Die Pfingstbewegung in Argentinien:Warum stagniert der historische
Protestantismus?
Jens Köhrsen
La Plata Forum 28.‐29. August 2015Halle/Westfalen
Oder: „Der Historische Protestantismus ist tot“:
Marktanalyse einer verlustreichen religiösen Unternehmung in Lateinamerika
Pfingstkirchen befinden sich auf dem Vormarsch in Lateinamerika!
Nahezu jeder fünfte Lateinamerikaner ist heute Protestant (19%)
2/3 der Protestanten sind Anhänger der Pfingstbewegung
Quelle: Pew Research Center (2014)
Pfingstler bilden die grosse Mehrheit der Protestanten
0%
5%
10%
15%
20%
25%
30%
35%
Brasilien Chile Guatemala El Salvador Puerto Rico
Bevölkerungsanteil Protestanten (inklusive Pfingstler)
Bevölkerungsanteil Pfingstler
Quelle: Gooren (2011)
„Der historische Protestantismus ist tot“
“Los anglicanos, los metodistas, los luteranos, están todos ahí. Muertos ahí todos. Han quedado en la cavernaria. El pentecostalismo es el grado sumo de evolución, esta evolucionado.” (Interview mit Pastor von Dios Es Amor)
“Die Anglikaner, die Methodisten, die Lutheraner, sie sind alle tot. Sie sind in der Steinzeit verblieben. Die Pfingstbewegung ist der Höhepunkt der Evolution, sie ist hochentwickelt.” (Übersetzung von Interview mit Pastor von Dios Es Amor)
Fragestellung und Vorgehen des Vortrags
Warum wächst die Pfingstbewegung in Argentinien, während die
historischen Protestanten stagnieren?
Vorgehen: Analyse anhand eines ökonomischen Ansatzes
Struktur des Vortrags
1. Der Religiöse Markt in Argentinien: vom Monopol zum pluralen Markt
2. Die Pfingstbewegung in Argentinien: ein neues Geschäftsmodel auf dem Vormarsch
3. Der Historische Protestantismus in Argentinien: ein ausgedientes Geschäftsmodell?
4. Fazit und Ausblick5. Literatur
Ein dynamische religiöser Markt…
Nachfrage • Stetig hohe Nachfrage nach Religion• Religion besonders stark in Unterschichten • Präferenz für populäre Religiosität • Keine Trennung von Diesseits und Jenseits, spirituelle Interventionstechniken, Festlichkeit, Emotionalität, Erfahrungsbezug
• Steigende Nachfrage für nicht‐katholische Formen populärer Religiosität (Pfingstler, Afro‐Brasilianische Religiosität)
Angebot• Hohe Vielfalt an Anbietern• Sichtbarste Anbieter• Katholische Kirche• Pfingstler• Mormomen• Zeugen Jehovas• Afrobrasilianer• Hexer/Seher• Esoterik
• Starker Wettbewerb
Formen des Protestantismus in Argentinien
Protestanten
PfingstlerNicht‐
pfingstliche Evangelikale
Historische Protestanten
9‐15% der Argentinischen Bevölkerung
Weniger als 2% der Bevölkerung
Zwischen 8‐10 % der Bevölkerung
Quellen:• Conicet (2008)• Pew Research Center (2014)
Was ist die Pfingstbewegung?• Evangelikale Erneuerungsbewegung seit Anfang des 20 Jh.
• Merkmale: Fokus auf Heiliger Geist, spirituelle Praktiken (Heilungen, Exorzismen, Zungenrede), emotionale und expressive Atmosphäre.
• Hohe Pluralität, keine einende hierarchische Zentralinstanz
• Starke Ausbreitung in Afrika, Asien und Lateinamerika, besonders in der Unterschicht.
• Zunehmend Ausbreitung auch in Mittelschicht, aber oft Marginalisierung
Nachfrage: Pfingstbewegung als Religion der «populären Massen»
• Höhere Konzentration in Armutsvierteln• Häufige demographische Merkmale
– Geringes Einkommen– Niedrige Bildung
• Häufige Probleme– Armut, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus,
Drogensucht, Krankheit, Gewalt, Streit etc.
Incompleted Secondary School
Completed Secondary School
Completed Higher Eduaction
78.47%
19.26%
2.37%
60.13%
29.05%
11.00%
Formal Education Of Protestants and Non‐Protestants in Argentina (n=2403)
Source: based on Conicet 2008Non‐Protestants Protestants
In lower class neighbourhoods and slums more than 20% tend to be Pentecostals, whereas the proportion of Pentecostals within the middle class is estimated to be significantly below 5%.
