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HEINZ HILLEBRAND, AXEL TROOST

Demokratischer Sozialismus –

Metamorphose eines Begriffs

Der Demokratische Sozialismus, genauer die Veranke-rung dieses Begriffes in der Programmatik, ist einer derstrittigsten Punkte der inhaltlichen Diskussion derneuen linken Partei. Vor allem in der Linkspartei.PDSmacht sich eine große Koalition mit unterschiedlichstenpolitischen Ansätzen, für die Namen wie Sahra Wagen-knecht, Petra Pau oder Katja Kipping stehen, für denDemokratischen Sozialismus stark. Eine neu gegründe-te Strömung mit starker Verankerung in der BerlinerLinkspartei.PDS nennt sich Forum DemokratischerSozialismus. Die Motivationen der Mitglieder vonLinkspartei.PDS und WASG, die für diese Positionstehen, sind unterschiedlich. Einige wollen damit dieKontinuität der PDS sichern, nachdem man schon imParteinamen auf das „DS“ verzichten musste, anderesehen in der programmatischen Verankerung dieser For-derung die Möglichkeit, einer angeblichen „Rechtsent-wicklung“ der neuen Partei entgegenzuwirken, wiederandere benutzen den Begriff als Abgrenzung gegenüberder WASG. Sicher gibt es noch zahlreiche andere Moti-ve, es fällt allerdings auf, dass in der Diskussion derBegriff Demokratischer Sozialismus kaum mit Inhaltgefüllt wird. Dabei verbinden seine BefürworterInnenmit dem Begriff ganz unterschiedliche Vorstellungen.

Wir wollen mit diesem Artikel der Geschichte desBegriffs Demokratischer Sozialismus auf die Spurgehen. Dabei sind wir mit den üblichen Problemen derEigen- und Fremdbezeichnung konfrontiert, trotzdemsind die Veränderungen des Begriffs deutlich. Der Arti-kel versucht Grundlinien aufzuzeigen und kann in derKürze leider nicht auf alle Aspekte des Themas einge-hen. So fehlt die Reaktion anderer politischer Kräfte,sowohl der Konservativen als auch der Kommunisten1

auf den Begriff des Demokratischen Sozialismus. Beivielen Themen musste knapp argumentiert werden, woviel zu sagen wäre. Wir glauben dennoch, dass diewesentlichen Entwicklungen des Begriffs nachvoll-

zogen werden können. Unsere These: Der Begriff eig-nete und eignet sich gut für die politische Auseinander-setzung, eine einheitliche Begriffsdefinition ist aller-dings schwer zu finden.

Die Notwendigkeit der Kreation eines solchen Begrif-fes ergab sich aus der Tatsache bzw. der Einschätzung,dass Demokratie und Sozialismus auseinandergefallenwaren, denn Demokratischer Sozialismus bedeutet jaauch immer, dass es einen undemokratischen Sozialis-mus gibt, oder die Auffassung existiert, dass es ihn gebe.In der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts warenDemokratie und Sozialismus noch nicht getrennt.

Sozialdemokratie im Kaiserreich –

Demokratie und Sozialismus bilden

eine Einheit

Die Verbindung von Sozialismus und Demokratie warfür die Sozialdemokratie im deutschen Kaiserreich eineSelbstverständlichkeit. Sie kommt zum Beispiel in einerÄußerung von Wilhelm Liebknecht aus dem Jahre 1869zum Ausdruck: „Die Frage, welche Stellung hat dieSozialdemokratie im politischen Kampfe einzunehmen?beantwortet sich leicht und sicher, wenn wir uns überdie Untrennbarkeit von Sozialismus und Demokratieklar geworden sind. Sozialismus und Demokratie sindnicht dasselbe, aber sie sind nur ein verschiedener Aus-druck desselben Grundgedankens; sie gehören zuein-ander, ergänzen einander, können nie miteinander inWiderspruch stehen. Der Sozialismus ohne Demokratieist Aftersozialismus, wie die Demokratie ohne Sozialis-mus Afterdemokratie. Der demokratische Staat ist dieeinzig mögliche Form der sozialistisch organisiertenGesellschaft.“2 Die Unterscheidung zu bürgerlich/libe-

17/2007

1 Die ihn als Reformismus, Revisionismus und in einigen Veröf-fentlichungen aus den realsozialistischen Ländern auch als beson-ders gefährliche Form des Anti-Kommunismus bezeichneten.

2 Über die politische Stellung der Sozialdemokratie, insbesonderemit Bezug auf den Reichstag. Vortrag von Wilhelm Liebknecht ineiner öffentlichen Versammlung des demokratischen Arbeiterver-eins Berlin am 31. Mai 1869. Berlin 1893. Eine ähnliche Äuße-

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ralen Demokratieauffassungen war zwar gegeben, aberes gab keine Theoriebildung über die Auffassungen vonDemokratie in einer künftigen sozialistischen Gesell-schaft. Auch die theoretischen Autoritäten der Sozial-demokratie, Karl Marx und Friedrich Engels, äußertensich je nach politischer Notwendigkeit zur Demokratie,entwickelten aber keine systematische Theorie. DerBegriff der Diktatur des Proletariats kann nicht als Be-leg für eine antidemokratische Einstellung von Marxund Engels herhalten. Für sie war jeder Staat die Dikta-tur der herrschenden Klasse. Damit war aber die realeökonomische und politische Macht gemeint und nichtein Terrorregime. Dass der Staat des Kaiserreichs mitseinem Dreiklassenwahlrecht (für Männer) keineDemokratie war, ist augenscheinlich und dass er kaumanders als revolutionär zu verändern war auch. DieMonarchie wurde ja tatsächlich erst durch die Novem-berrevolution beseitigt. Erst in der Theorieprägung dersog. Marx-Orthodoxie der II. Internationale durch KarlKautsky und später unter Lenin trat eine stärkere Diffe-renzierung zwischen den Begriffen der Diktatur desProletariats und der Demokratie hervor, traten diese bei-den Begriffe auseinander.

