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„Ein stiller Bürger ist kein guter Bürger“ „Wir sind Europa“ - Beitrag zum Europäischen Wettbewerb 2013 Katharina Scheidemantel Robert-Bosch Gymnasium Gerlingen, K2

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„Ein stiller Bürger ist kein guter Bürger“ „Wir sind Europa“ - Beitrag zum Europäischen Wettbewerb 2013

Katharina ScheidemantelRobert-Bosch Gymnasium Gerlingen, K2

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„Ein stiller Bürger ist kein guter Bürger“ (nach Perikles)Diskutieren Sie diese Aussage vor dem Hintergrund der Unionsbürgerschaft. Welche Bürgerin und welchen Bürger braucht die EU? Verfassen Sie eine Rede.

Sehr geehrte Damen und Herren,

eine Rede zum Thema Europa – nichts dürfte geringeren Seltenheitswert haben in dieser

Zeit, in der jeder überall und immer von Europa redet, von diesem so unübersichtlich und

abstrakt gewordenen Begriff, der vor allem im Zusammenhang mit horrenden Geldsummen

genannt wird. Was also soll ich Ihnen über Europa erzählen, das Sie nicht schon wissen?

Wenn Sie sich über die Schuldenkrise informieren wollen, können Sie sie googeln, wenn Sie

darüber schimpfen wollen, suchen Sie den Stammtisch auf. Und wenn Sie wirklich einmal

eine Rede dazu hören wollen, schauen Sie einfach „Bundestag Live“.

Aber wieso müssen Sie sich eigentlich damit beschäftigen? Wieso sollten Sie gemeinsam mit

den Griechen darauf warten, dass die sprichwörtlichen Eulen wieder nach Athen

zurückkehren?

Ganz einfach: Sie sind Bürger Europas, genau, wie die Griechen, die Iren und die Spanier.

Und darüber dürfen Sie schimpfen. Denn: „Ein stiller Bürger ist kein guter Bürger“. Das sagte

Perikles vor etwa 2500 Jahren in dem Athen, das jetzt nach seinen Eulen und Hilfe seitens

der EU sucht und das zum Geburtsort des demokratischen Gedankens wurde. Er forderte

von seinen Mitbürgern die regelmäßige Zahlung von Steuern und die Erfüllung sonstiger

aktiver Pflichten, etwa in Form eines Amtes, gleichzeitig revolutionierte er aber durch

zahlreiche Reformen den Status des Bürgers und ermöglichte erstmals in der damals noch

jungen europäischen Geschichte eine „Herrschaft des Volkes“, die heute in Artikel 20, Absatz

2 unseres Grundgesetzes verankert ist. Auch, wenn Frauen, Sklaven und Händler

ausgeschlossen blieben, erhielt ein Großteil der Athener neue Rechte – und neue Pflichten.

Denn Demokratie bedeutet nicht, einfach wahllos ein Kreuz zu machen oder die Hand für

einen Namen zu heben, weil man es eben darf. Demokratie bedeutet Verantwortung. Wir

bestimmen, wen wir wählen. Wir bestimmen die Menschen, die unsere Zukunft formen. Als

Wähler ist es unsere Aufgabe, genau zu überprüfen, wen wir wählen, wem wir unsere

Zukunft anvertrauen wollen. Und wenn wir die Antworten, die wir auf offene Fragen suchen,

nicht finden, dann haben wir das Recht, unsere Stimme zu erheben und nach ihnen zu

fragen. Wenn wir nicht verstehen, warum Milliarden unserer Steuern nach Griechenland

fließen, dann haben wir das Recht, zu fragen. Wenn wir nicht verstehen, warum weitere

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Milliarden in neue, unberechenbare Kriege wie etwa den Militäreinsatz in Libyen 2012

fließen, dann haben wir das Recht, zu fragen. Wir dürfen fragen, wenn wir nicht verstehen,

warum manche EU-Bürger fünf Autos und einen Pool haben, während andere monatelang

auf ein lebenswichtiges Medikament sparen müssen und wir dürfen fragen, warum die EU

mit Frontex ihre Außengrenzen bewacht wie die Amerikaner das Pentagon. Wir dürfen nicht

nur fragen, wir müssen fragen. Indem wir jemanden wählen, leihen wir ihm oder ihr unsere

Stimme, um für uns zu sprechen. Wir tragen also genau wie die Politiker selbst die

Verantwortung für das, was im täglichen Nahkampf der Politik vorgebracht wird und wenn

wir merken, dass das, was unsere Stimme dort sagt nicht das ist, was wir mit unserem Kreuz

auf dem Wahlbogen sagen wollten, dann haben wir das Recht und die Pflicht, nach dem

Grund dafür zu fragen. Oft bekommen wir vielleicht keine zufriedenstellende Antwort, aber

dann haben nicht wir unsere Pflichten vernachlässigt, sondern die Politiker.