Produkt: Anpassung an Konsumentenpräferenzen
• Produktnutzen/‐versprechen– Religiöse Heilung: Verbesserung aussichtsloser Lagen
durch Interventionen des heiligen Geistes– Psychisches Wohlbefinden und Hoffnung– Einbindung in Gemeinschaft, gegenseitige Hilfe– Potentieller sozialer Aufstieg, denn die pfingstliche
Ethik fördert..• Selbstdisziplinierung (z.B. vs. Alkoholkonsum)• Harte Arbeit, Ehrlichkeit und Pünktlichkeit
• Hohe Diversifizierung: breite Palette an unterschiedlichen Angeboten– konservativ vs. liberal– autoritär/passiv vs. aktive Beteiligung– (…)
• Kulturelle Passung zum Volksglauben (z.B. an Flüche) und ästhetischen Präferenzen (z.B. Stil der Musik) der Unterschicht
„In effect, there are so many varieties of Pentecostalism available in the religious marketplace that consumers can choose their brands according to preferences in gender, class, age, musical tastes, and so on.“ (Chesnut 2003: 61)
Quelle: http://www.stamateas.com/site/index.php/es/
Quelle: http://www.presenciadedios.com/site/index.php/publicaciones
Marketing: Missionierung entlang von sozialen Netzwerken
• Gläubige als Handelsvertreter• Bestehende soziale Netzwerke von Mitgliedern: Familie, Freunde, Arbeitskollegen etc.
• Hausbesuche (bzw. Krankenhausbesuche, Gefängnisbesuche etc.)
• Weitere Absatzkanäle– Fernsehen, Radio, Internet– Events
• Sozio‐kulturelle Nähe zwischen Anbieter und Konsument– Pastoren und potentielle Konsumenten stammen aus der gleichen sozialen Schicht
Organisation: hohe Flexibilität und Anreizstrukturen• Flexibilität: keine einheitliche Struktur– Erleichtert kontextuelle Anpassung an Konsumentenwünsche und Diversifikation des Angebots
• Pastoren agieren als Entrepreneure und Unternehmer – Selbstfinanzierung: erfolgsbasierte Entlohnung für Pastoren
– Anreizstruktur für Wachstum und Innovation
Diezmos
Historischer Protestantismus in Argentinien
• gelangt ab 1825 durch Migration aus Europa nach Argentinien– Lutheraner, Reformierte, Presbyterianer,
Anglikaner, Methodisten• Heutige Merkmale:
– Mittelschichtsmitgliedschaft– Eher liberale Tendenz (vs. konservative
Evangelikale)– Fokus auf Menschenrechte, soziale Arbeit und
Bildung– Dachorganisation: Federación Argentina de
Iglesia Evangélicas (FAIE)– Theologische Ausbildungsinstitut: ISEDET,
Buenos Aires (dessen Zukunft ist jedochunklar)
– Kritische Position gegenüber Pfingstlern
Entwicklung der Mitgliedschaft in verschiedenen Historischen Denominationen
• IERP• Methodisten• Presbyterianer • Anglikaner
• Daten stammen aus eigener Recherche in Kirchen und basieren häufig auf Jahrbüchern und Mitgliederverzeichnissen
IERP (Iglesia Evangélica del Río de la Plata)
• Lutheraner und Reformierte in Argentinien, Uruguay und Paraguay
• Starker Mitgliederrückgang – 1968: 35.729 zahlende Mitglieder– 2001: 17.110 zahlende Mitglieder
• IERP besteht aus unterschiedliche lokalenGemeinden
• Eine der wichtigsten Gemeinden in Buenos Aires : Congregación Evangélica Alemana en Buenos Aires (CEABA)
0500
100015002000250030003500400045005000
Membership of different historical churches
Anglican CEABA Methodist Presbyterian
Veränderung der Nachfrage nach Historischem ProtestantismusWachstum der Nachfrage bis in die 1960er durch…• Einwanderung von historischen Protestanten • Hohe Geburtenraten• Jedoch: Kaum Wachstum über Konversion/Missionierung
In den letzten Jahrzehnten…
• Keine Einwanderung von historischen Protestanten • Geringe Geburtenraten unter historischen Protestanten • Jüngere Generation trennen sich von ihren Kirchen• Wenig Erfolg in der Anwerbung neuer Mitglieder• Verbleibende aktive Mitglieder• Sind oft über 50 Jahre alt• Häufig Mittelschicht
Produkt
• Kein diesseitiges Heil(ung)sangebot• Geringe Diversifizierung in verschiedenen Produkte und Stile
• Kaum Anknüpfungen zu populären Geschmäckern (z.B. trockener Stil, Musik) und Volksglauben (z.B. „entfernter Gott“)– Der religiöse Stil der historischen Kirchewiderspricht dem populären religiösenGeschmack der ArgentinischenBevölkerung.
Marketing
• Geringer Missionseifer• Missionierung über soziale Projekte, jedoch mit verhältnismäßig geringen Erfolg
• Wenig Anknüpfungspunkte zwischen Pastoren (Mittelschichtsherkunft und ‐ausbildung) und „populären Massen“
Organisation
• Geringe Anreizstrukturen für Expansionsbemühungen und Innovationen – durch (partielle) Fremdfinanzierung der Kirchen
– gesicherte Pastorengehälter• Geringe Anpassungsfähigkeit
– durch langfristige Prozesse und Traditionen gefestigte Strukturen
– Abhängigkeit der Einzelgemeinden von Dachorganisation
Der Erfolg hängt vom Angebot ab!
