Vorverurteilung im StrafverfahrenAuch wer unschuldig ist, wird
leider keinesfalls von Ermittlungsverfahren verschont oder gar
automatisch freigesprochen. Woran liegt das? Es gibt doch die
Unschuldsvermutung!?
Es liegt - unter anderem - an den Vorverurteilungen im deutschen
Strafverfahren!Vorverurteilungen sind im Strafprozess nahezu
systembedingt angelegt.
Das wird deutlich, wenn man den Gang des Strafverfahrens
berlegt:Vorverurteilungen bei der PolizeiZunchst ermittelt die
Polizei, weil sie - z.B. aufgrund einer Anzeige - den Verdacht
einer Straftat hat.
Die Straftat muss aufgeklrt werden. Liegt der Ermittlung eine
Anzeige zugrunde, so fragt sich die Polizei nur in den
offenkundigsten Fllen, ob der Anzeige wahre Angaben zugrunde
liegen. ("Warum soll denn der Anzeigeerstatter sonst die Anzeige
gemacht haben?"). Dabei sind die Mglichkeiten einer Falschbelastung
stets gegeben. Wenn es nicht Absicht ist (Rache, Geltungsbedrfnis,
Ablenkung von eigener Beteiligung, etc..), so kann es doch
schlichtweg ein Irrtum des Anzeigeerstatters gewesen sein...
Bei der Aufnahme der Anzeige und den weiteren Ermittlungen geht die
Polizei - wenn auch nicht blind, aber doch zielgerichtet - den
belastenden Indizien nach. Natrlich wird regelmig auch
(offenkundig) Entlastendes gesucht (z.B. ein Alibi). Aber in die
Akten wird nur das aufgenommen, was (auf den ersten Blick) danach
aussieht, dass es relevant ist, also zur Aufklrung des Falles (und
damit zur berfhrung des Tters) dient.
Scheinbar unwichtige Umstnde werden - naturgem - nicht aufgenommen
(sieht man einmal von einer akribischen Tatort-Spuren-Arbeit bei
Mord und Totschlag ab).
Vorverurteilungen bei der Staatsanwaltschaft
Die Staatsanwaltschaft bernimmt die weitere Aufklrung als Herrin
des Ermittlungsverfahrens: in den meisten Fllen bekommt sie einen
Vorbericht der Polizei. Den prft die Staatsanwaltschaft (meist nur)
auf Plausibilitt, "ob es fr eine Anklage reicht". Wenn ja, wird die
Anklage erhoben, wenn nein entweder weitere Ermittlungen in Auftrag
gegeben oder das Verfahren eingestellt.
Vorverurteilungen bei Gericht - im Zwischenverfahren
Nun bekommt das Gericht die Akten auf den Tisch. Der Vorsitzende
des Gerichts prft, ob die Anklage fr eine Verurteilung reichen wrde
(was bei einer nicht unsorgfltig geschriebenen Anklage fast immer
der Fall ist) und erffnet - nach Anhrung des Angeschuldigten - das
Hauptverfahren. Der Angeschuldigte wird hufig gut daran tun, in
diesem Verfahrensabschnitt nicht sein Verteidigungskonzept auf den
Tisch zu legen. Die Folge knnte sein, dass die Akte ber die
Staatsanwaltschaft wieder zu der Polizei zurckgeht, damit
"nachermittelt"wird. Dies bedeutet aber fr den Polizeibeamten, der
sich bei den Ermittlungen ursprnglich schon alle Mhe gegeben hat
und sorgfltig war, dass er "etwas bersehen" hat. Ob er den Zeugen,
auf den er sich verlassen hat, nach allen Regeln der
Vernehmungskunst befragt oder nur die Informationen, die er von der
Verteidigung bekommen hat, "abklopft", ist nicht kontrollierbar.
Eines ist sicher: der fragwrdige Zeuge kennt jetzt die Argumente
der Verteidigung und hat bis zum Gerichtstermin genug Zeit, sich
darauf einzustellen.
Vorverurteilungen bei Gericht vor der Hauptverhandlung
Wenn also das Gericht - in aller Regel - das Hauptverfahren
erffnet, muss sich der Vorsitzende, dem nach deutschem Recht die
Aufgabe zukommt, die Zeugen (als erster) zu befragen, berlegen, in
welcher Reihenfolge er welche Zeugen wie befragt.
Dazu muss er den Fall im Vorfeld beurteilen. Ihm steht aber als
Ausschnitt nur das gesammelte Material aus der Akte zur Verfgung.