Ist der ideale Bürger Europas also jemand, der ständig auf die Straße geht, um seine

Meinung kundzutun, bei jedem Thema, nach jeder Tagesschau, um nachdrücklich nach

Antworten zu fragen? Ist es gar der Wutbürger, der durch Stuttgart 21 deutschlandweiten

Ruhm erlangte?

Demokratie gibt dem Bürger das mittlerweile selbstverständlich erscheinende Recht,

mitzuentscheiden. Wir werden gefragt, zwar nur alle vier Jahre, aber wir haben heute

gesetzlich das Recht, selbst zu regieren, mittels indirekter Wahlen. Das bedeutet aber nicht,

dass Demokratie ein Wundermittel gegen jede Form der politischen Probleme ist. Im

Gegenteil: Demokratie ist die trägste vorstellbare Form der Politik, weil immer wieder neue

Ansichten und Überzeugungen die Überhand gewinnen, je nachdem, wem das Volk seine

Stimme gibt. Und auch nach möglicherweise verlorenen Wahlen muss man sich als Partei

dem Wähler treu zeigen und das tun, das man versprochen hat – ob als Regierung oder

Opposition. Dass die Mühlen in diesem scheinbar unendlichen Ping-Pong-Spiel langsam

mahlen, ist gut vorstellbar – und deshalb können sich Erfolge auch nur gemächlich einstellen.

Auch, wenn es unsere Pflicht ist, die Stimme, die uns das Grundgesetz gibt, zu benutzen,

müssen wir das nicht immer sofort und laut brüllend tun. Würden Bürger bei jedem

Misserfolg wütend auf die Straße gehen, so würden die politischen Organe vollständig zum

Erliegen kommen, weil sie nur noch mit der Bewältigung von Negativ-Schlagzeilen

beschäftigt wären. Auch das Recht zur freien Meinungsäußerung, ebenso im Grundgesetz

verankert, ist also mit Verantwortung verbunden. Wir haben die Pflicht, zu erkennen, wann

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jemand einen menschlichen Fehler gemacht hat und wann jemand eine grundlegend

inakzeptable, antidemokratische oder menschenverachtende Ansicht in sich trägt. Der

europäische Bürger muss also ein hinterfragender, aber auch ein nachdenkender Bürger

sein. Es reicht nicht, „nicht still“ zu sein, wie Perikles es fordert, es reicht nicht, zu reden,

sondern wir sollten wissen, wovon wir reden. Nur so kann konstruktive Kritik funktionieren –

und konstruktive Kritik ist bekanntlich die einzige, die einen Fortschritt bewirkt.

Wir haben also die Pflicht, zu hinterfragen und dennoch nachzudenken, bevor wir unsere

Zweifel äußern, und das nicht nur auf EU-Ebene, sondern auch auf Kommunen-, Landes- und

Bundesebene. Irgendwie scheint das staatsbürgerliche Dasein von sehr vielen Pflichten

geprägt zu sein – Steuern zahlen wir schließlich auch. Aber dass davon Kindertagesstätten

und Schulen gebaut werden, Straßen instandgehalten werden und für uns auch dann gesorgt

wird, wenn wir arbeitslos, krank oder alt sind, das wissen wir schließlich. Wenn auch mit

grimmiger Miene akzeptieren wir deshalb diese Pflicht. Und wird ein bestimmtes Limit

überschritten, haben wir schließlich die Möglichkeit, unsere Stimme zu erheben.

