ja gerade einen
Verständnishorizont vom Sein des Subjekts voraus. Die Soziologie scheint mir daran
24 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 29225 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 28326 vgl. Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 81
13
nicht vorbeikommen zu können.
Prof. Nassehi argumentiert mit der Unausweichlichkeit von Kommunikation, die
einen zwingenden Charakter hat und dem Menschen unausweichlich ihr Muster
aufzwingt: Der Mensch kann sich in der sozialen Welt den Kommunikationen nicht
entziehen. Selbst die Verweigerung von Kommunikation (verstanden als Nicht-
Reden, Nicht-Kaufen, Nicht-Bezahlen, Nicht-Antworten, Nicht-Reagieren)
kommuniziert schließlich letztlich doch die Verweigerung. "Der Fluch der
Kommunikation ist, dass sie immer weitergeht, nie zu einem eigenen Ende kommt."27
Denn ein Ende der Kommunikation müsste ja wieder kommuniziert werden. Also:
"Es muss verstanden werden."28 Ähnliches gilt auch für das psychische System. Auch
das Nicht-Denken setzt irgendwo das Denken bereits voraus. Der Mensch hat also
keine Wahl als die soziale Kommunikation als auch sein eigenes Denken
mitzumachen. "Wir werden letztlich in unserem Bewusstsein von uns selbst
überrascht, weil wir den operativen Akten unseres Bewusstseins unhintergehbar
ausgesetzt sind."29 Von innerer Unendlichkeit kann hier keine Rede mehr sein. Diese
Darstellung ist durchaus plausibel. Dennoch würde ich genau hier einhaken wollen.
Verhält es sich nicht so, dass diese Unausweichlichkeiten gar nichts Besonderes sind?
Die Unausweichlichkeit von Kommunikation ist der physischen Natur des Menschen
geschuldet, genauso wie etwa das Atmen oder das Essen. Wenn ein Mensch etwas
nicht sehen will, muss er selbstverständlich zuvor eine Vorstellung davon haben, was
er nicht sehen will - also schon gesehen (oder gehört, gefühlt etc.) haben. Und wenn
ein Mensch angesprochen wird, hat er selbstverständlich zuerst einmal keine Wahl
und muss reagieren. Aber die empirische Erfahrung, nicht nur dass er reagiert und
dass er schon immer auf bereits gesammelte Eindrücke angewiesen ist, sondern
aufgrund dieser Reaktion auf etwas, das bereits da ist, quasi auf die faits accomplis
seiner Welt, in einem Rahmen der Erwartbarkeit reagiert, sagt noch nichts über die
27 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 26528 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 26529 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 264
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innere Unendlichkeit aus. Diese Beobachtung ist nur wenig mehr als die
Beobachtung, dass ein Mensch auf ein Ausatmen wahrscheinlich mit einem Einatmen
reagiert, oder nach einer Zeit des Fastens auf Nahrungsaufnahme aus ist. Die Idee
der inneren Unendlichkeit, wie sie mir im allgemeinen als aufklärerische,
emanzipatorische - und romantische - Idee konzipiert zu sein scheint, rekurriert auf
Tieferes als diese oberflächliche Determiniertheit: Gemeint ist die Möglichkeit der
freien Wahl, die jedem Menschen innewohnt. Der Mensch hat zwar nicht die Wahl,
ob er Kommunikation anfängt oder nicht. Aber: Das Ende der Kommunikation hat er
in der Hand: Zwar muss dass Ende, wie erwähnt, wieder kommuniziert werden:
aber dann ist es auch zu Ende. Und sollte wieder eine Kommunikation einsetzen,
kann sie sofort wieder beendet werden. Es muss zwar kommuniziert werden, aber
der Mensch hat die Wahl dazu, die Kommunikation nur aus Anfang (Wahrnehmen
des Wahrgenommen-worden-Seins) und der Kommunikation des Abbruchs der