Diese reicht eben hufig fr die Verurteilung aus. Nur die wenigsten
Vorsitzenden betrachten die Akte mit der selben Skepsis wie ein
Verteidiger...
Und damit ist die "Vorverurteilung"- besser: eine Arbeitshypothese
des Gerichts, dass an der Anklage "etwas dran" ist -
vorprogrammiert. Nur in sehr "verdchtigen" Fllen ist das Gericht
keineswegs von der Anklage berzeugt, nur in wenigen vollkommen
offen: und wenn es nur der Umstand ist, dass ein Polizeibeamter
eine Anzeige bei einem Verkehrsdelikt geschrieben hat ("warum
sollte der Polizist absichtlich etwas Falsches
aufschreiben?".)
Vorverurteilungen in der Hauptverhandlung
Diese Arbeitshypothesen - wenn sie berhaupt in jedem (aus der Sicht
des Gerichts: "kleinen") Fall gebildet werden - setzen sich im Gang
der Hauptverhandlung fort: Es werden die Belastungszeugen in der
Regel vor den Entlastungszeugen gehrt. (was aus Sicht der
Verteidigung durchaus kein Nachteil sein muss, sondern "nur" mit
dem Problem behaftet ist, dass auch die Schffen zunchst die
belastenden Umstnde "vorgefhrt" bekommen, nachdem sie bereits aus
dem Mund der Staatsanwaltschaft die - nur belastende - Anklage
gehrt haben).
Die Belastungszeugen werden (hufig) vom Vorsitzenden des Gerichts
nur das gefragt, was sie bereits bei der Polizei gesagt haben (und
was fr die Anklage "gereicht" hat). Wenn ein Zeuge sich hier nicht
in groe Widersprche verstrickt oder einen sehr schlechten Eindruck
macht, stellt seine Aussage eine weitere (!?) Besttigung fr die
Schuld des Angeklagten dar.
Dann bekommt - nach den anderen Mitgliedern des Gerichts - der
Staatsanwalt das Wort. Auch hier gilt: ist auch dem Staatsanwalt
kein Widerspruch in der Aussage des Belastungszeugen aufgefallen,
so ist er in der Regel von der Richtigkeit der (u.U.: seiner
eigenen) Anklage berzeugt.
Und dann kommt der Verteidiger an die Reihe, der - aus Sicht des
Gerichts: "nur"- seinem Mandanten dient. Solange er nicht
berzeugend die Angaben des Zeugen durch geschickten Einsatz von
Fragetechnik widerlegt, bleibt es - aus Sicht des Gerichts bei dem
"Vor-"Urteil: "Schuldig!".
"Kleineren" Abweichungen zwischen den Aussagen verschiedener Zeugen
wird dann nicht mehr entscheidendes Gewicht beigemessen.
Es hat sich halt die Arbeitshypothese - nein!: in diesem Fall: das
Vor-Urteil - des Gerichts besttigt, dass der Angeklagte schuldig
ist.
Vorverurteilungen in der Berufung
Kommt es nun - nach der Verurteilung durch das Amtsgericht - zur
Berufung, so prft das Berfungsgericht (genauer: der Vorsitzende der
kleinen Strafkammer des Landgerichts) vorab die Aussichten der
Berufung, schon um den Termin gut vorzubereiten, die erforderlichen
(?!) Zeugen zu laden. Ein Anruf beim Verteidiger ("nach vorlufiger
Einschtzung..." - das sagt der Vorsitzende, um dem Vorwurf der
Befangenheit zu entgehen - "... sehe ich keine / nur geringe
Erfolgsaussichten in der Berufung... Soll die Berufung denn / im
vollen Umfang durchgefhrt werden?). Das ist ein geuertes
Vor-Urteil! Antwort des Verteidigers - jedenfalls meine: "Natrlich,
sonst htte ich sie nicht eingelegt!".
Natrlich bedeutet dies nicht, dass der Vorsitzende bei diesem
Vor-Urteil bleibt. Die Erfahrung zeigt, dass dies berwiegend nicht
der Fall ist. Aber es ist - systembedingt - ein solches. Der
Vorsitzende muss die Hauptverhandlung vorbereiten. Er steht vor der
gleichen Aufgabe wie das Amtsgericht!
Es erschwert jedoch einen Freispruch und steht - methodisch gesehen
- in Widerspruch zu der Unschuldsvermutung.