Revisionismusstreit – Beginn der

Differenzierung

Die ersten Differenzierungsprozesse traten im sog.Revisionismusstreit im Jahr 1899 hervor, deren Haupt-kontrahenten Eduard Bernstein und Rosa Luxemburgwaren. In diesem Streit und vor allem später in derKontroverse zwischen Lenin und Kautsky nach der Ok-toberrevolution traten die Kernpunkte der Auseinan-dersetzung hervor. Mit welchen Mitteln ist der Kapita-lismus zu überwinden, durch revolutionären Bruch oderdurch Transformation? Was ist sozialistische Demokra-tie, was bedeutet Diktatur des Proletariats? Die Debattebetraf somit den Weg und das Ziel der Arbeiterbe-wegung. Eduard Bernstein formulierte: „Die Demokra-tie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel derErkämpfung des Sozialismus und sie ist die Form derVerwirklichung des Sozialismus.“3 Rosa Luxemburgschied „den sozialen Kern von der politischen Form derbürgerlichen Demokratie“.4 Die Revisionismusdebattehatte verschiedene Wurzeln: Nach dem Ende des Sozia-listengesetzes gedieh die Sozialdemokratie unter lega-len Bedingungen, 50 Jahre nach dem KommunistischenManifest war der Sozialismus nicht in Sicht. Es ging um

den künftigen Kurs der Sozialdemokratie. Es entwickel-ten sich starke Tendenzen, sich im bestehenden Systemeinzurichten, was den entschiedenen Widerstand derLinken erzeugte. Dies rief auch die Debatte über Demo-kratie hervor.

Weimarer Republik – Demokratischer

Sozialismus als Scheidelinie zwischen

Sozialdemokraten und Kommunisten

Das Versagen der europäischen Sozialdemokratie inder Kriegsfrage führte zur internationalen Spaltungder Arbeiterbewegung. Nach der Oktoberrevolution ent-standen überall auf der Welt kommunistische Partei-en. Die Oktoberrevolution, die den Systemgegensatzbegründete, der das 20. Jahrhundert in Atem hielt,wurde einerseits begeistert begrüßt, auf der anderenSeite gab es schon früh Kritik an der jungen Sowjet-union. Aus den Gefängnis heraus kritisierte RosaLuxemburg, die der Oktoberrevolution positiv gegenü-berstand, Tendenzen der Entdemokratisierung in derSowjetunion. In ihrer Schrift „Zur Russischen Revoluti-on“, die auch das berühmte Zitat von der Freiheit desAndersdenken enthält, formuliert sie: „Es ist die histo-rische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Machtgelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie soziali-stische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demo-kratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginntaber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbauder sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertigesWeihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischentreu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützthat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit demAbbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau desSozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machter-oberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichtsanderes als die Diktatur des Proletariats. (...) [Diese]Diktatur muß das Werk der Klasse, und nicht einer klei-nen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein,d.h. sie muß auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teil-nahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelba-ren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamtenÖffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden poli-tischen Schulung der Volksmassen hervorgehen“.Während Rosa Luxemburg den Begriff der Diktatur desProletariats mit sozialistischer Demokratie gleichsetzt,kommt es zwischen Karl Kautsky, dem früheren aner-kannten Theoretiker der II. Internationale, der zu die-ser Zeit USPD-Mitglied war, und Lenin zu einer Kon-troverse. Kautsky kritisiert in seiner Schrift „Die Dik-tatur des Proletariats“ (1918) die Oktoberrevolutionvehement, Lenin antwortet prompt mit „Die proletari-sche Revolution und der Renegat Kautsky“. Kautsky,

rung gibt es von August Bebel: „Sozialismus ohne Demokratiewird Kasernen- und Parteisozialismus; Demokratie ohne Sozialis-mus ist Manchestertum.“

3 Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und dieAufgaben der Sozialdemokratie. Bonn 1973, S. 178.

4 Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke Bd. 4 S. 363.

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der frühere Verfechter der Diktatur des Proletariats, trittnun für eine „reine Demokratie“ ein. Rosa Luxemburgkritisiert beide Positionen.5 Kautskys Positionen in derKontroverse mit Lenin wie „Kein Sozialismus ohneDemokratie“, waren sicherlich Geburtshelfer für dieKreation des Begriffes Demokratischer Sozialismus,vehement vertreten hat ihn jedoch die Mehrheitssozial-demokratie, zu der Kautsky erst später zurückkehrte.

Die SPD nutzte diesen Begriff offensiv zur Abgren-zung von der Sowjetunion und den Kommunisten. Der10. Kongress der Sozialisten- und Arbeiterinternationa-le formulierte in einer Resolution, der Sozialismuskönne „seine Aufgabe nicht in der Unterdrückung derDemokratie suchen; seine historische Aufgabe ist viel-mehr, diese Demokratie zur völligen Entwicklung zubringen“. Deutlicher wurde in einem Manifest an dieArbeiter ausgedrückt, sie führe den Kampf „für dieWeltanschauung des Demokratischen Sozialismusgegen die Sklaverei des Kapitalismus auf der einen, dietyrannische Diktatur des Bolschewismus auf der ande-ren Seite.“ Auf dem Görlitzer Parteitag nahm FriedrichStampfer für die SPD in Anspruch, Deutschland vordem Bolschewismus gerettet zu haben, „weil wir inDeutschland politisch erzogene demokratische Soziali-sten hatten, die den Bolschewismus ablehnten.“6 Alstheoretischer Bestandteil des demokratischen Sozialis-mus kann auch das Konzept der Wirtschaftsdemokratieangesehen werden, das von Fritz Naphtali entwickeltwurde.