Kommunikation bestehen zu lassen. Wieder die Parallele zur Physis: Ein Mensch
muss atmen, um denken zu können. Das gebietet ihm seine Physiologie. Was seine
innere Unendlichkeit aber ausmacht, ist, dass es ihm prinzipiell zur Wahl steht, auf
Grund eines Gedankens das Atmen einzustellen (was ja sogar das Ende des Denkens
selbst mit einschließt - unendlicher als das wird es für einen Menschen wohl nicht
werden). Dass dies im Regelfall empirisch beobachtet aller Wahrscheinlichkeit nach
nicht passiert, ist richtig, die prinzipielle Möglichkeit zu einer Wahl bleibt damit aber
doch trotzdem bestehen? Und genau das ist hier mit potentieller innerer
Unendlichkeit gemeint: Dass das Subjekt die Möglichkeit der Wahl hat, auch wenn es
sie empirisch gesehen so gut wie nie konsequent nutzt. Damit würde man sozusagen
Versuchen, Hegels Politisierung des Subjektbegriffs zurückzuspulen und die
Soziologie zumindest probeweise an den universalkritischen Ansatz, so wie er noch
bei Descartes vorkommt, andocken zu lassen. So würde man das romantisch-
aufklärerische Ideal von der inneren Unendlichkeit ernst nehmen, zumindest ernster
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als die an Hegel anschließende Tradition, die diese Unendlichkeit einfach mit dem
Hinweis wegwischt, dass es die Subjekte so sowieso nicht gibt und man nicht
zweimal hinschauen muss um zu sehen, wie determiniert jeder einzelne von seinem
Umfeld ist und wie wenig er eigentlich selber wählt.
IV.II. Erhalt einer normativen Position
Aber dennoch macht dieser Moment der Wahl macht doch den Subjektbegriff
eigentlich aus - oder zumindest könnte er ihn ausmachen. Prof. Nassehi
argumentiert, dass das Subjekt, so wie es dekonstruiert wird, nie existiert hat. Sich
von ihm verabschieden zu wollen, ist eine mögliche Intuition. Eine andere wäre eben
genau die oben angedachte Radikalisierung. So könnte sich diese Soziologie auch
eine beachtliche kritische Perspektive sichern: Indem sie nämlich gerade nicht die
postmoderne Verabschiedung des Subjekts mitgeht, sondern sich stattdessen an die
Rekonstruktion der gesamten Geschichte des Subjektbegriffs macht und auch eine
empirische Beschreibung der Gründe dafür liefert, warum dieses Subjekt - eigentlich
die Vorstellung vom vernünftigen Menschen - als verabschiedungswürdig erscheint.
Genau dieser Aspekt scheint unberücksichtigt zu bleiben. Prof. Nassehi rekonstruiert
sehr plausibel den Subjektbegriff als Reaktion auf die sich verändernden
aufschlussreiche Selbstanwendung der Methode. Die systemtheoretische Abkehr von
eben diesem Subjektbegriff wird hier aber scheinbar nicht wiederum als Reaktion
rekonstruiert, sondern als Lösung bzw. Notwendigkeit für die Soziologie. Es fehlt die
Frage: Welche sozialen Erfahrungen bringen die heutige Soziologie dazu, das Soziale
als operativ geschlossene, sich ihrer selbst nicht bewusste Systeme zu beschreiben?
Daraus würde sich eine sehr interessante kritische Perspektive ergeben, die über die
traditionellen Normativität nur auf der klassischen Soziologie fußenden Betrachtung
hinausgehen kann, weil sie sich einerseits dessen bewusst ist, dass es historische,
"soziologisch beschreibbare Gründe dafür [gibt], dass sich die Gesellschaftstheorie
ihren Gegenstand politisch zugerichtet hat"30, andererseits die entstehende Differenz
30 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 334
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von theoretischer und praktischer Vernunft dann nicht als falsches Bewusstsein der
letzteren abtun muss.
