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Einleitung
Die Rechtswissensdiaft besdireibt und er läuter t die bestehenden und vergangenen Rechtsordnungen. Sie hat überdies die Aufgabe, da rüber Auskunft zu erteilen, wie eine richtige Rechtsordnung zustande kommt, aufrechterhalten und weiterentwickelt w i r d Der Umfang ihres Tätigkeitsbereidies w i r d her-nadi vorgezeigt. A n dieser Stelle ist nur darauf hinzuweisen, d a ß die Reditswissensdiaft alle Personen, die mit der Rechtsordnung in irgend einer Weise beschäftigt sind (rechtsetzend oder -anwendend) zu lehren hat, wie sie ihre Aufgabe gut erfüllen. Das gelingt ihr am besten, wenn sie stets auf dem unmittelbarsten Weg diesem Zie l zustrebt. Sie hat keinen Eigenwert und taugt nur so vie l , als sie die praktische Arbeit an der Rechtsordnung fördert^. Gegenstand solcher Arbeit ist die Ordnung der zwischenmenschlichen Beziehungen im allgemeinen (z. B . Gesetze) und im besonderen (z. B . Ver träge, Urteile). Die Rechtswissenschaft liefert dem Praktiker das geistige Rüstzeug, um die Ordnung und die einzelnen Beziehungen in richtiger Weise miteinander zu verbinden. E r hat dieses Problem fo r twährend und in unzähligen Varianten zu lösen. Der Rechtspraktiker ist in der gleichen Lage wie ein Mediziner oder Techniker, der in jedem ihm vorgelegten F a l l das Ergebnis unter A n wendung der allgemeinen Lehre erreicht. Diese unterrichtet vorerst über die Eigenschaften des Objekts, an dem er den Erfolg erzielen soll (mensch-lidies Wesen, Rohstoff, Ausgangsstoff), ferner über die Mittel und den mit diesen beiden Voraussetzungen zu erreichenden möglichen Effekt. Der medizinische oder technische Fachmann handelt oft rout inemäßig , d. h. er ist sich nicht mehr bewußt , d a ß er nach Lehren vorgeht, die ihm die Wissenschaft an die H a n d gab. Sobald er aber eine Aufgabe lösen muß , die außerha lb seines tägl idi betretenen Gebietes liegt, oder wenn andere seiner Auffassung vom richtigen Vorgehen widersprechen, holt er sich
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Einleitung
bei den wissenschaftlichen, d. h. den für derartige Fälle allgemein gültigen Regeln Ra t . Das gilt nicht nur für die technischen Mittel, die er am gegebenen Objekt anwendet, sondern ebenso für das Wissen um dessen Eigenschaften und Wesen. E i n Schneider konnte sich z. B . , bis die vollsynthetischen Fasern auf den Markt kamen, mit dem Ergebnis der praktisdien Erfahrung beim Tragen von WoU-, Baumwoll- , Seiden- oder Kunstseidenstofl^en zufrieden geben. Jetzt aber m u ß er, um die Kunden gut zu beraten, die wissen-schaftlidi erforschten Strukturen und Eigenschaften zahlreicher natürlicher und künstlicher Fasern kennen. Jedenfalls gilt in allen Gebieten menschlicher Tät igkei t die Grundregel, d a ß das Wesen des zu bearbeitenden Stoffes soweit erforsdit sein m u ß , als diese Kenntnis für die Erreichung des angestrebten Zweckes notwendig ist. Der Prakt iker darf sich solange auf die Angaben der Wissenschaft verlassen, als diese sich gerade auf den Stoff beziehen, den er bearbeitet. H a t er es mit einem neuen, ähnlichen oder gar gänzlich abweichenden Stoff zu tun, so verlangt er von der Wissenschaft Auskunft darüber , wie er das Wesen dieses Stoffes erkennen kann. Wenn er das nicJit selber vermag, ersucht er die Wissenschaft, ihm die nötigen Kenntnisse zu verschaffen. Das gelingt oft nicht ohne Grundlagenforschung. Mögen deren Ergebnisse noch so schwer erreichbar und ihre Wege vorerst nur wenigen genialen Wissensciiaftlern erkennbar sein, so erweist sich doch ihr Wert an der Hi l fe , die sie beim Erreichen von praktisch bedeutsamem T u n leistet. Die medizinischen und technischen Wissenschaften, die hier herangezogen wurden, um die Aufgaben der Rechtswissenschaft e inprägsamer vorzustellen, umfassen das grenzenlose Gebiet der genauen Wahrnehmung von erfahrungsmäßig feststellbaren Erscheinungen und der über sie hinausführenden, erst naditräglich auf ihre Richtigkeit zu prüfenden intuitiven Wesenserforschung. Das alles dient dazu, Ergebnisse zu bewirken, von denen man annimmt, d a ß sie den Menschen in irgend einer Weise zugute kommen. Die Praktiker setzen die theoretisch gewonnenen Erkenntnisse in praktisch nützliche Erfolge um. So verlaufen die Erkenntnis- und Anweisungslinien von den großen Forschern, sich immer mehr verzweigend, bis zu den einzelnen Medizinern und Technikern, die im täglichen Betrieb sich abmühen . Dabei ist nochmals daran zu erinnern, d a ß sie nicht etwa fertige Ergebnisse beziehen, wie die Detai l l i sten auf dem Umweg über den Großhande l die von der Industrie hergestellten oder von der Landwirtschaft produzierten Waren. Sie wenden jene Regeln an, von denen die Wissenschaft sagt, sie seien dem Wesen der zu behandelnden Objekte und des zu erstrebenden Erfolges angemessen. Diese
Einleitung
Regeln verstehen sie b loß dann, wenn die Mitteilungssymbole (Worte und Sätze, Formeln, Zahlen, Zeichnungen) die Vorgänge so deutlich beschreiben, daß sie, der mit dem Gebiet vertraut ist, die Handlungen deutlich erklären, die er vorgenommen hat. Es dürfen dabei also nur Mitteilungssymbole verwendet werden, die bei allen, an die sich die Angaben wenden, dieselbe Vorstellung erwecken. Die Sicherheit des Erfolges häng t nicht nur von der richtigen Erkenntnis, sondern auch von deren unmißvers tändl ichen Wei tergabe ab. Die medizinischen und technischen Wissenschaften sind überal l gültig. Die Richtigkeit ihrer Regel hat sich in allen Erdteilen zu bewähren . Das gilt uneingeschränkt für die mögliche Anwendbarkeit der Methode zur Beschaffung der Erkenntnisse, w ä h r e n d d e m die praktische Auswertung und insbesondere die dafür maßgeblichen Bedürfnisse von Kontinent zu K o n t i nent und manchmal von L a n d zu L a n d wechseln.
Die Verbindung zwischen der medizinischen und technischen Wissenschaft einerseits und der Praxis anderseits wurde so breit dargestellt, um den Leser zur unwirschen Frage aufzustacheln, wo die Parallele zur rechtswissenschaftlichen Forschung und juristischen Praxis zu finden sei. Man ^ ist davon überzeugt, daß sich die Rechtswissenschaft nicht nur nach Gegenstand und Zie l , sondern auch in der Methode von den Naturwissenschaften grundlegend unterscheide. D a r ü b e r w i rd nachher gesprochen. Vorläufig steht nur die Verbindung von Theorie und Praxis zum Vergleich. D a w i r d wohl eingewendet, der Jurist oder wer sich sonst um die Rechtsordnung bemühe, benötige keine wissenschaftlichen Ratschläge, um den zu gestaltenden Stoff, die Lebensverhältnisse, erst sehen, d. h . kritisch erkennen zu lernen. D ie Rechtswissenschaft könne auf die Anwendung der Erkenntnistheorie, der die Naturwissenschaften ihren ungeheuren Fortschritt verdanken, verzichten. Rechtswissenschaftliche Werke e rwähnen diese Probleme denn auch bestenfalls nebenbei^. Es w i rd sich aber ergeben, d a ß sich zahlreiche Hindernisse für die Verständigung wegräumen lassen, wenn die Gesprächspar tner fähig und gewillt sind, den Weg zur Grundlage ihres Standpunktes, d. h. also den Weg zur Erkenntnis des Problems, gegenseitig kritisch zu überprüfen und zu vergleichen. Gerade bei der praktischen Tät igkei t , sei sie Gesetzgebung, das A b fassen von Vert rägen oder das Fällen von Urteilen, ist es wesentlich, sich darüber Gewißhei t zu verschaffen, bis zu welchem Punkte alle Beteiligten die Sachverhalte gleich sehen können . Das Lebensverhäl tnis , auf das eine Regel anzuwenden oder aus dem eine für die Zukunft geltende Norm abzuleiten ist, m u ß nach ebenso genau festgelegter wissenschaftlicher Methode
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Einleitung
festgehalten und wesensmäßig bestimmt werden, wie die Objekte, auf die Ä r z t e oder Techniker einwirken. Der vorher e rwähn te E inwand wi rd das als unnöt ig ablehnen, wei l im Gegensatz zu den Objekten naturwissenschaftlicher Erkenntnis die Lebensverhältnisse, die das Recht ordnet, der Einsicht ohne wissenschaftliche Anleitung offen stehen. Das tr i f i l oft zu, aber nicht immer. Doch geht es bei der erkenntnistheoretischen Arbeit als Vorbereitung zur rechtswissenschaftlichen Methode nicht nur um die A r t , wie und ob die Lebensverhältnisse in allgemeingültiger Weise zu sehen sind, sondern noch mehr darum, d a ß sie übe rhaup t wahrzunehmen sind. Der Jurist, vor allem der nach kont inentaleuropäischer Methode ausgebildete, beendet oft seinen Denkweg bei einer wissenschaftlichen Aussage, bei einem A x i o m oder Dogma, das nach seiner Meinung den Weiterweg bis zum freien Blick auf das Lebensverhäl tnis erspart. Das ist nicht nur der häufigste und schwerstwiegende Fehler der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, sondern der europäischen Geisteswissenschaften im allgemeinen. Dabei gewahrt der Jurist nicht, d a ß er sich täuscht, d a ß das ihm vorgelegte Lebensverhäl tnis mit jenem, das zur Aussage oder dem A x i o m oder Dogma A n l a ß gab, nur teilweise oder gar nicht übereinstimmt. So gerät er an der richtigen Ordnung vorbei, wei l er ein zu U n recht gemeintes und nicht das seiende Verhäl tnis ordnet. Daraus entstehen häufig endlose Dispute. Beide Parteien harren auf ihrem angeblich solid fundierten Standpunkt aus und versuchen einander mit dogmatischen Argumenten zu überzeugen, statt gemeinsam zur Wesensschau aufzubrechen und die Weggabelung zu suchen, wo ihre Auffassungen andersartigen Überzeugungen folgen, die nicht mehr auf Grund allgemeiner Erfahrung überprüfbar sind Diese Scheidewege liegen aber vie l weiter von den normalen Aufgaben der Rechtspflege ab, als der Streit der Positivisten, Idealisten und Naturrechtler es vermuten läß t . Die Rechtswissenschaft hat schon Bedeutendes geleistet, wenn sie jene Stellen anzeigt, wo die metaphysische Anschauung (religiöse Überzeugung oder Ideologie) das letzte Wort hat. Das gelingt ihr dadurch, d a ß sie das riesige Gebiet vorweist, das der objektiven Erkenntnis offen steht und d a ß sie bis zu dessen Grenzen hinführt . Das ist heute notwendiger als je, we i l die Rechtsordnung weltweit zu gestalten ist und Verhandlungspartner daher Personen sind, denen unsere dogmatischen Meinungen und durch übereinst immende Tradit ion dogmatisch gekürzten Denkverfahren nichts bedeuten. Die juristische Praxis arbeitet über alle Landesschranken hinweg. Sie erreicht die universelle Vers tändigung dann, wenn sie unmittelbar den Zutri t t zu den Lebensverhältnissen findet. Was die Praxis
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Einleitung
dabei tut und von jeher, insbesondere auch beim Aufbau des römischen und anglosächsischen Rechts im Verlaufe des Weitergehens an H a n d von einzelnen Fällen getan hat, ist als Prinzipien einer allgemein gültigen Rechtswissenschaft zu erkennen Dieses Buch bringt also nichts Neues. Es hilft nur das zu sehen, was die guten Juristen von jeher wahrnahmen, und dem die erstaunliche Tatsache zu verdanken ist, daß trotz des Wirrwarrs der Theorien die Rechtsordnung als solche alle Drangsale übers tand und d a ß die Menschheit nodi nicht im Chaos endete. Diese Studie w i l l nur Schleier vom Bewußtsein wegziehen, die ihm den Blick auf sich selbst und auf das andere Erfahrbare, das Gegenstand der Rechtsordnung ist, verdecken. Der Verfasser vertraut Piatons Anamnese, dem Wiedererinnern an das, was in jedem Menschen der Möglichkeit nach als Erkenntnis und für deren aktuelle Anwendung bereit l i e g t Z u g l e i c h weiß der Schreibende aber auch, d a ß es ihm nicht gelingt, dabei die Fülle des Bewußtseins gänzlich freizulegen. Andere werden widersprechen und unrichtig Gesehenes zurechtrücken und vor allem hinzufügen, was er nicht wahrnahm. Derartige Antithesen werden sich mit der vorliegenden These, wenn sie diese nicht gänzlich verneinen, zu einer neuen und vollständigen Synthese vereinen, zu der eine neue Antithese treten wird . Die Darstellung aller Prinzipien einer überal l gültigen Rechtswissenschaft ist das ideal Mögliche, das Absolute, aber in Wirklichkeit von der menschlichen Vernunft nie völlig zu Erreichende ^. Z u beachten ist, d a ß Forschungsgegenstand die Prinzipien einer überall gültigen Rechtswissenschaft und nicht einer Rechtsordnung sind. Diese Studie sagt darüber aus, was die Rechtswissenschaft methodisch und inhaltlich zu beachten und zu bedenken hat ^. Der Verfasser begibt sich, soviel ihm bekannt ist, in diesem Buch auf lange Wegstrecken, die neu sind. Allgemein gültigen P r in zipien der Rechtswissenschaft strebten schon andere zu. D a ß sie das Daraufhinbewegen als sinnvoll empfanden, ermutigte auch ihn zu diesem kühnen Unternehmen E r wandte in seiner wissenschaftlichen und praktischen Arbeit die in dieser Studie beschriebene Methode schon von jeher intuitiv an. Doch vermochte er darüber nicht Rechenschaft zu geben. E . Husserl löste durch seine phänomenologischen Schriften die Binde von seinen Augen, obgleich er zu diesem besonderen Thema nichts sagte
Der Verfasser hofft, im Leser einen willigen Begleiter zu finden, der gerne am geistigen Abenteuer der rückkehrenden Reise zum Eigenen, des Aufsteigens in das helle Bewußtsein, der Suche nach den erkennbaren Orchiungs-prinzipien teilhat.
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Einleitung
Dieses Unterfangen ist deshalb so spannend, wei l es einerseits nur von den allgemein wahrnehmbaren Erscheinungen der geistigen und körperlichen Welt ausgeht, und wei l anderseits eine metaphysische Überzeugung dazu den A n l a ß gab, deren Richtigkeit noch nicht beweisbar, d. h. nicht zu einer E v i denz zu bringen ist, die alle erkennen können .
Diese metaphysische Überzeugung ist daher wissenschaftlich nur als Arbeitshypothese zu behandeln. Ih r Gehalt ist die Einheit von kosmischer und z w i schenmenschlicher Ordnung Themis und Dike , wie sie in den Schriften der ersten griechischen Denker mythologisch, als göttlich wirkende Wesen, erscheinen Die Rechtsordnung ist wohl in den Grundzügen seinsmäßig festgelegt, im übrigen aber von den Menschen unablässig und immer aufs neue zu gestalten. Handeln sie gegen das, was sie als richtig zu erkennen vermögen, so können sie sich nicht auf das Schicksal, auf das Nichtsehen berufen; sie werden schuldig Die fo r twährende Entfaltung der kosmischen, der außermenschlichen, der inner- und der zwischenmenschlichen Ordnung nach vorgegebenen Seinsgesetzen ist allgemein erkennbar. Alles w i rk t tät ig mit, seien es Kris tal le , Pflanzen, Tiere oder Menschen, und zwar nach ihren möglichkeiten. Vernunf tmäßig nicht e r faßbar ist der oberste Ordnungsplan, der Geist dieses Geschehens, das Abolute i ' . Aber w i r sehen seine Zeichen, die uns erkennbaren Phänomene der körperlichen, seelischen und geistigen Welt . Jedes einzelne dieser Zeichen weist den Weg zu den geltenden Seinsgesetzen. Je mehr von ihnen erfaßt und systematisch geordnet sind, um so größere Komplexe der Seinsordnung sind dem Begreifen erschlossen. Dabei stehen das Sehen der sinnlich wahrnehmbaren Phänomene und das geistige Erkennen der Gesetzmäßigkei ten, das der sinnlichen Wahrnehmung in unlösbarer Wechselwirkung. Das gilt für alle Verhältnisse in der belebten und unbelebten Natur und so auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen. Deshalb sehen z. B . zahlreiche Patentrechte das Kennzeichen der schützenswerten Erfindungen unter anderem darin, daß der Erfinder eine vorher unbekannte, in der Natur noch nicht angewandte Regel außerha lb der Reichweite des Erfahrenen schöpferisch findet, d a ß er also den Natur-kräflen eine ihnen vir tuell angepaß te aber aktuell noch nicht realisierte Modifikation der Seinswerte, somit eine neue Entfaltung der Naturkrä f le vorschreibt Der Wechselwirkung von sinnlicher Wahrnehmung und intuitivem geistigem Schauen begegnen w i r ebenfalls in den Geisteswissenschaften und damit in der Rechtswissenschaft. Die subjektive Gewißhe i t einer allgemeinen Ordnung, deren Gesetze aufzu-
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decken und anzuwenden sind, um so erst die Fülle der möglichen Wesensentfaltungen zu bewirken (Entwidi lung der Tedinik, Züchtung neuer Pflanzen, Ausdehnung der Rechtsordnung vom Sippenverband bis zur Gemeinschaft der ganzen Welt) , gibt also dem wissensdiaftlichen Forschen die Richtung. Die Wissenschaft baut nicht aus eigener Kraf t mit ihren Erkenntnissen einen Turm, dessen Spitze schließlich zum absoluten Geist hinaufreichen soll, zur Erkenntnis aller Seinsgesetze. Sie steigt eine Treppe empor, die vom universellen absoluten Wissen zu uns hinabreicht, indem sie Stufe um Stufe im stets helleren Lichte des erweiterten Bewußtseins z e i g t W i e weit die Menschheit kommt, wissen w i r nicht
Zweck dieser Studie ist es, überal l gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft vorzuweisen, also eine unbestimmte Zah l , nicht etwa alle. Sie sollen sich, unabhängig vom geographischen Punkt ihrer Anwendung und der A r t der Personen, die nach ihnen arbeiten, als richtig erweisen. Ihre methodische Universal i tä t und teilweise auch die Aussagen über die Werte sollen ebenso universell Geltung beanspruchen dürfen wie die Grundsä tze der Naturwissenschaft. Sobald die abendländische Rechtswissenschaft bereit ist, gleich den R e c h t s p r a k t i k e r n v o n den vorgelegten Lebenserscheinungen und nicht von Dogmen und Axiomen auszugehen, vermag sie auch Menschen anderer geistiger Herkunft bis zu dem Punkt zu führen, wo echte metaphysische Überzeugungen und nicht b loß ideologische Meinungsverschiedenheiten die Wege trennen. Erneut sei gesagt, d a ß bei der Suche nach solchen Prinzipien der Grund und die Bedeutung eines jeden Schrittes allgemein überprüfbar sein muß . „Wenn w i r für den Aufbau der exakten Wissenschaft nach einem Ausgangspunkt suchen, der jeder K r i t i k gegenüber stand häl t , so müssen w i r vor allem unsere Ansprüche erheblich herabstimmen. W i r dürfen nicht erwarten, daß es uns gelingen wi rd , mit einem Schlage, durch einen glücklichen Gedanken, auf ein allgemein gültiges Pr inzip zu stoßen, aus dem w i r mit exakten Methoden ein vollkommenes System der Wissenschaft entwickeln können, sondern w i r müssen uns erst einmal damit begnügen, wenn w i r nur überhaupt irgendwo eine Wahrheit ausfindig machen, an die sich keinerlei Skepsis heranwagen kann. Mi t andern Worten: w i r müssen unser Augenmerk richten nicht auf das, was w i r gerne wissen möchten, sondern zunächst einmal auf das, was w i r sicherlich wissen 2"."
Überal l gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft setzen voraus, d a ß eine ebenfalls zum mindesten annähe rnd exakte wissenschaftliche Methode ausfindig zu machen ist. Damit beschäftigt sich der erste T e i l . I m zweiten T e i l
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Einleitung
kommen jene Phänomene zur Sprache, die jeder Rechtsordnung vorgegeben sind. Der dritte T e i l führt zu den Wer tungsgrundsä tzen hin, also zu jenen Problemen, die der E th ik zugehören.
-i'jn sbodisM stfaiiifßrfaznasEiw atiicxa brnsHcnnfi nsjzsbnim mus eil^fnads l i s T nariavT-s m l . l i sT a m s rskt rbia jgififidDEsd j imßQ .rei nadsßm ux gibnrt
Erster Teil Methode
1. Kapitel Rechtswissenschaft als Wissenschaft
§ 1
Wissenschaft
Der deutsche Begriff Wissenschaft weist auf eine Tät igkei t hin, die Wissen oder Kenntnisse herbeischafil. E r ist also besdieidener und dadurch audi r id i -tiger als die parallelen Begriffe anderer Sprachen, die das Wissen, und damit den Besitz desselben voraussetzen
Wenn w i r von Wissenschaft spredien, so umfassen w i r mit diesem Begriff sowohl den Weg, die Methode, auf der w i r zu Kenntnissen gelangen, als auch das derart erreichte und mitteilbare Wissen ̂ . Beide Teile sind von gleicher Wichtigkeit. Gewiß ist ohne einen Grundstods von Kenntnissen wissenschaftliche Arbeit nicht möglich. Die Wissensdiaftler müssen jedoch stets darüber Rechenschaft ablegen, wie sie zu den Behauptungen über das Wesen ihrer Forschungsobjekte gelangten, um gegenüber Zweiflern und Kr i t i ke rn die Richtigkeit ihrer Thesen darzutun. Sie dürfen sich zudem auch nie damit begnügen, erlangtes Wissen als b loßen Gedächtnisstoff an nur aufnehmend Lernende weiterzugeben. Diese haben selber die Mühe des Erreichens auf sich zu nehmen. Wissenschaftliches T u n ist eigenes vernunftmäßiges Erkennen und nicht autori tätsgläubiges Hinnehmen und Auswendiglernen von Thesen. Der große Haufen von Wissen, der heute den Schülern und den Studenten mit dem Ansinnen hingereicht wi rd , sie sollen ihn in ihrem Gedächtnis unterbringen, versperrt oft den Weg zum richtigen Lernen, zum Mitvol lz iehen des Wissenserwerbs. Diese Unterrichtsmethode t räg t v ie l öfter die Schuld daran als die Studenten, wenn diesen vorgeworfen wi rd , sie vermögen auch an der Univers i tä t noch nicht selbständig zu denken. W ü r d e die Methodenlehre gleichberechtigt neben jener vom erlangten Wissen stehen, so wäre zwar das enzyklopädische Wissen um einiges kleiner. Dafü r vermöchten die
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1. Kapitel. Rechtswissenschaft als Wissenschaft
derart und damit wirkl ich Gebildeten am Lösen der Welträtsel in ihrem Spezialgebiet und über dieses hinaus mitzuwirken. Jede Wissenschaft hat also über ihre Methode Auskunft zu geben, d. h. über die A r t und Weise, wie sie vorgeht, ihre Tät igkei t ordnet. Sie ist insoweit Methodologie ^.
Die Wissenschaft handelt vom vernunftmäßigen und daher überprüfbaren Erkennen ihrer Gegenstände in einer Weise, die allgemeine Richtlinien für das Vorgehen und seine Ergebnisse angesichts gleichartiger Erscheinungen zu geben vermag. Durch dieses Hinaufsteigen ins Allgemeingültige unterscheidet sie sich von der Praxis , die jeweilen nur den einzelnen F a l l zu bewäl t igen hat. Die Fähigkei t und der Wil le , allgemeine Regeln zu erkennen und den Erkenntnisweg zu beschreiben, hebt den Wissenschaftler vom Praktiker ab, der die Aufgaben des täglichen Lebens zu bewält igen hat und dabei die Ergebnisse der Wissenschaft vertrauensvoll anwenden darf. Dabei kann auch er in die Lage kommen, sich über den Einzelfal l hinausreichende Kenntnisse selbständig zu beschaffen, also wissenschaftlich tät ig zu sein.
E . Husserl, dessen phänomenologischen Denkweg diese Studie begeht, gibt folgende methodologische, für jegliche Wissenschaft gültige, Anweisungen*: „Wissenschaft ist nicht naive Erkenntnis in theoretischem Interesse, sondern zu ihrem Wesen gehör t von nun ab eine gewisse K r i t i k — eine prinzipielle K r i t i k , eine K r i t i k , welche das erkennende Handeln in jedem Schritt aus ,Prinzipien' rechtfertigt, welche in jedem Schritt das Bewußtsein mit sich führt , d a ß überhaup t ein Schritt solcher Form ein notwendig richtiger, daß so der Weg der erkennenden Begründung, des Fortgangs von Gründendem und darauf Gegründetem, ein richtiger zielgerichteter Weg ist und damit die Erkenntnis eine echte Erkenntnis, das erkannte Sein nicht b loß vermeintes, sondern im prägnan ten Sinn erkanntes, wahres Sein selbst ist, in der E r kenntnis sein Recht ausweisend." Husserl bezieht diese Regel auf neu zu erwerbende Erkenntnis, auf ihr Fortschreiten „in durchgängiger E v i denz". Zum Heranziehen schon anerkannten Wissens sagt er: „Wissenschaft verwendet aber Erkenntnisergebnisse aus früheren Erkenntnissen. Das Normbewußtsein, das sie mit sich führen, besagt dann auf frühere Begründungen zurückweisendes Bewußtsein der realen Fähigkeit , die Begründung wiederherzustellen und die Rechtsüberzeugung« auf ihren Ursprung zurückzuführen und sie neu zu rechtfertigen."
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§ 2
Reditswissensdiaft
Gegenstand der Rechtswissenschaft ist die Rechtsordnung, soweit ihre E r scheinungen, Voraussetzungen und Folgen dem menschlichen vernunf tmäßigen Erkennen zugänglich sind. Sie hat sich um das Entstehen, Sein und Vergehen der rechtlich zu ordnenden und geordneten zwischenmenschlichen Beziehungen in der Weise anzunehmen, wie das im vorhergehenden Paragraphen als Charakteristikum wissenschaftlicher Tät igkei t zum Vorschein kam. Heute ist ihr geographisch die ganze Welt als Forschungsgebiet zugewiesen, weil von jedem Standpunkt der Erdoberfläche aus mannigfaltigste Beziehungen dortige Gemeinschaften und Individuen mit solchen an allen anderen Orten der Welt verbinden können . Der Wirkungsraum der menschlichen Rechtsordnung ist zudem nun auch in den Äther , und spekulativ voraussehend auf den Mond und die Planeten ausgedehnt. Wo immer und in weicher A r t Menschen in Verbindung geraten oder auch nur nebeneinander sind, betreten sie den Boden der Rechtsordnung. Welterschüt ternde Geschehnisse und intimste private Kümmernisse sind in ihr umsorgt. Die Rechtswissenschaft hat a l l das zu erkennen und die seienden und seinsollenden Ordnungsgrundsätze übersichtlich geordnet mitzuteilen. Rechtsetzung und Rechtsanwendung gehören gleichermaßen zu ihrem Aufgabenkreis W ü r d e erstere ihr nicht zugeteilt, so wäre nicht auszumachen, welche andere Wissenschaft sich ihrer annehmen könnte . Man müß te sie wie die Poli t ik als wissenschaftlich nicht klar e r faßbar bezeichnen. Aber gerade bei der Vorbereitung der Gesetze im nationalen, inter- und supernationalen Bereich ist die Möglichkeit, jeden Schritt des Gedankenwegs gegenseitig zu kontrollieren und darüber Rechenschaft abzulegen, von al lergrößter Wichtigkeit. Wer es erlebte, wie in nationalen und internationalen Kommissionen bei den Beratungen über En t würfe für Gesetze und Staatsver t räge die Regierungsvertreter und übrigen Sachverständigen aneinander vorbeireden, wei l sie die Standpunkte, auf denen sie stehen, und deren Bedeutung für den zu regelnden Sachverhalt nicht zu sehen vermögen, w i r d den Vortei l einer nach rechtswissenschaftlicher Methode geführten Beratung nicht bestreiten. Zudem ist es nicht möglich, die Beschäftigung mit der Rechtsordnung in einen gesetzgeberischen und einen
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1. Kapitel. Reditswissensdiaft als Wissensdiaft
reditsanwendenden Aufgabenkreis zu sondern. Der Gesetzgeber hat zum voraus die Rechtsanvi'endung zu bedenken. Das gesetzte und ungesdiriebene geltende Recht weist viele Lücken auf, die bei der Anwendung von den Vertragsparteien oder dem Richter^ auszufüllen sind, und zwar in gleichem Sinne, wie wenn sie Gesetze erlassen würden .
Die Antwor t auf die Frage, wo die Grenzen der Rechtswissenschaft zu ziehen sind, häng t davon ab, was sie Nützliches zu tun vermag. Wer ihr nur die logische Auslegung von Gesetzesregeln zutraut, w i r d ihr den Zutri t t zur Gesetzgebung verweigern. Die hier vorgetragene Überzeugung, d a ß sie jegliches T u n im weiten Reich der Rechtsordnung zur besseren und rascheren Wirkung zu bringen vermag, ist im Verlauf dieser Studie zu rechtfertigen.
Zur Rechtswissenschaft gehört auch die Rechtsphilosophie, sofern diese zur Lösung der Aufgaben unmittelbar herangezogen und nicht nur als spekulativer Erholungsort von der täglichen Fron oder als hohe Lehre, an der die gewöhnliche Jurisprudenz sich bloß ehrfurchtsvoll erbauen kann, behandelt w i rd . Die Gerechtigkeit ist das Zie l der Rechtsphilosophie und soll auch jenes der Rechtspraxis sein. Der Prakt iker erwartet vom Philosophen zu Recht Anweisungen, wie er den richtigen Weg und die gute Lösung findet. Auch dafür w i r d diese Studie den Beweis erbringen.