Ein durchaus erwähnenswerter Teil dieses Geldes, das wir, einsichtig wie wir sind, für

Kindergärten und Krankenhäuser zahlen, soll jetzt aber plötzlich in ausländische

Kindergärten und Krankenhäuser fließen, oder sogar in Banken, deren Namen wir nicht

einmal aussprechen können. Während wir über heimische Schlaglöcher fahren, erfahren wir

über das Autoradio, dass Millionen in den Eurorettungsschirm fließen. Und selbst ohne

Eurokrise teilte Deutschland wie jedes Land auch in guten Zeiten einen Teil seines

Bruttoinlandsproduktes mit den anderen Staaten in der EU, um europäische Projekte aller

Art umzusetzen, von Militäreinsätzen über EU-Gipfel bis hin zur Anschaffung neuer EU-

Flaggen. Alles kostet Geld, und auch die EU muss das Geld von ihrem Bürger nehmen. Aber

leistet die EU auch etwas für ihre Bürger, so wie der Staat oder die Kommune?

Die Leistungen der EU nimmt unsere Generation mit so großer Selbstverständlichkeit in

Anspruch, dass wir uns gar nicht mehr vorstellen können, wie das Leben ohne sie eigentlich

funktionieren soll. Zwischen Deutschland und den Niederlanden gab es früher eine Grenze?

Zwischen Frankreich und Deutschland gab es Konflikte, die sich in Weltkriegen entluden? Es

war kompliziert, sich ein Kleidungsstück aus Mailand zu bestellen und auf die ohnehin

exorbitanten Preise kam dann auch noch Zoll? Natürlich wissen wir das – aus dem

Geschichtsunterricht. Aber außerhalb des Geschichtsbuches und den Nachrichten haben

Grenzen und Kriege nicht mehr viel Platz in unserer Wirklichkeit, in unserer unmittelbaren

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Nähe. Vorurteile und Konkurrenzkämpfe existieren weiter, manch einer verkündet laut, die

Bevölkerung auf der anderen Seite einer nur noch in Köpfen und auf dem Papier

vorhandenen Grenze innig zu hassen. Es toben wilde Diskussionen – wer braut das beste Bier

Europas? Wer hat die beste Fußballmannschaft? Welche Sprache ist die schönste, und

welche kann man aus dem Lehrplan streichen? Und gehört Mallorca jetzt eigentlich zu

Spanien oder doch zu Deutschland?

Bei all der Rage, bei all den Vorurteilen über rotbärtige Iren, biertrinkende Deutsche und

langfingrige Polen – von Krieg redet niemand. Wenn die eigene Mannschaft das Länderspiel

verliert, wird drei Tage gelitten und dann wieder mit den spanischen Nachbarn gegrillt. Das

Sprachproblem löst man, indem an vielen Schulen zwischen Französisch und Spanisch

gewählt werden kann. Was wie eine Aufzählung banaler Beispiele wirkt, bestimmt den Alltag

der meisten EU-Bürger, und wenn von Krieg geredet wird, dann wird von fernen Ländern

geredet: Von Afghanistan, vom Irak, von Syrien oder Mali. Dass wir in Frieden leben, steht

außer Frage - schließlich ist das seit fast 60 Jahren so. Als die EU 2012 den

Friedensnobelpreis bekam, wurde vielerorts der Kopf geschüttelt. Die EU beteiligte sich

selbst an vielen militärischen Einsätzen und stand bisher zwar für Diplomatie, aber nicht für

Pazifismus. Für den Frieden in der Welt tat sie nicht viel. Im Gegenteil – sie schien stets die

Sicherheit und den Wohlstand ihrer eigenen Bürger an erste Stelle zu stellen. Und genau

davon profitieren inzwischen etwa 500 Millionen Menschen, die auf EU-Territorium leben.

Die EU mag nicht viel für die Welt getan haben, aber für diese 500 Millionen hat sie sehr viel

getan. Sie ermöglicht uns ein Leben in Frieden mit dem angenehmen Gefühl, dass dieser

Frieden auch die nächsten Wochen, Monate, Jahre, ja, Jahrzehnte überdauern wird.