Psychologisch ist das vollkommen verstndlich: wer mchte sich denn
z.B. etwas (vom Angeklagten) vorlgen lassen? Welcher Richter mchte
auf eine "geschickte Verteidigung reinfallen"? und den Angeklagten
freisprechen, obwohl er mglicherweise doch schuldig ist. Also wird
die Methode angewandt: ich prfe die Arbeitshypothese, dass er
schuldig ist. (Nur (!)) wenn ich feststelle (!) dass der Angeklagte
unschuldig ist, wird er - selbstverstndlich auch
freigesprochen.
Vorsichtigere Richter wrden ergnzen: "oder wenn ich ernstliche
Zweifel an der Schuld habe"
Welcher Richter aber wrde ergnzen: "oder wenn ich nur den leisesten
Zweifel an der Schuld des Angeklagten habe?"
Ich bin an einem regen Gedankenaustausch zu diesem Thema sehr
interessiert!
Vorverurteilungen in der Revision
Das Revisionsgericht prft in der Revision das Verfahren und das
Urteil auf Rechtsfehler.
Dabei bleiben die Feststellungen des Tatrichters grundstzlich
unangetastet. Sie zu treffen ist die ureigenste Aufgabe des
Tatrichters...
Selbstverstndlich kann es nicht die Aufgabe des Revisionsgerichts
sein, etwa das ganze Verfahren erneut durchzufhren, Beweise zu
erheben...
Nun gibt es die Mglichkeit der Beendigung der Revisionsinstanz und
damit des gesamten Strafverfahrens durch Beschluss nach 349 Abs. 2
StPO .
Dazu muss die Revision von smtlichen an der Entscheidung
beteiligten Mitgliedern des Revisionssenats als "offensichtlich
unbegrndet" angesehen werden.
Die kann auch der Fall sein - wenn das Urteil nicht auf dem
Rechtsfehler beruht.
Und das ist es eben oft genug auch - wenn nach Einschtzung des
Revisionsgerichts - kein besseres Ergebnis bei rechtsfehlerfreier
Verhandlung herauskommen kann.
Zum Teil wird in der revisionsrechtlichen Literatur von der
"Schweinehundtheorie"gesprochen.... Ob diese mit einem Vor-Urteil
(zugegeben: im Falles des Revisionsgerichts auf breitester
Aktenlagenbasis) zusammenhngt?Konsequenz?
Nur bei einer engagierten (!) und sachkundigen Verteidigung kann
erreicht werden, dass sich die Vor-Urteile nicht im Urteil
niederschlagen, sondern dass das letztlich entscheidende Gericht
vom Standpunkt der Angeklagten berzeugen lsst.
Gelingt es Ihrem Verteidiger nicht, diese Kette von Vor-Urteilen zu
durchbrechen, so werden sie hufig - und das systembedingt - zu
einer Verurteilung fhren - unabhngig von der Schuld des
Angeklagten.
Eine Bemerkung zum Schluss ist mir wichtig:
Das heit natrlich nicht, dass auch nur ein einziger der oben
genannten Verfahrensbeteiligten (Polizei, Staatsanwaltschaft,
Richter) etwa willkrlich oder bswillig verfahren wrde! Nein! Im
Gegenteil!Das eigentliche Problem ist viel versteckter - auch fr
die Beteiligten: sie sind sich meistens nicht stndig der Gefahr der
falschen Hypothesenbildung bewusst: und das ist menschlich: welcher
Fluglotse knnte ohne Zittern seine Arbeit verrichten, wenn er bei
jeder Anweisung daran denken msste, dass bei einem Fehler
seinerseits hunderte von Menschen sterben knnten?
Die Aufgabe der Verteidigung besteht meines Erachtens darin, im
richtigen Zeitpunkt auch auf die oben geschilderten Quellen von
Vor-Urteilen und damit verbundenen (Folge-)Fehlern hinzuweisen,
wenn ein Anlass dazu besteht.
Damit sind selbstverstndlich die Mglichkeiten der Strafverteidigung
bei weitem nicht erschpft:
Zu den weiteren Mglichkeiten gehren u.a.:
Beherrschung des Strafprozessrechts
Fragetechnik (theoretisches Wissen und praktische Erfahrung z.B.
zur Glaubwrdigkeitslehre)
Beweisantrge (die das Augenmerk des Gerichts auf unbeachtet
gebliebene Gesichtspunkte lenken)
Antrge zum Verfahrensablauf
notfalls: Befangenheitsantrge (nach meiner Erfahrung ist das
Ergebnis hufig sogar positiv, was ich als Beleg fr meine These
werte, dass Richter durchaus objektiv sein wollen und sich eben nur
unbewusst von den - systembedingten - Vor-Urteilen, den
Arbeitshypothesen verschiedener Instanzen leiten lassen.