Selbst die Rechtsgeschichte vermag bei der Erkenntnis und beim Aufbau der Rechtsordnung mitzuhelfen. Sie zeigt die Gegenwart, wie sie aus der Vergangenheit hervorging, und gibt darüber Auskunft, welche Rechtsinstitute, die w i r von früheren Generationen übernommen haben, heute noch erhal-tenswert sind, wei l sich die Verhältnisse nicht wesentlich änder ten, und welche hingegen ins historische Rechtsmuseum gehören. Das riesige rechtswissenschaftliche Forschungsgebiet ist in einzelne Tät igkeitsfelder aufgeteilt. Je kleiner der Arbeitsbezirk ist, um so mehr Einzel heiten kommen zur Darstellung. Es verhä l t sich wie mit den geographischen Kar ten : jene mit kleinem Maßs tab lassen mehr Details erkennen. Die Aufgaben sind mannigfaltig. Man möchte meinen, man komme in jenen Gebieten rasch vo rwär t s , in denen die dogmatische Tradit ion zum Altertum oder doch ins Mittelalter zurückreicht, und wo die juristischen Konstruktionen a l t ehrwürd ig sind, also vor allem im Personen-, Familien-, E rb - , Sachen-, Schuld- und Handelsrecht. Dort stehen die Ordnungssysteme, die rechtstechnischen Denkfiguren und seit langem anerkannte Wertungen sowie genau festgelegte Begrifi^e zur Verfügung. Diese Vorteile verwandeln sich aber in Hindernisse, wenn neue Probleme zu lösen sind. Die Versuchung ist nämlich
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§ 2 Rechtswissenschaft
groß, dazu das bereitliegende dogmatische Material zu verwenden, statt von Grund auf, d. h. in selbständiger Überprüfung der Lebensverhältnisse, die Lösung zu sudien Der Vorsprung der traditionellen Zivilrechts-dogmatik verführte auch dazu, an ihren Instituten die wissenschaftlichen Ergebnisse im öffentlichen und insbesondere im Verwaltungsrecht zu messen. Die vorliegende Studie geht davon aus, d a ß die Arbeit an der Rechtsordnung in den neuen Gebieten, in den öffentlich- und zivilrechtlichen, nicht weniger fesselt als das Umtun im Bezirk des dogmatisch vermeintlich Gesicherten. Vor allem ist sie in der Überzeugung geschrieben, d a ß die Methode der Rechtswissenschaft durchgehend dieselbe ist, ob sie sich mit der Auslegung einer einzelnen Gesetzesbestimmung, der umfassenden Bestandsaufnahme oder mit der rechtspolitischen Betrachtung abgebe. Wo ein Rechtswissenschaftler H a n d anlegt, hat er die Methode als ganzes wie einen Werkzeugkasten auszubreiten und daraus die geeigneten Instrumente zu entnehmen. E r braucht nicht immer, oder sogar nur selten alle. Aber er muß die Auswahl und den Verwendungszwedi genau kennen
Reditswissenschaft und andere Wissenschaften
§ 3
Man, mit eingeschlossen die Juristen, sieht die Rechtswissenschaft nach Forschungsgebiet, Aufgabenkreis und Arbeitsmethode isoliert. Nur die Verbindungen zur Philosophie, Geschichte und neuerdings zur Auslegungslehre (Hermeneutik) werden vermerkt.
Diese Studie ist, wie sich das schon an verschiedenen Stellen zeigte, anderer A n s i c h t S i e geht davon aus, d a ß die grundlegende Methode, nämlich der zentrale Erkenntnisweg, in jeder Wissenschaft derselbe ist. E r hat sich bloß der Eigenart der verschiedenen Forschungsobjekte anzupassen. Die aus dem Wesen der menschlichen Natur abgeleiteten Vorstellungs- und Denkmöglichkeiten werden dadurch nicht ve ränder t . Das ergibt sich hernach aus der Darstellung der phänomenologischen Methode. Die Erkenntnisgegenstände, seien sie vom Menschen oder von all den andern Erscheinungen der erkennbaren Welt hergenommen, haben, soweit sie wissenschaftlichem Erkennen zugänglich sind, folgendes gemeinsam: Sie sind bloß auf dem Umweg über materielle, den Naturgesetzen unterworfene Träger wahrnehmbar. Der E r kenntnisweg, der zu den rein geistigen und seelischen Gegebenheiten führt, m u ß also teilweise denselben Methoden folgen, die die Erkenntnisse in bezug auf außermenschliche Wesen leiten. Erst dort, wo man zum Geistigen, losgelöst von der tragenden Materie gelangt, trennen sich die Wege. Auch die Naturwissenschaft kommt an diese Kreuzung und m u ß Sinn und Zie l ihres Tuns im rein geistigen Bezirk rechtfertigen. Sie hat aber schon den Ansatzpunkt für jede schöpferische T a t über die sinnliche Erfahrung hinaus in der geistigen Intuition zu suchen. Das w i rd nachher dargetan.
Man teilt die Wissenschaften in die zwei große Gruppen der Geistes- und der Naturwissenschaften ein. Die Geisteswissenschaflen widmen sich Untersuchungsobjekten, deren wesensmäßige Eigenart der Einwirkung des menschlichen Geistes und der Seele zuzuschreiben ist (Religion, Philosophie, Geschichte, Sprachen, Literatur, Kunst , Musik, Recht u s w . ) „ A l s o der Mensch, die Menschen in Gemeinschaft, die Gemeinschaften selbst in ihrem Leben und Treiben sind das wissenschaftliche Thema der Geisteswissenschaft in Korrelation mit den Leistun-
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§ 3 Rechtswissensdiaft und andere Wissenschaften
gen selbst im leistenden T u n und den Leistungsgebilden; aber auch der passive Mensch in den Perioden seiner Träghei t , der zeitweise schlafende und wieder erwachende, der ganze Mensch in der Einheit seines Lebens als personalem, als Ich, als W i r in T u n und Leiden '2."
Die Naturwissenschaft hat als Forschungsobjekte die physischen Dinge, unter ihnen auch den Leib des Menschen *3 sie beschäftigt sich aber nicht nur mit deren Beschreibung, so wie sie dem wahrnehmenden Blick erscheinen (z. B . die Beschreibung von Pflanzen in botanischen Werken). Sie schreitet weiter zur Bestimmung der Gesetzmäßigkei ten, die sich vor dem Forscher, der die Natur wahrnimmt, enthüllen, und sie stellt diese Naturgesetze mit abstrakten Formeln und mathematischen Zeichen dar. Sie greift zudem über das Wahrgenommene hinaus und läß t die Na turkrä f te zu neuen Wirkungen gelangen (Erfindungen). Ih r gehört auch die naturwissenschaftliche Methodologie zu, als die „Wissenschaft von der Methode naturwissenschaftlicher Bestimmung der Natur aus den Gegebenheiten der Erfahrung"
Die Rechtswissenschaft ist eine Geisteswissenschaft. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind zwar meistens durch physische Dinge beeinflußt oder verursacht. Sie selber sind jedoch stets geistiger A r t . Sie sind notwendigerweise mit dem menschlichen Wil len, einem geistigen Phänomen , verknüpft. Die enge Verbindung der Rechtswissenschaft mit der Philosophie, der Geschichte, der Sprache (sie ist ihr Instrument), der Soziologie, Nat ionalökonomie usw. ist evident.
H a t die Rechtswissenschaft auch gemeinsames mit der Naturwissenschaft? Bevor die Antwort sich hervorwagt, ist etwas überaus Bedeutsames zu bedenken, das merkwürdigerweise wohl bemerkt aber noch nicht g rundsä tz lich ausgesprochen wurde: Die unabwendbare Schicksalsgemeinschaft von Recht und Technik. Die Erfahrung, und zwar eine allgemeingültige und unanfechtbare, lehrt uns, daß der Mensch die von der Natur gegebenen aber von ihr noch nicht realisierten Möglichkeiten ausnutzt, um Natu rk rä f t e zu neuen Kombinationen und Wirkungen zu bringen. Die Welt w i r d in ihrem physisch Seienden, soweit es für den Menschen als Umwelt wichtig ist, unaufhörlich gewandelt. Die Gebiete, wo der Mensch der Natur begegnet, die noch nicht nach seinem Willen geformt ist, sind nur noch wenigen zugänglich. Jeder technische Eingriff in die Welt änder t die Lebensverhältnisse usdi-^saHit dieiJB^zishMigoaiysi 'Meiiächen. Die Technik zwingt die.Rechts-TrisSOi^liÄftnoKnaiaidiiiterifeißpsJibdaarBiaiift'r daewirlaten, neuen Verbindungen und Verhältnisse zu ordnen. Arbeits-, Sozial-, Unfallversicherungä^-;! AutQr
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1. Kapitel. Rechtswissenschaft als Wissensdiaft
haftpflicht-, Transport-, Luftfahrtrecht, um nur diese wenigen zu nennen, sind ihre Folgen. Die europäischen Zusammenschlüsse und die interkontinentalen völkerrechtlichen Ver t räge wä ren ohne die moderne Technik nicht erforderlich und auch nicht in diesem Ausmaß möglich. Man spricht von der entfesselten Technik. Die Wissenschaftler haben Angst vor ihren Möglichkeiten. Viele starren voller Entsetzen auf sie, als sähen sie ein Ungeheuer, gegen das sie machtlos sind. Einige suchen bei der Religion Zuflucht D a ist an Themis und Dike zu erinnern, an die verbundenen Göt t innen der kosmischen und der zwischenmenschlichen Ordnung. Der Mensch kann die Natur und die zwischenmenschliche Ordnung, wie das bewiesen ist, im Rahmen der Kombinat ionsmöglichkei ten, deren Grenze noch niemand kennt, neu gestalten. Die Geschichte lehrt, daß die Menschenwerke, die technischen und geistigen, unter letzteren die Rechtsordnungen, immer vielfältiger hervorkamen. Der Mensch begegnet sich selber in der Technik und im Recht, alles, was zu dem von der Natur Vorgegebenen hinzukam, ist sein Werk Gewisse Naturwissenschaftler erwarten von der menschlichen Vernunft Hi l fe , ohne zu sehen, von wo sie kommen könn te
Was liegt näher , als die Rechtswissenschaft aufzufordern, das was die Gesetzgebung eh und je intuitiv tat, fürderhin bewuß t zu tun, und so die von der Technik hervorgerufene Veränderung der menschlichen Beziehungen, die erweiterte Machtfülle und die ins Unermeßliche gewachsenen Gefahren im rechtlichen Ordnungsgefüge methodisch klar zu bewält igen. Nicht nur das soll sie tun, sondern vorausdenkend der Technik neue Ziele weisen. Die Rechtswissenschaft hat sich mit dem Menschen, mit seinem Wesen und Willen zu beschäftigen und alles so zu regeln, wie es ihm als einzelnem und der menschlichen Gemeinschaft gemäß ist. Sie ist somit vor allem dazu berufen, das andere Menschenwerk, die technischen Schöpfungen, ins harmonische Gleichgewicht mit der richtigen zwischenmenschlichen Ordnung zu bringen. Eines der größten Beispiele aller Zeiten für diese Möglichkeit und den W i l len, ihr Genüge zu tun, ist der vielseitige völkerrechtliche Vertrag über die Beschränkung der Atomversuche. E i n anderes Problem, für das Schicksal der Menschheit nicht so unmittelbar erschütternd drohend, aber für die einzelnen und die Allgemeinheit von al lergrößter und in seiner Tragweite noch nicht völlig erkennbaren Bedeutung, ist die Lärmbekämpfung
Wenn aber die Rechtsordnung und die Technik unauflösbar verflochten sind so müssen doch auch die Wissenschaften, die ihnen dienen, gemeinsames haben.
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§ 3 Rechtswissenschaft und andere Wissenschaften
Hier w i rd nicht etwa versucht, wie das im 18. und im 19. Jahrhundert geschah, der naturwissenschaftlichen Methode im rechtswissenschaftlichen Bereich zu folgen. Jene gilt hier nicht als Vorbi ld, sondern als Zwillingsschwester. Beide sind aus der im Schöpfungsplan dem Menschen verliehenen Ver nunft gleichzeitig entsprungen 2" und haben, wenn sie auch ihren Aufgaben auf getrennten Wegen nachgehen müssen, doch demselben Ziele zuzustreben, dem Wirken für das Wohl der Menschheit
I m 18. Jahrhundert hatte Chr . Wolff im Banne der damaligen naturwissenschaftlichen und philosophischen Überzeugung, daß die Natur mathematisch durchkonstruiert und daher auch in mathematischer Form darstellbar sei ein gleich vollkommenes Begriffssystem der Rechtsordnung geplant und aufgestellt 28.
Das 19. Jahrhundert brachte den juristischen mechanistischen Naturalismus, „der das Recht als Verlauf von Ursachen und Wirkungen auffaßt , wie sie etwa die klassische Physik in der unbelebten Natur beobachtet", und den vitalistischen, „der es als Funktion des natürl ichen Lebens, nach dem Muster der biologischen Wissenschaften interpretiert"
Heute hat die Naturwissenschaft das Vertrauen verloren, d a ß sie die Natur in allgemeingültigen Gesetzen darstellen könne . Sie ist sich bewußt , daß sie nur über jedes einzeln wahrgenommene P h ä n o m e n und dies nur im R a h men ihrer Wahrnehmung, die durch den Wahrnehmungsvorgang selber beeinflußt ist, etwas aussagen kann 2*. Ebenso geben sich die Naturwissenschaftler und die Techniker darüber Rechenschaft, d a ß sie mit mathematischen Grundsä tzen und Regeln die Wesenheiten der Natur nicht umgestalten und keine neuen schaffen, d a ß sie derart keine unbekannten Naturgesetze entdecken und keine Erfindungen machen können
Der Rechtswissenschaftler steht in der Auseinandersetzung mit den menschlichen Beziehungen als Phänomenen I n gleicher Weise steht der Naturwissenschaftler vor der Natur ^9. Das erkenntnistheoretische Problem beim Beginn der Untersuchung ist somit dasselbe'". Die von E . Husserl entwickelte phänomenologische Reduktion gilt für beide Wissenschaften als Methode in gleicher Weise. Die Naturwissenschaft hat als Grundelement die einheitliche Materie, die in verschiedenen diskreten s ta t ionären Zus tänden existieren kann, von denen einige stabil sind (Proton, Neutron und Elektron), viele andere aber l a b i l D a s Grundelement der Rechtswissenschaft ist der menschliche Wil le , der, wie nachher darzulegen ist, in wenigen Grundsituationen zur Erscheinung gelangt, von denen alle weiteren Kombinatio-
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1. Kapitel. Rechtswissenschaft als Wissenschaft
nen und Ableitungen sind. Dabei sind diese echte geistige Phänomene und nicht etwa nur Denkkategorien, die helfen, die Lebensverhältnisse zu ordnen. Ebenso sind die juristischen Denkfiguren wie Eigentum, Vertrag, Del ikt usw. Wesenheiten, die man naturwissenschaftlichen Körpern , die aus den Grundelementen aufgebaut sind, gegenüberstellen kann. Die Parallele geht noch weiter. Die Konstruktionselemente wie Vertrag, Ehe, Erbschaft, Servitut, Pfand, einfache Gesellschaft usw. gehen von Situationen aus, bei denen die Beziehungen zwischen den Beteiligten graphisch darstellbar sind. I m Unterricht tun dies Zeichnungen dar (zwei Pfeile beim zweiseitigen Rechtsgeschäft; geometrische Figuren bei den Erbquoten, Abwehrpfeile des Eigentümers) . A n diese Situationen ist das arithmetische Gleichmaß der Tauschgerechtigkeit gebunden. Das Kollektivversicherungs-, Fürsorge-, Haftpflichtrecht (z. B . Atomrisiko) usw. findet hingegen den einzelnen als A n knüpfungsobjekt und Konstruktionshilfe nicht mehr. Die zeichnerische Dar stellung ist nicht möglich. Diesen Zustand beschreibt ein Satz, der für die ganz anderen Aufgaben der Quantenmechanik konzipiert wurde: „Die Quantenphysik bringt Gesetze, die für Kollektive und nicht mehr für deren Individuen gelten. Nicht Eigenschaften, sondern Wahrscheinlichkeiten werden beschrieben; nicht für die zukünftige Entwicklung von Systemen werden Gesetze aufgestellt, sondern für Veränderungen der "Wahrscheinlichkeit in der Zeit, Gesetze, die für große Ansammlungen von Individuen gelten^^." Wollte man ernstlich daran gehen, den Wissenschaftlern ein gerechtes Entgelt für ihre Leistungen zukommen zu lassen, was man umsonst in Anlehnung an patentrechtliche Konstruktionen versuchte so müßte es nach diesem Grundsatz geschehen. Ä h n l i c h geht man ja auch im an sich extrem individualistischen Urheberrecht ans Werk, wenn das Entgelt für Benutzungen zu berechnen ist, die als Einzelfälle nicht mehr zu erfassen sind (Zahlung von Pauschalsummen). Aber schon Gegebenheiten wie der bonus pater familias, der Fachmann im Patentrecht oder die Meinung der Abnehmer im Markenrecht, sind, allerdings nicht wissenschaftlich, sondern meinungsmäßig, bestimmte juristische Vorstellungshilfen, die als Mittelwert der vermuteten Eigenschaften oder Ansichten eingesetzt werden. Sie ließen sich, würde sich die Mühe lohnen, mathematisch genauer bestimmen.
Das alles ist nicht in der Meinung gesagt, d a ß es schließlich sogar gelinge, für das Verhalten der Materie und des menschlichen Geistes sowie für die Verbindung; von Teilen der Materie und von menschlichen Willen gemeinsame Regeln.aufziistellen; •Keine Erfahrung reditfenigt ;bis.anhin eine derartige
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§ 3 Rechtswissensdiaft und andere Wissenschaften
Annahme. Die Ausführungen wollten nur Brücken über den Abgrund sdilagen, der heute Natur- und Rechtswissenschaft zum Schaden von beiden trennt. Man mag diese Übergänge als unsicher, unstabil und sdiwankend bezeichnen. Vielleicht werden sie unbenutzt zerfallen, vielleicht aber auch durch neue und solidere Gebilde ersetzt. Unabhäng ig von ihnen bleibt der Grundsatz bestehen, daß die Technik und die Rechtsordnung gemeinsam in unlösbarer Schicksalsverbundenheit für die Zukunft der Menschheit die Verantwortung tragen. Technische Fehler und Ungereditigkeiten führen zu Unglücksfällen und, wenn sie im G r o ß e n wirken, zu Katastrophen. Man sagt, d a ß in der Technik das Experiment Fehler sogleich aufdecke, nicht aber in der Rechtswissenschaft. Dabei werden die beiden auf ungleichen Stufen verglichen. Das technische Experiment sagt nur über den Erfolg der Benutzung von Na tu rk rä f t en in bezug auf das technische Ergebnis etwas aus. Dieser konstruktiven Stufe entspricht in der Rechtswissenschaft die juristische Figur, das Rechtsinstitut. Sein logischer und rechtstechnisch funktionstüchtiger Auf bau garantiert keineswegs das richtige Recht. Dieses ist daran zu messen, ob es den Menschen das zukommen läßt , was ihnen als Individuen und als Gemeinschaften gehört . Das zeigt sich meistens erst nach längerer Zeit, sofern die Ungerechtigkeit nicht gar zu k r a ß ist. Aber auch die Ergebnisse der Technik sind daraufhin zu prüfen, was sie den Menschen, den einzelnen und der Gesamtheit nützen. A u f dieser letzten Stufe, die zur Verantwortung für das Wohl der Menschheit hinleitet, sind Technik und Rechtsordnung im gleichen Sinne zu befragen. Ihre Mittel sind verschieden, die Auf gabe aber ist dieselbe: das Bewahren und dennoch stets weitere Entwickeln des von der Natur Erhaltenen und aus der Tradit ion Übernommenen . Beide wirken im Gebiet, das im Licht der menschlichen Vernunft liegt, vor dem weiten Dunkel des Irrationalen, d. h. jenes Bezirkes, den die Vernunft noch nicht zu erhellen vermochte und es vielleicht auch nie völlig kann. Technik und Rechtsordnung haben schließlich noch das gemeinsam, d a ß sie für die in der Welt lebenden Menschen, die gegenwärt igen und zukünft igen, wirken.
Sie beide haben diesseitige weltliche Aufgaben zu lösen. Das zwingt sie, von sich bescheiden zu denken, aber gerade deshalb, wei l ihnen kein außerwel t licher Platz für metaphysische Fluchtideen zur Verfügung steht, hier und jetzt das Menschenmögliche zu tun'*.
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2. Kapitel Der Weg der Erkenntnis
§ 4
Methodisdier Ausgangspunkt der Rechtswissenschaft
Der Wissensdiaftler, der ein großes Gebiet und nicht nur ein besonderes, eng begrenztes Thema erforschen und die Ergebnisse mitteilen w i l l , hat eine Standfläche vorzubereiten, von der aus er die Übersicht gewinnt und seine Streifzüge unternimmt. E r blidst sidi zuerst inmitten der vielfältigen E r scheinungen verwirr t um und weiß nicht, welcher er sich zuerst zuwenden soll.
Der rechtswissenschaftliche Forscher hat es besonders schwer, im Labyr inth der unaufhaltsam bewegten menschlichen Beziehungen, der sdion erfolgten und der fürderhin geplanten ordnenden Eingriffe und der mannigfaltigen leitenden Ideen den Faden der Ariadne in die H a n d zu bekommen
Jene Rechtsdogmatiker, die die Gesetze als unverrückbaren Grund und neben ihnen die Urteile als zuverlässige Auskunftsquelle anerkennen, haben den sicheren Ausgangspunkt für eine logische Ableitung, Auslegung und Systematisierung des derart umgrenzten Gebietes gefunden. Sie fragen nidit, ob der Unterbau riditig gefügt und wirkl ich t ragfähig sei, und auch nicht darnach, was weiterhin zu geschehen habe.
Andere zimmern sich selber eine Plattform zurecht, indem sie die gesamte Ordnung nach einem formalen Ordnungsprinzip konstruieren und z . B . mit Kelsen die Rechtsordnung in einem fertigen Ideengebäude unterbringen, das nach dem G r u n d r i ß der Kompetenz und Kompetenzdelegation logisch lückenlos durchberechnet ist und als soldies statisch einwandfrei dasteht. Derartig eingeschränkte Betrachtungsweisen geben dem Forsdien nadi der Gerechtigkeit wenig Raum. Sie lassen nicht erfahren, ob das, was in den Gesetzen vorgeschrieben, in den Urteilen außerha lb der gesetzlichen Wegleitung entschieden und von den zuständigen Organen getan wurde, gerecht
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2. Kapitel. Der Weg der Erkenntnis
ist, ob dies die zwischenmenschlichen Beziehungen richtig ordnet. Wenn die Wissenschaftler bei ihren Forschungen nur derartigen Wegmarkierungen folgen, so trifft auf das Ergebnis ihrer Tät igkei t von Kirchmanns ^ Wort zu, d a ß drei berichtigende Worte des Gesetzgebers ganze Bibliotheken zu Makulatur machen.
Auße rha lb der bestehenden (positivrechtlichen) Ordnung wi rd der Standpunkt von Forschern gewähl t , die Denkinhalte annehmen, die der Rechtsordnung notwendigerweise vorgegeben sind und zwar geistige Phänomene , als echte selbständige Wesenheiten (wie z. B . Vertrag, Ehe, P rozeß oder in der Natur des Menschen gegründete und als solche zu erkennende Güte r -zuteilungs- und Verhaltensregeln [Naturrecht]) . Sie sind gegenüber den Positivisten dadurch benadbteiligt, d a ß sie Zweifler nicht davon zu überzeugen vermögen, d a ß die ersten Aussagen, von denen sie weitere Thesen ableiteten, wahr seien. Dagegen überleben ihre zwar intuitiv gewonnenen, doch vernunf tmäßig zur überindividuel len Einsicht gebrachten Thesen den Wechsel der Gesetze und Rechtsprechung.
Keine dieser Methoden entspricht dem vorn ' für die wissenschaftliche Forschung festgehaltenen Grundsatz, daß die Erkenntnis ihr Recht zu sein dadurch ausweisen soll, d a ß sie die Überzeugung auf ihren Grund zurückführ t* . Es w i r d sidi zwar ergeben, daß die meisten der bisher vorgetragenen rechtswissenschaftlichen Thesen auf festem Boden stehen. So werden Gesetzestexte, Urteile und dogmatische Grundsä tze der kritischen Nachprüfung standhalten. Ebenso werden viele der vorgestellten geistigen Wesenheiten der Rechtsordnung ihre Existenz rechtfertigen. Keine der bisher angewandten Methoden vermochte jedoch allgemeingültige schlüssige Beweise zu erbringen. Der Rechtswissenschaftler m u ß somit einen anderen Standpunkt suchen, von dem aus er das Wesen aller Erscheinungen im Bereich der Rechtsordnung erforschen kann, um hernach an der gewonnenen Erkenntnis die geltende Ordnung zu messen, und auch jene, die geplant wi rd .
Das he iß t nicht etwa, d a ß die genannten Darstellungen der Reditsordnung unbeachtlich wären . Ganz im Gegenteil. Es gibt keine Studie eines ernsthaften Rechtswissenschaftlers, die nicht die Erkenntnis vertieft, das Wissen mehrt und, wenn auch manchmal nur auf Umwegen, der Rechtspraxis weiterhilft. Von jedem der e rwähn ten Standpunkte aus sind wertvolle Einblicke in Teile der Rechtsordnung möglich. Aber man darf dabei nicht vergessen, d a ß keine dieser Methoden die ganze Rechtsordnung systematisch darstellen und alle Ordnungsgrundsä tze aufstellen läßt . Diese Studie w i rd im Weiter-
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§ 4 Methodisdier Ausgangspunkt der Reditswissensdiaft
sdireiten ihnen begegnen und ihre Brauchbarkeit, j a Notwendigkeit nachweisen, zugleich aber auch ihren Anspruch auf überwiegende oder gar ausschließliche Geltung zurückweisen.
Die Rechtswissensdiaft bedarf einer grundlegenden wissenschaftlichen Methode, deren Richtigkeit als Weg zur Erkenntnis von jedem ebenso anzuerkennen ist wie im naturwissenschaftlichen Bereich. Diese Arbeit macht dazu einen Vorschlag. Andere mögen ihn mit fördernder K r i t i k verbessern. Sie geht von der Annahme aus, d a ß die genannten Untersuchungsmethoden ohne Rücksicht auf die Erfordernisse eines strengen wissenschaftlichen E r kenntnisweges zu vieles voraussetzen, statt radikal am ersten und einzig sicheren Ausgangspunkt zu beginnen.
Vorweg ist die allgemeine Überzeugung herbeizuschaffen, d a ß der gewähl te Standort der richtige ist. Dieses erkenntnistheoretische Problem ist als erstes zu lösen. Zugleich m u ß aber auch der Untersuchungsgegenstand als Arbeitshypothese festgehalten sein. Deren Richtigkeit hat sich im Laufe der Arbeit zu bewähren .
Zum erkenntnistheoretischen Vorgehen ist zu sagen, d a ß weder die naive Gleichsetzung des Wahrgenommenen mit der Real i tä t noch das Leugnen einer gemeinsam erfahrbaren Mi t - und Umwel t zu rechtswissenschaftlich tauglichen Ergebnissen führt . Gleich der Naturwissenschaft m u ß auch die Rechtswissenschaft davon überzeugt sein dürfen, d a ß sie weder zur Objektsgläubigkeit, die sie endgült ig verloren hat, zurückzukehren, noch die Bürde des völlig subjektiven Entscheides zu tragen hat. E . Husserl zeigt, wie gleich darzutun ist, den mittleren, den guten Weg. Wer ihm folgt, kann die rein logisch erklärenden aber nicht aufbauenden, die b loß dogmatisch angenommenen, die metaphysisch spekulativ heraufbeschworenen und die ideologisch verkündeten G r ü n d e in ihrer Eigenart erkennen und ihre Tauglichkeit abschätzen. Diese Studie beruht also auf der Überzeugung, d a ß erst die Husserlsche Phänomenologie eine allgemein verwendbare rechtswissenschaftliche Methode als Hauptweg öffnet, der zu den bisher begangenen Denkwegen hinführt und sie miteinander verbindet, der überdies zu den äußer sten Punkten hinleitet, wo dem menschlichen vers tandesmäßigen Erkennen die Grenzen gesetzt sind
Erkenntnisgegenstand ist die Rechtsordnung. Was und wie sie in Wirk l ichkeit ist, das steht erst am Schluß dieser Arbeit fest. Vorläuf ig wi rd , wie schon mehrmals gesagt wurde, angenommen, es handle sich um eine nach dem Recht ausgerichtete Ordnung der zwischenmenschlichen Beziehungen.
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2. Kapitel. Der Weg der Erkenntnis
Erkenntnisobjekte sind somit: die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Ordnung, das Recht und die Voraussetzungen der Erkenntnis, also der erkennende Wissenschaftler und seine Erkenntnisfähigkei t .
§ 5
Ausgangspunkte der p h ä n o m e n o l o g i s c h e n Methode
I . Die Bedeutung der Husserlsdien Methode
Die Darlegungen folgen, wie vorn sdion gesagt wurde, dem Denkweg von E . Husserl. Dieser überragende Denker wendete eine Lebensarbeit daran, um seine phänomenologische Methode zu entwickeln und mitzuteilen. I h r einmaliger Wert ergibt sich daraus, d a ß sie den menschlichen Geist zu dem hinführt, was ihm wirkl ich gegeben ist, d a ß sie ihn befreit von allem bloßen Meinen und von dogmatischen Konstruktionen, die den Durchblick auf das wirklidie Sein verdecken und unabhängig von diesem Geltung beanspruchen. Sokrates und Piaton haben die Wortkünst le le ien der Sophisten b loß gestellt 5. K a n t versuchte, die Grenzen der objektiven Erkenntnis der U m welt abzuschreiten und die Hindernisse wegzuräumen, die dem Entfalten jenes Wissens entgegenstehen, das jedes Subjekt unabhängig von der äußeren Erfahrung, a priori , von den Regeln des Erkennens und der sittlichen, moralischen und rechtlichen Ordnung hat. Sokrates, Piaton und K a n t führten zu tiefgründigen vernunftmäßigen Einsichten hin, aber doch nicht zu allgemein beweisbaren Damit l äß t sich eine persönliche Überzeugung gewinnen. Auch ist der Zugang zum Glauben freigelegt. Doch besteht, besonders in der Nachfolge Kants , die Gefahr, d a ß der Mensch, der vertrauensvol l der gepriesenen Vernunft folgt, den Weg nicht bis zum Schluß mitgeht und somit die Ratio verliert und den Glauben nicht findet. Sokrates und Piaton sagten von der Unsterblichkeit der Seele, der Gerechtigkeit und den andern Tugenden nicht mehr, als erfahrungsgemäß auch die Ansicht anderer war. K a n t hingegen stellt, gestützt auf die vermeintlich von der Erfahrung gelösten apriorischen Erkenntnisse, ein System der praktischen Vernunft auf, das vor allem formale Grundsä tze e n t h ä l t W i c h t i g ist die Erkenntnis, daß diese Denkmethoden zwar , wie es sich ergeben wi rd , auf den richtigen Weg hinleiten, aber ins Metaphysische hinüberwechseln, bevor dieser Weg erreicht w i rd 8.