Auch Prof. Nassehi thematisiert im Kapitel Kritik der gesellschaftlichen Vernunft das
Verhältnis von Normativität und Soziologie. Er kommt zu dem Schluss, dass die
Soziologie sogar doppelt normativ ist: Sie bearbeitet einen normativ konstruierten
Forschungsgegenstand mit normativ konstruierten Theorien. Der Gegenstand ist das
moderne Konzept einer die Differenzierungserfahrungen normativ re-integrierenden
Gesellschaft, eine letztlich politische Erfindung, welche die historisch benötigten
kollektiven Solidaritäten erzeugen sollte. Die Methoden sind von dieser Erfindung
insofern beeinflusst, als dass sie die Gesellschaft tatsächlich als normativ integriert
denken müssen, weil ihnen die Einsicht, dass diese Gesellschaft nur operativ
funktioniert, noch nicht in dem Maße zur Verfügung stand. Nassehi fasst zusammen:
"Die doppelte Normativität der 'soziologischen' Moderne besteht also darin, dass sowohl
das Beobachtungsschema selbst als auch das, was die Beobachtung zu sehen in der
Lage ist, normativistisch gebaut sind, solange Gesellschaft als ausschließlich in der
Sozialdimension strukturierte Entität gedacht wird und nicht als operativer
Zusammenhang von Handlungen, Kommunikationen oder Ereignissen."31 Die
Umstellung von dieser Selbstbeschränkung schließt so die Abkehr vom Subjekt ein
und der Verlust der Normativität geht auf diese Weise mit der Aufgabe der Idee vom
Subjekt Hand in Hand. Allerdings erscheint dieser Verlust hier schon nicht mehr als
notwendiger Kompromiss dar. Im Gegenteil, es klingt fast so, als könne man sich nun
endlich vom normativen Einheitsbrei abheben.32 Es erweckt den Eindruck, als könnte
man jetzt endlich, nachdem die Idee vom Subjekt sozusagen in ihrer Rolle entlarvt
worden ist, endlich Soziologie betreiben. Doch auch hier stellt sich intuitiv viel eher
die Frage: Welche gesellschaftliche Konstellation oder Erfahrung führt dazu, dass die
Soziologie als Selbstbeschreibung dieser Gesellschaft nun anfängt, zu denken, sie
31 Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 340 f.32 sh. Nassehi, Armin (2009): a.a.O., S. 341
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müsse das Subjekt als Teil eines transzendentalen Erbes der alten
Gesellschaftstheorie nun aufgeben um Platz zu machen für eine operative,
systemtheoretische aber nicht systemische, nach selbststabilisierenden und
selbstreferentiellen Anschlussmustern suchende Beschreibung des Sozialen. Am Ende
bleibt wie bei der Lektüre von Texten der Frankfurter Schule ein großes
Fragezeichen: Wenn sich tatsächlich alles einfach so auflöst - nämlich in
Kommunikationen, wozu dann überhaupt noch schreiben? Wenn es keine Zukunft
gibt, die je zu erreichen ist, keine menschlichen Subjekte, keine normativen
Standpunkte, was bleibt dann noch übrig? Kann man so überhaupt soziologisch
schreiben und sprechen?
V. Schluss:
Man hat gesehen, dass der Subjektbegriff für die Soziologie eine sehr ambivalente
Rolle spielt. In seiner historischen Genese von Descartes bis Hegel vollführt er eine
180°-Wendung und begründet somit eine gesellschaftstheoretische Tradition, die
ganz auf einem integrativen, vermittelnden Ideal fußt. Unsere heutige Soziologie
stößt dabei auf die Grenzen dieser Tradition und versucht, den Subjektbegriff hinter
sich zu lassen. Doch gerade dann muss eben darauf hingewiesen werden, dass es
sich hierbei eben nicht um einen eindeutigen Begriff handelt und man genau
hinsehen muss - was Prof. Nassehi hier zweifelsohne tut. Schließlich hängt ein nicht
geringer Teil, wenn nicht das gesamte Vermächtnis der Aufklärung an diesem
Begriff. Es wird spannend zu sehen, wie die Soziologie in Zukunft mit dem Subjekt
oder dem Akteur umgehen wird, und ob sie vielleicht - gerade mit der Systemtheorie
- eine Renaissance ihrer kritischen Tradition - dafür unter gänzlich anderem
Vorzeichen - erfahren wird.
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Literatur:
Descartes, René (1997) [1637]: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Hamburg: Meiner
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986) [1807]: Phänomenologie des Geistes, Werke 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1967a) [1832-1845]:: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hamburg: Meiner.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1967b) [1832-1845]: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Kant, Immanuel (1977) [1785]: Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen. In: Ders.: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werksausgabe Band VII, Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 18-33
Kant, Immanuel (1977) [1781]: Allgemeine Anmerkungen zur transzendentalen Ästhetik. In: Ders.: Kritik der reinen Vernunft. Werksausgabe Band III, Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 86-96
Nassehi, Armin (2009): Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp
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