Von der Stagnation zum Wachstum
• Pfingstbewegung erlebt starke Expansion
• Jedoch: Historischer Protestantismus stagniert bzw. ist rückläufig
Hohe Nachfrage nach
Protestantismus in Argentinien
• Leicht charismatischer Protestantismus für gebildete Mittelschichtsklientele als Marklücke?
Lösungsansatz für historische Protestanten
Erfolgsfaktoren
Produkt Passungsverhältnis zu
Präferenzen der Nachfrage,
Diversifizierung
Marketing soziale Netzwerke, missionarischer Enthusiasmus
OrganisationFlexibilität und Anreizstrukturen
Protestantische Gemeinden mit pfingstlichen Elementen verzeichnen Mitgliederzuwachs
Membership of the Presbyterian Church in Argentina 1925‐2011Scource: 1960‐1971 McKay 1969:305; 2000‐2011: Presbyterian church
1925 1960 1965 1971 2000 2002 2011Active members 925 1200 1550 1200 619 645 720
02004006008001000120014001600
1968 1990 1993 1997 Est 2007/2008
Membership of the Anglican Church of Argentina
Total members Congregation El Buen Pastor Sum of other congregationsQuelle: http://www.barriada.com.ar/Noticias2013/noticias‐marzo‐2013_5.aspx#.VdYwg0abEw8
Eine Marktlücke für den historischen Protestantismus?Nachfrage
gebildete Mittelschicht mit Affinität für charismatische
Religiosität
Pfingstliche „Aussteiger“
passive und ehemalige historische Protestanten Angebo
tAn
gebo
t
Entwicklung von einzelnen charismatischen Gemeinden
(Diversifizierung)
Entwicklung von einzelnen charismatischen Gemeinden
(Diversifizierung)
Soft charismatischer Protestantismus mit
Bildungsfokus
Soft charismatischer Protestantismus mit
Bildungsfokus
Neue Erfahrungsformen: Musik, Rituale, EmotionalitätNeue Erfahrungsformen:
Musik, Rituale, Emotionalität
Erhöhte Flexibilität und Einbindung von MitgliedernErhöhte Flexibilität und
Einbindung von Mitgliedern
Orientierung an „Benchmark“‐Gemeinden
Orientierung an „Benchmark“‐Gemeinden
Literatur• Bastian, Jean‐Pierre (1997): La mutación religiosa de América Latina. Para una sociología del
cambio social en la modernidad periférica. 1. ed. México: Fondo de Cultura Económica.• Chesnut, Andrew R. (1997): Born Again in Brazil. The Pentecostal Boom and the Pathogens of
Poverty. New Brunswick, N.J: Rutgers Univ. Press. • Chesnut, Andrew R. (2003): Competitive Spirits. Latin America's new religious economy.
Oxford: Oxford Univ. Press. • Conicet, Ceil‐Piette (2008): Primera Encuesta sobre Creencias y Actitudes Religiosas en
Argentina. Buenos Aires.• Gooren, Henri (2011): The Pentecostalization of Religion and Society in Latin America: First
Findings from Chile. Annual meeting of the Society for the Scientific Study of Religion. Society for the Scientific Study of Religion. Society for the Scientific Study of Religion. Milwaukee, 2011.
• Koehrsen, Jens (2016): Inappropriate Spirits. Middle Class Pentecostalism in Argentina. Leiden/Boston: Brill.
• Mallimaci, F.; Esquivel, J. C.; GimEnez BEliveau, V. (2015): What do Argentine people believe in? Religion and social structure in Argentina. In: Social Compass 62 (2), S. 255–277.
• Míguez, Daniel (2001): La conversión religiosa como estrategia de supervivencia. Los pentecostales y el descenso social durante la “década perdida”. In: Intersecciones en Antropología 2: (2), S. 73–88.
• Pew Research Center (2014): Religion in Latin America. Widespread Change in a HistoricallyCatholic Region (13). Online verfügbar unter www.pewresearch.org, zuletzt geprüft am 20.08.2015.
• Schäfer, Heinrich. 2009. "Pfingstbewegung: Sozialer Wandel und religiöser Habitus" Pp. 553–608, in Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, edited by Bertelsmann Stiftung. Gütersloh: Verl. Bertelsmann‐Stiftung.
• Tovar, Adrian; Köhrsen, Jens (2010) “Ein Geist weht durch Amerika“; in: Lateinamerika Nachrichten, November 2010, S. 26‐31; http://lateinamerika‐nachrichten.de/?aaartikel=ein‐geist‐weht‐durch‐amerika
• Wynarczyk, Hilario; Semán, Pablo; Majo, Mercedes de (1995): Panorama Actual del Campo Evangélico en Argentina: Un Estudio Sociológico. Buenos Aires.