Linke Sozialdemokraten, wie der Austromarxist OttoBauer, nahmen eine Vermittlerposition zwischen Dik-tatur des Proletariats und Demokratie, zwischen Bol-schewismus7 und Demokratischem Sozialismus ein.Seinen Ausdruck findet eine solche Position im LinzerParteiprogramm der österreichischen Sozialdemokra-ten, in dem einerseits betont wird, dass ein sozialistischregierter Staat zutiefst demokratisch sei, weil „dieBewahrung der vollen demokratischen Freiheiten vorallem das Proletariat selber davor schützt, dass eineHerrschaft, die in seinem Namen ausgeübt wird, zueiner Herrschaft über das Proletariat werde.“ Auf deranderen Seite wird eine reagierende Gewaltanwendung

auf einen gewaltsamen Widerstand der Bourgeoisienicht ausgeschlossen, um „den Widerstand der Bourge-oisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen“. DieSAP, die sich von der SPD abgespalten hatte (ihr gehör-ten bedeutende Nachkriegspolitiker und Gewerkschaf-ter wie Willy Brandt und Otto Brenner an), wandte sichvom Begriff des Demokratischen Sozialismus ab. Ange-sichts der Brüningschen Notverordnungen und dembevorstehenden Untergang der Weimarer Republik for-mulierte die Partei, „dass die Arbeiterklasse mit denMitteln der Demokratie und des Parlamentarismusweder zur Macht kommen noch den Sozialismus ver-wirklichen kann.“8

Jahre des Faschismus und des Exils

Auch wenn der Begriff Demokratischer Sozialismusin Dokumenten und Programmen der SPD bereits inden zwanziger Jahren eine Rolle spielte, vor allem alsDistanzierungsbegriff vom Bolschewismus, in der prak-tischen Politik spielte er noch keine große Rolle, manpropagierte auch in der SPD „den Sozialismus“. Im Exilbehielt auch Otto Bauer seine Vermittlerposition bei.Man dürfe „Demokratie und Diktatur des Proletariatsnichts als unvereinbare Gegensätze einander entgegen-stellen. Die Diktatur des Proletariats ist nichts anderesals eine vom Proletariat eroberte Staatsmacht, die starkund dauerhaft genug ist, die Umwälzung der kapitalisti-schen Gesellschaft in eine sozialistische zu vollziehen.Welche Formen eine solche Staatsmacht annehmenwird, wird von den geschichtlichen Umständen abhän-gen.“9

Im Gegensatz zu den österreichischen Sozialisten undlinkssozialistischen Gruppen (denen er selbst damalsangehörte), die versuchten den Faschismus durch eineKlassenanalyse zu begreifen, so Willy Brandt, habe derSPD-Exilvorstand vor allem das Prinzip der Freiheitdem der NS-Diktatur entgegengehalten. Zwar habedas Prager Manifest der SPD aus dem Jahre 1934 nocheine Verbindung zu den linkssozialistischen Gruppengesucht, aber die spätere Entwicklung habe den Frei-heitsbegriff zentral jeder Diktatur, auch der in derSowjetunion entgegenstellt.10 Entscheidend für die Ein-führung des Begriffs Demokratischer Sozialismus alsgesellschaftliche Zielvorstellung der Sozialdemokratenseien weniger die stalinistischen Säuberungen undSchauprozesse der Jahre 1936-1938 gewesen11, sondernvielmehr der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt aus

5 Ebenfalls in „Zur russischen Revolution“ formuliert sie: „Diktaturoder Demokratie heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolsche-wiki wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für dieDemokratie, und zwar für die bürgerliche Demokratie, da er sieeben als Alternative der sozialistischen Umwälzung hinstellt.Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur imGegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Hand-voll Personen, d. h. für bürgerliche Diktatur...“(8) „Alle drei –Lenin, Trotzki und Kautsky – sind nach dieser Darstellung gleich-weit von der wirklichen sozialistischen Politik entfernt.“

6 Protokoll des Görlitzer Parteitags der SPD, S. 3057 In der alten Bundesrepublik ist Bolschewismus oftmals als

Schimpfwort gebraucht worden, es sei hier nur am Rande ver-merkt, dass hier Bolschewismus in keiner Weise abwertende Kon-notationen besitzt, sondern als die Selbstbezeichnung der russi-schen Kommunisten gebraucht wird

8 Paul Fröhlich lt. H. Drechsler: Die Sozialistische ArbeiterparteiDeutschlands, Meisenheim/Glan 1965, S. 223

9 Otto Bauer, Werkausgabe. Wien 1975-1990, Bd. 4 S. 210 f10 Willy Brandt: Demokratischer Sozialismus in: Lexikon des Sozia-

lismus. Bonn 1982, S. 121 11 Das konkrete Ausmaß des Terrors war in breiten Kreisen der

Arbeiterbewegung damals noch nicht bekannt

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dem Jahr 1939 und die Haltung der kommunistischenParteien hierzu. Erst jetzt sei, so Brandt, „ein gemein-sam verankertes Bewusstsein traditioneller Sozial-demokraten und radikaler Linkssozialisten gegenübereinem despotischen Kommunismus“12 entstanden. Des-halb habe Kurt Schumacher bereits bei seiner erstengrößeren Rede am 6. Mai 1945 in Hannover selbstver-ständlich von den Mitgliedern der SPD als den demo-kratischen Sozialisten sprechen können.