Wie mehrmals gesagt wurde, soll die Rechtswissenschaft nach einer Methode
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2. Kapitel. Der Weg der Erkenntnis
forschen, die ihr erlaubt, über jeden Schritt eine allgemein überprüfbare Auskunft zu geben.
Was E . Husserl über die Aufgabe der Philosophie sagte gilt vorbehaltlos und uneingeschränkt für die Rechtswissenschaft: „Eine überlegene Weltbetrachtung, frei von den Bindungen des Mythos und der Tradi t ion überhaupt , soll ins Werk gesetzt werden, eine universale Welt- und Menschenerkenntnis in absoluter Vorurteilslosigkeit — schließlich in der Welt selbst die ihr innewohnende Vernunft und Teleologie und ihr oberstes Pr inz ip : Gott, erkennend. Philosophie als Theorie macht nicht b loß den Forscher, sie macht jeden philosophisch Gebildeten frei. Der theoretischen Autonomie folgt die praktische. I n dem die Renaissance leitenden Ideal ist der antike Mensch, der sich in freier Vernunft einsichtige Formende. D a r i n liegt für den erneuerten „ Platonismus": es gilt, nicht nur sich selbst ethisch, sondern die ganze menschliche Umwelt , das politische, das soziale Dasein der Menschheit aus freier Vernunft, aus den Einsichten einer universalen Philosophie neu zu gestalten. G e m ä ß diesem antiken, zunächst in einzelnen und kleinen Kreisen sich durchsetzenden Vorbi ld soll wieder eine theoretische Philosophie werden, die nicht blind traditionalistisch übernommen, sondern aus selbsteigener Forschung und K r i t i k neu werden soll."
„Überall ist wahres Sein ein ideales Zie l , eine Aufgabe der Episteme, der ,Vernunft', gegenübergesetzt dem in der D o x a fraglos ,selbstverständlichen', b loß vermeintlichen Sein."
„Wir gehen also von nun an gemeinsam gewappnet mit der äußersten skeptischen, aber j a nidit vorweg negativistisdien Geisteshaltung."
„Es erweist sich mit der neuen Aufgabe und ihrem universalen apodiktischen Boden die praktische Möglichkeit einer neuen Philosophie: durch die Ta t . Es zeigt sich aber auch, d a ß auf diesen neuen Sinn von Philosophie die ganze Philosophie der Vergangenheit, obschon ihr selbst unbewußt , innerlich ausgerichtet war ." „Ich versuche nur zu führen, nicht zu belehren, nur aufzuweisen, zu beschreiben, was ich sehe. Ich erhebe keinen andern Anspruch als den, in erster Linie mir selbst gegenüber und demgemäß auch vor anderen nach bestem Wissen und Gewissen sprechen zu dürfen als jemand, der das Schicksal eines philosophischen Daseins in seinem ganzen Ernste durchlebte."
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§ 5 Ausgangspunkt der phänomeno log i sd ien Methode
I I . Das denkende „Ich"
Man mag die Welt und alles, was an ihr und auf ihr erscheint, einem Traumbild gleichsetzen oder ihre reale Existenz völlig verneinen. Jede solche Ansicht und die aus ihr hergenommene Behauptung beweisen, daß eine Idee über das Wesen der Welt gebildet und ausgesagt wurde, d a ß die Person, die das tat, gedacht hat. U n d jeder, der diese Meinung anhör t , ihr zustimmt oder sie ablehnt, tut dies denkender Weise. Die überzeugtesten Materialisten, die das Bewußtsein als Funktion der Materie vorstellen i " , und die entschlossensten Idealisten, denen die Welt nur Wil le und Vorstellung ist bestreiten nicht, d a ß der Mensch denkt.
Die wissenschaftliche Forschung darf also Descartes „Ego cogito, ergo sum" als jedem Zweifel entrückten Ausgangspunkt wählen . Das Denken des Wissenschaftlers ist die ein für allemal gesicherte Stelle, an der E . Husserls phä nomenologischer Weg beginnt Das Denken — auch darin werden alle, die rechtswissenschaftlich forschen, Husserl zustimmen — ist an ein denkendes Subjekt gebunden, an das „Ich". Es gehört sämtlichen Denkakten, Gefühlen und Erlebnissen „als unverlierbarer und numerisch identischer Subjektpol" zu. Es ist und bleibt es selbst, unteilbar, und verschwindet also nicht mit den Erlebnissen i ' .
I I I . Das Bewußtsein
Bei den Aussagen über das Bewußtsein ist für den Rechtswissenschaftler das bloß bejahende Mitgehen zu Ende. Das Bewußtsein ist das Basislager, von dem aus er alle Forschungsreisen unternimmt, zu dem er immer wieder zurückkehrt . I m Gegensatz zum denkenden Ich ist es nicht ein bloßer Punkt. Es ist ein großes Gebiet, auf dem vom Ich denkend Hervorgebrachtes, real existierendes Fremdes und bloß Gemeintes unausgeschieden ersdheinen. Diese Bewußtseinsinhalte sind nicht festgefügte Objekte. Der Erlebnisfluß des denkenden Ich treibt sie an diesem vorbei oder dieses an jenen. Je mehr einzelne, b loß gedachte, gemeinte und wirkl ich existierende Wesen da sind, um so mehr Mühe hat das denkende Ich, ihre Herkunft und Eigenart und ihre Zusammenhänge zu prüfen. Der Rechtswissenschaftler darf das nie außer acht lassen. K a u m eine andere Wissenschaft hat so viele Erscheinungen
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2. Kapitel. Der Weg der Erkenntnis
versdiiedenster Abkunft zu erkennen und zu ordnen — ja eigentlidi alles, was auf der Welt und von ihr aus erreichbar ist.
Diese Aussagen über das Bewußtsein genügen an dieser Stelle. Die einzelnen Erscheinungen werden nachher untersucht.
I V . Die natürl iche Umwel t
Auch der theoretisch von aller Wirklichkeit gelöste Idealist lebt praktisch in einer natürl ichen, realen Umwelt . E r nimmt trotz allen seinen philosophischen Spekulationen an ihren Freuden und Leiden t e i l D i e s e U m welt ist Gegenstand alles Forschens. Ohne sie w ä r e es sinnlos. Wiederum ist daran zu erinnern, d a ß die Rechtswissenschaft und Rechtsordnung nicht einzelne Bezirke als ihr Gebiet abgrenzen kann, sondern sich um die ganze reale Umwelt , mit allem was darauf begehrenswert erscheint, kümmern m u ß .
Auch die Wirklichkeit dieser Umwel t w i rd auf der ganzen Welt kein Rechtswissenschaftler in Abrede stellen
V . Die unbeschränkte Zah l von Ichsubjekten und die gemeinsame natürliche
Umwelt .
H ä t t e die Studie die Erkenntnistheorie selber als Untersuchungsobjekt, so müß te e rk lä r t werden, wie es möglich ist, daß das „Ich" mit andern Ich in Verbindung kommt. Es w ä r e darzutun, wie das Ich feststellen kann, daß diese andern Ich die Umwel t im wesentlichen gleich sehen und erkennen wie es selber, solange sie nicht philosophisch zweifelnd über sie nachdenken, sondern sie unbefangen aufnehmen und in ihr leben. D a jedoch für die Zwecke dieser Untersuchung der Beweis ausreicht, daß eine unbeschränkte Zah l von Einzelsubjekten dasselbe Objekt oder Ereignis übereinst immend wahrnehmen können, darf dieses schwierige Problem umgangen werden. Die Leser werden zugeben, d a ß alle Menschen der Erde, wenn sie nicht durch Krankhei t oder anderweitig an der normalen Wahrnehmung und deren Bestimmung gehindert sind, einen Berg, Baum, Stein, Menschen, Elefanten usw. als dasselbe Objekt, als das es dem Ich erscheint bestimmen. Ihre wertende Einstellung zu diesen Gegenständen kann sehr verschieden.
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§ 5 Ausgangspunkt der phänomenolog i sd ien Methode
ja völhg gegensätzHch sein. Wie diese Abweichungen zustande kommen, darüber ist nachher lange zu reden. Sie sind eines der Hauptthemen. A n dieser Stelle ist nur die Feststellung wichtig, daß sozusagen alle normal veranlagten Menschen gleiche Wahrnehmungen haben können und sie auch wirkl ich haben, wenn die Phänomene unter gleichen äußeren und inneren Bedingungen erscheinen. E . Husserl sagt dazu: „All das, was von mir selbst gilt, gilt auch, wie ich weiß, für alle anderen Menschen, die ich in meiner Umwelt vorhanden finde. Sie als Mensdien erfahrend verstehe und nehme ich sie hin als Ichsubjekte, wie ich selbst eins bin, und als bezogen auf ihre natürliche Umwelt . Das aber so, daß ich ihre und meine Umwel t objektiv als eine und dieselbe Welt auffasse, die nur für uns alle in verschiedener Weise zum Bewußtsein kommt. Jeder hat seinen Ort , von wo aus er die vorhandenen Dinge sieht, und demgemäß hat jeder verschiedene Dingerscheinungen. A u d i sind für jeden die aktuellen Wahr-nehmungs-, Erinnerungsfelder usw. verschiedene, abgesehen davon, d a ß selbst das intersubjektiv darin gemeinsam Bewußte in verschiedenen Weisen, Auffassungsweisen, Klarheitsgraden usw. b e w u ß t ist. Bei a l l dem vers tändi gen wi r uns mit den Nebenmenschen und setzen gemeinsam eine objektive räumlich-zeitliche Wirklichkeit , als unser aller daseiende Umwelt, der wir selbst doch angehören ">."
D i e p h ä n o m e n o l o g i s c h e R e d u k t i o n
§ 6
I . Das Zie l
Die Phänomenologie ist die Lehre von den Ersdieinungen, von dem sich zeigenden Seienden. Die phänomenologische Methode weist den Weg. Philosophen können auf verschiedene Weise zu diesem Zie l gelangen. Aber eines ist gewiß. Sie sind dort nur dann angelangt, wenn sie dem zu erkennenden Seienden selber und unmittelbar gegenüberstehen, wenn sie es unverhül l t sehen. Das kann dem Vertrauen in geoffenbarte Wahrheit, der Hingabe an Worte der Dichter, dem individuellen visionären Sehen, dem Hinabsteigen zum Urgrund der Sprache gelingen. Der Philosoph darf unter diesen Erkenntnisweisen nach seiner Anlage und Fähigkeit wählen, wenn er nicht ein wissenschaftlich objektives Ergebnis anstrebt. Husserls Schüler (Heidegger, Scheler, Stein) wandten sich vom dogmatischen Meinen ab und dem Sein zu. Sie lehrten aber nicht, wie man beim wissenschaftlichen Forschen zum wirkl ich seienden Forschungsgegenstand gelangt und ihn frei von den eigenen Vorurteilen und jenen aller andern betrachten kann. Die phänomenologische Methode ist nur von E . Husserl selber zu erfahren. E r warnte vor der Meinung, es l ießen sich kürzere Wege finden
Die Rechtswissenschaft hat die Ordnung der zwisdienmenschlichen Beziehungen zu erforsdien und darzustellen. Diese Beziehungen und ihre Ordnung sind die Phänomene , das sidi zeigende Seiende, die der Rechtswissenschaftler unmittelbar zu sehen und nicht nur in dogmatischen Aussagen zu erfahren hat. I m Hinbl ick auf dieses Zie l w i r d hier die Husserlsche phänomenologische Methode dargestellt.
I I . Der Inhal t des Bewußtseins.
I m Bewußtsein und nur in ihm w i r d die Erfahrung über das eigene Ich und die Umwel t klar . Auch vom Wirken des U n b e w u ß t e n läß t sich nichts aussagen, solange es nicht im Bewußtsein erscheint. Das bedeutet aber nicht.
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§ 6 Die phänomenologische Reduktion
d a ß die zwischenmenschHchen Beziehungen nicht zum großen T e i l durch Unbewußtes gewoben und geführt werden. Aber zur Sprache kommen diese Verhältnisse ausschließlitii durch das Hinausstellen in die Klarhe i t des Bewußtseins. Das Bewußtsein ist der Ausgangspunkt jeglichen wissenschaftlichen Forschens. Die gegenseitige Überprüfung der Inhalte des Bewußtseins der Wissenschaftler führt zur allgemein anerkannten Aussage. Das im Bewußtsein Erscheinende ist die einzige Grundlage für eine zwischenmenschliche verstandesmäßige Vers tändigung über das menschliche Dasein, die Welt und den Kosmos. Daraus ist nicht zu folgern, d a ß die Welt nur im Bewußtsein der Menschen existiert. Es heißt auch nicht, daß die Mitmenschen und die andern Teile der Schöpfung nur durch das Bewußtsein erfahren werden. Aber in objektiver Weise wahrgenommen, d. h. auf seine Richtigkeit geprüft werden, kann nur das, was b e w u ß t ist.
Die Rechtswissenschaft, die das menschliche Verhalten ergründen soll, um dessen richtiges Regeln und Leiten vorzubereiten, findet also nur auf dem engen Gebiet des Bewußtseins inmitten der unerforschbar weiten D o m ä n e des Unbewuß ten den festen Grund. Daraus hat sie zwei Verhaltensweisen zu folgern: Sie w i rd die Schranken ihrer Herrschaft an den Grenzen, die das Reich des U n b e w u ß t e n vom Bewußten trennen, beachten. Sie kann und soll versuchen, Einflüsse, die vom U n b e w u ß t e n herkommen, zu erfassen. Sie kann sie aber nicht voraussehen und ihre Macht nicht beschränken. Die Rechtswissenschaft und die Rechtsordnung als Menschenwerk sind rational. Beim Entstehen, Verändern und Untergehen der menschlichen Beziehungen sind jedoch mächtige irrationale Kräf te am Werk. Die Rechtswissenschaft sieht also ihren Wirkungsraum eingeschränkt und darf niemals damit rechnen, daß sie die menschlichen Beziehungen völHg oder auch nur zum größeren Tei l in einem vom Verstand und der Vernunft entworfenen Plan unterzubringen vermag. Sie w i rd aber gerade deshalb das ihr von der menschlichen Natur zugewiesene kleine Arbeitsgebiet, den Tätigkeitsbereich des Bewußten, um so unermüdlicher durchforschen.
Zuallererst m u ß sie wissen, was im Bewußtsein erscheint. Sie hat zu prüfen, welche Bewußtseinsphänomene nur dem eigenen Ich, das sie erfaßt , zugänglich sind, und welche sich für die allgemeine objektive Wahrnehmung eignen.
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2. Kapitel. Der Weg der Erkenntnis
1. Rechtssubjekte und Rechtsobjekte als Phänomene
Die mensdilidien Beziehungen, mit denen sich die Rechtswissenschaft abgibt, sind jeweilen durdi die beteiligten Menschen (die Rechtssubjekte) und die menschlichen Handlungen, die Unterlassungen und die Dinge, auf die der Wil le der Beteiligten geriditet ist (Reditsobjekte), gekennzeichnet. Aus dem Wil len entsteht die Verbindung, die das zustande bringt, was als ganzes Verhäl tn is dann menschliche Beziehung und, sofern es in der Reditsordnung beachtet wi rd , Rechtsverhältnis heißt . D a r ü b e r ist später vieles zu sagen. H ie r werden damit nur Erscheinungen e rwähn t , die von der Reditswissensdiaft genau zu besehen sind, wei l vor allem sie als Inhalte des Bewußt seins in der Rechtsordnung eine Rolle spielen. Soldie Bewußtseinsphänomene sind also alle Personen, Personengesamtheiten und ihr Wollen, Wünsdien, Sagen, Mitteilen, Handeln, Unterlassen; ferner alle körperlichen und unkörperlichen Sachen. Die Rechtswissenschaft hat die umfassende Reditsordnung zum Gegenstand. Wie sich ergab, kann heute ihr Aktionsraum nicht einmal geographisch oder ethnographisch abgegrenzt werden. Alles, was den Menschen irgendwo anzugehen vermag, kann rechtswissenschaftlidi bedeutungsvoll erscheinen. Das heißt , d a ß die Rechtswissenschaft auf alle Bewußtse insphänomene Acht haben m u ß . Sie darf weder bei der Behandlung einzelner Fälle (Aussagen über die Rechtsanwendung) noch gar bei der Regelgebung für die Zukunft (Rechtsetzung) bloß Tatsachen feststellen. Sie miß t diese entweder an Allgemeingült igem (Beurteilung eines Sachverhaltes nach bestehenden Rechtsregeln) oder hebt sie ins Allgemeingültige hinaus (Weiterschreiten von erschauten individuellen Sachverhalten zu allgemeinen Verhaltensregeln). I m Bewußtsein stehen daher unmittelbar wahrgenommene Dinge und Ereignisse der Außenwel t neben den aus diesen abgeleiteten überindividuel len Wesensbestimmungen und neben den vom eigenen Ich selber hervorgebrachten geistigen Wesen. Z u letzteren gehören die wertvollsten Schöpfungen des menschlichen Geistes (Werke der Literatur und Kunst) und die nutzlosesten, sogar gefährlichsten Vorstellungen (unrichtige Meinungen über die Wirklichkeit) .
Die Phänomenologie als Lehre von den Erscheinungen hat daher zuerst darzutun, wie der Inhalt des menschlichen Bewußtseins nach Gruppen zu ordnen ist. Hernach erst, wenn dieses Inventar besteht, kommt die Frage nach der Herkunft der Erscheinungen und anschließend endlich jene nach der intersubjektiv gut gegründeten Überzeugung an die Reihe.
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§ 6 Die phänomenologische Reduktion
2. Tatsachen und Tatbestand
Ais Tatsache bezeichnet die rechtswissenschaftliche Sprache Erscheinungen der außer- oder innerpersönlichen Welt, deren reale Existenz anzuerkennen ist. Entsteht über die letztere eine Meinungsverschiedenheit, so greifen die rechtsanwendenden Organe (insbesondere die Gerichte) auf Beweisregeln zurück. Diese setzen der Meinungsverschiedenheit dadurch ein Ende, daß sie bestimmen, welche Erscheinungsweisen und welche Aussagen über diese die reale Existenz einer Tatsache rechtsgenüglich ausweisen: Die unmittelbare Wahrnehmung des Richters an dem in seinem Bewußtsein erscheinenden Faktum (Inhalt einer Vereinbarung, die in einer Urkunde schriftlich aufgezeichnet ist) oder das Betrachten eines Gegenstandes (Flecken an den W ä n den einer Mietwohnung); Aussagen von Zeugen über das Erscheinen eines Ereignisses in ihrem Bewußtsein (d. h. in der normalen Rechtssprache über ihre Wahrnehmung); Feststellungen von Experten über maßgebliche E r scheinungen, die nur der Fachmann festzustellen vermag (Blutgruppen, kör perliche Schäden, Spuren am Tatort wie Stoffasern, Pulverrücks tände) .
Die konkreten, d. h. die einzelnen menschlichen Beziehungen sind aus T a t sachen zur jeweiligen Einheit zusammengefügt . Diese Einheit heißt in der Rechtssprache Tatbestand. E r umfaß t verschiedenartige Tatsachen, inner-und außerpersönliche. Der Tatbestand, der sich anläßlich der Nachfolge in das Vermögen einer verstorbenen Person ergibt, ist z. B . gefügt aus: Akt iven und Passiven (d. h. körperliche Sachen mit einem bestimmten Wert, Forderungen und Schulden, die zurückzuführen sind auf Ver t räge , unerlaubte Handlungen usw.); Wille des Verstorbenen, zur Erscheinung gebracht in einem Testament, also auf einer Urkunde; Geisteszustand des Erblassers zur Zeit, als er das Testament abfaßte ; Erben (verwandtschaftliche Beziehungen zum Erblasser oder kraft Testament eingesetzte Erben); I r r tum des E r b lassers, d. h. nachgewiesene Diskrepanz zwischen seinem wirklichen und dem im Testament erscheinenden Wil len, wei l in seinem Bewußtsein Tatsachen anders verzeichnet wurden, als sie in Wirklichkeit waren usw. Beim Kauf vertrag sind unentbehrliche Tatsachen: die Parteien, ihr Wil le , dessen K u n d gabe, die Objekte des Willens (Kaufsgegenstand und -preis, Zahlungsart usw.).
Die Tatsachen des Lebensverhältnisses erscheinen einmal im Bewußtsein der an ihm Beteiligten. Jeder Beteiligte sieht seine Stellung im eigenen Bewußt sein zum Tei l als innerpersönliche Tatsache (sein Wil le ) , zum Te i l als außer -
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persönliche Erscheinung ( z . B . Äuße rung des Willens in schriftlicher Mitteilung als objektivierter Geist). Die innerpersönlichen Vorgänge und Z u s tände bei den übrigen Beteiligten gelangen in seinem Bewußtsein als außerpersönliche Tatsachen zur Erscheinung. Dritte, die über die Tatbes tände von Lebensverhäl tnissen aussagen sollen, die z. B . das T u n , Leisten, Haben, U n terlassen usw. der am Rechtsverhältnis Beteiligten in einem Urte i l zu bestimmen haben, vermögen die Tatsachen nur soweit zu fassen, als sie in ihrem Bewußtsein erscheinen. I n einem Rechtsstreit w i rd das Ergebnis daher dadurch beeinflußt, wie der Tatbestand als Ganzes und seine einzelnen Bestandteile, die Tatsachen, im Bewußtsein der Parteien, deren Advokaten, der Zeugen, der Sachverständigen erscheinen; ferner dadurch, wie das Ergebnis der Mitteilung a l l dieser Phänomene dem Richter bewuß t wi rd . Diese Erscheinungen der Lebensverhältnisse im Bewußtsein aller Personen, die sich um die rechtliche Ordnung der Lebensverhältnisse bemühen, so der Gesetzgebenden und wissenschaftlich Forschenden, bilden das Fundament ihrer Gedankengebäude .
Die Tatsachen erscheinen unmittelbar im Bewußtsein. Der Tatbestand wi rd erst auf einem Umweg erfahren. E r ist nicht das Ergebnis der direkten Wahrnehmung, sondern des zusammenfassenden Sehens, das nach einem rechtswissenschaftlich typisierten Lebensverhäl tnis ausgerichtet ist. Die J u risten neigen dazu, an den Erscheinungen der Tatsachen vorbei unmittelbar zum Tatbestand weiter zu gehen. Dadurch verpassen sie nicht nur die E r kenntnis dessen, was im einzelnen wirkl ich geschah. Sie geraten in Gefahr, den Tatbestand nicht aus den Erscheinungen im Bewußtsein, so wie sie die Außenwe l t gibt, zusammenzufügen, sondern an deren Stelle die eigenen Ideen des rechtstheoretisch konstruierten Sachverhaltes zu setzen.
N u r das, was unmittelbar im Bewußtse in erscheint, was sidi ihm or ig inär gibt, ist Tatsache. Die Summe dieser Tatsachen ist die bewußtse inmäßig erste Real i tä t der Lebensverhältnisse. Sie sind Gegenstände der natürlichen E r kenntnis und Erfahrung. Nicht zur unmittelbaren, originären Wahrnehmung gehör t das Erscheinen in der Erinnerung, ebenso nicht das Schließen aus einer Wahrnehmung auf Tatsachen in bezug auf letztere (z. B . Ablesen des seelischen Zustandes am Gesichtsausdruck).
Die Rechtswissenschaft hat darauf zu beharren, d a ß die Möglichkeit und die A r t des Wahrnehmens von Tatsachen als erste Grundlage jeglicher Beschäftigung mit der Rechtsordnung stets und genau beachtet werden m u ß '8 .
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§ 6 Die phänomenologische Reduktion
3. Außer - und innerpersönlich gegebene Phänomene
Das Ich hat die Möglichkeit und macht von ihr regelmäßig und oft Gebrauch, Erscheinungen ins Bewußtsein zu stellen, die es selber hervorbrachte. Es sind manchmal geänderte Formen außerpersönlicher und als solche wahrgenommener Erscheinungen, manchmal aber auch unabhängig von ihnen gegebene Personen, Sachen oder deren Situationen und Beziehungen. Sie treten im Schlaf- oder Wacht räumen ins Bewußtsein und werden dort vom denkenden und sehenden Ich wahrgenommen. Sie sind außerha lb des Bereiches realer Erfahrung von der frei schaffenden Phantasie hervorgebracht. Das Ich hat manchmal Mühe , seine Geschöpfe und die von außen ins Bewußtsein gelangten Erscheinungen auseinanderzuhalten. Diese Fähigkei t des Ich, sich durch seine Phantasie Erscheinungen zu geben (z. B . flötenblasender Kentaur) spielt im rechtlich bedeutsamen Geschehen eine wichtige Rol le . Sie t rägt die Schuld an Täuschungen und I r r tümern , die das phantasierende Ich von der Tatsachenerfahrung weglocken. Sie ist aber auch der Komplize des Ich, das andere mißlei ten w i l l , indem es ihnen selbsterzeugte Phantasiegebilde als real existierende Tatsachen hinstellt, so daß sie diesen Zutri t t zu ihrem Bewußtsein geben und sie für wahr halten. Besonders gefährlich ist das Ergänzen oder gar Ersetzen des ungenauen oder entschwundenen Gedächtnisbildes durch ein selber hervorgebrachtes, wobei das Ich dieses Auswechseln der Erscheinungen von Dingen, Personen oder Szenerien nicht einmal merkt.
Wie schon gesagt, bezeugt die Fähigkei t des Ich, vorher nicht Erfahrenes zur mitteilbaren E!xistenz zu bringen, aber auch die hohe W ü r d e des Menschen. E r nimmt an der Schöpfung teil, indem er geistige Sachen wie Erfindungen (Regeln zur Nutzung von Na tu rk rä f t en ) und ästhetische Werke (neue Formen von Ton- , Wort-, Färb- , Linien- und Körpergebi lden : Werke der L i t e ratur, Musik und Kunst) hervorbringt.
4. Wesenserkenntnis
Das Wesen ist „das im selbsteigenen Sein eines Individuums als sein Wts Vorfindliche" 2". Die Eigenschaften, deren das Individuum bedarf, um es selber zu sein und zu bleiben, machen sein Wesen aus. D a rechtswissenschaftlich nur das beachtlich ist, was im Bewußtsein erscheint, w i r d hier das Wesen eines gegebenen Phänomens nach jenen Eigenschaften bestimmt, die es dem
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erfahrenden Bewußtsein vorweist. Das Ich nimmt nicht nur die körperhche oder unkörperl iche Sache unmittelbar im Bewußtsein wahr; es erschaut dort überdies das Wesen dieser Sache. Die erfahrende oder individuelle Ansdiauung w i r d in Wesensanschauung (Ideation) umgewandelt Dies geschieht durdi einen or iginär gebenden A k t , der als solcher das Analoge des sinnlichen Wahrnehmens und nicht des Einbildens ist Das Erfahren einer Ta t sache setzt Reales individuell als räumlich-zeitliches Daseiendes. Es ist wie jedes Individuelle zufällig und könn te als Tatsache auch nicht oder anders sein. Damit ist aber auch gesagt, d a ß es ein Wesen hat, an dem das Ich erkennt, ob das Erscheinende dasselbe Individuum oder ein anderes ist. Dieses Wesen, das das Ich vorstellen und beschreiben kann, hat seine wesensnotwendigen Eigenschaften. A l l e Individuen, denen sie ebenfalls zukommen, gehören zur gleichen Allgemeinheitsstufe. Darauf beruht u. a. die Einteilung in E i n zelindividuen, Speeles, Arten, Gattungen, Familien der Pflanzen und Tiere. So ist der Mensch als Gattung ein Wesen, das Eigenschaften hat, die allen Individuen, die als Menschen anzusprechen sind, zukommen. Seine bedeutsamste (wesentlichste) Eigenschaft, die ihn von allen andern Lebewesen abhebt, ist die Vernunft. Das Wesen einer Allgemeinstufe (z. B . Gattung) erscheint somit als solches im Bewußtsein und kann als Phänomen beschrieben und mitgeteilt werden. Damit ist dargetan, d a ß der Allgemeinbegrifi^ (z. B . von Mensch, Baum, Pferd), der das Wesen in seinen notwendigen Eigenschaften umschreibt, eine im menschlichen Bewußtsein, und zwar intersubjektiv (d. h. in übereins t immender Wahrnehmung) feststellbare Wahrnehmung ist. Demzufolge w i r d die Behauptung der Nominalisten abgelehnt, ein derartiger Begriff sei nur ein Name (flatus vocis). Name ist hingegen die Benennung der Gattung (Mensch, Baum, Pferd), wenn sie b loß als Symbol dieser E r scheinungen und nicht als sinnerfüllter Begriff verwendet w i rd „Das Wesen (Eidos) ist ein neuartiger Gegenstand. So wie das Gegebene der individuellen oder erfahrenden Anschauung ein individueller Gegenstand ist, so das Gegebene der Wesensanschauung ein reines Wesen Die Rechtswissenschaft m u ß nicht zur Streitfrage Stellung beziehen, ob die Wesen vor oder nur mit den Sachen existieren. Ins Bewußtsein tritt ihre E r scheinung erst mit der individuellen Sache. Sie bezeugen aber zugleich dadurch ihre phänomena le Selbständigkeit , d a ß sie neben diesen Sachen wahrgenommen werden und unabhängig von ihnen im Bewußtsein verweilen Die solcherart mögliche Unterscheidung von Existenz (hier gemeint als individuell Daseiendes) und „Essenz", von Tatsache und Eidos, ist für dieRechts-
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Wissenschaft von höchster Wichtigkeit. Sie kann nicht nur Tatsachenwissen-sdiaft sein. » Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsadienmen-schen Gerade sie bedarf der Allgemeinbegriffe, um in den Wi r rwar r der unübersehbar vielen und ungeahnt mannigfaltigen einzelnen Erscheinungen Ordnung zu bringen. Sie geht nicht nur von den erfahrenen Real i tä ten aus, sondern bildet die Wesenserkenntnis auch an Wesensanschauungen, die das Bewußtsein der denkenden Forscher or iginär gibt (z . B . Vorauserfassen von erst in der Zukunft gebildeten oder veränder ten menschlichen Beziehungen).