Bevor wir schimpfen, sollten wir uns das vor Augen führen. Die EU nimmt uns in die Pflicht,

obwohl wir keinerlei sachliche Gegenleistung dafür erhalten. Was sie uns aber gewährleistet,

sind Freiheit, Menschen- und Bürgerrechte und Sicherheit. Natürlich müssen wir deswegen

nicht immer einverstanden sein mit dem, was EU-Politiker beschließen und natürlich darf

man die EU deshalb nicht glorifizieren. Aber bevor wir alles grundsätzlich verteufeln, was in

Brüssel oder Strasbourg beschlossen wird, bevor wir unsere Steuergelder lauthals

zurückverlangen, bevor wir mit unserer Kritik die unendliche Liste der Dinge verlängern, die

die EU nicht getan hat, sollten wir uns vor Augen führen, was sie alles getan hat. Denn um zu

überleben braucht Europa vor allem Bürger, die an den europäischen Traum glauben und

auch die vielen Erfolge sehen, die die EU bereits errungen hat, sei es das Schengener

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Abkommen oder den Beobachterstatus in der UNO. Die Geschichte hat bewiesen, dass es

sich auch lohnen kann, seine Stimme für und nicht gegen die EU zu erheben.

Trotzdem ist die EU mit all ihren internen Streitereien, den natürlichen

Begleiterscheinungen, die auftreten, wenn 27 souveräne und zutiefst eigensinnige Staaten

eine historisch einmalige Partnerschaft eingehen, weit von Perfektion entfernt. Viele

bezweifeln, dass sich das jemals ändern wird. Rührt daher die aktuelle Politikverdrossenheit?

Eine unpolitische Generation würde heranwachsen, lassen Experten verlauten, die

Wahlbeteiligung verbucht stetig schrumpfende Werte, bei Europawahlen hievt sie sich nur in

wenigen Ländern über fünfzig Prozent. Sind die aktuellen Bürger Europas also träge aus

Resignation? Oder sind sie nicht vielmehr eingelullt von einer fast makellosen Welt, die

ihnen selbst so viele Möglichkeiten eröffnet, dass sie vergessen, über den Tellerrand ihres

Mikrokosmos‘ zu blicken?

Vermutlich ist beides zutreffend. Trotz aller vereinigenden Verträge bleibt Europa gespalten,

so, wie jedes Land gespalten ist, ja, eigentlich jede Stadt: in Reich und Arm, Geber und

Nehmer, Sieger und Verlierer. Manch einer nennt es das Nord-Süd-Gefälle Europas, aber

Armut ist nicht an geografische Grenzen gebunden. Es gibt sie überall: In Deutschland wie in

Großbritannien, in Schweden wie in Italien. Sie mag unterschiedliche Ausmaße haben, aber

egal wo, sie zieht die gleichen Folgen nach sich: Hoffnungslosigkeit, Frust, Resignation bis hin

zur Selbstaufgabe. Warum noch sprechen, wenn niemand zum Zuhören da ist? Auch wenn

es regelmäßig Demonstrationen in den krisengeplagten Euro-Staaten gibt, an denen sich vor

allem junge, gut ausgebildete, aber arbeitslose Menschen beteiligen, scheinen die Parolen

der Demonstranten auf taube Ohren zu stoßen. Wenn dann wieder keine Antworten aus der

europäischen Führungsetage kommen, gibt ein Großteil der Demonstranten die Hoffnung

auf, sie jemals zu erreichen. Man kehrt zurück in seinen tristen Alltag mit weniger Hoffnung

als je zuvor. Was können schon Wörter ausrichten, die im friedlichen Europa die einzige

Waffe zu sein scheinen, mit der man seinen Unmut kundtun kann? Und auch diejenigen, die

nicht bereit sind, einfach aufzugeben, kommen in letzter Zeit allzu oft auf den selben

Gedanken: Wenn Wörter nicht helfen, beginnen Steine zu fliegen, werden Rauchbomben

angezündet und Polizisten angegriffen. Die Stimme scheint kein besonders effektives Mittel

zum Zweck mehr zu sein. Hat Perikles also unrecht? Muss man sich zwischen einem stillen

Bürger und einem gewalttätigen Bürger entscheiden? Und wäre es dann nicht klüger, einen

stillen Bürger vorzuziehen?

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Die Geschichte hat oft genug bewiesen, dass das falsch ist. Viele soziale Veränderungen

gingen mit Blutbädern einher. Aber die erfolgreichsten Revolutionsgeschichten sind

diejenigen, die den Satz „Alle Gewalt geht vom Volke aus“ nicht wörtlich nahmen, sondern

ihre Gewalt auf friedliche Weise ausübten, etwa durch zivilen Ungehorsam und Streiks.