Nachkriegszeit – Demokratischer

Sozialismus als ideologischer Kampf-

begriff in der Systemauseinander-

setzung

Die unmittelbare Nachkriegszeit schien für eine kurzeZeit die Annäherung der beiden Arbeiterparteien zuermöglichen. Aus der bitteren Erfahrung des Faschis-mus, der von der größte Arbeiterbewegung der Weltnicht verhindert wurde, und auch der gemeinsamen Haftin Konzentrationslagern und Zuchthäusern entstand dieBereitschaft, wieder aufeinander zuzugehen. DieseStimmung hielt jedoch nicht lange an. Der beginnendeKalte Krieg führte auch zur Verhärtung der Blöcke derArbeiterbewegung. In der Erklärung der SozialistischenInternationale „Ziele und Aufgaben des demokratischenSozialismus“ aus dem Jahre 1951 wird formuliert: „Seitder bolschewistischen Revolution in Russland hat derKommunismus die internationale Arbeiterbewegunggespalten und dadurch die Verwirklichung des Sozialis-mus in vielen Ländern um Jahrzehnte zurück-geworfen.[…] Der internationale Kommunismus ist das Instru-ment eines neuen Imperialismus. Wo immer er zurMacht gekommen ist, hat er die Freiheit ausgerottetoder die Möglichkeit, sie zu erringen, vernichtet. Erstützt sich auf eine militärische Bürokratie und eine ter-roristische Polizei. Er hat eine neue Klassengesellschaftmit aufreizenden Gegensätzen in Besitz und Vorrechterzeugt. Zwangsarbeit ist ein wichtiger Faktor in seinerWirtschaft.“ Die Erfahrungen mit dem Stalinismushaben bei dieser Erklärung sicherlich Pate gestanden,sie atmet aber auch den Geist des Kalten Krieges. Wei-ter formuliert die Erklärung: „Es gibt keinen Sozialis-mus ohne Freiheit. Der Sozialismus kann nur durch dieDemokratie verwirklicht, die Demokratie nur durch denSozialismus vollendet werden.“

Die Sozialistische Internationale bekennt sich in ihrerErklärung zu einem Begründungspluralismus für denDemokratischen Sozialismus, den Kurt Schumacher1946 so formulierte: „Wir müssen als Deutsche erken-nen, daß man Sozialist und Demokrat sein kann sowohl

aus diesen Methoden der ökonomischen Analyse alsauch aus den Erkenntnissen etwa einer rationalen Phi-losophie oder aus moralischen und ethischen Gründenoder aus dem Geist der Bergpredigt hinaus.“13 Beinhal-tete der Begründungspluralismus des DemokratischenSozialismus der Sozialistischen Internationale oder beiSchumacher noch den Marxismus, so ist dies beim 1959verabschiedeten Godesberger Programm anders.

Godesberger Programm:

Gekürzter Begründungspluralismus

für den Demokratischen Sozialismus

In der Weimarer Republik wurde der DemokratischeSozialismus von der SPD noch marxistisch begrün-det. In der Zeit nach 1945 wurde eine Begründungs-vielfalt eingeführt. Im Godesberger Programm von1959 wurde die marxistische Begründung unter demgroßen Einfluss des ethischen Sozialisten und Chef-theoretikers der SPD Willi Eichler weggelassen. Nebender Stimmung des Kalten Kriegs war sicherlich ein wei-teres Motiv, die SPD aus dem 30-Prozent-Ghetto her-auszuführen, wenn im Godesberger Programm formu-liert wird: „Der demokratische Sozialismus, der inEuropa in christlicher Ethik, im Humanismus und inder klassischen Philosophie verwurzelt ist, will keineletzten Wahrheiten verkünden – nicht aus Verständnislo-sigkeit und nicht aus Gleichgültigkeit gegenüber denWeltanschauungen oder religiösen Wahrheiten, sondernaus der Achtung vor den Glaubensentscheidungen derMenschen, über deren Inhalt weder eine politische Par-tei noch der Staat zu bestimmen haben.“14 Das Godes-berger Programm, nicht nur im Verständnis vieler linkerSozialdemokraten eine Rechtswende, sollte demonstrie-ren, dass die SPD in der Gesellschaft der Bundesrepu-blik angekommen war. Neben einem Zugehen auf dieKirchen enthielt es auch ein Bekenntnis zur Landesver-teidigung. In der Folgezeit gab es dann, so Brandt et-was euphemistisch, „Tendenzen, gesellschaftspolitischeMäßigung besonders stark zu betonen, um Zweifeln ander demokratischen Zuverlässigkeit den Boden zu ent-ziehen. In der öffentlichen Selbstdarstellung der Parteiwurde damals häufig statt des Begriffs D.S. die unver-fänglichere, dabei nicht gegensätzliche Formulierung‚soziale Demokratie’ verwendet.“15 Der gesellschaft-liche Mief des Kalten Krieges ist ein gutes Beispiel, wiegesellschaftliche Bedingungen auch den Begriff desDemokratischen Sozialismus prägen, seinen Inhalt wieseine Verwendung. Gerade die SPD war immer anfällig

12 Brandt: Demokratischer Sozialismus, S. 21

13 Schumacher, Kurt, in: Turmwächter der Demokratie. Ein Lebens-bild von Kurt Schumacher, Berlin 1954, Bd. II, S. 308

14 Godesberger Programm der SPD von 195915 Brandt: Demokratischer Sozialismus S. 121

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für gesellschaftlichen Druck, ihr ist, u.E. vollkommenzutreffend, oft vorgeworfen worden, dass sie Grund-satzfragen mit tagespolitischen Anforderungen ver-wechsele. In der Folgezeit erfuhr der Begriff Demokra-tischer Sozialismus einen weiteren Bedeutungswandel,denn ab 1967 veränderte sich das politische Klima deralten Bundesrepublik schlagartig.