5. Das Ding an sich
Mancher Leser w i rd fragen, ob K a n t nicht ein für allemal von der Uner-kennbarkeit des Dings an sich überzeugt habe. Damit wären die soeben nicht nur als richtig angenommenen, sondern sogar als allgemein einsichtig vorgestellten Thesen umgestoßen. Weder die real existierende Sache noch ihr Wesen vermöchten im Bewußtsein zu erscheinen. K a n t lehrt: „Wir haben also sagen wollen: d a ß alle unsre Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei; daß die Dinge, die w i r anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür w i r sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und d a ß , wenn w i r unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaup t aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte in Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden , und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können . Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezep t iv i t ä t unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. W i r kennen nichts, als unsere Ar t , sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen, ob zwar jedem Menschen, zukommen m u ß . Mit dieser haben w i r es lediglich zu tun. Raum und Zeit sind die reinen Formen derselben, Empfindung überhaup t die Materie. Jene können w i r allein a priori, d. i . vor aller wirklichen Wahrnehmung erkennen, und sie heißet darum reine Anschauung; diese aber ist das in unserem Erkenntnis, was da macht, daß sie Erkenntnis a posteriori, d. i . empirische Anschauung heißt . Jene hängen unserer Sinnlichkeit schlechthin notwendig an, welcher A r t auch unsere Empfindungen sein mögen; diese können sehr verschieden sein. Wenn wi r diese unsere Anschauung auch zum höchsten Grade der Deutlichkeit bringen könnten , so w ü r d e n w i r dadurch der Beschaffenheit der
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Gegenstände an sich selbst nicht näher kommen. Denn w i r würden auf allen F a l l doch nur unsere A r t der Anschauung, d. i . unsere Sinnlichkeit v o l l s tändig erkennen, und diese immer nur unter den dem Subjekt ursprünglich anhängenden Bedingungen, von Raum und Zeit ; was die Gegenstände an sich selbst sein mögen, w ü r d e uns durch die aufgeklärteste Erkenntnis der Erscheinung derselben, die uns allein gegeben ist, doch niemals bekannt werden
Es geht hier nicht darum, Kants Erkenntnislehre zu erklären oder gar ihre I r r t ümer anzuzeigen. Hingegen m u ß der Leser die Gewißhei t haben, daß sie, sogar wenn man ihr zustimmen möchte, den hier begangenen Weg nicht versperrt. Dieser folgt im Gegenteil Kan t , soweit seine These für die hier zu gewinnende Einsicht Bedeutung hat. Wo K a n t aber den Weg im Dunkel verliert, nämlich vor dem Ding an sich, da schlägt diese Studie ohnehin eine andere Richtung ein.
Kants Grundkonzeption ist auch das Fundament der hier darzustellenden Überzeugung. Auch sie geht davon aus, daß das Ich alle Gegenstände nur in seinem Bewußtsein erfahren kann; ebenso von der Spaltung in das erkennende Subjekt einerseits und das erkannte Objekt anderseits, das aber nur Erscheinung nach Maßgabe der Erkenntnismöglichkeiten (Sinnlichkeit und Verstand) des Subjekts w i rd
Wenn gesagt werden darf, d a ß diese Studie ein Stück weit K a n t folgen kann, so hat dies den Grund in seiner Darlegung, d a ß die Dinge im Bewußtsein erscheinen und d a ß dieselbe A r t der Wahrnehmung zwar nicht notwendig jedem Wesen, wohl aber jedem Menschen zukommen müsse. Andere Wissenschaften mögen nach einer allgemeingültigen Erkenntnis forschen, die unabhängig vom Menschen Bestand hat. Die Rechtswissenschaft, deren Gegens tände einzig und allein die Menschen und die Dinge sind, so wie sie den Menschen erscheinen, hat in solcher menschlicher Erkenntnisferne nichts zu suchen. Es genügt ihr, mit Sicherheit zu wissen, d a ß die Dinge, materielle und geistige, im Bewußtsein erscheinen, und zwar auf eine allen Menschen gemeinsame Weise. Hingegen darf sie nicht mit Kan t beim Ding an sich das erscheinende Ding als solches sich selbst überlassen und nur noch nach den Denkkategorien und -formen forschen. I n der vorliegenden Studie ist das erscheinende Sein vorläufig das Wichtige. K a n t hingegen wandte sich von ihm ab und ausschließlich der Tät igkei t des Bewußtseins zu E r strebte eben weiter, zum letzten Urgrund jeglichen Seins, zum Sein schlechthin, und sah ein, d a ß er auf Grund der erfahrenen Real i tä t nicht dorthin ge-
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lange. Dabei ließ er das im Bewußtsein stehende Sein unbefragt. H ie r genügt es im Gegenteil vorläufig zu wissen, daß alles Sein nur so wahrzunehmen ist, wie es im menschlichen Bewußtsein erscheint. Sobald die Gewißhei t besteht, daß eine allgemeingültige Feststellung über diese Ersdieinungen auf Grund der intersubjektiven Vers tändigung zu erreichen ist, kann sidi die Reditswissensdiaft dem Erscheinenden selber zuwenden und prüfen, was sein Wesen ist, wie es sein Erscheinen rechtfertigt: reales Außend ing , innenpersönlich originär Gegebenes oder b loß Gemeintes, im Vertrauen auf fremde Autor i tä t Hineingenommenes usw. K a n t machte vor dem Ding an sich so endgültig H a l t und wandte sich von ihm derart entschieden ab, d a ß er nicht einmal fragte, was es denn eigentlich sei. Ist es beim Tisch, der im Bewußt sein ersdieint, die Zweckform, die die Materie zum Tisch werden ließ, sind es die physikalischen und chemischen Kräfte, die diese Form ermöglichen, oder soll es noch hinter a l l dem Hegen? Wenn in der Rechtsordnung ein Tisch ins Kraftfeld der menschlichen Wil len gerät , hat er nur Bedeutung als das Ding, das im Bewußtsein der Beteiligten erscheint, und dem sie für das besondere Verhäl tnis Bedeutung zumessen: funktionell als Gebraudis-tisdi, ästhetisch als Kunstwerk, der Materie nach als Brennholz. Gerä t aber ein Gegenstand nicht als Materie und als selbständige Form, sondern als Kundgabe einer in ihm objektivierten Idee (z. B . Erfindung) in das Netzwerk rechtlich relevanter Beziehungen, so ist eben die Idee das im Bewuß t sein erscheinende Ding, das als solches, so wie es zur intersubjektiven K l a r heit kommt, zu erkennen ist
Weil K a n t die Bedeutung der erscheinenden Phänomene nicht erkannte, kann er hier nicht weiter führen. E . Husserl hingegen vermag es
Bevor die Wanderung der Reduktion weiter geht, um die Phänomene zu erkennen und die wirklichen von den gemeinten zu scheiden, ist nochmals das beschränkte Zie l der Rechtswissenschaft vom Forschen nadi der allerletzten Wahrheit zu scheiden. Die Ordnung des mensdilichen Soseins, wie es im mensdilichen Bewußtsein erscheint, ist ihr Gegenstand und nicht die Idee der Welt schlechthin'2. A u f diese metaphysische Frage hat nidit sie die Antwort zu geben.
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I I I . Der Weg der Reduktion (Epochö)
Das wirkliche Sein, das von der Außenwel t und vom eigenen Ich dem Bewußtsein als Erscheinung gegeben wi rd , steht neben Phantasieobjekten, die sogar das Ich nur mit größter Mühe als unwirkliche entlarven kann. Das Gemeinte erscheint, wei l andere es als w i rk l i d i hinstellten, oft in hellerem L i d i t und mit schärferen Konturen als die Tatsachen. D a jedoch die Wissenschaft nur auf ihnen bauen darf, bedarf sie der stets und mit Sicherheit anwendbaren Methode, um das erscheinende Seiende vom Gemeinten zu trennen. Überdies ist bei der Lösung eines Problems jeder Bewußtseinsinhalt fernzuhalten, der zur Antwor t auf die gestellten Fragen nichts beiträgt . Solches Aussondern ist die Aufgabe der Reduktion. Sie führt den Forscher von der unausgeschiedenen Mannigfaltigkeit des Bewußtseinsinhalts zurück zu den Tatsachen, die unmittelbar erscheinen, zu den Dingen und ihren Wesen. Sie führt vorerst an allen Aussagen, die andere darüber machten, vorbei. Sie läß t sie bestehen und anerkennt ihre Bedeutung, aber sie läßt sich von ihnen nicht dreinreden, sich nicht verwirren. Sie klammert sie ein. Ebenso w i r d mit der Reduktion die natürl ich gegebene und fraglos hingenommene Umwel t eingeklammert und ausgeschaltet''. Derart gelingt die Bewußtseinserhellung, deren die Rechtswissenschaft so sehr bedarf, wei l ja der menschliche Wil le ein Grundelement der Rechtsordnung ist '*.
1. Die natürl iche Lebenswelt
Die Anweisung, d a ß die natürl iche Umwel t ebenfalls einzuklammern sei, mag erstaunen. Die Rechtswissenschaft hat j a gerade mit ihr zu tun. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, an deren Ordnung sie mitarbeitet, gehören samt und sonders der menschlichen Umwel t an. Die Umwelt erscheint jedoch im Bewußtsein als ein kunterbuntes Durdieinander. Solange der Blick dieses als Ganzes betraditet, vermag er nidit, die einzelne Tatsadie als originär gegebene Erscheinung zu sehen ' 5 .
Die Lebenswelt w i r d also nicht eingeklammert, um sie beiseite zu lassen. N u r ihre d rängende Fülle w i r d von der zu betrachtenden einzelnen Erscheinung weggerückt. Diese ist ein T e i l der Lebenswelt. Ih r selber und nicht — wie bei K a n t — den Moda l i t ä t en ihrer Erscheinungsweisen wendet sich der Wissenschaftler zu. Die Aussagen über das Bewußtsein hatten nur deswegen
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hier den Vorrang, wei l sie die Gewißhe i t gaben, d a ß die Umwelt sich den Menschen derart zeigt, daß letztere die Erscheinung der Umwelt gemeinsam wahrnehmen können. Die Menschen sind in der Wissenschaft im allgemeinen wie vor allem auch in der Rechtswissenschaft wechselseitig, jeweilen bald Subjekte bald Objekte im Erkennen und T u n
Es geht zuerst darum, das sinnlich Erfahrbare wahrzunehmen. „ I n allen Bewährungen des natürlichen Interesselebens, des sich rein in der Lebenswelt haltenden, spielt der Rückgang auf die ,sinnlich' erfahrende Anschauung eine prominente R o l l e „ D a s Wissen von der objektiv-wissenschaftlichen ,gründet ' in der Evidenz der Lebenswelt
2. Die gemeinsame Lebenswelt der Menschen
Der rechtswissenschaftliche Forscher kann die Lebenswelt unmittelbar nur soweit erfahren und wahrnehmen, als sie in seinem Bewußtsein erscheint. Wenn er die andern beobachtet, sind sie Objekte seiner Wahrnehmung. D a mit erfähr t er noch nichts von den Erscheinungen der Lebenswelt in ihrem Bewußtsein. Indem er sie jedoch darüber befragt und sie ihm antworten, lassen sie durch ihre Aussagen in seinem Bewußtsein das B i l d der Umwel t so erscheinen, wie sie es sehen. So kann das eine Ich als Subjekt die Welterfahrung der andern Ich als Subjekte erkennen; es vermag die erscheinende Welt mit ihren Augen zu sehen. Es kann sogar vom Standpunkt der andern Ich aus sich selbst als Objekt sehen. Diese Möglichkeit, das gemeinsam Gesehene als Bewußtseinserscheinungen sagend mitzuteilen und zu vergleichen, ist die Grundlage wissenschaftlicher über individuel ler Gewißhei t . Sie befreit das Ich von der Last und Angst der isolierten Welterfahrung und gibt ihm die beruhigende Ich- und Du-Wel t und die Wir -Wel t
Das gemeinsame Erkennen der Lebenswelt w i rd durch die Mitteilung mittels Zeichen, die das im Bewußtsein Gesehene in das Bewußtsein der andern projizieren, möglich. Die Rechtswissenschaft bedient sich als Symbole der Worte, die zu logisch sinnvollen Sätzen verbunden sind; ihr intersubjektives Verständigungsmittel ist die Sprache N u r soweit die Sprache das Ich-Erlebnis im Bewußtsein der andern zur Erscheinung bringen kann, ist Rechtswissenschaft möglich. Die rechtswissenschaftlich bedeutsame gemeinsame L e benswelt endet an den Grenzen des k la r Sagbaren " .
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3. Der Erlebnisfluß
Die Rechtsordnung fügt Tatsadien zum rechtlidi bedeutsamen Sachverhalt zusammen. Sie w ä h l t aus dem, was getan und gesprochen wi rd , einzelne Phänomene aus und verbindet sie in Rechtsverhältnissen. Weshalb und wie das geschieht, darüber ist später zu reden. A n dieser Stelle soll der Leser nur erfahren, wie sehr derartige Modelle von immobilisierten Lebensbeziehungen dem unaufhörlich fließenden Dasein aller Beteiligten widersprechen. I m Zeitpunkt, da die Parteien einen Vertrag schließen, treffen sich ihre Wil len zur gegenseitigen Übereins t immung. Das Vereinbarte bleibt bestehen; die Subjekte aber sehen, begehren, erleben unaufhörl idi Neues. Der Vertrag als Willenseinigung erscheint nicht mehr als unmittelbares Phänomen in ihrem Bewußtsein; das Gedächtnis bewahrt seinen Gehalt; die Rechtsordnung gibt ihm die Dauer und behütet ihn davor, d a ß er am Gestade des Gestern unbemerkt zurückbleibt . Gleich verhä l t es sich mit einem Vorgang, den strafrechtliche Normen als Del ik t erfassen. Die auf ihrem Lebensweg weiterhastenden Tä te r und ihre Opfer treffen in einem verhängnisvollen Augenblick zusammen. Dieses Geschehen w i r d aus ihrem Lebensfilm herausgeschnitten und Drit ten zur Analyse und Beurteilung hingereicht, während die Widersacher jenes Geschehnis hinter sich lassen und im Erlebnisfluß da-hintreiben.
Manchmal kommen sich die Wege ganz nahe und verlaufen lange Zeit parallel, oft bis zum Lebensende des einen Partners. I m Bewußtsein der beiden erscheinen gleichzeitig dieselben Phänomene , aber immer auch andere, die nur der eine wahrnimmt. So d ü n n der trennende Uferstreifen ist, er bricht niemals ganz ein. Das Ich kann nicht zum D u werden. Die Rechtsordnung hat auf solche Verhältnisse acht. Auch beim Hinblicken auf sie soll die statische rechtliche Konstruktion nicht vergessen lassen, d a ß zwei Lebensflüsse nebeneinander dahinziehen.
Die Phänomene stehen immer schon dann, wenn sie mitgeteilt werden, in der Vergangenheit. Das Wort kommt jedesmal zu spät zur Gegenwart Das gilt für jegliches Erfassen der unmittelbar erscheinenden Wirklichkeit
I m Erlebnisfluß treiben die Subjekte, die Ichpole. Der Schöpfungsstrom selber fließt vom menschlichen Wesen aus gesehen langsam. Seine Bewegung l äß t sich nur an Ufermarkierungen erkennen, die nach menschlichem Zeitm a ß weit auseinander liegen, wei l sie das Hundert-, Tausend-, Millionenfache der Lebenszeit der Menschen ausmachen. I n diesem Schöpfungsstrom
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§ 6 Die phänomenologische Reduktion
sind jene Bewegungen, die die Menschen als Lebensfluß empfinden, nur S t römungen oder Wirbel, die gerade diese Stellen rasch bewegen. I n diesen E r lebnisflüssen begegnet der Mensch den Phänomenen , die er als Tatsachen sieht und zu Tatbeständen vereinigt. Der Schöpfungsstrom t räg t die Wesenheiten der Phänomene mit sich. Von der schnell fließenden Erlebnisfolge aus gesehen verändern sich jene übe rhaup t nicht. Sie sind im Verhäl tn is zur täglichen Lebenswelt des Menschen konstant. Diese Wesenheiten der Ta t sachen also, die ihr individuelles und überindividuelles Sein sind, bewirken, daß sie als das erscheinen können, als das sie wahrgenommen werden. Die Wesenheiten heben sie als Individuen oder der A r t oder Gattung nach von andern Phänomenen ab**; sie sind das relativ Dauernde. Sie und nur sie geben der Rechtsordnung den Ha l t , dessen sie bedarf, damit sie nicht von der Kraf t und den Wirbeln der Erlebnisflüsse fo r twährend eingerissen und weggespült wi rd .
4. Das intentionale Sehen
Die Intentionalität ist das phänomenologische Hauptthema. „Die Intentio-nal i tä t ist es, die Bewußtsein im p rägnan ten Sinne charakterisiert, und die es rechtfertigt, zugleich den ganzen Erlebnisstrom als Bewußtseinsstrom und als Einheit eines Bewußtseins zu bezeichnen *'."
Das Ich kann nie den Erlebnisfluß auch nur einen Augenblick lang in seiner Breite sehen. Einzelne Erlebnisse, Phänomene erscheinen im Bewußtsein . Das Ich hat Bewußtsein von ihnen. Andere verdrängen sie aus dem Lichtkegel des Wahrnehmens und stoßen sie ins dunkle U n - oder U n t e r b e w u ß t e zurück. Phänomene treten selber ins Bewußtse in : Geräusche, Sdimerzempfindungen, Mitteilungen von anderen Subjekten, öf te rs aber sucht das Ich aus dem Erlebnisfluß Phänomene heraus, die zu jenen passen, die es im Sinne hat. Es verbindet sie mit ihnen zur synthetischen Einheit. Das Ich nimmt also nicht nur die Tatsache als Erscheinung wahr, sondern es hat Bewußtsein von ihr nach ihrem für das denkende Ich wesentlichen Sinngehalt *'. Es hat kein schlichtes, sondern ein zur Sache stellungnehmendes Bewußtsein. Das mit wertendem, d. h. interessiertem Blick gesehene Objekt und die andern Personen und Sachen treten auseinander*'. Diese wertend gesehenen (vol l intentionalen) Objekte können im Bewußtsein unter dem Einfluß des Sinngehaltes, dessetwegen sie das Ich ins Bewußtsein hineinholte, modifiziert, zu
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2. Kapitel. Der Weg der Erkenntnis
vorgestellten Gegenständen werden. A n Stelle der von außen gegebenen Phänomene oder auch neben sie treten dann die vom Ich gegebenen
Auch der Phänomenologe nimmt nicht b loß wahr. Gerade seine Intention untersdieidet ihn von Personen, die die Phänomene in der natürlichen erlebnishaften (also sinnbezogenen) und nicht forschenden Weise im Bewußtsein erfahren. Der Phänomenologe ist auf das Wesen der Erscheinung gerichtet. E r l äß t sich von dieser ihm eigenen und ihn auszeichnenden Sehensweise nicht durch andere Bezüge zur erforschenden Sache ablenken. Der Sinn des phänomenologischen Erkennens (Noesis) ist das Wahrnehmen selber. Sein Erkanntes (Noema) ist das beim Wahrnehmen zu unterst Liegende, nämlich das Wahrgenommene als solches. „Obera l l ist das noematische Korrelat , das hier ( in sehr erweiterter Bedeutung) ,Sinn ' heißt , genau so zu nehmen, wie es im Erlebnis der Wahrnehmung des Urteils, des Gefallens usw. ,immanent' liegt, d. h. wie es, wenn wir rein dieses Erlebnis selbst befragen, uns von ihm dargeboten wi rd*" . " „ I n unserer phänomenologischen Einstellung können und müssen w i r die Wesensfrage stellen: was das ,Wahrgenommene als solches' sei, welche Wesensmomente es in sich selbst, als dieses Wahrnehmungs-Noema berge. W i r erhalten die Antwor t in reiner Hingabe an das wesensmäßig Gegebene, w i r können das ,Erscheinende als solches' getreu in vo l l kommener Evidenz beschreiben s*." „Mit minutiöser Sorgfalt müssen w i r nun darauf achten, d a ß w i r nichts anderes, denn als wirkl ich im Wesen Beschlossenes dem Erlebnis einlegen, und es genau so ,einlegen', wie es eben darin liegt «1."
Gegenstand einer derartigen phänomenologischen Wahrnehmung ist die Innen- und Umwel t des Phänomenologen , so wie sie in seinem Bewußtsein erscheint. Nicht nur einzelne Sachen, auch Sadigesamtheiten mit den ihre Einheit begründenden Bindungen: Aussagen, Urteile, Wertungen ethischer, ästhetisdier, politischer A r t , Gefühle usw. „Als Phänomenologen enthalten w i r uns a l l solcher Setzungen. W i r werfen sie darum nicht weg, wenn wi r uns ,nidit auf ihren Boden stellen', sie ,nicht mitmachen'. Sie sind ja da, gehören wesentlich mit zum Phänomen . Vielmehr w i r sehen sie uns an; statt sie mitzumachen, machen w i r sie zu Objekten, w i r nehmen sie als Bestand-stüdse des Phänomens , die Thesis der Wahrnehmung eben als ihre Komponente 5 ä . "
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§ 6 Die phänomenologische Reduktion
5. Das Einklammern oder Ausschalten
Der Phänomenologe geht darauf aus, nur die Erscheinung rein zu sehen, die er als Forschungsobjekt in seinem eigenen Erlebnisfluß isoliert und von den anderen Bewußtseinsinhal ten abgrenzt, um an ihr und durch sie ihr Wesen zu erkennen. Die flüchtige gegenwärt ige Erscheinung gibt ihm das Geheimnis der relativ dauernden Wesenheit preis. Das erfordert eine durch nichts gestörte Konzentration des Hinsehens auf dieses eine Phänomen . Der Phänomenologe darf dabei nur von ihm Bewußtsein haben, nur darauf intentional gerichtet sein. Das gelingt ihm dank der Einklammerung oder Ausschaltung. Sie w i r d hier noch einmal und einläßlicher besprochen, obwohl der Leser sie zur Kenntnis genommen hat, wei l von ihr der Erfolg der Reduktion abhängt .
Zuerst w i rd daran erinnert, d a ß das Einklammern nicht negieren bedeutet. Das Eingeklammerte oder Ausgeschaltete bleibt bestehen. Seine Richtigkeit ist damit weder anerkannt noch in Zweifel gezogen. Der Phänomenologe sieht vorerst an ihm vorbei. Hernach, wenn er des erforschten Wesens habhaft geworden ist, blickt er auf das Eingeklammerte hin und stellt es dem Wesen des Gesehenen gegenüber. So kann er prüfen, ob dieses in der Da r stellung der natürlichen Lebenswelt oder der dogmatischen Lehre den richtigen Platz gefunden hatte und zutreffend beschrieben wurde.
a) Einklammerung der wissenschaftlichen Aussagen Vorn wurde dargetan, d a ß hochbedeutende Juristen als Aufgabe der Rechtswissenschaft nur die Auslegung und Erk l ä rung des geltenden Rechtes, nicht aber die Vorbereitung der Reditssetzung ansehen. Ihre Arbeit beginnt also nicht bei den Lebensverhältnissen, die die einzige reale Grundlage der Rechtsordnung sind. Ihre Forschungsobjekte sind b loß die in Gesetzen, U r teilen und der Lehre verkünde ten Ordnungsgrundsä tze . Die darin enthaltenen Aussagen sind objektivierter Geist. Sie gehören teilweise sogar zum objektiven Geist, nämlich insoweit, als sie zum Bestandteil der allgemein gültigen Überzeugung von der richtigen Ordnung geworden sind Gesetze, Urteile und rechtswissenschaftliche Dogmen sind als Aussagen über die Ord nung der zwischenmenschlichen Beziehungen geistige Güter . Sie sind gleich andern geistigen Güte rn (Erfindungen als Regeln über die Anwendung von Naturkräf ten , Werke der Literatur und Kunst) vom lebenden Geist, der sie hervorbrachte, gelöst. Sie sind aus dem Erlebnisfluß herausgenommen, ein
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für allemal in ihrer Mitteilungsform fixiert Ihnen tritt der lebende Geist in dialektisdier Auseinandersetzung entgegen: „Das geistige Gut, insofern es überzeugt , ist stets eine Macht im lebenden Geist. E rhä l t es sich aber in der Geschichte, so ragt in seiner Gestalt ein vergangener Geist als bestimmende Macht in das gegenwärt ige Leben des Geistes hinein. U n d es fragt sich dann immer, wie seine Rolle da ausfällt , inwieweit es dieses Leben etwa bei dem Vergangenen festhält, und welche Formen die Auseinandersetzung des lebenden Geistes mit ihm annimmt 5 ' . " Z u dem gerade hier vorgelegten Problem sagt N . Har tmann: „Das positive Recht z. B . gehört dem lebenden Geiste an, nicht sofern es geprägte Satzung ist, sondern sofern es die innere Form des wirklichen gemeinsamen Rechtsempfindens ist. Dieses Rechtsempfinden aber objektiviert sich im geschriebenen Gesetz. Als Gesetz hat der lebende Geist es bereits aus sich herausgestellt und ihm die Auto r i t ä t über sich verliehen. I n dieser Objektivationsform hat es eine gewisse Eigenkraft, die nicht identisch ist mit dem lebendigen Rechtsempfinden. Letzteres ist dem Wandel unterworfen, bewegt sich also unter dem festgelegten Gesetz fort. U n d als fortbewegtes tritt es in empfundenen Gegensatz zu ihm. Ist dieser Gegensatz aber einmal eingetreten, so hat er das Gesetz als objektives Gebilde, das Macht über ihn hat, ,gegen sich'. E r hat sich in seiner eigenen Objektivation gefangen. E r m u ß nun entweder sich fügen — und d. h. sein Fortschreiten hemmen lassen — oder die Fessel zerreißen 5 ' . " Aus diesem Ringen des lebenden Geistes (juristisch gesprochen des gesetzeskritischen) mit dem objektivierten Geist (positive Rechtsordnung) geht als Synthese die zu schaffende Ordnung hervor, die nun wiederum objektivierter Geist und Bestandteil des objektiven Geistes w i r d
N . Har tmann zeichnete so getreulich das Wesen der rechtswissenschaftlichen Tät igkei t . Sie beginnt beim positiven Recht. Wer weiter ausholt, läßt den lebenden Geist dagegen und für eine neue Ordnung reden. Auch jene, die die sogenannten Realien der Gesetzgebung (soziale Verhältnisse, Industrie, Interessengegensätze) einbeziehen, gelangen nur bis zu Aussagen, die sich auf globale Übersichtsschemen beziehen. Der Geist der Rechtswissenschaftler e rk lä r t den objektivierten Geist der bestehenden Rechtsordnung oder er widerspricht ihm in Vertretung des lebenden Geistes. Der Geist begegnet stets nur dem Geist und nicht den Lebensverhältnissen selber, so wie sie im menschlichen Bewußtsein erscheinen. D a jedoch sie und nidit die objektivierten Aussagen über sie Gegenstand der Rechtsordnung sind, hat auch die Rechtswissenschaft bei ihnen zu beginnen. Gewiß kann sie auf die zu-
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§ 6 Die phänomenologische Reduktion
sammenfassenden und systematisierenden Darstellungen nicht verzichten. Aber wie schon beim Wesen der Wissenschaft e rk lä r t wurde, m u ß sie stets und von jedem Schritt aus die Lebensverhältnisse als Bewußtseinsinhal t selber sehen können, sobald deren B i l d nicht mehr klar neben den Aussagen steht
Der Rechtswissensciiaftler m u ß also, wenn er intentional auf das Erfassen der zu ordnenden Lebensverhältnisse gerichtet ist, wenn er Bewußtsein von ihnen haben, ihr Wesen erfahren w i l l , die Ergebnisse der Rechtswissenschaft einklammern, ihre Lehrmeinungen ausschalten. E r m u ß aber zudem auch die Gesetze und die Judikatur einklammern *8 U m Mißverständnisse zu vermeiden, sei abermals betont, d a ß der Rechtswissenschaftler jede Studie in zwei- oder mehrfacher In ten t iona l i tä t durchzuführen hat. Neben den Lebensverhältnissen sieht er als Phänomene die wissenschaftlichen Aussagen, die Gesetze und Urteile. A l l e diese Erscheinungen wertet er noch selber, wenn er nicht nur über sie berichtet, ohne dazu eigene Stellung zu beziehen. Alles aber, was er als Gegegenstand seines wissenschaftlichen Forschens erwähl t , wi rd von ihm selbständig als P h ä n o m e n wahrgenommen und über sein Wesen befragt. Solange er rechtswissensciiaftlich forscht, ist er P h ä n o m e nologe. Wenn er sich diese A r t des Sehens einmal angewöhn t hat, kann er sich nicht mehr von ihr lossagen
b) Einkiainmerung (ier Lebenswelt Gegenstand der Rcc i i t s / i ' t iTscl i r i l : sind die zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie können alles umfassen, was auf der Welt als wertvol l und begehrenswert e r s c l i c i n t D i e Rechtswissenschaft ist somit bezogen auf die menschliche Lebenswelt.