Prominente Beispiele sind die Bürgerrechtsbewegung in den USA durch Millionen

afroamerikanischer Bürger. Auch die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien wurde zu

großen Teilen gewaltlos erstritten. Beides geschah nicht ohne das Fließen von Blut, doch die

entscheidenden Erfolge wurden durch völlige Gewaltlosigkeit seitens der Protestierenden

erreicht, durch die Besetzung eines Bussitzes oder die unerlaubte Herstellung von Salz.

Wenn das Volk seine ihm gesetzlich zugesicherte Souveränität einfordert, muss es sich auch

moralisch souverän zeigen gegenüber jenen, die es provozieren. Ein europäischer Bürger hat

das Recht auf eine Stimme und er sollte sie nutzen, im Bewusstsein, dass sie zwar nicht die

tödlichste, aber die nachhaltigste Waffe ist. Während gewaltsame Revolutionen wie etwa die

Französische Revolution längerfristig scheiterten und sich nach dem ersten Erfolg viele

Rückschläge einstellten, schaffen es Worte und mediale Aufmerksamkeit, das Bewusstsein

der Bevölkerung langsam, aber wirksam zu verändern. Eine funktionierende Demokratie

bietet die idealen Voraussetzungen dafür, dass diese Bewusstseinsveränderung auch Früchte

trägt.

Die Stille in Europa darf also gebrochen werden. Was nicht gebrochen werden darf, nicht

von den Bürgern und noch weniger vom Staat, ist der Friede. Auch in wirtschaftlich

turbulenten Zeiten existieren die Grundrechte weiter. Die Bürger Europas müssen nicht still

sein, aber ein gewisses Maß an Zurückhaltung kann verhindern, dass Worte zu

Gewaltausbrüchen werden.

Einen Grund, diese Stille zu brechen, haben vor allem diejenigen, denen es im jetzigen

Europa nicht so gut geht, weil sie arm sind, sich diskriminiert oder ungerecht behandelt

fühlen. Wie aber verhält es sich mit denen, denen es gut geht, die vom aktuellen Zustand

womöglich sogar profitieren? Trotz Finanzkrise dürfte das weiterhin die Mehrheit der EU-

Bürger sein, das Einkommen pro Kopf in der EU beträgt etwa das Dreifache des weltweiten

Durchschnitts und liegt in keinem Mitgliedsstaat unter dem Durchschnitt. Ist der Grund für

die aktuelle Politikverdrossenheit also doch eine allgemeine Sättigung? Wieso sollten wir uns

einmischen, wenn es uns doch gut geht? Was egoistisch erscheinen mag, praktizieren

Millionen europäischer Bürger, einfach, weil es die einfachste Methode ist. Viele komplexe

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Prozesse versteht der Otto-Normalverbraucher doch gar nicht und dass die EU sich die

letzten 60 Jahre über bewährt hat, haben wir ja vorhin herausgefunden. Ein stiller Bürger

mag ja vielleicht kein guter Bürger sein – aber doch bestimmt kein schlechter? Wir nehmen

uns zwar die Möglichkeit, uns einzumischen und unsere Wünsche zu vertreten, aber

Schaden können wir mit unserem Schweigen oder der Wahlmüdigkeit doch nicht anrichten.

Im Moment funktioniert ja fast alles so, wie es funktionieren soll, wir können also getrost

von den Nachrichten auf die Casting-Show umschalten. Und tatsächlich – solange sich

Politiker nur darum streiten, ob man genetisch veränderten Mais jetzt anbauen darf oder

nicht und alle vier Jahre genug Bürger ein Kreuzchen für die Demokratie machen, können wir

es uns leisten, ihnen passiv dabei zuzusehen. Perikles wird nicht gemeint haben, dass der

Bürger pausenlos protestiert, nur, weil er ein guter Bürger sein möchte. Aber wie schon am

Anfang ausgeführt wurde, erhält der Bürger mit der Demokratie nicht nur Rechte, sondern

auch Pflichten. Und die wichtigste Pflicht ist die der Aufmerksamkeit. Vernachlässigen die

Bürger diese Pflicht, erteilen sie einer Regierung indirekt die Erlaubnis, die Stimme, die ihr

ihre Wähler einmal gegeben haben, umzuinterpretieren oder gar zu missbrauchen. Wenn

die Mehrheit des Volkes nicht wählen geht, kann es sein, dass extreme Ansichten plötzlich

unverhältnismäßig stark vertreten werden. Egal, wie fortschrittlich wir sein mögen, es wird

immer Menschen geben, die der Ansicht sind, einzelne Bevölkerungsgruppen müssten

diskriminiert werden, einzelne Rechte müssten außer Kraft gesetzt werden und einzelne

Menschen müssten profitieren von einem System, das in ihren Augen gerecht ist, für die

Mehrheit aber nichts als Unrecht beinhaltet. Spätestens dann müssen wir wach werden,

hochschrecken, unseren Politikverdruss beenden und bemerken, dass etwas nicht stimmt.