Der Aufbruch nach 1968 und die

SPD

Die Studentenbewegung und die gesellschaftliche Auf-bruchstimmung nach 1968 hatten starke Auswirkun-gen auf die SPD. Zumal sie sich mit dem Slogan „MehrDemokratie wagen“ zu einem der Protagonisten desgesellschaftlichen Umbruchs machte. Die Partei wirktezunehmend attraktiv auch auf linke Intellektuelle, dieversuchten, ihre gesellschaftlichen Vorstellungen mitdieser Partei durchzusetzen. Angriffe der CDU/CSUund der Springer-Presse, die den Begriff der Freiheitgegen den des Sozialismus stellten, parierte die SPDoffensiv. In Zeitungen wurden großformatige Anzeigengeschaltet mit dem Titel „Erfolg von 109 Jahren De-mokratischem Sozialismus“. Eine HochschulinitiativeDemokratischer Sozialismus wurde gegründet, zahlrei-che Publikationen beschäftigten sich mit dem Thema.16

Prominente Sozialdemokraten wie Erhard Eppler undHorst Ehmke äußerten sich zu Fragen des Demokrati-schen Sozialismus. Helmut Schmidt bejahte im NDRdie Frage, ob ein „demokratischer Marxismus“ in derSozialdemokratie Platz habe. Die plötzliche „Linkswen-de“ der SPD hatte natürlich auch damit zu tun, dass esKonkurrenz von links gab, z.B. ab 1968 mit der DKPwieder eine legale kommunistische Partei. Der Umgangmit anderen Linken, speziell die Berufsverbotepraxis,führte aber auch dazu, dass sich ein ebenfalls nicht uner-heblicher Teil linker Intellektueller und Gewerkschaftervon der SPD abwandten. Der Wandel im gesellschaftli-chen Bewusstsein führte zu einer erneuten Programm-und Theoriediskussion in der SPD. Auf dem Hanno-veraner Parteitag 1973 ging Willy Brandt auf diese Dis-kussion ein: „Ich möchte jetzt einige Bemerkungen zurTheorie-Diskussion machen und erinnere zunächstnoch einmal daran, dass wir es abgelehnt haben und,wie ich annehme, weiterhin ablehnen, uns in ‚Sozialde-mokraten’ und ‚Sozialisten’ auseinanderdividieren zulassen. Von undemokratischen Systemen abgesehen:

der Begriff des demokratischen Sozialismus darf nichtEiferern ausgeliefert werden, die glauben, es könne nurein Rezept für eine ‚gute’ oder, wie man meint, ‚gerech-te’ Gesellschaftsordnung geben. Demokratischer Sozia-lismus ist für uns kein Schema für die gesellschaftlicheOrdnung, kein dogmatisch festgelegter Katalog vonMaßnahmen. Demokratischer Sozialismus ist nicht mitEndziel, sondern ist als ständige Aufgabe zu verstehen.Er lässt sich nicht in Patentrezepten einfangen.“ Alserster Schritt der neuen programmatischen Orientie-rung der SPD wurde auf dem Mannheimer Parteitag1975 der „Orientierungsrahmen für die Jahre 1975-1985beschlossen, dessen Einleitung die Ziele des Demokra-tischen Sozialismus herausstellte. 1989 löste das Ber-liner Programm das Godesberger Programm ab, dortwurde der Marxismus als eine Wurzel des Demokrati-schen Sozialismus wieder genannt. „Der Demokrati-sche Sozialismus in Europa hat seine geistigen Wurzelnim Christentum und in der humanistischen Philosophie,in der Aufklärung, in Marxscher Geschichts- undGesellschaftslehre und in den Erfahrungen der Arbei-terbewegung“.17

Demokratischer Sozialismus in

anderen Spielarten

In den siebziger und achtziger Jahren des vergangenenJahrhunderts verlor die Sozialdemokratie das Monopolauf den Begriff des Demokratischen Sozialismus.

Im Gefolge der Studentenbewegung diskutiertenlinke Theoretiker den Begriff, die Reformkommunistender CSSR unter Alexander Dubcek und die Vorstellun-gen der Eurokommunisten wurden in der Bundesrepu-blik als Vorstellungen eines demokratischen Sozialis-mus (im Gegensatz zum undemokratischen Sozialismusder realsozialistischen Länder) subsumiert.

Als am 3. März 1977 die drei Parteiführer Enrico Ber-linguer (PCI), Georges Marchais (PCF) und SantiagoCarrillo (PCE) vor die Presse traten (und damit denEurokommunismus aus der Taufe hoben), sprachen siein ihrer kurzen Erklärung davon, dass es Ziel ihrer Par-teien sei, „den Sozialismus in Demokratie und Freiheitzu errichten“.

Santiago Carillo sprach in seinem Buch „Eurokom-munismus und Staat“ von einer Demokratisierung desStaatsapparates und einem demokratischen Weg zumSozialismus. In Italien propagierte die PCI den „Histo-rischen Kompromiss“ mit den Christdemokraten undsprach nicht mehr von einer Linksalternative, sondernvon einer Demokratischen Alternative für Italien.

16 U.a. Christian Fenner: Zur Einführung in die Theorie des demo-kratischen Sozialismus Frankfurt/Main 1977; Gesine Schwan:Demokratischer Sozialismus für Industriegesellschaften Köln1979; Richard Löwenthal: Demokratischer Sozialismus für Indu-striegesellschaften 1979; Thomas Meyer. Demokratischer Sozia-lismus. Geistige Grundlagen und Wege in die Zukunft München1980. 17 Grundsatzprogramm der SPD 1989

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Das Abflauen der gesellschaftlichen LinkswendeEnde der Siebziger Jahre führte auch zu zahlreichenDiskussionen innerhalb der Linken, wofür z.B. dieSozialistischen Konferenzen Anfang der Achtziger Jah-re ein Indiz waren. Linke Intellektuelle wie Ossip K.Flechtheim, Oskar Negt und Nicos Poulantzas disku-tierten Sozialismusmodelle, die die Impulse von Frau-en- und Ökologiebewegungen aufnahmen, mehr basis-demokratisch und antietatistisch ausgerichtet waren.