„Gilt der ,L,ebenswck' un;,p;- aiisschiießliches Interesse, so müssen wi r fragen, ist denn d.c ixv/enswelt als ein universales wissenschaftliches Thema schon ireigelegt durch die Epoche gegenüber der objektiven Wissenschaft? Flaben w i r damit schon Themen für allgemeingültige Aussagen, Aussagen über wissenschaftlich festzustellende Tatsachen? Wie haben w i r die Lebenswelt als ein im voraus feststehendes universales Feld solcher feststellbarer Tatsachen? Sie ist die raumzeitliche Welt der Dinge, so wie w i r sie in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren und, übe r die erfahrenen hinaus, als erfahrbar wissen. W i r haben einen Welthorizont als Horizont möglicher Dingerfahrung. Dinge: das sind Steine, Tiere, Pflanzen, auch Menschen und menschliche Gebilde, aber alles ist da subjektiv-relativ, obsdion w i r norma-
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2. Kapitel. Der Weg der Erkenntnis
lerweise in unserer Erfahrung und in dem sozialen Kreis , der mit uns in Lebensgemeinschaften verbunden ist, zu ,sicheren' Tatsachen kommen, in einigem Umkreis von selbst, d. i . durch keine merkliche Unstimmigkeit gestört, eventuell aber auch, wo es praktisch darauf ankommt, in absiditlichem E r kennen, d. i . mit dem Ziele einer für unsere Zwecke sicheren Wahrheit. Aber wenn w i r in einen fremden Verkehrskreis verschlagen werden, zu den Negern am Kongo, zu chinesischen Bauern usw., dann stoßen w i r darauf, daß ihre Wahrheiten, die für sie feststehenden allgemein bewähr ten und zu bewährenden Tatsachen, keineswegs die unseren sind. Stellen w i r aber das Zie l einer für alle Subjekte unbedingt gültigen Wahrheit über die Objekte, ausgehend von dem, wor in normale Europäer , normale Hindus, Chinesen usw. bei aller Re la t iv i t ä t doch zusammenstimmen — von dem, was doch allgemeinsame lebensweltliche Objekte für sie und uns, obschon in verschiedenen Auffassungen, identifizierbar macht, wie Raumgestalt, Bewegung, sinnliche Qua l i t ä ten und dergleichen — so kommen w i r doch auf den Weg objektiver Wissenschaft. W i r machen mit der Zielstellung dieser Objekt iv i tä t (der einer ,Wahrheit an sich') eine A r t von Hypothesen, mit denen die reine Lebenswelt überschrit ten ist. Dieser ,Überschreitung' haben w i r durch die erste Epodie (hinsichtlich der objektiven Wissenschaften) vorgebeugt, und nun sind w i r in Verlegenheit, was hier sonst wissenschaftlich als ein-für-allemal und für jedermann Feststellbares in Anspruch genommen werden kann
Damit weist Husserl auf das ausschlaggebende Problem hin. Erst seine Lösung bringt die Waagschale mit der phänomenologischen Methode zum Sinken und läß t die andere steigen, in die der bisherige dogmatische Betrieb gelegt ist. Die allgemeingültigen, d. h. eben von Afrikanern, Amerikanern, Asiaten, Australiern und Europäe rn gemeinsam und übereinst immend feststellbaren Wesensstrukturen der Lebensverhältnisse sind auf dem p h ä n o menologischen Weg zu erwandern. Das ihnen gemeinsame rein lebensweltliche Apr ior i ist aufzusuchen. Die Wissenschaften verdecken es, weil sie auf einem von ihnen angenommenen, aber nicht erforschten Apr ior i aufbauen. Sie haben auf diesem unsicheren Grund ihre dogmatischen Thesen objektivlogisch entwickelt. Ihnen fehlt der richtige wissenschaftliche Sinn, solange sie die Lebenswelt nicht auch echt wissenschaftlich erforschen und also das, was sie bis anhin als solche annahmen, einklammern «2.
„Wie kann nun das Vorgegebensein der Lebenswelt zu einem eigenen und universalen Thema werden? Offenbar nur durch eine totale Änderung der natürlichen Einstellung, eine Änderung , in der w i r nicht mehr wie bisher als
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§ 6 Die phänomenologische Reduktion
Menschen des natürlichen Daseins im ständigen Geltungsvollzug der vorgegebenen Welt leben, vielmehr uns dieses Vollzugs ständig enthalten. N u r so können wi r das verwandelte und neuartige Thema ,Vorgegebenheit der Welt als solcher', erreichen: Welt rein und ausschließlich als die und 50 wie sie in unserem Bewußtseinsleben Sinn und Seinsgeltung hat und in immer neuen Gestalten gewinnt. So nur können w i r studieren, was Welt als Bodengeltung natürlichen Lebens, in allen seinen Vorhaben und Gehaben, ist, und korrelativ, was natürliches Leben und seine Subjekt ivi tä t letztlich ist, d. h. rein als die Subjekt ivi tät , die da als Geltung vollziehende fungiert. Das die Weltgeltung des natürlichen Weltlebens leistende Leben läß t sich nicht in der Einstellung des natürlichen Weltlebens studieren. Es bedarf also einer totalen Umstellung, einer ganz einzigartigen universalen Epoche
Die Reduktion der Lebenswelt kann nicht schrittweise zum Ziel führen. I n der Lebenswelt sind die im Bewußtsein erscheinenden Phänomene zusammen mit Erinnerungen, Erwartungen und übernommenen Bewertungen zum mannigfaltigen Muster verflochten. „So ist das jeweils akt iv Bewußte und korrelativ das aktive Bewußthaben , Darauf-gerichtet-, Damit-beschäft igt-sein immerfort umspielt von einer Atmosphäre stummer, verborgener, aber mitfungierender Geltungen, von einem lebendigen Horizont, in den sich das aktuelle Ich audi willkürlich hineinrichten kann, alte Erwerbe reaktivierend, apperzeptive Einfälle bewuß t ergreifend, in Anschauungen wandelnd. Also vermöge dieser s tändig s t römenden Horizonthaftigkeit setzt jede im natürlichen Weltleben schlidit vollzogene Geltung immer schon Geltungen voraus, unmittelbar oder mittelbar zurückreichend in den einen notwendigen Untergrund dunkler, aber gelegentlich verfügbarer , reaktivierbarer Geltungen, alle miteinander und mit den eigentlichen Akten einen einzigen untrennbaren Lebenszusammenhang ausmachend**."
Dies alles klammert der Phänomenologe ein, um an den „Gel tungsvorgegebenheiten der Welt" vorbei die Erscheinungen selber zu sehen. Die Welt, wie sie für die „na iv-Dahin lebenden ,da' ist, als fraglos vorhandene, als Universum der Vorhandenheiten, als das Feld aller erworbenen und neu gestifteten Lebensinteressen" w i r d mittels der Epoche „außer Akt ion gesetzt, und somit außer Akt ion das ganze natürl iche Dahinleben, das auf die Wirklidikeiten ,der' Welt hingerichtet i s t « " .
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§ 7
D i e E i n h e i t der mensdi l id ien Lebenswel t
Der Husserlsche Erkenntnisweg leitet nidit nur bis zur wirkl ich erscheinenden Lebenswelt hin. E r führt in sie hinein und läß t gerade jene Lebens-erscheinungen erkennen, deren die Rechtswissenschaft bedarf. Husserl spricht von der Psychologie und nicht von der Rechtswissenschaft. Aber auch dann, wenn er an sie gedacht hä t te , könn ten seine Darlegungen ihr nicht gelegener kommen. Deshalb kann sie ihm audi da nodi folgen. Hierauf m u ß sie in Anwendung der phänomenologischen Methode sich allein weiter helfen.
Die Reduktion zielt unmittelbar auf das Bewußthaben von dem Ding, das Gegenstand der wissenschaftlichen Forsdiung ist. Diese Sache, gleich welcher A r t sie ist (geistig oder materiell), kann nie isoliert, losgelöst und gänzlich unabhängig von andern Sachen und ihren Einflüssen erscheinen. „Das E i n zelne ist — bewußtse insmäßig — nichts für sich, Wahrnehmung eines Dinges ist seine Wahrnehmung in einem Wahrnehmungsfeld^*."
Das Ding und seine Umwel t erscheinen im Erlebnisfluß als Ausschnitt von der Welt, von der Gesamtheit der Dinge, deren Wahrnehmung möglich ist.
Wie es sidi ergab, erscheinen die Dinge und ihre Umwel t den Menschen nur in deren Bewußtsein. Trotzdem ist das einzelne Ich nicht mit seinem Bewußtsein allein. Es nimmt die Aussagen der andern auf über das, was in ihrem Bewußtsein erscheint. I m Miteinanderleben kann jeder am Leben der anderen teil haben. Das Wahrgenommene wi rd von der einzelnen Dingerfahrung in das gemeinsame Erfahren hinübergenommen. Zugleich werden die Erscheinungen im gegenseitigen Erfahrungsaustausch gewandelt. Das heißt nicht, daß Gemeintes an Stelle des or iginär Gesehenen tritt. E i n jeder kann das Ding von seinem Standpunkt aus und im gegebenen Zeitpunkt anders erfahren. Es erscheint stets vor einem endlos offenen Horizont von möglichen eigenen und fremden Erfahrungen und andern Erfahrungsdingen. Desgleichen stehen die Ich, die Mitsubjekte, die an diesen Erfahrungen Tei l haben, ihrerseits in einer unvoraussehbaren Mannigfaltigkeit von Verbindungen mit andern Ich
K e i n Mensch kann also die Welt nur gerade so erfahren, wie er allein sie sieht. E r erkennt nicht nur die ihm, sondern die ihm „in seinem Bewußt-
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§ 7 Die Einheit der mensdilidien Lebenswelt
seinsieben und in Gemeinschaft mit der Mitmenschheit vorgegebene Welt" . Husserl beweist damit, daß die bis anhin als Selbstverständlichkeit angenommene Meinung, d a ß jedes Ding für jedermann jeweils verschieden aussehe, unrichtig ist. Aus dieser Tatsache der gemeinschaftlichen, sich korrigierenden und ergänzenden Dingerfahrung, aus dieser intersubjektiven K o n stitution der Lebenswelt, leitet er die Erkenntnis der Wesensnotwendigkeit alles Seienden ab. Die einzelne konkrete Erscheinung wechselt in der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungsweisen. Durch die Erscheinung hindurch sehen die erfahrenden Subjekte das Wesen, das anzeigt, d a ß diese verschiedenen Erscheinungen dem gleichen Typus zugehören. Anders w ä r e es nicht erklärlich, daß die im Bewußtsein aller Menschen, die ihre Erfahrungen gegenseitig austauschen, erscheinenden Dinge doch als die gleichen Typen gemeinschaftlich zu erkennen sind. Diese gemeinsam übereinst immende E r fahrung weist auf die vorbestehende, zu erkennende Welt hin. Aber nicht auf eine geschlossene, sondern auf eine für immer neue Möglichkeiten der Gegebenheitsweisen offene. „Wir sehen auch schon voraus (schon die ersten Proben machen es in Vorläufigkei t evident), d a ß diese verwirrend vielfältige, sich an jeder Stelle wieder differenzierende T y p i k der Korrelationen nicht ein bloßes, wenn auch allgemein zu konstatierendes Faktum ist, sondern daß sich im Faktischen eine Wesensnotwendigkeit bekundet, die sich in gehöriger Methode umsetzen l äß t in Wesensallgemeinheiten, in ein gewaltiges System neuartiger und höchst erstaunlicher apriorischer Wahrheiten. Wo immer w i r zufassen mögen: jedes Seiende, das für mich und jedes erdenkliche Subjekt als in Wirklichkeit seiend in Geltung ist, ist damit korrelativ, und in Wesensnotwendigkeit, Index seiner systematischen Mannigfaltigkeiten. Jedes impliziert eine ideelle Allgemeinheit der wirklichen und möglichen erfahrenden Gegebenheitsweisen, deren jede Erscheinung von diesem einen Seienden ist, und zwar derart, d a ß jede wirkliche konkrete E r f a h rung einen einstimmigen, einen kontinuierlich die erfahrende Intention erfüllenden Verlauf von Gegebenheitsweisen aus dieser totalen Mannigfaltigkeit verwirklicht
Wie vorn gesagt wurde, k ü m m e r t sich der Rechtswissenschaftler nicht um das Ding an sich. Das Ding, von dem er Bewußtsein hat, erscheint in seinem Bewußtsein. Sein Forschungsgegenstand sind die Beziehungen der Menschen. Davon also hat er Bewußtsein, darauf ist er intentional bezogen. Diese Beziehungen ihrerseits sind nicht zusammengesetzt aus vereinzelten, isolierten Subjekten und den zwischen diesen befindlichen Dingen an sich.
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2. Kapitel. Der Weg der Erkenntnis
Die Subjekte gestalten gemeinsam, so wie das soeben gesagt wurde, ihre Lebenswelt. Dabei weist jede Erscheinung auf die mit ihr verbundenen, ihr korrelativen hin, so d a ß sich immer neue Horizonte öffnen.
„Wie weit dies alles zu verstehen ist (wobei die Begriffe ,Seindes',,Gegebenheitsweisen', ,Synthesen' usw. sich immer wieder relativieren), ist daraus zu ersehen, daß es sich doch um eine vielstufige intentionale Gesamtleistung der jeweiligen Subjekt ivi tä t handelt, aber nicht der vereinzelten, sondern um das Ganze der im Leisten vergemeinschafteten Intersubjekt ivi tä t . Stets von neuem zeigt sich, d a ß , angefangen von dem oberflächlichen Sichtlichen, die Erscheinungsweisen der einheitbildenden Mannigfaltigkeiten selbst wieder Einheiten sind tiefer liegender Mannigfaltigkeiten, die sie durch Erscheinungen konstituieren, so d a ß w i r in einen dunklen Horizont zurückgeleitet werden, allerdings auf einen stets durch methodische Rückfrage aufzudeckenden. Al l e Stufen und Schichten, durch welche die intentional von Subjekt zu Subjekt übergreifenden Synthesen verflochten sind, bilden eine universale Synthesis, durch sie kommt das gegenständliche Universum, die Welt, als die und so wie sie konkret lebendig die gegebene ist (und die für alle mögliche Praxis vorgegebene), zustande. W i r sprechen in dieser Hinsicht von der ,intersubjektiven Konstitution' der Welt, darin also befassend das Gesamtsystem der noch so verborgenen Gegegebenheitsweisen, aber auch der ichlichen Geltungsmodi; durch sie wi rd , wenn wi r sie systematisch enthüllen, die für uns seiende Welt verständlich gemacht, verständHch als ein Sinngebilde aus den elementaren In ten t iona l i tä ten . Deren eigenes Sein ist nichts anderes als Sinnbildung mit Sinnbildung zusammen fungierend, in der Synthesis neuen Sinn ,konstituierend'. U n d Sinn ist nie anderes als Sinn in Geltungsmodis, also bezogen auf Ichsubjekte als intendierende und Geltung vollziehende. In ten t iona l i t ä t ist der T i te l für das allein wirkliche und echte Erk lä ren , Verständlichmachen. A u f die intentionalen Ursprünge und E i n heiten der Sinnbildung zurückzuführen — das ergibt eine Verständlichkeit , die (was freilich ein Idealfall ist), einmal erreicht, keine sinnvolle Frage übrig ließe. Aber schon jedes ernstliche und echte Zurückgehen von einem ,Fertig-Seienden' auf seine intentionalen Ursprünge ergibt hinsichtlich der schon aufgedeckten Schichten und der Aufk lä rung des darin Geleisteten ein zwar nur relatives, aber, soweit es reicht, doch ein wirkliches Vers tändnis
Das alles ist ausgesagt bezogen auf den Zeitmodus Gegenwart. Die Erscheinungen sind im horizontalen gleichzeitigen Nebeneinander gesehen und zur
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§ 7 Die Einheit der mensdilidien Lebenswelt
intersubjektiven Erfahrung vereint. I n "Wirklichkeit l äß t sich jedoch die Gegenwart nie von den Zeitmodi Vergangenheit und Zukunft lösen. Die E r scheinungen kommen vert ikal herauf aus dem früher Gesehenen in das Gedächtnis und werden nach oben in die Zukunft projiziert.
„Für die Sinnbildung der Vergangenheit übt vor allem die Wiedererinnerung die intentionale Funktion — wenn w i r davon absehen, daß die Wahrnehmung selbst als ,s t römendstehende ' Gegenwart nur dadurch konstituiert wi rd , daß , wie eine tiefere intentionale Analyse enthül l t , das stehende Jetzt einen zweiseitigen, obschon verschieden strukturierten Horizont hat, unter den intentionalen Ti te ln Kontinuum von Retentionen und Protentionen. Diese ersten Vorgestalten von Zeitigung und Zeit halten sich aber ganz im Verborgenen. I n der durch sie fundierten Wiedererinnerung haben w i r eine Vergangenheit — vergangene Gegenwart — in ursprünglicher Anschaulichkeit gegenständlich. Auch sie ist ein ,Seiendes', sie hat ihre Mannigfaltigkeiten von Gegebenheitsweisen, ihre Weisen, als jeweilig Vergangenes ur-sprünghch zur Selbstgegebenheit (zur unmittelbaren Evidenz) zu kommen. Ebenso ist die Erwartung, die Vorerinnerung, und wieder mit dem Sinn einer intentionalen Modifikation der Wahrnehmung (daher besagt Zukunft: künftige Gegenwart), die ursprüngliche Sinnbildung, in der der Seinssinn des Künftigen als solchen entspringt — in genauer enthül lbarer tieferer Struktur
Der Rechtswissenschaftler mag darnach fragen, wo da sein Nutzen bleibe, ob er nicht vielmehr unnöt ig ins Ges t rüpp philosophischer Spekulation geraten sei. Später w i rd er jedoch rückblickend des unschätzbaren Gewinnes Inne. Die wirkliche Lebenswelt, so wie sie für die Menschen Geltung hat, ist ihm gegeben. E r erfähr t nicht nur die verwirrende und niemals systematisch zu bewält igende Vielfalt der einzelnen Erscheinungen, sondern die in der Gegenwart gesehenen, aus der Vergangenheit heraufgeholten und in die Zukunft vorausprojizierten Wesenhaftigkeiten dieser Erscheinungen und ihrer Gesamtheiten. E r er fähr t somit das, was die Phänomene zu dem macht, als das sie in verschiedenen menschlichen Bewußtsein unabhängig vom Zeitmodus in unverwechselbarer Iden t i t ä t erscheinen können (körperliche, geistige Sache, Kauf , Tausdi, Miete, Lebensgemeinsdiaft von Mann und Frau, Individuum und Staat usw.). Der ReditsWissenschaftler steht nicht mehr allein, nur auf sich angewiesen dem Lebensverhäl tnis und dem gegenüber, was davon schon ausgesagt wurde. E r hat nicht der ordnende Geist zu sein, den nur sein persönliches immanentes Erfahren belehrt, sein
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2. Kapitel. Der Weg der Erkenntnis
eigenes visionäres ethisches Gefühl . E r sieht in der Lebenswelt nicht b loß isolierte Rechtssubjekte, von denen jedes den Schutzkreis um sidi ziehen möchte. Die Lebenswelt, sein Tätigkeitsgebiet , liegt vor ihm ausgebreitet, so wie die unzähl igen Rechtssubjekte sie unablässig gemeinsam neu formen. Jedes von ihnen t räg t also die Verantwortung dafür mit, daß die Ersdieinungen in der richtigen Intention gesehen, die Geltungen erfahren und vo l l zogen werden.
Über dieses erste und vorbereitende phänomenologische Erfassen der L e benswelt l äß t sich folgendes zusammenfassend sagen:
Zuerst w i r d die Lebenswelt fraglos und naiv hingenommen. Die Erscheinungen im Bewußtsein sind samt und sonders der realen Welt gleichgesetzt. Das hierauf einsetzende erste kritische und forschende Hinsehen läßt den Ichpol und das ihm im Bewußtsein or iginär Gegebene erfahren. Hierauf führt der phänomenologische Weg, den Zeichen der Erscheinungen im eigenen Bewußtsein und in den Bewußtsein der andern folgend (subjektiv und intersubjektiv) vom Ich weiter zur „ Id i -Du-Synthes i s" und schließlich zur „Wir-Synthes is" . Dor t ist „die universale Sozial i tät ( in diesem Sinne die ,Menschheit'), als ,Raum' aller Ichsubjekte" e r r e i c h t I n ihm stehen alle Dinge im Kraftfeld des intentionalen Sehens der Rechtssubjekte, ihres Ge l tungserfahrens und -Vollzuges.
Vom ersten Wegstück im Bereich der Lebenswelt aus waren im Vorbeigehen die mannigfaltigen Erscheinungen und ihre Wesenstypik zu sehen. Zuletzt aber geriet der Leser mitten hinein in das aus der Vergangenheit durch die Gegenwart auf die Zukunft hin sich wandelnde gemeinsame Universum der Erscheinungen. E r stand inmitten der Welt und der Menschheit, „als die in Vergemeinschaftung intentional die Leistung der Weltgeltung zustandebringende Sub jek t i v i t ä t ' - " .
Der Weg ist noch einmal, bedachter und vorsiditiger, abzuschreiten. Dabei ist das forschende Ich, das Ur - I ch in die philosophische Einsamkeit zu versetzen. Dieses Ich hat keine andere Tät igkei t , als die Epoche zu üben und zu vollziehen. Ihm w i r d die ganze Menschheit und die Aufteilung in Ich, D u und W i r zum P h ä n o m e n „Demnach bedarf es gegenüber dem ersten A n satz der Epodi^ eines zweiten, bzw. einer bewußten Umgestaltung derselben durch Reduktion auf das absolute ego als das letztlich einzige Funktionszentrum aller Konsti tut ion'*." Dieses ego fragt im Besitze seiner Seinsgewißhei t und der Seinsgewißheit der Welt von einer Erscheinung zur andern immer weiter. N u r was sich in den Erscheinungen zeigt, ist evident.
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§ 7 Die Einheit der menschhchen Lebenswelt
Erneut ergibt sich also, d a ß Erkennen durch Erhellung des Bewußtsein, d. h. durch das Ins-Licht-Stellen des in ihm Erscheinenden zustande kommt. D a bei hat sich der Phänomenologe in sich selbst zu etablieren als „den ,un-interessierten Zuschauer' und Erforscher seiner selbst wie aller Anderen, und das ein für allemal, das heißt für alle ,Berufszeiten' der psychologischen Arbeit". Der Phänomenologe darf als solcher innerhalb seiner Forschung „keine Stellung nehmen und haben, nicht zustimmend, nicht ablehnend, (sich) nicht in problematischer Schwebe haltend usw., als ob er hinsichtlich der Geltungen der ihm thematischen Personen mitzureden hä t te ' 5 " . Damit ist wiederum in andern Worten gesagt, d a ß der Phänomenologe intentional nur auf das Wahrnehmen der Erscheinung gerichtet ist.
Auch so kommt der Phänomenologe , indem er Schritt um Schritt weiter geht und alle Erscheinungen befragt, unvermeidlich wieder zum P h ä n o m e n der Fremderfahrung. U n d erneut stellt er das lebendig s t römende Bezogensein aller Ichsubjekte fest: „Das ist die Welt, eine andere hat für uns überhaupt keinen Sinn; und in der Epoche w i rd sie zum Phänomen , und was nun verbleibt, ist nicht eine Vielheit von getrennten Seelen, jede auf ihre reine Innerlichkeit reduziert, sondern: so wie es eine einzige universale Natur gibt als einen in sich geschlossenen Einheitszusammenhang, so gibt es nur einen einzigen seelischen Zusammenhang, einen allheitlichen Zusammenhang aller Seelen, alle nicht äußerlich sondern innerlich, nämlich durch das in tentionale Ineinander der Vergemeinschaftung ihres Lebens, e i n i g " . " Dieser Zusammenhang ist aber nicht etwa gefühlsmäßig, sondern rein intentional bewußtseinsmäßig zu verstehen: „Was in der na tür l ich-mundanen Einstellung des Weltlebens vor der Epoche ein Außere inander ist, durch L o k a l i sation der Seelen an den Leibern, das verwandelt sich in der Epoche in ein reines intentionales Ineinander. Damit verwandelt sich die Welt, die schlicht seiende und die in ihr seiende Natur, in das allgemeinschaftlidie P h ä n o m e n ,Welt', ,Welt für alle wirklichen und möglichen Subjekte', von denen keines sich der intentionalen Implikation entziehen kann, der gemäß es in den Horizont eines jeden Subjekts vorweg h i n e i n g e h ö r t ' ' . "
Der Phänomenologe ist damit an die Grenze seiner Erkenntnismöglichkei t gelangt. E r vernimmt nie mehr, als ihm die peinlich genau befragten E r scheinungen mitteilen. E r gelangt nicht zum endgült ig Seienden. „Die Erfahrung, die Gemeinschaftserfahrung und wechselseitige Korrektur sowenig wie die eigene personale Erfahrung und Selbstkorrektur, änder t nichts an der Rela t iv i tä t der Erfahrung, sie ist auch als Gemeinschaftserfahrung rela-
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2. Kapitel. Der Weg der Erkenntnis
t iv, und so sind alle deskriptiven Aussagen notwendig relativ, und alle erdenklichen Schlüsse, deduktive oder induktive, relativ ™."
D a ß dieses relative Wissen aber schon viel bedeutet und der sichere Boden ist, auf dem die Menschheit weiter schreiten kann, dafür sorgt die Vernunft. Noch einmal spricht Husserl als Philosoph zugleich für die Rechtswissenschaft, indem er sagt:
„Vernunf t ist das Spezifische des Menschen, als in personalen Akt iv i tä ten und Hab i tua l i t ä t en lebenden Wesens. Dieses Leben ist als personales ein ständiges Werden in einer ständigen In ten t iona l i tä t der Entwicklung. Das in diesem Leben Werdende ist die Person selbst. Ihr Sein ist immerfort Werden, und das gilt bei der Korrelation von einzelpersonalem und gemeinschaftspersonalem Sein für beides, für den Menschen und die einheitlichen Menschheiten.
Menschlich personales Leben verläuft in Stufen der Selbstbesinnung und Selbstverantwortung, von vereinzelten, gelegentlichen Akten dieser Form bis zur Stufe universaler Selbstbesinnung und Selbstverantwortung, und bis zur Bewußtseinserfassung der Idee der Autonomie, der Idee einer Willensentschiedenheit, sein gesamtes personales Leben zur synthetischen Einheit eines Lebens in universaler Selbstverantwortlichkeit zu gestalten; korrelat iv , sich selbst zum wahren Ich, zum freien, autonomen zu gestalten, das die ihm eingeborene Vernunft, das Streben sich selbst treu zu sein, als Vernunft-Ich mit sich identisch bleiben zu können, zu verwirklichen (sucht); das aber in untrennbarer Korrelation für Einzelpersonen und Gemeinschaften, vermöge ihrer inneren unmittelbaren und mittelbaren Verbundenheit in allen Interessen — verbunden in Einstimmigkeit und Widerstreit — und in der Notwendigkeit, die einzelpersonale Vernunft nur als gemeinschaftspersonale, wie umgekehrt, zu immer vollkommenerer Verwirklichung kommen zu lassen
A n diesem äußeren Punkt des Husserlsdien Erkenntnisweges ist noch einmal daran zu erinnern, d a ß er die reale Lebenswelt, die wirklich existierende, vorweist und nicht etwa nur die von den Subjekten in ihrem Bewußtsein zur Erscheinung gebrachte. Die Rechtswissenschaft, die im Besitze dieser Erkenntnisse ist, kann das wirkliche Sein erforschen, so wie es im Bewußtsein erscheint. U n d sie kann dartun, wie sich auf diesem Fundament die Ordnung der menschlichen Wil len und damit der menschlichen Existenz aufbauen läßt .
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überall gültige Prinzipien der
Rechtswissenschaft
von Alois Troller Dr. iur., Reditsanwalt in LuMm Professor an der Universität Freiburg i. Ue.
1965
Alfred Metzner Verlag • Frankfurt am Main • Berlin
Andere Werke von Alois Troller
Das De l ik t des unlautern Wettbewerbes, 1937;
V o n den Grundlagen des zivilprozessualen Formalismus, 1945;
Der sdiweizerisdie gewerblidie Reditssdiutz, 1948;
Das internationale Pr iva t - und Ziv i lprozeßred i t im gewerblidien Reditssdiutz und Urheberrecht, 1952;
Die internationale Zwangsverwertung und Expropriation von Immater ia lgü te rn , 1955;
Die internationalen Beziehungen in den Referentenentwürfen zur Urheberrechtsreform, 1955;
Jurisprudenz auf dem Holzweg, 1959;
Immater ia lgüterrecht Bd . I , 1959; B d . I I , 1962;
Eingriffe des Staates in die Verwaltung und Verwertung von urheberrechthchen Befugnissen, 1960;
Rechtserlebnis und Rechtspflege, ein Fußweg zur Jurisprudenz, für Ungeübte begehbar, 1962;
Die mehrseitigen völkerrechtlichen Ver t räge im gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht, 1965.
Umfang X I + 314 © Alfred Metzner Verlag • Frankfurt am Main • Berlin 1965 Alle Rechte der Vervielfältigung und die fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise, vorbehalten. Gesetzt aus der Borgis Linotype-Garamond Gesamtherstellung: Franz W.Wesel, Baden-Baden Printed in Germany
Anmerkungen
Einle i tung
1 Vgl. zum Begriff der Wissenschaft hinten, S. 213 f., 223. 2 W. Burckhardt, Methode und System, S. 5: „ . . . die Methode der Rechts
wissenschaft, wie diese selbst, hat nur Sinn, wenn sie der Praxis dient; weil die Praxis des Rechts, d. h. die Rechtssetzung und die Rechtsanwendung, einer Methode bedarf, ist die Methode wert wissenschaftlich erforscht zu werden." S. 5 f. „Der Praxis also soll die Theorie dienen. Sie erörtert allerdings oft auch praktisch unerhebliche Fragen; aber ebenso oft ist sie auf dem Holzweg. Wo jedoch der Widerspruch der Methode zu widersprechenden praktischen Ergebnissen führt, muß die Meinungsverschiedenheit im Interesse der Praxis selbst behoben werden."
F . Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Vorwort: „,Übrigens ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.' Dies sind Worte Goethes, mit denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere Betrachtung über den Wert und den U n wert der Historie beginnen mag. In derselben soll nämlich dargestellt werden, warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen, bei dem die Tätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntnis-Überfluß und Luxus uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhaßt sein muß — deshalb, weil es uns noch am Notwendigsten fehlt, und weil das Überflüssige der Feind des Notwendigen ist. Gewiß , wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmutlosen Bedürfnisse und N ö t e herabsehen."
3 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 127: „Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor." „Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als ,die Öffentlichkeit' kennen. Sie regelt
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Einleitung, 4—4a
zunädist alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Redit. Und das nidit auf Grund eines ausgezeidineten und primären Seinsverhältnisses zu den ,Dingen', nidit weil sie über eine ausdrüddidi zugeeignete Durdisiditigkeit des Daseins verfügt, sondern auf Grund des Nidit-eingehens ,auf die Sadien', weil sie unempfindlidi ist gegen alle Unter-sdiiede des Niveaus und der Echtheit."
„Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon immer da-vongeschlidien hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. Das Man kann es sich gleichsam leisten, daß ,man' sich ständig auf es berufl. Es kann am leichtesten alles verantworten, weil keiner es ist, der für etwas einzustehen braucht. Das Man ,war' es immer und doch kann gesagt werden, ,keiner* ist es gewesen. In der Alltäglichkeit des Daseins wird das meiste durch das, von dem wir sagen müssen, keiner war es."
Diese treffliche Beschreibung der erkenntnishindernden Funktion des Man ist im Auge zu behalten. Seinem Wesen nach Ist das Man übereinstimmendes Meinen einer größeren Zahl von Individuen, auf das sich diese berufen. Es steht Im Gegensatz zum objektiven Geist als dem überindividuellen geistigen Besitz (dazu N . Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 175 ff.).
4 E . Fechner, Rechtsphilosophie, S. 286 ff., S. 289, N . 26. K . Latenz, Methodenlehre, S. 203, N . 3, sagt zur Feststellung von Tatsachen: „Wir beschränken uns hier auf einige ganz elementare Feststellungen und schalten bewußt die erkenntnistheoretlsdie Problematik ganz aus."