Dann hat das souveräne Volk nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, seiner Rolle

nachzukommen und seine Macht auszuüben.

Wenn man einem Kind etwas verbietet, ist das oft ein besonderer Anreiz, es doch zu tun. Die

Situation in einer politisch prekären Lage oder in einem unterdrückenden Staat ist viel

ernster, aber doch vergleichbar: Wird das Reden verboten, ist es Zeit, die Stimme zu

erheben. Wenn wir diesen Moment verpassen, werden wir schuldig gegenüber all denen, die

unter einem Regime leiden, das wir nicht verhindern. Ein trauriges Beispiel hierfür ist die

nationalsozialistische Diktatur. Die Schuldigen sind Hitler und seine NSDAP. Aber jetzt, viele

Jahrzehnte später, kann nicht mehr geleugnet werden, dass viele Bürger tatenlos zusahen,

ohne einen Versuch des Widerstands zu machen. Dass sie Angst um ihr Leben hatten, ist

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verständlich. Die Bürger des 21. Jahrhunderts sind bestimmt keine besseren Bürger als die

der dreißiger Jahre. Unsere Generation ist nicht mutiger, selbstloser oder edler als

irgendeine Generation vor uns. Und genau deswegen ist es so wichtig, dass wir unsere

Verantwortung wahrnehmen und aufmerksam das verfolgen, was in der Politik vor sich geht,

damit wir einschreiten können, bevor es uns das Leben kostet.

Ein Zwischenfazit: Unionsbürger müssen verantwortungsbewusst mit dem ihnen von der

Demokratie gegebenen Recht zur Mitsprache umgehen, über das nachdenken, was sie

erreichen wollen und dabei auch anerkennen, was bereits alles in den vergangenen Jahren

erreicht wurde. Wenn sie Widerstand zeigen, dann sollten sie es mit Respekt vor dem Gesetz

und vor allem vor ihren Mitbürgern tun. Und in bestimmten Situationen ist es sogar die

Pflicht eines Bürgers, dem Widerstandsrecht nachzukommen und gegen Unrecht

einzutreten.

Auch vor 2000 Jahren hatte Perikles also Recht: Ein stiller Bürger ist wirklich kein guter

Bürger – unter der Voraussetzung, dass er vorher über das nachdenkt, was er sagen will.

Denn um jeden Preis aufbegehrende Wutbürger erschweren Politik nur ungemein und

verhindern wirksame Reformen, selbst, wenn diese zu ihren eigenen Gunsten sein könnten.

All die genannten Eigenschaften sollte aber jeder Bürger haben, nicht nur der, der in der EU

lebt. Gibt es dennoch etwas, das einen EU-Bürger von jedem anderen Bürger unterscheidet -

eine Art Grundvoraussetzung für ein erfülltes Leben innerhalb der Grenzen der Europäischen

Union?

Die EU ist ein Staatenbund, also ein Bund mehrere unabhängiger Staaten. Damit

unterscheidet sie sich etwa von Deutschland, das ein Bundesstaat ist und damit ein einziger,

souveräner Staat. Innerhalb dieses deutschen Bundesstaates leben die unterschiedlichsten

Menschen zusammen – Arme und Reiche, Gebildete und Ungebildete, unterschiedliche

Altersgruppen, Geschlechter und Religionen. Sie alle sind aber nicht nur verbunden durch

das Leben auf deutschem Grund, das in Stuttgart ganz anders sein kann als in Schwerin, in

Berlin ganz anders als in Bad Tölz. Es gibt gemeinsame Werte, die älter sind als die EU, älter

als die Bundesrepublik Deutschland – Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Respekt,