Der Nato-Doppelbeschluss führte zu Krisenerschei-nungen in der SPD. 1982 gründete sich mit den „Demo-kratischen Sozialisten“ eine Partei, die als Abspaltungvon der SPD entstanden war, aber auch zahlreiche an-dere Linke vereinte. Der Demokratische Sozialismusdieser neuen Formation unterschied sich allerdings vonder SPD. So kam es zur Bündniskandidatur der Frie-densliste, in der auch zahlreiche DKP-Mitglieder mit-wirkten. Die Gallionsfiguren der DS, Manfred Coppikund Karl-Heinz Hansen, verließen die junge Partei früh,1991 löste sich die neue Formation auf.18

Nach dem Epochenbruch 1989 –

Ehemalige kommunistische Parteien

eignen sich den Begriff an,

Distanzierungsprozesse bei der

Sozialdemokratie

Die Jahre 1989 und 1990 stellten eine schwere Zäsurdar, sie beendeten das Kurze Zwanzigste Jahrhundert19.Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endetenauch die Sozialismusversuche in den meisten Ländernihres Einflussbereiches, wenn man einmal von Vietnamund Kuba absieht. Die ehemals herrschenden kommuni-stischen Parteien wurden zu Oppositionsparteien. Eini-ge halten noch heute am Theoriekonstrukt des Mar-xismus-Leninismus fest, andere, wie die ungarischeUSAP, sozialdemokratisierten sich und wurden Mit-glied der Sozialistischen Internationale. In Deutschlandwandelte sich die SED in die Partei des DemokratischenSozialismus.

Die kommunistischen Parteien außerhalb des realenSozialismus gerieten in schwere Krisen, in Dänemark,Großbritannien und anderen Ländern lösten sie sich aufeigenen Beschluss auf, in Schweden heißt die starkeLinkspartei-Kommunisten nur noch Vensterpartiet(Linkspartei). Auch in einigen dieser Parteien gibt eseine Hinwendung zum Demokratischen Sozialismus.

Die ehemals stärkste kommunistische Partei des Wes-tens, die italienische PCI, ging sogar noch weiter: siemutierte erst zur sozialdemokratischen PDS und dannzu den Linksdemokraten (DS), einer Partei die irgend-wo zwischen Sozialdemokratie und den amerikanischenDemokraten steht. Seit wenigen Tagen gibt es auchdiese Formation nicht mehr. Mit der linkskatholischenPartei Margherita vereinigte sie sich zur PartidoDemocratico.

Demokratischer Sozialismus ist bei den ehemaligenkommunistischen Parteien vor allem Selbstkritik, Kritikan stalinistischen Tendenzen in Organisationsform undTheorie ihrer Organisation. Es ist klar, was nicht mehrgewollt wird, was natürlich nicht bedeutet, dass derBegriff nun mit neuem Inhalt gefüllt wird.

Länder des ehemaligen Realsozialismus

1989 standen die herrschenden Parteien des realsoziali-stischen Lagers vor einem Scherbenhaufen. KritischeGeister in ihren Reihen suchten nach einem Weg, diesozialistische Idee von ihren stalinistischen Deforma-tionen zu trennen. Sie wählten den Begriff des Demo-kratischen Sozialismus als Abgrenzung zu der bisheri-gen Praxis oder zum Stalinismus. Aber nicht nurkritische Geister, bzw. Sozialistinnen und Sozialisten,wählten diesen Begriff, sondern auch politische Kräfte,die schlichtweg an der Macht bleiben wollten. So for-derte auch Boris Jelzin die Umbenennung der KPDSUin eine Partei des Demokratischen Sozialismus.

Diese Prozesse vollzogen sich auch in der DDR,deren herrschende Partei SED sich zuerst in SED/PDSund dann nur noch in PDS umbenannte. Im Laufedieses kaum einjährigen Prozesses verlor sie mehr als90 Prozent ihrer ehedem 2.260.979 Mitglieder (Mai1989), wobei dieser Prozess in der Regel nichts mit derNamensgebung zu hatte.

Eine Konferenz der PDS vom 8. Juli 1990 versuch-te den Begriff Demokratischer Sozialismus näher zubestimmen. Spürbar aufgewühlt von den gesellschaftli-chen Umbrüchen versuchten die TeilnehmerInnen denBegriff zu fassen, der ihnen den Parteinamen gab.Andre Brie verband dort in einem Einleitungsreferatradikale Selbstkritik mit der Aufforderung zu Kapita-lismuskritik und sozialistischer Politik: „SozialistischePolitik kann und muß das Ringen um die umfassendeund radikale Demokratisierung der Gesellschaft sein.Demokratie in ihren modernen Formen und Inhalten istnicht nur ein entscheidendes Instrument zur Gestaltungvon Sozialismus – sie ist Sozialismus. Besondere Be-deutung müssen dabei der Ergänzung und Weiterent-wicklung parlamentarischer Demokratie durch die Rea-lisierung basisdemokratischer Möglichkeiten sowieeiner effektiven Wirtschaftsdemokratie – insbesondere

18 Vorher waren Vereinigungsbestrebungen mit der trotzkistischenVSP gescheitert.

19 Der Begriff wurde von dem britischen Historiker Eric Hobsbawmgeprägt. Das Kurze Zwanzigste Jahrhundert datiert Hobsbawmvon der Oktoberrevolution 1917 bis zum Ende der Sowjetunion1990.