Hingegen W. Burckhardt, Methode und System, S. 7: „Aber die Methodenlehre hat sich noch zu aussdiheßllch an der formalen Logik und zu wenig an der Erkenntnistheorie, speziell der Theorie der praktischen E r kenntnis, orientiert." Es wird sich im Laufe dieser Studie ergeben, daß ihre Auffassungen über die richtige rechtswissenschaflllche Methode deswegen von jenen Burckhardts abweichen, weil letzterer bei Kant, der Schreibende aber bei E . Husserl die erkenntnistheoretische Grundlage fand.
Die Erkenntnistheorie, und zwar ebenfalls unter Berufung auf E . Husserl, stellte F . Kaufmann, Logik und Rechtswissenschaft, in den Vordergrund (S. 1): „Aller wahrhaft strengen wissensdiafts-theoretischen Forderung ist es eigentümlich, daß ihre Problemstellung geradenwegs zu den Grundproblemen der Erkenntnis führt." Kaufmann gelangte aber nicht zu Husserls wichtigsten Lehre, die seine Schöpfung ist, zur phänomenologischen Reduktion (Epoch^) (vorn, S. 32 ff., 41 ff.). Sie trägt den hier vorgelegten Versuch, allgemeingültige Prinzipien zu entwickeln.
4a J . Rehmke, Grundriß der Geschichte der Philosophie. Neu herausgegeben und fortgeführt von F . Schneider, 1965, S. 317, sagt: „Man wird der Phänomenologie ein gewisses Recht bei einer Sacfaphilosophle zugestehen;
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Einleitung, 5—6
die Husserlsdie Erkenntnislehre läßt mehrere entsdieidende Fragen hin-siditlidi Kennen und Erkennen offen." Die Reditswissensdiaft benötigt nidit die umfassende Auskunft darüber, wie das „Kennen und Erkennen" vor sidi geht. Sie hat audi nidit jene Probleme zu lösen, die im Mittelpunkt des philosophischen Forsdiens stehen: Gott, das Sein, der Sinn der mensdilidien Existenz, Sprache usw. Sie muß nur über jene Tatsachen Besdieid wissen, die für die zwischenmenschliche Ordnung wesentlich sind. Die Husserlsche Phänomenologie hilft ihr dabei. Darüber, was sie im philosophischen Bereich leistet, ist hier nicht zu reden.
5 M. Heidegger, Was heißt Denken?, S. 64 f.: „Der jetzige Mensdi ist für die Gestaltung und die Übernahme einer Erdregierung nicht vorbereitet. Denn der jetzige Mensch hinkt nicht hie und da, sondern seiner ganzen Art nach auf eine befremdliche Weise hinter dem her, was längst ist. Das, was eigentlich ist, das Sein, das alles Seiende im vornhinein be-stimmt, läßt sich jedoch niemals durch die Feststellung von Tatsachen, durch Berufung auf besondere Umstände ausmachen. Der bei solchen Versuchen oft und eifrig ,zitierte' gesunde Menschenverstand ist nicht so gesund und natürlich, wie er sich zu geben pflegt. E r ist vor allem nicht so absolut, wie er auftritt, sondern er ist das abgeflachte Produkt jener Art des Vorstellens, die das Aufklärungszeitalter im 18. Jahrhundert schließlich zeitigte. Der gesunde Menschenverstand bleibt auf eine bestimmte Auffassung dessen, was ist und sein soll und sein darf, zugeschnitten. Die Macht dieses seltsamen Verstandes reicht bis in unser Zeitalter herein; aber sie reicht nicht mehr zu. Die Organisation im Sozialen, die Aufrüstung im Moralischen, die Schminke des Kulturbetriebes, dies alles gelangt nicht mehr bis zu dem, was ist. Diese Bemühungen bleiben bei aller guten Meinung und unablässigen Anstrengung nur Notbehelfe und Flickwerke von Fal l zu Fal l . Warum? Weil das Vorstellen von Zielen, Zwecken und Mitteln, von Wirkungen und Ursachen, dem all jene Bemühungen entstammen, weil dieses Vorstellen zum voraus nicht vermag, dem sich offen zu stellen, was ist.
Die Gefahr besteht, daß der jetzige Mensch über die kommenden Ent scheidungen, von deren besonderer geschichtlicher Gestalt wir nichts wissen können, zu kurz denkt und sie darum dort sucht, wo sie niemals fallen können."
6 Den Gegensatz vom Ausgehen vom einzelnen Problem im römischen und anglosächsischen Rechtsdenken einerseits und von axiomatischen und dogmatischen Sätzen in den europäischen Rechtslehren anderseits geben vor allem die hervorragenden Studien von Th. Viehweg (Topik und Jurisprudenz) und J . Esser (Grundsatz und Norm) zu erkennen. Sie weisen der Rechtswissenschaft jene Richtung, in der sich auch diese Arbeit bewegt. Hier wird jedoch versucht, noch weiter zu gehen, nämlich jedesmal bis zum Lebensverhältnis und vor allem bis zum Wesen gleichartiger Lebensverhältnisse, so wie sie im Bewußtsein der von ihnen erfaßten Per-
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Einleitung, 7—9
sonen und der mit ihnen befaßten Juristen ersdieinen, währenddem jene bei den Begriffen „Problem", „Reditssatz", „Regel", „Prinzip" usw. Halt maditen.
7 Piaton, Menon, 81 B - 8 2 A (Bd. 1, S. 429). Sokrates: „Denn da die ganze Natur in verwandtsdiafllidiem Zusammenhang steht und die Seele von allem Kenntnis bekommen hat, so steht nidits im Wege, daß einer, der sich nur erst an eines erinnert hat, was die Leute dann Lernen heißen, alles übrige selbst auffinde, wenn er sidi dabei nur mannhaft hält und des Untersuchens nicht müde wird; denn das Untersuchen und Lernen ist durdiaus nichts als Wiedererinnerung." Ebenso in Phaidon, 7A C—75 E (Bd. 1, S. 754 f.). Vgl. ferner den Dialog Theiatetos, wo Sokrates immer wieder seine geistige Hebammenaufgabe dartut. U . a . 149 E—151 C (Bd. I I , S. 574 f.) „Ja audi hierin geht es mir eben wie den Hebammen: ich gebäre nichts von Weisheit, und was mir bereits viele vorgeworfen, daß ich andere zwar fragte, selbst aber nichts über irgend etwas antwortete, weil ich nämlich nichts Kluges wüßte zu antworten, darin haben sie recht. Die Ursache davon aber ist diese: Geburtshilfe zu leisten nötigt mich der Gott, erzeugen aber hat er mir gewehrt. Daher bin ich selbst keineswegs etwa weise, habe auch nichts dergleichen aufzuzeigen als Ausgeburt meiner eigenen Seele."
K . Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 20: „ . . . 4. in dem Bewußtsein einer unfaßlichen E r i n n e r u n g , als ob er eine Mitwissenschaff mit der Schöpfung (Sdielling) habe, oder als ob er sich erinnern könnte an Gesdiautes vor allem Weltsein (Plato), . . ." W. Biemel, Die entscheidenden Phasen in Husserls Philosophie, Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. X I I I , S. 211: „Im Erringen des Wissens verwirklicht sich die Vernunft, so daß der Weg des Wissens zugleich der Weg der Selbsterhellung der Vernunft ist, die auf dem Wege zu sich selbst ist."
8 G . W. F . Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 21: „Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich R e s u l t a t , daß es erst am E n d e das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt, oder Sichselbstwerden zu sein." W. Seeberger, S. 125: „Das Dritte der dialektischen Bewegung ist so nicht eigentlich ein Drittes; als die lebendige, konkrete Einheit der unterschiedenen Momente der Position und der Negation, der Thesis und der Antithesis, der Unmittelbarkeit und der Vermittlung ist es vielmehr ein Dreieiniges, in dem alles durch die dialektische Bewegung Erworbene oder, genauer. Entfaltete erhalten bleibt. So bereichert und verdichtet der Begriff durch die dialektische Bewegung und die Entfaltung seiner Momente sich in sich selbst, wie dies an jedem sich entwickelnden Organismus schon rein sinnfällig zur Erscheinung kommt."
9 Darin unterscheidet sich das Ziel dieser Studie von jenem, das R. Stammler mit seiner „Lehre von dem richtigen Rechte" anstrebte, der unter Hinweis auf die Bemühungen, ein allgemeingültiges Naturrechtsbuch zu
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Einleitung, 10
verfassen, sdirieb (S. 116 f.): „Statt dessen ist es unsere Absicht, nur eine allgemeingültige formale Methode zu finden, in der man den notwendig wediselnden Stoff empirisdi bedingter Rechtssatzungen dahin bearbeiten, berichtigen und bestimmen mag, daß er die Eigenschaft: des objektiv Richtigen erhält." Stammler traute sich also zu, daß er die Grundsätze einer objektiv richtigen Rechtsordnung auffinden könne.
10 W. Burckhardt, Methode und System, S. 17 f.: „Die Wissenschaff lehrt der Praxis die Methode; die Rechtswissenschaft ist die Methode der Rechtspraxis." „Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, der Praxis, d. h. der Anwendung und vor allem der Setzung des Rechts, den sichern Weg zu weisen. Deshalb sprechen wir von der Methode des Rechts, nicht der Rechtswissenschaft. D a ß auch diese unsere Aufgabe, die Auffindung der Methode, selbst wieder methodisch betrieben werden müsse, soll nicht bestritten werden; aber die Hauptsache ist nicht, die Methode des Rechts auf dem korrekten Weg erkannt zu haben, sondern sie zu erkennen." Burckhardt spricht (a. a. O. , S. 32 f.) seine Oberzeugung aus, daß es eine allgemeine, gleichbleibende Methode gibt: „Wenn nämhch jedes Gesetz wieder auf anderem Wege gefunden und, nachdem es erlassen, in anderem Verfahren ausgelegt werden müßte, je nach seinem Inhalt, gäbe es keine Methode; auch keine juristische im erwähnten Sinn."
R. Stammler, Wirtschaft und Recht, S. 3: „Alle genaue Einzelforschung hat nur dann einen wahrhaftigen Wert, wenn sie in abhängigem Z u sammenhange mit einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit steht und an einer allgemeingültigen Richtlinie der Erkenntnis geleitet ist. Ohne Beziehung auf eine solche grundlegende Gesetzmäßigkeit , auf einen einheitlichen unbedingten Gesichtspunkt für alle Einzelbetrachtung, wäre die letztere außer stände, den Beweis für ihre Existenzberechtigung zu erbringen. Und es ist nicht nur eine notwendige persönliche Einsicht von dem Werte und der Würde dessen, worum man sich müht, die den Forscher zwingen sollte, zur Tiefe hinabzusteigen und den bedingenden Grundgesetzen seiner Erkenntnis nachzuspüren; sondern es wird durch jene vornhin genannte Beziehung auf die allgemeingültige Gesetzmäßigkeit wahrer E r kenntnis überhaupt erst eine gefestigte Methode des Vorgehens in der Einzeluntersuchung möglich: Fehlt das Wissen jener Fundamentalgesetze, so muß jeder isolierte Versuch, an bestimmtem Punkte aufhellende Wahrheit zu erhalten, in seiner Ausführung wie seinem Erfolge zufäll ig sein." H . Henkel, S. 4 „Last not least: als praktische Wissenschaft zielt die Rechtswissenschaft unmittelbar auf Rechtsanwendung, und sie bedarf daher innerhalb eines hochentwickelten Rechtssystems der A n w e n d u n g s r e g e l n , wie sie nur eine differenzierte M e t h o d e n l e h r e zu schaffen vermag. D a die hier erwähnte Gefahr der Technisierung am stärksten ist, gewinnt gerade in diesem Bereich der Allgemeinen Rechtslehre das Bemühen um Klärung und Sicherung des Grundlegenden ein besonderes Gewicht."
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Einleitung, 11
11 Der Verfasser bemüht sich, die phänomenologische Methode im Sinne von E . Husserl unmittelbar auf die Rechtswissenschaft anzuwenden. Einläßlidi befaßte sidi W. Maihofer (Redit und Sein, S. 53 fr.) mit E . Husserls Phänomenologie , so weit sie in den „Ideen" zum Ausdrude kommt. E r sdiritt aber als Philosoph zu Heideggers „vorontologisdiem" Seinsverständnis weiter, ohne seine Thesen auf Husserls Lehre aufzubauen. Audi M . Heidegger (Sein und Zeit, S. 38) erklärte: „Die folgenden Untersuchungen sind nur möglich geworden auf dem Boden, den E. Husserl gelegt, mit dessen „Logischen Untersuchungen" die Phänomenologie zurm Durdibrudi kam." F . Kaufmann, Logik und Rechtswissenschaft, S. I I I , setzte sich die Aufgabe, „die bahnbrechenden Entdeckungen der letzten Jahrzehnte auf dem Gebiete der Logik, welche zum überwiegenden Teil mit dem Namen Edmund Husserls verknüpft sind, für die reditswissenschaftliche Methode fruchtbar zu machen". Ihm schwebte die Idee einer Parallele zur mathe-sis universalis, die das Fundament aller anderen Wissenschaften bilde, vor. Nun hat aber gerade E . Husserl die Illusion, daß die mathesis generalis ein sicheres Fundament der wissenschaftlichen Erkenntnis sei, zerstört und der Mathematik ihren beschränkten Aufgabenkreis zugewiesen, worüber in Parallele zur juristischen Logik zu sprechen ist. Kaufmann konnte damals (1922) die diesbezüglichen bahnbrechenden Arbeiten Husserls nur zum geringen Teil kennen.
K . Larenz, S. 115 legt dar, daß E . Husserl und N . Hartmann für die Rechtswissenschaft nur indirekt Bedeutung erlangt haben. Als Larenz dies schrieb, arbeitete der Schreibende am ersten Band des „Immaterialgüterrechts", wo die Wesensanalyse des Werkes der Literatur und Kunst im Hinblick auf dessen Bestimmung in der Praxis, losgelöst von subjektiven Aussagen, aus N . Hartmanns Ästhetik abgeleitet ist. Es hat sich inzwischen erwiesen, daß diese Teile des Immaterialgüterrechts nicht ein unterhaltender Ausflug in philosophische Gefilde sind, sondern dem Praktiker die Grundlage zeigen, auf der er die Originalität eines Werkes und dessen Beziehung zu andern Werken objektiv überprüfbar dartun kann. Der Schreibende ist überzeugt, daß die Husserlsche Phänomenologie der rechtswissenschafthchen Methode ebenso mit unmittelbarem praktischem Erfolg den Weg zeigen kann, wie Hartmanns Ästhetik das im kleinen urheberrechtlichen Gebiet tut.
Zur Bedeutung von A. Reinachs phänomenologischer Rechtstheorie vgl. 4. Kap . N . 12. P. Amselek, Methode phenomenologique et theorie du droit, Paris, 1964, erhofft ebenfalls von der Phänomenologie die Befreiung der Rechtswissenschaft von politischen, ethischen und metaphysischen Spekulationen und von dogmatischen Vorurteilen. E r kritisiert vor allem die verschiedenen Rechtstheorien und setzt sich einläßüch mit Kelsen auseinander, dessen große Verdienste er hervorhebt. Amselek betrachtet seine Studie als Prolegomena zu einer wirklichen phänomenologischen
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Einleitung, 12—13
Reditswissenschaft. E r mißt der Erkenntnis große Bedeutung zu, daß die Normen Urteilsinstrumente, Modelle seien, indem sie Beziehungspunkte darstellen. Amselek ist nach Ansicht des Schreibenden nicht bis zum Fundament der Reditsordnung hinabgestiegen. E r wollte zwar — darin E . Husserl folgend — zu den Sadien selber gelangen. Aber die Phänomene, die er in seinem Bewußtsein wahrnahm, waren die Normen und die Rechtsordnung als Normengefüge, nicht aber deren Objekte, die Lebensbeziehungen. Der Schreibende hatte das Manuskript seiner Studie abgeschlossen, als ihm Amseleks Buch in die Hand kam. Trotz dessen Bekenntnis zur phänomenologischen Methode liegen die Gedankenwege der beiden Arbeiten weit von einander ab. Anknüpfungspunkte für eine fruchtbare Diskussion lassen sich erst auf langen Umwegen erreichen. Deshalb läßt der Sdireibende es beim Hinweis auf Amseleks Werk bewenden.
12 W. Pauli: „Sowohl der mensdilidie Geist in uns als auch das wahrgenommene Objekt außer uns sind der gleidien kosmischen Ordnung unterworfen." (zitiert von H . R. Schinz, Der Mensch im Atomzeitalter, in: Die Rechtsordnung im tedinischen Zeitalter, Festschrift der Rechtsund Staatswissensdiaftlichen Fakultät der Universität Zürich zum Zente-narium des Sdiweizerisdien Juristenvereins, 1861—1961, Zürich, 1961, S. 193. H . Henkel, S. 8: „Gehen wir jedoch von dem Gedanken einer durdi Ordnungen bestimmten Welt aus, so ist es naheliegend, das Recht, ehe es in seiner inneren Grundstruktur untersudit wird, zunächst einmal als Teil eines Ganzen, und zwar als T e i l b e r e i c h d e r m e n s c h l i c h e n E r f a h r u n g s w e l t , zu sehen und unter diesem Aspekt die Frage aufzuwerfen, w i e s i c h d a s R e c h t i n d a s G a n z e d e r S e i n s o r d n u n g d i e s e r W e l t e i n f ü g t . "
13 E . Wolf, Griediisdies Reditsdenken, Bd. I , S. 32 f.: „Themis ist eine Gottheit der Fügung. Ihr Wesen ist es, das Verhängte zu künden in einem Sprudi, der den Göttern als Rat, den Mensdien als Orakel erteilt wird. In ihrem Namen und Wesen erfahren wir etwas über das früh-griechisdie Wissen davon, daß Götter und Menschen unter dem Sdiicksal stehen; einer alles bindenden und bestimmenden, anfänglichen Fügung des Seins. Darin erweist sich das Wesen der Themis als Ordnung; denn die Fügung des Seins und die aus ihr verfügten Geschicke sind nidit beliebige, willkürliche Zufügungen einer gewaltigen Macht oder widerspruchsvolle Regungen eines blinden Zufalls; sie sind vielmehr Entsprechungen des Seins selbst, das sich im Seienden entfaltet und den Kosmos gestaltet. Beim Aufbau dieses Kosmos aus Erdigem, Luftigem, Feurigem und Feuchtem ist Themis überall mitwirkend. Sie erscheint als schicksalskundige Gottheit der anfänglichen Fügung des Daseins und verkündet in Sprüchen (Ratschlägen oder Orakeln) die gültige Ordnung des Kosmos der Götter und Menschen." S. 40: „Dikes Wirken ist weiterhin wahrend. Sie erscheint als Hüterin des im Recht seienden Daseins, als
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Einleitung, 14—15
Wächterin; denn ihr Wesen ist es nicht nur ,ordnende Ordnung' zu sein, sondern audi ,geordnete Ordnung'."
14 Sophokles, Antigene. Deutsdi von E . Staiger. Tiresias zu Kreon: 1064—1076: „Du aber wisse wohl, der Sonnenwagen Wird nicht mehr allzu oft die Räder drehn. Bis D u aus deinen Lenden einen Toten Den Toten zum Entgelt erstatten mußt. Wie du, die oben wandeln, in die Tiefe Gestützt und Leben rudilos birgst im Grab, Den Leichnam aber ohne Grab und Weihe Zurückhältst und den untern Göttern weigerst. Das kommt nidit dir und nidit den Göttern zu. Die oben sind; du zwingst es ihnen auf. Drum stellen dir des Hades und der Götter Erinnyen nach, die lang der Schuld gedenken. Und schlagen mit dem gleichen Unheil dich." Die für uns wichtige Feststellung ist die, daß Kreon wider die für ihn und die Götter geltende Ordnung handelte, daß er also die Freiheit dazu hatte, aber, weil er Unrecht tat, büßen mußte.
15 M . Plandc, Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft (in Vorträge), S. 374: „In diesem Zwiespalt, der sich dahin äußert, daß wir uns un-weigerlidi zur Voraussetzung einer realen Welt in absolutem Sinn genötigt sehen, daß wir aber doch andererseits niemals imstande sind, ihr Wesen vollständig zu begreifen, liegt das irrationale Element, das der exakten Wissenschaft notgedrungen anhaftet, und über dessen Bedeutung man sich durch ihren stolzen Namen nicht täuschen lassen darf."
S. 375: „Wir suchten für den Aufbau der exakten Wissensdiaften nach einer allgemeinen Grundlage, deren Sicherheit keinerlei Zweifeln unterliegt, und hatten damit keinen Erfolg. Jetzt auf Grund der gewonnenen Einsichten erkennen wir, daß das gar nicht anders sein kann. Denn jener Versuch lief im Grunde darauf hinaus, zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Forschung etwas endgültig Reales zu nehmen, während wir jetzt gesehen haben, daß das endgültig Reale metaphysischen Charakter trägt und sich daher einer vollständigen Erkenntnis durchaus entzieht." A. Einstein — L . Infeld, S. 195: „Wir bahnen uns mit Hilfe der physikalischen Theorien einen Weg durch das Labyrinth der beobachteten Gesetzmäßigkeiten und bemühen uns, unsere sinnhchen Wahrnehmungen zu ordnen und zu verstehen. Es wird dabei immer angestrebt, die beobachteten Gesetzmäßigkeiten als logische Folgerungen aus unserem physikalischen Weltbild darzustellen. Ohne den Glauben daran, daß es grundsätzlich möglich ist, die Wirklichkeit durch unsere theoretischen Konstruktionen begreiflich zu machen, ohne den Glauben an die innere Harmonie unserer Welt, könnte es keine Naturwissenschaft geben. Dieser Glaube ist und bleibt das Grundmotiv jedes schöpferischen Gedankens
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Einleitung, 16—18
in der Naturwissenschaft. Alle unsere Bemühungen, alle dramatischen Auseinandersetzungen zwischen alten und neuen Auffassungen, werden getragen von dem ewigen Drang nach Erkenntnis, dem unerschütterlichen Glauben an die Harmonie des Alls, der immer stärker wird, je mehr Hindernisse sich uns entgegentürmen."
16 E . Husserl, Ideen, Bd. I , S. 194: „Die alte ontologische Lehre, daß die Erkenntnis der „Möglichkeiten" der der Wirklichkeiten vorhergehen müsse, ist m. E . , wofern sie recht verstanden und in rechter Weise nutzbar gemacht wird, eine große Wahrheit."
17 N . Hartmann (Die Philosophie des deutsdien Idealismus, Z . A . 1960, S. 408) sagt zu Hegels Dialektik: „Die Richtung der Abhängigkeit also ist die aller Teleologie eigentümliche: die rückläufige. Der Punkt, von dem alles abhängt, ist nicht der „Anfang", von dem der Gedankengang der Logik ausgeht, sondern das Ende, das Resultat, der Gipfel. Die höchste Form ist der Inbegriff der Formen. Von ihr „hängt" die ganze lange Formenkette ab. Das Bild des „Hängens", der Abhängigkeit ist buchstäblich zu nehmen. Die Logik als System der Kategorien ist nicht ein „Aufbau", in dem ein Fundament elementarer Natur die höheren Schichten trüge, sondern eine Kette, die am obersten Gliede „aufgehängt" ist, und in der Glied für Glied das niedere am höheren hängt. Im niedersten Gliede, dem „Anfang", ist die Abhängigkeit am größten. Das oberste und letzte Glied aber ist der feste Punkt, der dem Ganzen Stabihtät gibt, das Unabhängige, das an sich Freie."
S. 408 f.: „Fragt man aber, wie denn die Dialektik es macht, die Richtung umzukehren, so ist darauf nun leicht zu antworten. D a sie nicht ableitet, sondern nur „erfährt" und das Erfahrene zu begreifen sucht, so ist sie an die Dependenz des Gegenstandes nicht gebunden; sie kann beliebig mit ihr oder gegen sie gehen. D a aber die Stufenfolge mit beschrieben werden soll, so muß sie sich eindeutig für eine Richtung entschließen. Und so geht sie denn einheitlich „aufwärts", wobei sie den methodischen Vorzug genießt, mit dem Einfachsten und Begreiflichsten beginnen zu können. Man könnte sagen, sie klimmt aufwärts an den von oben her abwärts aneinander hängenden Kettengliedern."
18 M. Planck, Die Physik im Kampf um die Weltanschauung, (in Vorträge) S. 296: „Ob und wie weit man auf diesem Wege einmal weiterkommen wird, muß die zukünftige Forschung lehren. Wie dem immerhin sein mag, und welche Ergebnisse dereinst einmal ans Tageslicht kommen werden, eins läßt sich auf alle Fälle mit voller Sicherheit behaupten: von einer restlosen Erfassung der realen Welt wird ebensowenig jemals die Rede sein können wie von einer Erhebung der menschlichen Intelligenz bis in die Sphäre des ideellen Geistes. Das sind und bleiben eben Abstraktionen, die begriffsmäßig außerhalb der Wirklichkeit liegen. Wohl aber hindert nichts an der Annahme, daß wir uns dem unerreichbaren Ziele fortdauernd und unbegrenzt annähern können, und dieser Aufgabe zu dienen, in der einmal als aussichtsreich erkannten Richtung dauernd vor-
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Einleitung, 19—20
wärts zu kommen, ist gerade der Sinn der unablässig tätigen, sidi immer aufs neue korrigierenden und verfeinernden wissensdiafllidien Arbeit. D a ß es sidi dabei wirklidi um ein Fortsdireiten, nidit etwa nur um ein zielloses H i n - und Herpendeln handelt, wird dadurdi bewiesen, daß wir von jeder neu gewonnenen Erkenntnisstufe aus alle vorherigen Stufen übersdiauen können, während der Blidt auf die vor uns liegenden nodi verhüllt ist, ähnlidi wie ein zu neuen H ö h e n emporstrebender Bergwanderer die bereits erklommenen Gipfel von oben überschaut und den gewonnenen Überblidt für den weiteren Aufstieg verwertet."
19 M . Planck, Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft (in Vorträge), S. 367, sagt, daß das wissenschaftliche Weltbild sich vom praktisdien Weltbild des täglichen Lebens nicht der Qualität nach, sondern nur durch eine feinere Struktur unterscheide.
20 M . Planck, Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft (in Vorträge), S. 365.
1. K a p i t e l
1 So sagt z . B . der Nouveau Petit Larousse Illustre zu Science: „Connais-sance exacte et raisonnee de certaines dioses determinees."
2 A. Diemer, Die Phänomenologie und die Idee der Philosophie als strenge Wissenschaft (S. 244) nennt die Wissenschaft ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes allgemeiner Erkenntnisse, die an sich wahr sind. Dieser absolute Wahrheitsanspruch geht zu weit. Man muß sich damit begnügen, daß sie dem Wissenschaftler, der sich mit all seinen Kräften um die Erkenntnis bemüht, als wahr erscheinen. I . M. Bochenski (Die zeitgenössischen Denkmethoden, S. 17 ff.) spricht von Wissenschaft im subjektiven und objektiven Sinn: „Subjektiv verstanden ist die Wissenschaft nichts anderes als systematisches Wissen." „Objektiv verstanden ist die Wissenschaft nicht ein Wissen, sondern ein Gefüge von objektiven Sätzen." In der vorliegenden Arbeit wird Wissenschaft im zweiten Sinn genommen: „Die so verstandene Wissenschaft besteht offenbar nicht „an sich" — aber sie ist auch nicht an einen Einzelmenschen gebunden. Vielmehr handelt es sich bei ihr um ein soziales Gebilde, indem sie im Denken mehrerer Menschen besteht — und zwar oft so, daß keiner von diesen alle ihr zugehörigen Sätze kennt. Die objektiv verstandene Wissenschaft hat folgende Kennzeichen: (a) Sie ist ein systematisch geordnetes Gefüge von objektiven Sätzen — entsprechend dem systematischen Charakter der Wissenschaft im subjektiven Sinne des Wortes. (b) Zur Wissenschaft gehören nicht alle ihrem Gebiet zugehörigen Sätze — sondern nur jene, welche durch wenigstens einen Menschen gekannt sind. Genauer gesagt: außer gekannten Sätzen gibt es keine faktischen, sondern nur mögliche Sätze. Die Wissenschaft besteht nur nicht aus möglichen, sondern aus tatsächlich gebildeten Sätzen. Deshalb kann man von der Entwicklung, vom Fortschritt der Wissenschaft sprechen. Dieser kommt nämlich so zustande, daß die Menschen neue Sachverhalte erkennen und dementsprechend neue Sätze bilden. (c) Die Wissenschaft ist, wie gesagt, ein soziales Werk. Deshalb gehören zu ihr nur solche Sätze, die in irgendeiner Weise objektiviert wurden, d. h. in Zeichen dargestellt wurden, nämlich so, daß sie anderen Menschen mindestens prinzipiell zugänglich sind." M . Heidegger (Sein und Zeit, S. 357) weist darauf hin, daß der Begriff der Wissenschaft — auch wenn er Im objektiven Sinne aufgefaßt wird — entweder rein logisch gefaßt oder auf das existentiell Seiende bezogen sein kann: „Nach der ontologischen Genesis der theoretischen Verhaftung
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1. Kapitel, 3—6
suchend, fragen wir: welches sind die in der Seins Verfassung des Daseins liegenden, existenzial notwendigen Bedingungen der Möglidikeit dafür, daß das Dasein in der Weise wissenschaftlicher Forschung existieren kann? Diese Fragestellung zielt auf einen existenzialen Begriff der Wissenschafl. Davon unterscheidet sich der „logische" Begriff, der die Wissenschaft mit Rücksicht auf ihr Resultat versteht und sie als einen „Begründungszusammenhang wahrer, das ist gültiger Sätze" bestimmt. Der existenziale Begriff versteht die Wissenschaft als Weise der Existenz und damit als Modus des In-der-Weltseins, der Seiendes bzw. Sein entdeckt, bzw. erschließt. Die vollzureichende existenziale Interpretation der Wissenschaft läßt sich jedoch erst dann durchführen, wenn der Sinn von Sein und der „Zusammenhang" zwischen Sein und Wahrheit aus der Zeitlichkeit der Existenz aufgeklärt sind. Die folgenden Überlegungen bereiten das Verständnis dieser zentralen Problematik vor, innerhalb deren auch erst die Idee der Phänomenologie im Unterschied zum einleitend angezeigten Vorbegriff entwickelt wird." Diese Studie folgt Heideggers Anweisung, indem die Prinzipien der Rechtswissenschaft nicht rein logisch, sondern zuerst und vor allem aus dem menschlichen Sein abgeleitet werden. Das Erkennen dieses Seins aber geschieht nach der phänomenologischen Methode.