Toleranz, Sicherheit und Frieden. Es sind diese Werte, für die in jedem Land der Welt schon

gekämpft wurde, deren Umsetzung vielerorts erst mühevoll erstritten werden musste. Dass

sie schon Jahrtausende überdauert haben, wissen wir zum Beispiel aus der Bibel und aus den

Schriften griechischer Philosophen. Dank Grundgesetz sind sie für uns in Deutschland

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endgültig zu einer vollkommenen Alltäglichkeit geworden. Wir behandeln uns untereinander

mit Respekt, ohne Gewalt und sind bereit, mittels Steuern und Sozialsystem zu teilen. Die

Starken helfen den Schwachen. Es mag verklärend klingen, aber tatsächlich gab es

Deutschland nie einen Zustand, der einer utopischen Gesellschaft näher kam als das, was wir

gerade erleben.

Und natürlich sind wir nicht die einzigen, die diese Werte leben. In jedem unserer

Nachbarländer, jedem Mitgliedsstaat der EU sind sie Grundlage der Staatsordnung, das ist

Voraussetzung für einen Beitritt. Nicht überall mögen sie juristisch und politisch so gut

umgesetzt sein wie bei uns, aber im Leben der ganz normalen Menschen spielen sie eine

ebenso wichtige Rolle wie hier bei uns Deutschen. Wir sollten diese Leute also als das sehen,

was sie sind: Menschen. Menschen wie wir, Menschen mit ganz ähnlichen Ansichten und

Werten, Menschen, die manchmal unsere Hilfe brauchen, weil sie schwächer sind als wir,

Menschen, die wir aber auch in schweren Zeiten um Hilfe bitten dürfen. Menschen, deren

Freiheit und individuelle Entfaltung wir respektieren sollten, so, wie wir uns respektiert

fühlen wollen. Menschen, die wir gerecht behandeln, so, wie wir uns von ihnen

Gerechtigkeit wünschen. Die Bürger Europas müssen zu genau dem werden – zu Bürgern

Europas. Wir mögen Deutsche sein, Franzosen, Portugiesen, Finnen, Tschechen, Rumänen –

letztendlich gehört Europa uns allen. Europa - das sind nicht nur steif gekleidete Politiker,

komplizierte Verträge und taumelnde Banken. Europa – das sind wir. So, wie Deutschland

aus 83 Millionen Bürgern besteht, besteht die EU aus 500 Millionen Bürgern. Diese Bürger

tragen steife Anzüge oder fleckige Blaumänner, sie unterzeichnen die kompliziertesten

Verträge oder bauen die einfachsten Teile zusammen, sie jonglieren mit Millionen Euro oder

wenigen Cents. „United In Diversity“, „In Vielfalt geeint“ – das ist das Motto der

Europäischen Union. Und keines könnte zutreffender sein, wenn man die vielen

verschiedenen Menschen betrachtet, die unter ihrer Flagge leben. Es wird Zeit, dass sie

aufeinander zugehen und miteinander sprechen, nicht nur die Regierungschefs und

Außenminister, sondern jeder einzelne von Ihnen. Offenheit, Toleranz und Solidarität sind

die Qualitäten, die ein EU-Bürger besonders braucht. Europa kann nur funktionieren, wenn

sich jeder einzelne seiner Bewohner darauf einlässt und bereit ist, seinen Horizont zu öffnen.

Gerade in schweren Zeiten ist der Austausch miteinander wichtig, um nicht alleine zu

verzweifeln. Also machen Sie sich auf, treten Sie in den Dialog mit Ihren Mitbürgern, mit

Ihren Miteuropäern. Denn, so Perikles: „Ein stiller Bürger ist kein guter Bürger.“

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Quellen:

http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Perikles.html, 12.1.2013http://de.statista.com/statistik/daten/studie/159806/umfrage/bip-bruttoinlandsprodukt-pro-kopf-weltweit/, 9.2.2013http://de.wikipedia.org/wiki/Europamotto, 9.2.2013http://de.wikipedia.org/wiki/Mitgliedstaaten_der_Europ%C3%A4ischen_Union, 9.2.2013Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Juli 2010, Bundeszentrale für politische BildungFischer Weltalmanach 2012, Fischer Taschenbuch Verlag, 2011Gemeinschaftskunde-Ordner Sekundarstufe II, Robert-Bosch Gymnasium Gerlingen, 2011-2013