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der Überwindung einer monopolistischen Verfügungs-gewalt über das Eigentum an entscheidenden Produk-tionsmitteln – zukommen.“20 Die Konferenz, die keinenwissenschaftlichen Anspruch hatte, bestand zu großenTeilen naturgemäß aus Aufarbeitung der Vergangenheit,spürbar ist auch die Tendenz, sich mit Fragen der Öko-logie, des Konsumismus und der Globalisierung zubeschäftigen. Auch Fragen der Modernisierung spieleneine Rolle, vor allem bei Michael Brie, der die DDR imGrunde als vormodern bezeichnet („zwanghafte, hal-bierte Modernisierung“). Er propagierte einen Weg ineine postindustrielle, postkonsumistische Gesellschaftund fordert: „Machen wir uns auf den Weg in ein Bünd-nis aller antikapitalistischen, promodernen und postin-dustriellen Bewegungen.“

Die folgende Programmdiskussion mündete in einemersten Partei-Programm im Jahr 1993. In ihm wurde der(Demokratische) Sozialismus als Ziel, Bewegung undWertesystem bezeichnet. In einer fast textidentischenFormulierung21 heißt es im Chemnitzer Parteiprogrammaus dem Jahr 2003:

„Sozialismus ist für uns ein notwendiges Ziel – eineGesellschaft, in der die freie Entwicklung einer undeines jeden zur Bedingung der freien Entwicklung allergeworden ist. Sozialismus ist für uns eine Bewegunggegen die Ausbeutung des Menschen durch den Men-schen, gegen patriarchale Unterdrückung, gegen dieAusplünderung der Natur, für die Bewahrung und Ent-wicklung menschlicher Kultur, für die Durchsetzung derMenschenrechte, für eine Gesellschaft, in der Bürgerin-nen und Bürger ihre Angelegenheiten demokratischregeln.

Sozialismus ist für uns ein Wertesystem, in dem Frei-heit, Gleichheit und Solidarität, Emanzipation, Gerech-tigkeit, Erhalt der Natur und Frieden untrennbar mit-einander verbunden sind.

Die sozialistische Idee ist durch ihren Missbrauch alsRechtfertigung von Diktatur und Unterdrückungbeschädigt worden. Die Erfahrungen der DDR ein-schließlich der Einsicht in die Ursachen ihres Zusam-menbruchs verpflichten uns, unser Verständnis vonSozialismus neu zu durchdenken.“

Im Jahr 1993 waren diese Formulierungen noch unterdem 3. Punkt „Sozialistische Erneuerung“ formuliertworden, 2003 stehen sie der Präambel: Sozialismus –Ziel, Weg und Werte voran. In Punkt 2 der Präambel„Unser Weg: Demokratisierung der Gesellschaft“ wirder etwas näher ausgeführt, wobei vor allem auf De-mokratisierung der Gesellschaft und Eigentum abge-hoben wird: „Alle Eigentumsformen – genossenschaftli-che, kommunale, private und andere –, die die

natürlichen, sozialen und kulturellen Lebensgrundlagenentwickeln und den Zugang zu den Grundbedingungenmenschlichen Lebens erleichtern, müssen gefördert,andere, die Lebensgrundlagen untergraben, vernichtenund diesen Zugang erschweren oder verhindern, müs-sen zurückgedrängt und überwunden werden.“ Die Ver-fügungsgewalt über hochkonzentriertes Kapitaleigen-tum und Finanzfonds müsste schrittweise sozialenKriterien unterworfen werden. Langfristig solle die Vor-herrschaft der Kapitalverwertungsinteressen abge-schwächt, schließlich überwunden und die ihr zuGrunde liegenden Macht- und Eigentumsverhältnisseverändert werden.

Demokratischer Sozialismus und

Sozialdemokratie nach 1989

Die Umbenennung der SED in Partei des Demokrati-schen Sozialismus stieß bei einigen Sozialdemokratenauf heftigen Protest. So bei Wolfgang Thierse, der inder Frankfurter Rundschau vom 19. August 2003 derPDS vorwirft, sie habe diesen Begriff „dreist geklaut“.Horst Heimann relativiert in der spw diesen Vorwurf:„Allerdings muss man den Vorwurf an die PDS etwaspräzisieren. Die PDS hat ein unbewohntes, vom Ei-gentümer SPD ungenutztes und auch nicht beanspruch-tes Grundstück mit wertvoller Bausubstanz schlicht‚besetzt’. Dieses nicht genutzte Eigentum der SPD istzwar so wertvoll, dass es die UNESCO zum ‚Welt-Sozia-lerbe’ erklären könnte. Aber in den letzten Jahrzehntenwurde dieser wertvolle ‚Besitz’ völlig vernachlässigt,nicht mehr gehegt, gepflegt oder renoviert, sondern demschleichenden Verfall überlassen. Und alle Generatio-nen und Zweige der Eigentümer-Großfamilie hat esgleichgültig gelassen, wie das wertvolle Erbe zuneh-mend verrottete. Weder ‚Rechte’ noch ‚Linke’, ‚Moder-nisierer’ noch ‚Traditionalisten’ waren bereit oder inder Lage, auch nur eine kleine geistige Anstrengung zuinvestieren, um ihr Erbe vor Wertminderung oder Ver-fall zu bewahren. Und die PDS hat die leerstehendenGebäude auch nur ‚besetzt’, keineswegs ‚instandbe-setzt’, wie das sonst Hausbesetzer zu tun pflegten.“22

Heimann macht mit dieser Formulierung darauf auf-merksam, dass es nach 1989 und im Zuge der neolibe-ralen Wende der SPD starke Tendenzen gab, den Begriffzu entsorgen. Hans-Jochen Vogel meinte, das BerlinerProgramm sei in dieser Zeit zu einem Geheimpapiergeworden. Die Sozialistische Partei Österreichs hattesich in den Nachwendezeiten in SozialdemokratischePartei Österreichs umbenannt.20 Demokratischer Sozialismus. Materialien der Konferenz der PDS

vom 8. Juli 1990 in Berlin, Seite 2021 Kleine Veränderungen sind u.a.: Soziale Gerechtigkeit wird in

Chemnitz zu Gerechtigkeit, menschliche Emanzi-pation zu Eman-zipation

22 Horst Heimann (Vorstandsmitglied der Hochschulinitiative Demo-kratischer Sozialismus e.V.): Die Linke muss die Welt auch inter-pretieren. In: spw 4.11.2003