3 I . M. Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, S. 16. Methodologie bedeutet „eine Rede von Dem-(richtigen-)Weg-entlang-gehen".
4 E . Husserl, Realitätswissenschaft und Idealisierung. — Die Mathematisie-rung der Natur, Husserliana, Bd. V I , S. 281.
5 Das Wort „Rechtsüberzeugung" hat an dieser Stelle keine rechtswissenschaftliche Bedeutung. Es meint die Richtigkeit der als Grundlage angenommenen Erkenntnis.
6 Ebenso W. Burckhardt, S. 13 ff. A. A . z . B . F . Kaufmann, S. 53 f.: „Was dem dogmatischen Juristen — und mit ihm allein haben wir es hier zu tun — zur Bearbeitung gegeben ist, sind Normen, Normen über menschliches Verhalten; wer aber Normen ,gesetzt' hat, wer sie ,befolgt', inwieweit sie sich mit ethischen Gesetzen decken, das sind alles Fragen, die ihn nicht kümmern." S. 54; „Was den Juristen angeht, ist der empirisch wandelbare Inhalt der Rechtssätze, was den Rechtstheoretiker angeht, ist die a priori feststehende Form der Rechtssätze. Alle Rechtstheorie Ist daher Ihrem Wesen nach Lehre vom Rechtssatz und zwar a priorische Lehre vom Rechtssatz." Kaufmann beschränkt damit die Aufgabe der Rechtswissenschaft auf einen theoretisch sehr interessanten und praktisch nicht unwesentlichen Teil der Arbeit an der Rechtsordnung. Einen etwas anderen, aber ebenfalls eingeschränkten Bereich der Rechtswissenschaft umschreibt K . Larenz, S. V . : „Ferner ist mit der ,Rechts-wissenschaft ein bestimmter Typus derselben gemeint, der Typus, der sich i n der deutschen Rechtswissenschaft uns'rer Zeit darstellt. Es ist das eine Rechtswissenschaft, die sich vornehmlich am Gesetz, oder doch an ,Rechts-
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1. Kapitel, 7—9
satz, orientiert, nicht am vorentschiedenen Fal l ." Es wird sich ergeben, daß diese Betrachtungsweise, wenn sie ausschließliche Geltung beansprucht, die Antithese zu der in der vorliegenden Studie angestrebten phänomenologischen Methode ist, wobei sie allerdings auch in letzterer als Teil des rechtswissensdiaftlichen Erkenntnisprozesses zur Geltung kommt.
7 Sdiweizerisches Z G B , Art. 1: „Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem Gesetze keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. E r folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung."
8 So wurde z. B., weil J . Kohler im Zusammenhang mit der ausschließlichen Lizenz von einem absoluten, sozusagen einem quasidinglidien Recht sprach, daraus in Deutschland, im Anschluß daran auch in Österreich und Italien und vorübergehend in der Schweiz, der Schluß gezogen, daß der Lizenznehmer aktivlegitimiert sei, um Verletzungen des Patentrechts zu verfolgen. In den andern Ländern sah man ein, daß ein Vertrag zwischen zwei Parteien nicht derartige Wirkungen gegen Dritte haben könne, wenn der Gesetzgeber sie nicht vorsehe. (Troller, Internationale Lizenzverträge, Auslands- und Internationaler Teil zu Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 1952, S. 116.) Ebenso leitete man aus O. Gierkes Zuteilung des Urheberrechts zu den Persönlichkeitsrechten ab, daß das Urheberpersönlichkeitsrecht unübertragbar und unverzichtbar sei, was für die persönlichkeitsrechtlichen Befugnisse im Sinne von Z G B Art. 27 teilweise zutrifft. Dabei hatte aber Gierke den Begriff „Persönlichkeitsrecht" viel weiter gefaßt und selber die Abtretbarkeit von einzelnen Rechten anerkannt, die er mit ihm klassifizierte. (Troller, Bedenken zum Urheberpersönlichkeitsrecht, Archiv für Urheber-, Fi lm-, Funk- und Theaterrecht, Bd. 28, 1959, S. 258 ff.)
9 W. Burckhardt, S. 296: „Darin soll sich die hier dargelegte Methode überhaupt von den früheren unterscheiden: daß sie die Aufgabe der Rechtswissenschaft im Hinblick auf die gesamte Aufgabe ihres Gegenstandes, des Rechts, bestimmt, nicht nur im Hinblick auf die eine oder andere Teilaufgabe; insbesondere die Reditsanwendung, wie es meist geschieht, oder die Gesetzgebung, was seltener geschehen ist; oder nur im Hinblick auf ein sachliches Gebiet der Rechtsordnung, wie das Privatrecht, das Strafrecht oder das Verwaltungsrecht. Man kann das Einzelne nur im Zusammenhang des Ganzen richtig erfassen und die Erfüllung der Aufgaben der besonderen Rechtsgebiete nur im Zusammenhang mit der Aufgabe des Rechts überhaupt. Die Aufgabe des Rechts ist die Verwirklichung der Gerechtigkeit in der menschlichen Gemeinschaft; wie zu diesem Zwecke planmäßig vorzugehen ist, soll die Methode zeigen. Die Aufgabe der Wissenschafl ist keine andere, als tätig mitzuhelfen an die-
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1. Kapitel, 10—14
sem großen Werk; ,wissenschaftlich' ist diese Mithilfe nur, weil sie sidi ihrer Methode bewußt ist."
10 Auch R. Stammler (Wirtschaft und Recht, S. 4 f.) stellte die Frage: „In welchem Sinne kann bei der Bildung neuen Rechtes von Notwendigkeit gehandelt werden? Läßt sich eine allgemeine Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens der Menschen ebenso aufstellen und durchführen, wie die Gesetzmäßigkeit der Natur als Grundlage der Naturwissenschaft es Ist; oder bestehen hier nicht vielleicht durchgreifende Unterschiede? Inwieweit ist danadi Übertragung oder parallele Anwendung naturwissenschaftlidier Begriffe und Methoden auf soziale Erkenntnis, insbesondere auf die Reditswissensdiaft, begründet und gerechtfertigt? Es wird gewiß keinen denkenden Juristen oder Nat ionalökonomen geben, dem nicht solche Fragen schon zur Sorge gediehen wären. Wird er doch, wie bemerkt, ganz unerläßlich, sobald er ein Ziel wissenschaftlicher E r kenntnis in Selbständigkeit sich stecken will, auf die Frage der richtigen Methode, des rechten einheitlichen Verfahrens bei seiner Forschung gestoßen; und stellt sich doch nur zu leicht nach vollendeter Arbeit die zweifelnde Frage ein: Welchen Wert und welche Bedeutung hat nun das Ergebnis deiner Untersuchung im Ganzen unserer Wissenschaft? Aber zu der radikal durchgreifenden Fragestellung, nach der es sich hier um einen eigenen Gegenstand kritischer Beobachtung und Klarstellung, nämlich um die Gesetzmäßigkeit aller unserer Erkenntnis in sozialen Dingen handelt, ist man zumeist nicht ausreichend vorgeschritten."
11 E . Husserl, Naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Einstellung. Naturalismus, Dualismus und psychophysische Psychologie, in Husserliana, Bd. V I , S. 297: „Die Geisteswissenschaft ist Wissenschafl von der menschlichen Subjektivität in ihrer Bewußtseinsbeziehung auf die Welt als für sie erscheinende und sie in Tun und Leiden motivierende; und umgekehrt: von der Welt als Umwelt von Personen, oder als der ihnen erscheinenden, geltenden." So weit gefaßt umgreift sie auch die Naturwissenschaft und die naturwissenschaftliche Natur, denn die objektive Natur als Thema, ihr „objektiv wahres An-sich-sein" ist auch „eine personale Leistung oder vielmehr Idee einer solken" (a.a.O. S. 298). Die vom menschlichen Geist bewirkten Änderungen der Natur und die dadurch entstandenen neuen Naturdinge gehörten so genommen ebenfalls in den Bereich der Geisteswissenschaften. Sie verlieren aber durch den Einfluß des Geistes nicht ihre wesensmäßigeit selbständige natürliche Eigenschaft, so daß man auch sie dem Bereich der Naturwissenschaften zuzuteilen hat.
12 E . Husserl, a.a.O. S. 301. 13 E . Husserl, a.a.O. S. 304. 14 E . Husserl, Realitätswissenschaft und Idealisierung. — Die Mathematisie-
rung der Natur, Husserliana, Bd. V I , S. 283; vgl. dazu ferner E . Husserl, Ideen, Bd. I I , Beilagen, S. 382 ff., 392 f.: „Eine scharfe Scheidung haben wir also zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Die
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1. Kapitel, 15—17
Naturwissenschaft geht auf Realität (auf Substantialität und Kausalität) in der Erscheinungswelt. Die Geisteswissenschaft geht auf personale I n dividualität und auf personale Kausalität, Kausalität der Freiheit und Motivation. Dabei ordnen sich aber die Naturwissenschaften als Wissenschaften in die Geistessphäre ein. Nicht die Natur ordnet sidi den Objektivitäten der Geisteswissenschaften ein, aber die Wissenschaft von der Natur, die Psychologie etc., und die Natur als Korrelat, als Erkanntes der jeweiligen Stufe, als ,Weltbild' der Wissenschaft der und der Zeit gehört natürlich in die Geisteswissenschaft, in die Geschichte. Einen merkwürdigen Parallelismus haben wir da entdeckt. Alles Geisteswissenschaftliche laß eine Umwandlung ins Naturwissenschaftliche insofern zu, als die anschauliche Natur auffaßbar ist als Ersdieinung einer objektiven Natur und als jedes geistige Faktum, jede Person in ihren Akten und Zuständen auffaßbar ist als ,Bekundung' einer Seele, bezogen auf einen (sie in der anderen Erscheinung ausdrückenden) Leib als physikalisches Ding."
15 So V . Weizsädcer, S. 258 ff., S. 261: „Der Untersdiied liegt, so scheint es, in der Verfügbarkeit technischer Macht, einer Verfügbarkeit, die in der Welt der Religionen vielleicht nur in der Magie ein Korrelat hat. Aber wenn sich der Wissenschaftler nicht selbst betrügt, ist dann nicht gerade die mangelnde Verfügbarkeit dieser Macht heute sein Schreck und sein Alptraum? E r besitzt ein Wissen von der Materie, das ihm erlaubt, die Maschine zu bauen. E r besitzt kein Wissen vom Menschen, das ihn lehren könnte, unter welchen Voraussetzungen er dem Menschen die Maschine in die Hand geben darf. Seine größte Tugend, sein mühsam erzogener Ethos der Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber, muß ihn lehren, daß er jener allwissende und allmächtige Priester, den die Menschen oft ersehnen, nicht ist. E r ist nicht einmal Priester in dem Sinne, in dem es den Priester — und, was weniger und mehr ist, den priesterlichen Menschen — in der Religion wirklich gibt. Denn religiöses Wissen umfaßt Wissen vom Wesen des Menschen, naturwissenschaftliches Wissen umfaßt eben dies nicht."
16 W. Heisenberg (S. 17): „ . . ., so hat man den Eindruck, daß man die Verhältnisse vielleicht nicht allzu grob vereinfacht, wenn man sagt, daß zum erstenmal im Laufe der Geschichte der Mensch auf dieser Erde nur noch sich selbst gegenüber steht, daß er keine anderen Partner oder Gegner mehr findet." (S. 17 f); „In unserer Zeit aber leben wir in einer vom Menschen so völ l ig verwandelten Welt, daß wir überall, ob wir nun mit den Apparaten des täglidien Lebens umgehen, ob wir eine mit Maschinen zubereitete Nahrung zu uns nehmen oder die vom Menschen verwandelte Landschaft durchschreiten, immer wieder auf die vom Menschen hervorgerufenen Strukturen stoßen, daß wir gewissermaßen immer nur uns selbst begegnen."
17 W. Heisenberg (S. 18): „Unserer Zeit ist nun offenbar die Aufgabe gestellt, sich mit dieser neuen Situation in allen Bereichen des Lebens abzufinden, und erst wenn das gelungen ist, kann die „Sicherheit in den Re-
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1. Kapitel, 18—19
gungen des Geistes", von der der chinesische Weise spricht, von den Menschen wiedergefunden werden. Der Weg zu diesem Ziel wird lang und mühevoll sein, und wir wissen nicht, welche Leidensstationen noch auf ihm liegen." Weizsäcker sagt zu diesem Anliegen im Zusammenhang mit dem Hinweis auf die Religion (S. 262): „Von der Erwartung, auch das Wissen vom Menschen auf wissenschaftliche Grundlage zu stellen, möchte ich hier nicht sprechen. Vielleicht kündigt sich In Ihr, gerade wenn kein enger und daher naiver Begriff von Wissenschaft vorausgesetzt wird, erst die Erfüllung der zweideutigen Bewegung der Neuzeit an. Aber Ich möchte hier nicht Spekulationen über die Zukunft anstellen, sondern das betrachten, was vor unseren Augen liegt."
18 Der Zürcher Rechtsgelehrte, Professor Oftinger, kämpfte jahrelang gegen das Gewährenlassen der Technik, gegen ihre Anerkennung als Eigenwert. E r hielt ihr entgegen, daß sie nicht alles tun dürfe, was ihr rein technisch funktionell gelinge. (Vgl. u. a. K . Oftinger, Punktationen für eine Konfrontation der Technik mit dem Recht in: Die Rechtsordnung im technischen Zeitalter, Zürich, 1961, S. 1 ff.) Das Ergebnis liegt nun in einer Reihe von Gesetzesentwürfen zur Lärmbekämpfung in den verschii;-denen Gebieten vor (Flugzeuge, Fahrzeuge, Schiffe, Baumaschinen).
19 D a ß die Rechtswissenschaft die unausweichliche und unumgängliche Wechselbeziehung von Rechtsordnung und Technik noch nicht erfaßt hat, wird im Verlaufe dieser Studie noch mancherorts zu zeigen sein. Aufschlußreich ist dafür Fechners Darstellung der Realfaktoren (S. 53 ff., 87 ff., 139 ff.). Die von ihm herangezogenen Grundlagen (Biologie, Macht, Ö k o nomie), deren Bedeutung er anerkennt, gegen deren einseitige Überschätzung er sich jedoch mit Recht wendet, sind als Macht und Ökonomie von den technischen Mitteln, die dem menschlichen Geist zur Verfügung gestellt wurden, (militärische und industrielle Macht, Verkehrsverhältnisse usw.) abhängig. Aber auch die biologische Situation der Menschheit, die heute ganz andere Vorkehren und Voraussichten erfordert (Langlebigkeit, Verminderung der Säuglingssterblichkeit, Zunahme von Kulturkrankheiten), ist durch die Technik mitgestaltet. Hingegen zeigt sich bei Fechner ein ahnender Ansatz zum einheitlichen Erfassen von Rechtsordnung und Technik, wenn er von der Marxistischen Idee in Ihrer Zielsetzung, die dann in Wirklichkeit nicht eingehalten wurde, sagt (S. 67): „Diese Anwendung der Naturbcherrschungs-regeln auf den Bereich der menschlichen Gesellschaft — „die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern" — erscheint den Vertretern des Marxismus als die kopernikanische Wendung in der Sozialgeschichte der Menschheit." Welcher Unterschied dieser Aussage zu Radbruchs Kapitulation vor der Macht der Wirtschaft und der Technik (Einführung, S. 50): „Die von K a r l Marx und Friedrich Engels begründete materialistische Geschichtsauffassung aber, die theoretische Grundlage des sozialistischen Programms, hat uns
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1. Kapitel, 20—22
zwar nicht mit dem Anspruch eines apriorischen Dogmas, wohl aber als Hypothese von besonderer Fruchtbarkeit zum mindesten eine Ursache dieses Wechsels der Rechtsanschauungen kennen gelehrt. Die jeweils herrschenden Rechtsanschauungen sind in Wahrheit nur der Ausdruck des jeweiligen Machtverhältnisses im Klassenkampfe und mit ihm eine unwillkürliche Wirkung der Wandlungen der Wirtschaft und letzten Endes der Technik. Das Recht ist nicht eine Form, in die der Stoff der sozialen Verhältnisse sich willig pressen läßt, sondern die Form, die dieser Stoff unwiderstehlich annimmt. Der Gesetzgeber vermag also die soziale Ent wicklung nicht zu lenken, wohl aber kann er sie leichter und schneller gestalten, die Geburtswehen der Zeit beschleunigen'." Wohl kann der Gesetzgeber die technische Entwiddung nicht aufheben. Sie liegt im Wesen des Menschen, und Prometheus ist das erhabene Symbol. E r kann und soll aber die sozialen Folgen der Technik lenken.
20 Athenae, die aus dem Haupt des Göttervaters Zeus hervorgegangen ist und die mit den aus andern Kräften geborenen Mächten ringt (mit Helios als Repräsentanten der strahlenden Natur; mit Ares, dem Vertreter der Macht; mit Aphrodite, der äußerlich Schönen und mit Amor, dem sinnlich Bewegenden usw.), ist das Sinnbild der Vernunft, die die Menschen leitet und schützt. Sie vermag vieles, aber nicht alles; sie ist mächtig, aber nicht allmächtig.
21 M. Gutzwiller, Was ist Gerechtigkeit? in Elemente der Rechtsidee, ausgewählte Aufsätze und Reden, 1964, S. 257 f; zuvor erschienen in Zeitschrift für Schweizerisches Recht, n. F . , Bd. 72, 1953, S. 393 ff. weist darauf hin, „daß der Geist, der die Kausalität des Naturgeschehens begreift, von derselben Beschaffenheit ist, wie jener, der im Bereiche des Sollens Kultur, d. h. Verpflichtung schafft, indem er die Natur überwindet. Natura naturans und natura naturata sind wenigstens in dem Sinne zusammengehörig, als erst Schöpfung und Geschöpf, Natur und Geschichte, Wirklichkeit und Erlebnis das Gesamtbild jenes Kosmos ausmachen, dem unsere wissenschaftliche Bemühung gilt." Gemäß der hier vorgetragenen Auffassung wäre nicht von der „Überwindung", sondern von der „Entfaltung" der Natur zu sprechen. Der Mensch bringt bloß noch nicht wahrgenommene Möglichkeiten der natürlichen Ordnung im engeren (Naturwissenschaft) und im weiteren Sinn (z. B. zwischenmenschliche Beziehung) zur Wirksamkeit.
22 So Leibniz. G . Krüger sagt darüber (Leibniz, Die Hauptwerke, 1958, S. X X X ) : „Leibniz hatte das Recht des mathematisch-mechanischen E r kennens auf die Phänomene beschränkt, weil er die Welt als erschaffene, tatsächlidie ,Außenwelt ' gelten ließ. Indem er sich aber den Verstand Gottes in bloß gradueller Steigerung des menschlichen Verstandes denkt, gibt er auch seiner Metaphysik wieder einen mathematischen Charakter: auch die Zweckursachen als solche haben ihre ,Mathematik'. Die Monaden sind ,geistige Automaten'; die Organismen sind auch als solche Maschinen, wenn auch ,natürliche', für uns Menschen unauflösliche, bei
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1. Kapitel, 22
denen jeder Tei l selbst wieder eine ganze Masdiine ist." Leibniz warnte zwar selbst dodi wieder vor der rein mechanisdien Betraditungsweise und bekannte sich zu einem Grundsatz, der damals als nicht abgestreifte Fessel der Tradition und Religion gelten mochte, heute aber als prophetische Voraussage der neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnis gelten kann (Metaphysische Abhandlung, 18., a.a.O., S. 49): „Und obwohl sidi alle besonderen Naturphänomene von denen, die sich auf sie verstehen, mathematisch oder mechanisch erklären lassen, zeigt es sich dodi zusehends, daß nichtsdestoweniger die allgemeinen Prinzipien der körperlichen Natur und der Mechanik selbst metaphysisch, nicht geometrisdi sind, und daß sie als Ursachen der Erscheinungen in gewissen Formen oder unteilbaren Naturen, statt in der körperlichen oder ausgedehnten Masse, zu suchen sind, — eine Überzeugung, die geeignet ist, die medianische Philosophie der Modernen mit der weisen Vorsicht gewisser einsichtiger und wohlgesinnter Personen zu versöhnen, die nidit ohne Grund fürchten, daß man sich zum Schaden der Frömmigkeit allzu weit von den immateriellen Wesenheiten entfernt." Trotzdem ist im Ergebnis zu seiner Lehre zu sagen (G. Krüger, a.a.O. S. X X X I ) : „In der Wahl unter den möglichen Welten treibt Gott keine ,absolute notwendige' Mathematik, aber eine Art von Wahrscheinlichkeitsrechnung, durch welche die von seinem freien Entschluß bedingte ,moralische' oder ,hypothetisdie Notwendigkeit' des wirklichen Weltlaufs doch eine vernünftige Begründung im Sinne der ,moralIsdi' zwingenden Motivierung bekommt." D a das Denken in gesdilossenen logischen Rechtssystemen auch heute noch etwas Verführerisches hat, insbesondere unter dem Einfluß der Logistik und angesichts des Wunsches, sogar das Fällen von Urteilen Computers zu übertragen — wobei diese vorbereitend dem Richter und dem Wissenschaftler nützlich sein könnten, werden hier E . Husserls Worte zur Leib-nizschen Konzeption ebenfalls zitiert (Die Krisis, S. 44 f.): „Leibniz hat zuerst, freiUch seiner Zeit weit vorauseilend, die universale in sich geschlossene Idee eines höchsten abgebraisdien Denkens, einer ,mathesis universalis', wie er es nannte, erschaut und als Aufgabe der Zukunft erkannt, während sie erst in unserer Zeit einer systematischen Ausgestaltung mindestens nahegekommen ist. Ihrem vollen und ganzen Sinne nach Ist sie nichts anderes als eine allseitig durchgeführte (bzw. in ihrer eigenwesentlichen Total ität ins Unendliche durchzuführende) formale Logik, eine Wissenschaft von den In einem reinen Denken, und zwar in leerformaler Allgemeinheit, konstruierbaren Sinngestalten des ,Etwas überhaupt' und aus diesem Grunde von den nach formalen Elementargesetzen der Widerspruchslosigkeit solcher Konstruktionen als in sich widerspruchlos aufzubauenden ,MannigfaltIgkeIten', zuhödist Wissenschaft vom Universum der so erdenklichen ,Mannigfaltigkeiten' überhaupt." S. auch S. 56, S. 65: Hinweis auf die Entwicklung des physikalischen Rationalismus bis zur präzisierenden Explikation durch Leibniz und Chr. Wolff. Anschließend: „Wie der neue naturalistische Rationalismus
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1. Kapitel, 23
eine systematische Philosophie — eine Metaphysik, eine Wissenschaft von den höchsten und letzten Fragen, den Vernunftfragen, aber auch in eins damit den Tatsachenfragen — glaubte ,ordine geometrico' schaffen zu können, dafür haben wir ein klassisches Beispiel an Spinozas ,Ethica'." S. 75, S. 85: „Gehen wir nun den von Descartes auslaufenden Entwicklungslinien nach, so führt die eine, die ,rationalistische' über Male-hranche, Spinoza, Leibniz durch die Wolffsche Schule bis zu Kant, dem Wendepunkt. In ihr wirkt schwungvoll fort und entfaltet sich in großen Systemen der Geist des neuartigen Rationalismus, so wie er ihm von Descartes eingepflanzt war. Hier herrscht also die Oberzeugung in der Methode des ,mos geometricus', eine absolut gegründete, universale Erkenntnis von der als ein transzendentes ,Ansich' gedachten Welt verwirklichen zu können." S. 94 stellt Husserl fest, daß der große Vol l ender des nachcartesianischen Rationalismus Leibniz war, und daß Chr. Wolff ihm die wirksamste weithin überzeugendste Gestalt in systematisch lehrbuchmäßiger Darstellung gab. Dazu auch S. 100. S. 268 spricht Husserl das Verdict, das auch für die Meinung gilt, die Rechtsordnung sei a priori logisch geschlossen darzustellen: „Die Natur ist an sich, die sie ist, und ist an sich mathematisch, wieviel wir von Mathematik wissen oder nicht wissen, es ist alles im voraus entschieden als reine Mathematik und als Natur selbst. So nach der herrschenden und die Naturwissenschaft der Jahrhunderte leitenden Hypothese. Aber für die Welt als Welt, die auch geistige Wesen enthält, ist das Vorwegsein Widersinn, da ist ein Laplace'scher Geist undenkbar. Die Idee einer Ontologie der Welt, die Idee einer objektiven universalen Wissenschaft von der Welt, die hinter sich ein universales Apriori hätte, welchem gemäß jede mögliche faktische Welt more geometrico erkennbar wäre — diese noch Leibniz verführende Idee — ist ein nonsens."
23 F . Wleadcer, S. 193, sagt zu Wolffs Methode: „Seine Darstellung scheidet durdi eine lüdcenlose Deduktion aller Naturrechtssätze von den Axiomen bis zu den geringsten Details alle Induktiven und empirischen Elemente aus. Jeder einzelne Satz ist nun in strengstem logischem Fortgang aus den letzten Obersätzen abgeleitet und beansprucht damit die Exaktheit des geometrischen Beweises, der durch logische Schlußfolgerungen per exclu-sionem, durch den Ausschluß des Gegensatzes, erzielt wird. Es entsteht auf diese Weise ein geschlossenes System, dessen Geltungsgrund die logische Widerspruchsfreiheit aller seiner Aussagen ist und das deshalb völl ig Inhaltslos sein würde, wenn es nicht unvermerkt von der materialen Ethik des Grotius und Puffendorf zehrte." „Die Wirkungen dieser Methode waren außerordentlich. Sie gab den Systemgrundriß für die preußische Gesetzgebung und, durdi Vermittlung der gemeinrechtlichen Schüler Wolffs, auch für die Pandektenwissenschaft und somit auch für das Bürgerliche Gesetzbuch und alle ihm verwandten Gesetzbücher. Ferner: Seit Wolff ist die Forderung nach der logischen Ableitung von Entscheidungen aus Begriffen nicht mehr aus der positiven Rechtswissenschaft verschwunden. War
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1. Kapitel, 24—26
die methodisdie Grundfigur der alten Reditswissensdiaft der analytisdie Sdiluß aus den autoritären Quellentexten, so wird vornehmlidi durdi ihn der letzte wissensdiaftliche Entscheidungsgrund, der synthetische, d. h. systemgerecht auf die letzten Obersätze gegründete Begriff: die einseitige Zuspitzung des ,kompositorischen' Elements, auf dem seit Galilei und Descartes die neue Wissenschaft Europas beruht. Wolff ist hierdurdi der Vater der .Begriffs'- oder ,Konstruktionsjurisprudenz' geworden, welche die Pandektenwissenschaft des 19. Jhs. bis zu Windsdieids Pandekten und V . Tuhrs ,Allgemeinem Teil' überwiegend beherrscht und trotz schwerer Methodenkrisen noch heute wirksam ist."
Diese Stelle ist für das Verständnis der heutigen Rechtswissenschaft von allergrößter Bedeutung. Wieacker weist (S. 194) auf den Gewinn hin, den diese Methode durch die Wendung von einer autoritären zu einer rationalen Rechtsdogmatik brachte. Es ist später darzutun, daß beide Systeme nur deshalb möglich waren, weil die durch sie repräsentierten Ansichten und Begriffe Lebensverhältnissen entsprachen, die zuerst unmittelbar als Phänomene erfaßt waren. Unter dieser Voraussetzung leistet die Begriffsjurisprudenz auch heute noch wertvolle Dienste.
24 F . Wieacker, S. 333, der das Erscheinen dieser beiden Formen in der Rechtswissenschaft mit der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts verbindet. Zum Reditsbiologismus Fechner, S. 22 ff.
25 W. ITeisenberg, S. 10: „. . ., die Natur erschien dem 19. Jahrhundert als ein gesetzmäßiger Ablauf in Raum und Zeit, bei dessen Beschreibung vom Menschen und seinem Eingriff in die Natur wenn nicht praktisch, so doch grundsätzlich abgesehen werden kann." S. 18: „Am sdiärfsten aber tritt uns diese neue Situation eben in der modernen Naturwissenschaft vor Augen, in der sich, wie ich vorhin geschildert habe, herausstellt, daß wir die Bausteine der Materie, die ursprünglich als die letzte objektive Realität gedacht werden, überhaupt nicht mehr ,an sich' betrachten können, daß sie sich irgendeiner objektiven Festlegung in Raum und Zeit entziehen und daß wir im Grunde immer nur unsere Kenntnis dieser Teilchen zum Gegenstand der Wissenschaft machen können."
26 vgl. dazu v. Weizsäcker, S. 84 f.: „Wir haben also nicht auf die Anschaulichkeit der Naturbeschreibung verzichtet, sondern nur darauf, den an-sdiauüdien Bestimmungsstücken der Natur einen vom jeweiligen Beobachtungszusammenhang unabhängigen, ,objektiven' Sinn zuzuschreiben." S. 85: „Wenn wir die klassische Physik als kausal bezeichnen, so schränken wir damit den Begriff der Kausalität ebenso ein wie oben den der Anschaulichkeit. Kausalität heißt in der klassischen Physik nichts weiter als Existenz eines eindeutigen funktionalen Zusammenhangs zwischen den Zuständen zu verschiedenen Zeiten: ,Ist der Zustand eines abgeschlossenen Systems in einem Zeitpunkt vollständig bekannt, so kann man den Zustand des Systems in jedem früheren oder späteren Zeitpunkt grundsätzlich berechnen.' Dieser Konditionalsatz wird nun in der Quantenmechanik nicht falsch, sondern unanwendbar, weil die Voraussetzung
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1. Kapitel, 27—28
niemals realisiert ist: Der Zustand eines Systems kann nicht im klassischen Sinne vollständig bestimmt werden, da die Gewinnung einer Kenntnis (z. B. des Ortes eines Teilchens) die der dazu ,komplementären' Kenntnis (z. B. des Impulses) ausschließt. Der Konditionalsatz selbst gehörte aber eigentlich nur dem klassischen ,Weltbild' und nicht der Praxis an, in der ja niemals ein Zustand vollständig bekannt war. Man konnte vielmehr praktisch nur so viel berechnen, als aus den jeweils bekannten Bestimmungsstücken des Systems folgte, d. h. man konnte nur diejenigen Folgerungen ziehen, auf welche die jeweils unbekannten Bestimmungsstücke keinen Einfluß haben konnten." Ebenso Heisenberg, S. 19: „Die mathematischen Formeln bilden dabei allerdings nicht mehr die Natur, sondern unsere Kenntnis von der Natur ab, und insofern hat man auf eine seit Jahrhunderten übliche Art der Naturbeschreibung verzichtet, die noch vor wenigen Jahrzehnten als das selbstverständliche Ziel aller exakten Naturwissenschaft gegolten hätte." D a trifft, wie sich nachher ergeben wird, auch für die rechtswissenschaftlichen Aussagen betreffend den Rückgriff auf die Anwendung von vorher erarbeiteten Regeln und Grundsätzen zu.