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Nach der Jahrtausendwende meldeten sich verstärktBefürworter des Begriffs in der Partei zu Wort, u.a. ineiner Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung „Demo-kratischer Sozialismus in Europa seit dem ZweitenWeltkrieg“ im Jahr 2000. Im nun vorliegenden BremerEntwurf für ein Grundsatzprogramm wird formuliert,dass sich die SPD „zu der unsere Geschichte prägendenIdee des demokratischen Sozialismus“ bekenne. Diesersei kein Dogma und beschreibe keinen Endzustand,sondern sei als „Vision einer freien, gerechten und soli-darischen Gesellschaft“ zu verstehen. Der prägendeBegriff des Entwurfs ist allerdings „Soziale Demokra-tie“, der nach theoretischen Vorarbeiten des Chefs derSPD-Grundwertekommission Thomas Meyer etabliertwird. Es ist zu vermuten, dass der Begriff Demokrati-scher Sozialismus als Zugeständnis an die verbliebeneParteilinke und auf Grund der Befürchtung, dass vie-le Mitglieder ansonsten zur LINKEN gehen, im Pro-gramm verblieben ist.

Den Begriff mit Leben füllen

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint DemokratischerSozialismus wieder Konjunktur zu haben. So formulier-ten die Juso-Hochschulgruppen auf einem Kongress:„Wir begrüßen, dass die Idee des DemokratischenSozialismus weiterhin Prinzip des Handelns der SPDsein soll. Denn der Demokratische Sozialismus warnicht nur ein wichtiger Bestandteil unserer Parteige-schichte, sondern muss auch künftig unser Ziel bleiben.Für uns Sozialistinnen und Sozialisten gehört die Ideeeiner Gesellschaft, in der die Gleichheit und Freiheitder Menschen verwirklicht ist, nicht in die Mottenkiste,sondern ist zukunftsweisend. Wir wollen den Kapitalis-mus überwinden. Diese Idee muss Richtschnur für daseigene Handeln bleiben.“23

Wenn in diesem Textzitat nicht das Wort SPD stehenwürde, könnte er auch auf einer Konferenz der Links-partei.PDS verabschiedet worden sein.

So vehement die Forderung nach DemokratischemSozialismus vertreten wird, so unklar ist sein Inhalt.Frühere Theoretiker weigerten sich, Aussagen über einekünftige Gesellschaft zu machen, so auch FriedrichEngels: “Aber wir haben kein Endziel. Wir sind Evolu-tionisten, wir haben nicht die Absicht, der Menschheitendgültige Gesetze zu diktieren. Vorgefaßte Meinungenin Bezug auf die Organisation der zukünftigen Gesell-schaft im einzelnen? Davon werden Sie bei uns keineSpur finden.“24

Wir denken, dass wir uns heute nicht auf diesenStandpunkt stellen können. Es gab im 20. Jahrhundert

zahlreiche Versuche, Sozialismus in verschiedenstenLändern zu etablieren. Nicht nur in den realsozialisti-schen Ländern, es gab die Bezeichnung SchwedischerSozialismus, einen Arabischen Sozialismus usw. Dieskann nicht ignoriert werden, denn vor allem die Er-fahrungen der ehemals realsozialistischen Länder dürf-ten uns in vielen Punkten lehren, was wir nicht mehrwollen.

Die Veränderungen des Begriffs DemokratischerSozialismus folgten politischen Notwendigkeiten undhatten eine politische Funktion. Dies war vor allem beider SPD der Fall, die ihn als Abgrenzung von der linkenKonkurrenz benutzte und wohl auch als Placebo fürkapitalismuskritische Mitglieder. Aber auch die ehemalskommunistischen Parteien, die sich den Begriff zu eigenmachten, wollen damit vor allem belegen, dass sie fä-hig sind, aus der Geschichte zu lernen. Der BegriffDemokratischer Sozialismus, der einigen WASG-Mit-gliedern (nicht den Autoren) noch sehr fremd ist, eignetsich gut für die politische Auseinandersetzung, wie wirauch momentan im Kosmos der neuen Linken beobach-ten können. Wobei wir allerdings oftmals den Eindruckhaben, dass hier Monstranzen vorangetragen und theo-logische Gefechte ausgetragen werden.

Heute müssen wir schon etwas genauer werden. Vorallem, wenn es zwei Parteien der BundesrepublikDeutschland geben sollte, die den DemokratischenSozialismus im Programm haben. Was soll Demokrati-scher Sozialismus sein? DDR minus Stasi plus mehrDemokratie und Markt? Keynesianismus plus Wirt-schaftsdemokratie? Graswurzelsozialismus mit Grund-einkommen für alle? Machen wir uns daran zu definie-ren, was wir unter Demokratischem Sozialismusverstehen, dann können wir ihn mit größerer Berechti-gung in das Programm der neuen LINKEN aufnehmen.

Heinz Hillebrand – Landesvorstandsmitglied DIELINKE. in NRW

Dr. Axel Troost – Jg. 1954; 2004 Mitbegründer der„Wahlalternative“ und bis 15. Juni 2007 Mitglied desgeschäftsführenden Bundesvorstandes der Partei„Arbeit und soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalterna-tive“; seit 2006 Mitglied des Deutschen Bundestages;Mitglied des erweiterten Bundesvorstandes der Par-tei DIE LINKE.; ehrenamtlicher Geschäftsführer der„Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ (Memo-randumgruppe).

23 Demokratischer Sozialismus im 21. Jahrhundert. Beschlossen aufdem Bundeskoordinierungstreffen der Juso-Hochschulgruppenvom 26.-28. Januar 2007 in Stuttgart, S. 1.

24 Friedrich Engels in einem Interview von Le Figaro am 8. Mai1893. In: MEW, Bd. 22, Berlin/DDR 1963, S. 542.