27 A. Einstein — L . Infeld, S. 182: „Auf die Grundideen kommt es bei der Aufstellung einer physikalischen Theorie in erster Linie an. In wissenschaftlichen Werken über Physik wimmelt es zwar von komplizierten mathematischen Formeln, doch entspringt jede physikalische Theorie aus einem Denkvorgang, einer Idee, und nicht etwa aus Zahlengebilden." S. 29: „Physikalische Begriffe sind freie Schöpfungen des Geistes und ergeben sidi nicht etwa, wie man sehr leicht zu glauben geneigt ist, zwangsläufig aus den Verhältnissen in der Außenwelt ." E . Husserl, Erste Philosophie, S. 191: „In gewissem Sinn verfährt ja jeder wissenschaftliche Forscher konstruktiv und regressiv; er tut es in seinen erfindenden Gedankengängen. Alle Erfindung setzt voraus Antizipation, man kann nichts sudien und zu erzeugen suchen, ohne im voraus eine Leitvorstellung für das zu Suchende, zu Erzeugende zu haben."
28 Diese Phänomene hat die Rechtswissenschaft darzustellen und über ihre Ordnung Auskunft; zu geben. Sie darf sich somit nie von ihnen lösen, sich nicht über sie erheben. A. A . z. B. R. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, S. 5 f.: „Denn Wissenschafl ist jedes Bewußtsein, das auf Einheit geht und in der Umformung zu ihr sich vollendet. Durch das Streben nach Einheit scheidet sie sich von bloßer Kunde. Sie wird reine Wissenschaft heißen, oder Theorie im besseren Sinne des Wortes, wenn die in das Auge gefaßte Einheit unbedingt ist und die Idee einer stofflich befreiten Vollkommenheit darstellt. Und sie ist zum andern eine technische Wissenschaft, falls sie sich mit einer Erkenntnis zufrieden gibt, welche in jedem Augenblicke auf einen endlich begrenzten Stoff eingeschränkt ist. Aber diese freiwillige Selbstbegrenzung darf nicht zum Prinzip erhoben werden. Wer dieses tut — und mancher juristische Positivist hat es ge-
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1. Kapitel, 29—30
tan —, der erwählt sidi zu dem Endziele seines Schaffens einen Gegenstand, der nur als ein bedingtes Mittel zu gutem Ende sachlichen Wert haben kann." Auch G . Husserl (Recht und Welt, S. 77) stellt einen verhängnisvollen Lehrsatz auf: „Gegenstände der Wissenschaft (welcher Erkenntnisregion immer) sind nicht Gegebenheiten der in natürlicher Erfahrung sich erschließenden Welt." Hingegen trifft die folgende Aussage zu: „Es bedarf einer im Wesen neuen Einstellung des Menschen, damit Wissenschaft für ihn sei." Wie sich nachher ergeben wird, sind der Rechtswissenschaft dieselben Phänomene vorgegeben, die sich auch bei der natürlichen Erfah-rensweise zeigen. Der Wissenschaftler hat sie aber in anderer Weise wahrzunehmen. Unrichtig ist daher auch der Satz (a.a.O. S. 77): „Rechtliche Gegenstände sind grundsätzlich naiver Erfahrung nicht erreichbar." Verträge, unerlaubte Handlungen, Erfindungen usw. sind sowohl rechtliche Gegenstände als auch naiver Erfahrung zugänglich. Das trifft ebenso für alle der Rechtsordnung vorgegebenen Phänomene zu (Teil I I ) , die somit ebenfalls rechtliche Gegenstände sind.
29 W. Heisenberg, S. 18: „Das Ziel der Forschung ist also nicht mehr die Erkenntnis der Atome und ihrer Bewegung ,an sich' d. h. abgelöst von unserer experimentellen Fragestellung; vielmehr stehen wir von A n fang an in der Mitte der Auseinandersetzung zwischen Natur und Mensch, von der die Naturwissenschaft ja nur ein Teil ist, so daß die landläufigen Einteilungen der Welt in Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt , Körper und Seele nicht mehr passen wollen und zu Schwierigkeiten führen. Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst." S. 21: „Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaft in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich also eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehungen zur Natur." „Die Naturwissenschaft steht nicht mehr als Beschauer vor der Natur, sondern erkennt sich selbst als Teil dieses Wechselspiels zwischen Mensch und Natur. Die wissenschaftliche Methode des Aussonderns, Erklärens und Ordnens wird sich der Grenzen bewußt, die ihr dadurch gesetzt sind, daß der Zugriff der Methode ihren Gegenstand verändert und umgestaltet, daß sich die Methode also nicht mehr vom Gegenstand distanzieren kann. Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein."
30 A. A. W. Burckhardt, S. 34 ff. E r sieht den Gegensatz von Naturwissenschaft und Rechtswissenschaft darin, daß erstere eine Wissenschaft von Tatsachen, letzere eine solche von Postulaten sei. „Die Rechtswissenschaft tritt umgekehrt mit dem sinnvollen Postulat der Gerechtigkeit an die gegebenen Vorsdiriften des geltenden Rechts (oder an die zu gebenden der lex ferenda) heran und sucht in ihnen einen rechtlichen, d. h. unter
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dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit sinnvollen Gedanken. Die Idee des Gerechten, mit der sich das gegebene Einzelne erst als sinnvoll erklärt, kann nicht aus Erfahrung durch Abstraktion gewonnen werden; weder der Begriff des Rechts überhaupt, noch die Begriffe der einzelnen Redits-sätze." Das trifft audi für die naturwissensdiaftlidien Entdediungen und erst recht für die Erfindungen zu. Sie werden intuitiv jenseits des Erfahrenen erfaßt und nachher verifiziert. Die Erfindungen bringen überdies völ l ig Neues. Die Rechtswissenschaft, deren höchste Stufe das Werten ist, setzt aber gleich den Naturwissenschaften die Kenntnis der Rechtsmaterie, d. h. des zu formenden Stoffes, der existenziell notwendigerweise gegebenen Lebensverhältnisse und Existenzformen (vgl. 3. und 4. Kapitel) voraus. Sie ist also zum großen Teil Wissenschaft von Tatsachen. Vgl. ferner a.a.O. S. 39 ff. Burckhardt läßt die Rechtswissenschaft nur dann, wenn sie über das geltende positive Recht Auskunft gibt, soweit sie dessen Sätze als Tatsachen zu berücksichtigen hat, als Tatsachenwissenschaft gelten, die mit der induktiven Methode arbeiten darf.
31 W. Heisenberg, S. 32. 32 A. Einstein - L . Infeld, S. 195. 33 A. Troller, Ist der immaterialgüterrechtliche „numerus clausus" der Rechts
objekte gerecht?, in lus et Lex, Festschrift für Max Gutzwiller, 1959, S, 769 ff.
34 Die Naturwissenschaftler, die für das technische Geschehen verantwortlich sind, haben also selber die Ziele und Taten der Technik nach menschlichen Werten und nidit nur nach der autonomen technischen Vollkommenheit zu würdigen und demgemäß zu bestimmen. Sie haben auf der dritten Stufe, die der reditswissenschaftlich-ethisdien entspricht, zu denken. Eine Zusammenarbeit von Natur- und Rechtswissenschaft im Sinne einer gemeinsamen Schau der menschlichen Bedürfnisse wäre am Platz. Diese Zusammenarbeit hat in mancher Hinsicht begonnen (Sicherungsvorrichtungen an technischen Werken; Vorkontrolle von Arzneimitteln usw.). Die Rechtswissenschaft ist nicht imstande, der Technik die Wertordnung vorzuschreiben, wie es K . Oftinger (a.a.O., S. 32) verlangt. Erstere hat nicht die Einsichten um zu erkennen, was die Technik unter den gegebenen Umständen nicht nur gegen, sondern auch für den Menschen als geistiges und natürliches Wesen zu tun vermag. So wie am Erfolg eines technischen Planes zahlreiche Spezialisten mitwirken, die über das Tun des andern spezialwissenschaftlich nicht Bescheid wissen, aber das Ziel zu erkennen und zu fördern vermögen, haben auch alle geistig Tätigen gemeinsam die Zukunft der Menschheit zu planen und immer von neuem vorzubereiten und zu gestalten.
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2. K a p i t e l
1 V . Weizsäcker sagt älinliches von der Erkenntnisarbeit im Gebiet der heutigen Physik aus (S. 98): „Unsere Erkenntnisarbeit gleidit dem Entwirren eines Garnknäuels, bei dem wir die Enden nicht in der Hand haben, sondern von ein paar freigelegten Fäden in der Mitte nach beiden Seiten weiterschreiten müssen."
2 von Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, zitiert von Radbruch, S. 249.
3 vorn, S. 4 E . Husserl, Die Krisis, S. 204: „Aber der neuzeitliche Mensch, als der
Mensch aus der Prägung der Wissenschaft, verlangt eine Einsichtigkeit, die, wie das Bild vom Sehen richtig andeutet, eine Evidenz des .Sehens' der Ziele und Wege, und auf dem Wege in jedem Schritte, verlangt." Ferner: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, in Husserliana, Bd. V I , S. 333: „Einerseits ist das Wesentlichste der theoretischen Einstellung des philosophischen Menschen die eigentümliche Universal ität der kritischen Haltung, die entschlossen ist, keine Tradition fraglos hinzunehmen, um sogleich für das ganze traditionell vorgegebene Universum nach dem an sich Wahren, einer Idealität, zu fragen."
5 Piaton, Der Sophist (268 C —268 D , Bd. I I , S. 740): „Also die Nachahmerei in der zum Widerspruch bringenden Kunst des verstellerischen Teils des Dünkels , welche in der trügerischen Art von der bildnerischen Kunst her nicht als die göttliche, sondern als die menschliche, tausendkünstlerische Seite der Hervorbringung in Reden abgesondert ist: wer von diesem Geschlecht und Blute den wahrhaften Sophisten abstammen läßt, der wird, wie es scheint, das Richtige sagen."
6 a) Sokrates und Piaton Piaton, Theiatetos (209 D - 210 D , Bd. I I , S. 660 f.): Sokrates: „Wer also gefragt wird, was Erkennen ist, der soll, wie es scheint, antworten: Richtige Vorstellung mit Erkenntnis der Verschiedenheit verbunden. Denn das wäre nun nach jenem das Hinzufügen der Erklärung." Theiatetos: „So scheint es." Sokrates: „ U n d das ist doch auf alle Weise einfältig, denen, welche die Erkenntnis suchen, zu sagen, sie sei richtige Vorstellung verbunden mit Erkenntnis, gleichviel ob des Unterschiedes oder sonst etwas andern. Weder also die Wahrnehmung, o Theiatetos, noch die richtige Vorstellung, noch die mit der richtigen Vorstellung verbundene E r klärung kann Erkenntnis sein . . ." Sokrates: „Gedenkst du nun, Theiatetos, nach diesem wiederum mit anderem schwanger zu werden, so wirst du, wenn du es wirst, dann Besseres bei dir tragen vermöge der gegenwärtigen Prüfung — wenn du aber leer bleibst, denen, welche dich umgeben, weniger beschwerlich sein und sanftmütiger, und besonnenerweise
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2. Kapitel, 6
nicht glauben zu wissen, was du nicht weißt . Denn nur so viel vermag diese meine Kunst, mehr aber nidit, noch verstehe ich so etwas wie die andern großen und bewunderten Männer von jetzt und ehedem." Piaton, Parnienides (166 C , Bd. I I , S. 560: „So wollen wir denn auch einerseits dies aussprechen und andererseits unser Gesamtergebnis dahin zusammenfassen, daß, wie es scheint, das Eins mag nun sein oder nicht sein, sowohl es selbst als alles Andere, jedes für sich und alles in bezug aufeinander, alles auf alle Weise ist und nicht ist und zu sein scheint und nicht scheint." b. Kant
U m Kants Aussagen zu verstehen, sind die grundlegenden Begriffe, die die drei entscheidenden Erkenntnisvorgänge erfassen, zu erwähnen: Fol gende Stellen aus der Krit ik der reinen Vernunft geben darüber Auskunft. Der Leser wird, wenn er das Bedürfnis nach tieferem Verständnis hat, bei Kant weiterlesen. Krit ik der reinen Vernunft, Die Transzendentale Logik, Einleitung (B 74, 75,76, A 50,51,521, Bd. I I , S, 97 f.): „Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende A n schauung, noch Anschauung ohne Begriffe, eine Erkenntnis abgeben können. Beide sind entweder rein oder empirisch. Empirisch, wenn Empfindung (die die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes voraussetzt) darin enthalten ist, rein aber, wenn der Vorstellung keine Empfindung beige-misdit ist. Man kann die letztere die Materie der sinnlichen Erkenntnis nennen. Daher enthält reine Anschauung lediglich die Form, unter welcher etwas angeschaut wird, und reiner Begriff allein die Form des Denkens eines Gegenstandes überhaupt. Nur allein reine Anschauungen oder Begriffe sind a priori möglich, empirische nur a posteriori." „Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen: so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand. Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der andern vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der A n -
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2. Kapitel, 6
schauung beizufügen), als seine Anschauungen, sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Deswegen darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große Ursache, jedes von dem andern sorgfältig abzusondern und zu unterscheiden. Daher unterscheiden wir die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d. i. der Ästetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d. i der Logik." Kant hält, was im Verlauf dieser Studie sich als überaus wichtig erweist, klar auseinander: die Rezeptivität und damit die Rezeption, die Möglichkeit des Empfangens von Vorstellungen einerseits und das Vermögen, derartige Vorstellungen selbst hervorzubringen und den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, den Verstand andrerseits. Der Verstand hat die Aufgabe, die Vorstellungen zur Sprache zu bringen, sie mit Begriffen zu verbinden und somit auch, den Inhalt dieser Begriffe prüfend zu erläutern und zu sagen, wie das geschieht (Logik). Der Verstand arbeitet also auf der ersten Stufe des Erkenntnisvorganges. Die Vernunft vollendet auf der nächsten Stufe des Erkenntnisvorganges jeweilen das Werk der Erkenntnis, soweit das dem Menschen im allgemeinen und dem einzelnen Forscher gelingt.
Krit ik der reinen Vernunft, Einleitung, V I I . Idee und Einteilung einer besonderen Wissenschaft; unter dem Namen einer Krit ik der reinen Vernunft (B 24, A Bd. I I , S. 62): „Denn ist Vernunft das Vermögen, welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt. Daher ist reine Vernunft diejenige, welche die Prinzipien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält." Transzendentale Dialektik. I I . Von der reinen Vernunft als dem Sitze des transzendentalen Scheins. A . Von der Vernunft überhaupt. (B 359, A 302, Bd. I I , S. 314): „Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf einen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben E i n heit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstände geleistet werden kann."
Krit ik der reinen Vernunft, Transzendentale Dialektik. Erstes Buch. Von den Begriffen der reinen Vernunft (B 367, 368, A 310, 311, Bd. I I , S. 319 f.): „Verstandesbegriffe werden auch a priori vor der Erfahrung und zum Behuf derselben gedacht; aber sie enthalten nichts weiter, als die Einheit der Reflexion über die Erscheinungen, in sofern sie notwendig zu einem möglichen empirischen Bewußtsein gehören sollen. Durch sie allein wird Erkenntnis und Bestimmung eines Gegenstandes möglich. Sie geben
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2. Kapitel, 6
also zuerst Stoff zum Schließen, und vor ihnen gehen keine Begriffe a priori von Gegenständen vorher, aus denen sie könnten geschlossen werden. Dagegen gründet sich ihre objektive Realität doch lediglich darauf: daß, weil sie die intellektuelle Form aller Erfahrung ausmachen, ihre Anwendung jederzeit in der Erfahrung muß gezeigt werden können. Die Benennung eines Vernunftbegriffs aber zeigt schon vorläufig: daß er sich nicht innerhalb der Erfahrung wolle beschränken lassen, weil er eine Erkenntnis betrifft, von der jede empirische nur ein Teil ist (vielleicht das Ganze der möglichen Erfahrung oder ihrer empirischen Synthesis), bis dahin zwar keine wirkliche Erfahrung jemals völ l ig zureicht, aber doch jederzeit dazu gehörig ist. Vernunftsbegriffe dienen zum Begreifen, wie Verstandesbegriffe zum Verstehen (der Wahrnehmungen)." Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Dialektik. Von der E n d absicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft. (B 729, 730, A 701, 702 Bd. I I , S. 604); „So enthält die reine Vernunft, die uns anfangs nichts Geringeres, als Erweiterung der Kenntnisse über alle Grenzen der Erfahrung zu verspredien schiene (Akad.-Ausg.: „schien"), wenn wir sie recht verstehen, nichts als regulative Prinzipien, die zwar größere Einheit gebieten, als der empirische Verstandesgebrauch erreichen kann, aber eben dadurch, daß sie das Ziel der Annäherung desselben so weit hinausrücken, die Zusammenstimmung desselben mit sich selbst durdi systematische Einheit zum höchsten Grade bringen, wenn man sie aber mißversteht, und sie für konstitutive Prinzipien transzendenter Erkenntnisse hält, durch einen zwar glänzenden, aber trüglichen Schein, Überredung und eingebildetes Wissen, hiemit aber ewige Widersprüdie und Streitigkeiten hervorbringen."
Krit ik der reinen Vernunft, Transzendentale Methodenlehre. Des ersten Hauptstücks erster Abschnitt. Die Disziplinen der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche (B 741, A 713, Bd. I I , S. 613): „Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunflerkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Konstruktion der Begriffe." B 742, A 714, S. 614: „Die philosophische Erkenntnis betrachtet also da Besondere nur im Allgemeinen, . . ." D a Kant die Rechtswissenschaft bis heute beeinflußte, und die Spaltung in die rein formale und in die rein ethische Betrachtungsweise sein Werk ist, war es notwendig, wenigstens einige Stellen seines Weges zu erwähnen. Diese vermögen das System nur anzudeuten. Doch tun sie dar, daß Kant gerade das beiseite läßt, was die Grundlage dieser Studie bildet, das Anknüpfen an den zu ordnenden menschlichen Beziehungen als Gegenstand einer übereinstimmenden menschlichen Erfahrung. E r trennt die Gesetze der Natur von jenen der Freiheit und nennt erstere Physik oder Naturlehre, die zweite Ethik oder Sittenlehre. (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Vorrede (BA I I I , I V , V ; Bd. I V , S. 11). Das Loslösen von aller Betrachtung der menschlichen Beziehungen und damit auch vom Wedisel derselben legt er (BA V I I I , I X , a.a.O. S. 13 f.) mit aller E n t -
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2. Kapitel, 7—8
schiedenheit dar: „Also unterscheiden sich die moralischen Gesetze, samt ihren Prinzipien, unter allem praktischen Erkenntnisse von allem übrigen, darin irgend etwas Empirisches ist, nicht allein wesentlich, sondern alle Moralphilosophie beruht gänzlich auf ihrem reinen Teil, und, auf den Menschen angewandt, entlehnt sie nicht das mindeste von der Kenntnis desselben (Anthropologie), sondern gibt ihm, als vernünftigem Wesen, Gesetze a priori, die freilich noch durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft erfodern, um teils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, teils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen, da diese (Akad.-Ausg.: „dieser"), als selbst mit so viel Neigung affiziert, der Idee einer praktischen reinen Vernunft zwar fähig, aber nicht so leicht vermögend ist, sie in seinem Lebenswandel in concreto wirksam zu madien." K r i d k der praktisdien Vernunft, Vorrede (A 4, 5, Bd. I V , S. 107 f.): „Der Begriff der Freiheit, sofern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nur den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft aus, und alle anderen Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), weldie, als bloße Ideen, in dieser ohne Haltung bleiben, sdiließen sich nun an ihn an, und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist, denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz. Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der spek. Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen."
7 E . Husserl, Kants kopernikanische Umdrehung und der Sinn einer solchen kopernikanisdien Wendung überhaupt (Husserliana, Bd. V I I , S. 229): „Seine transzendentale Ethik enthält einen der größten Fortschritte, die die Ethik je gemacht hat; sie ist anzusehen als erster Durchbruch einer formalen Ethik, die zur konkreten Ethik eine ähnliche Stellung hat wie die formale Logik zu den sachhaltigen Wissenschaften. Aber freilich hat er sidi darin getäuscht, diese leere und dodi theoretisch höchstwertige formale Ethik schon für Ethik selbst gehalten zu haben." Diese Kritik übersieht, daß Kants Ethik, so z. B. der kategorische Imperativ, doch auch einen materiellen Gehalt hat, was nachher darzutun ist.
8 E . Husserl, Die Krisis, S. 202 f.: „Einen wirklichen Anfang, gewonnen durch eine radikale Ablösung von allen wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Traditionen, hat Kant nicht erreicht. E r dringt nicht durch zu der absoluten, alles Seiende nach Sinn und Geltung konstituierenden Subjektivität und der Methode, sie in ihrer Apodiktiz i tät zu erreichen, zu befragen und apodiktisch auszulegen. Notwendig war von da ab die Geschichte dieser Philosophie ein fortgesetztes Ringen eben um den klaren und echten Sinn der durchzuführenden transzendentalen Umwen-dung und Arbeitsmethode, anders ausgedrückt: um die echte ,transzen-
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2. Kapitel, 9—16
dentale Reduktion'. Die Gefahr der eindrucksvollen und doch unklaren Evidenzen oder, wenn man will , des Durchleuditens der reinen Evidenzen in Form vager Antizipationen während des Arbeitens mit Fragestellungen auf ungeklärtem Boden( dem der ,Selbstverständlichkeiten') haben uns schon unsere kritischen Reflexionen über Kant deutlich gemadit, und damit [ist] auch schon verständlich [geworden] sein Abgedrängtwerden in eine mythische Begriffsbildung und in eine Metaphysik des gefährlichen, jeder echten Wissenschaft feindlichen Sinnes. Alle transzendentalen Begriffe Kants, die des Ich der transzendentalen Apperzeption, der verschiedenen transzendentalen Vermögen, der des ,Dinges an siA.' (des den Körpern wie Seelen zugrundeliegenden), sind konstruktive Begriffe, die einer letzten Klärung prinzipiell widerstehen."
9 E . Husserl, Die Krisis, S. 5 f., 11, 16 f. 10 Die materialistische Auffassung ist zu trennen in den mechanischen Mate
rialismus, der die Welt nur rein chemisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sieht, und den dialektischen Materialismus, der die höheren Bereiche gelten läßt und das Bewußtsein als „unmateriell" anerkennt. „Unter Bewußtsein versteht er einen vielschichtigen Prozeß, der verschiedene psychische Tätigkeiten in sich schließt: die Empfindung, die Wahrnehmung, Vorstellung, das begriffliche Denken, das Gefühl und das Wollen." (So G . A. Wetter, Sowjetideologie heute, I , Fischer-Bücherei, Nr. 460, S. 48, unter Hinweis auf das offizielle russische Lehrbuch „Grundlagen der marxistischen Philosophie", 1960, S. 172.
11 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. 1. Band. Erstes Buch. Der Welt als Vorstellung erste Betrachtung: „Die Welt ist meine Vorstellung." Zweites Buch. Der Welt als Wille erste Betrachtung. 2. Band. Ergänzungen zum zweiten Buch Kap. 19: „Der Wille, als das Ding an sich, macht das innere wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst ist er jedoch bewußtlos."
12 E . Husserl; u .a . : Ideen, Bd. I , S. 60: „Immerfort bin ich mir vorfindlich als jemand, der wahrnimmt, vorstellt, denkt, fühlt, begehrt usw . . . ." , S. 194 f.; Cartesianische Meditationen, S. 66 ff., 76 ff., 84, 100 ff.
13 E . Husserl: Ideen, Bd. I , S. 137 f.; Erste Philosophie, S. 104 f. Das Idi ist die absolut sichere Grundlage der Seinsgewißheit: „Hier hätten wir also eine absolut apodiktische, in dem Titel ego mitbeschlossene Seinssphäre, und nicht etwa bloß den einen axiomatischen Satz ,ego cogito' oder ,sum cogitans'" (E . Husserl, Die Krisis, S. 79).
14 E . Husserl, Ideen, S. 57 ff. 15 Auch Kant anerkannte die Realität der „äußeren Objekte" u. a. in Krit ik
der reinen Vernunft: Transzendentale Ästhetik, allgemeine Anmerkungen. I I I (B 69, Bd. I I , S. 93 f.). Ferner Transzendentale Analytik, Widerlegung des Idealismus (B 274 ff., Bd. I I , S. 254 ff.).
16 E . Husserl, Ideen, S. 61 f.; Erste Philosophie, S. 130: „Also daß es im wahren und wirklichen Sinn allgemeines Denken, allgemeines Vorstellen, allgemeines Anschauen gibt, ist nicht die Erfindung eines verstiegenen
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2. Kapitel, 17
Platonismus, sondern eine Lehre, die uns das Bewußtsein selbst gibt, wofern wir es nur befragen, und nadi dem befragen, was in ihm selbst als Meinung und Leistung in absoluter Evidenz liegt."
17 E . Husserl, Die Krisis, Beilage X I I I , S. 438 f.: „ N o d i ein Wort sei hier gestattet, das in der Tat notwendig ist zur Reditfertigung einer gewissen Trübung der reinen Sadilichkeit des Ganges zur Emporleitung zur trans-zendental-phänomenologisdien Philosophie. Sie liegt darin, daß idi gewisse Vorurteile, als in unserer philosophisdien Gegenwart herrsdiende oder als Vorurteile mäditig aufstrebende moderne Bewegungen, darum berüdcsiditigen muß, weil sie von vornherein die Leser dieser Sdirifb unfähig madien, mit mir die Sdiritte und Methoden und allen Theorien voranliegenden Anweisungen und in ihnen ursprünglidi zu leistende Denkarbeit wirklidi zu vollziehen, die allen Theorien redite Rechtfertigung geben, also auch zu einer Philosophie wirklich hinführen können, die jenen Aufgabensinn evident erfüllt. Wer im voraus dessen ganz gewiß ist, daß die zu begehenden Wege nur als illusionär zu bewerten seien, worauf er seine durch den Chorus der Zustimmenden in ihre Suggestivkraft verstrickten Argumente hat, der gibt sich nicht mehr die Mühe des Versuchs, wirklidi mitzugehen und im Gehen wirklich zu erproben, daß er festen Boden unter den Füßen hat und daß er weitergekommen ist in Erkenntniserwerben, die er nie und nimmer preisgeben wdl. Rein sachliche Wegleitung hat sidi eigentlich um diese Vorurteile nicht zu kümmern, so wie der Hochtourist sich nidit auf Auseinandersetzungen mit denen einläßt, die ihm beweisen wollen, daß seine versuchten und wiederholt ausgeführten Wege überhaupt ungangbar seien. Indessen, da Philosophie nicht eine private Sache ist und ihrem eigenen Sinn gemäß, nach dem die wahre Methode gewonnen ist, nur in der Arbeitsgemeinschaft der Philosophen sich in unendlichem Progreß verwirklichen kann, so ist für jeden Philosophen auch die Ermöglichung dieser Gemeinschaft, also die Möglichkeit der einsichtigen Aufnahme der gewonnenen Methode, in seiner Pflicht beschlossen. Es ist also in einer Einleitung in die Philosophie nicht nur zu leisten die Aufgabe der strengen und getreuen Darstellung des Entdeckungsweges zur wahren Philosophie oder, was dasselbe, zu ihrer wahren Methode. Unvermeidlidi muß sich damit verflechten ein wirksames Außer-Spielsetzen der Vorurteile, die für eine sachliche und dabei radikale Begründung blind machen. Freilich, die Mittel einer Entfaltung des in diesen Vorurteilen und Argumentationen verborgenen Widersinnes sind am Anfang nicht schon bereit, und so besteht die Entkräftigung zunächst in ,unsachlichen', eine rein sachliche Darlegung überschreitenden Vordeutungen und Meinungen, die betreffenden Vorurteile vorläufig nicht als zweifellose Selbstverständlichkeiten zu benützen, da es gerade die Aufgabe der Untersuchung selbst sein wird, sie und ihresgleichen überhaupt systematisch in Frage zu stellen, und zwar an sie Fragen und Antworten eines radikalen Stiles zu richten, die in der Na iv i tä t des bisherigen Philosophierens nie zugänglich
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2. Kapitel, 18-20
sein konnten, und durch den erst eine echte Apodikt iz i tät erreidit wird, die allein die tiefste Intention der als Philosophie gestellten Aufgabe erfüllt, sofern sie zu bestreiten und negieren zu wollen ebensoviel hieße, als etwas zu bestreiten, ohne was das philosophierende Idi nicht Ich sein könnte. Idi erwähne sogleidi das sdilimmste dieser Vorurteile, es betrifft im voraus die transzendentale Philosophie als prätendierter Weise schon vorhandene Philosophie, nämlich im voraus meint man schon zu wissen, um was es sich handelt, was da als apodiktisch begründete Philosophie werden soll. Man hat günstigstenfalls meine Schriften gelesen oder, was noch häufiger ist, sich bei meinen Schülern, die, als von mir selbst belehrt, doch zuverlässige Auskunft geben können, Rat geholt; so orientiert man sich nach Interpretationen und Kritiken von Scheler, von Heidegger und anderen und erspart sich das allerdings sehr schwierige Studium meiner Schriften." M. Heidegger (Sein und Zeit, S. 27 ff.) spricht sich über die phänomenologische Methode seiner Untersuchung aus und weist ihre Anwendung (insbesondere S. 356 ff.) vor. E r erläutert sie aber nicht eingehender. Vgl. zu seinem Hinweis auf Husserl, vorn (Einleitung N i l ) . A. Diemer, Die Phänomenologie und die idee der Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 247 ff., versucht auch Husserl auf dem Weg von der Phänomenologie zur Metaphysik und Religion zu zeigen. Damit habe sich, vom Ursprung der Entwicklung her gesehen, das Anliegen der Phänomenologie in ihr Gegenteil verkehrt (S. 250). Wolle sie aber wieder Philosophie sein, dann ergebe sich die Notwendigkeit erneuter kritischer Sichtung des ursprünglichen Ansatzes, unter Berücksichtigung ihrer späteren Weiterentwicklung, so gesehen bedürfe es einer Reformation der Phänomenologie als Philosophie im Sinne strenger Wissenschaft. Vgl. auch A . Diemer, Edmund Husserl, S. 9 ff. Es mag sein, daß Husserl der Sehnsucht nach metaphysischer Erkenntnis da und dort nicht widerstand und damit den Boden der wissenschaftlich gesicherten Evidenz verlor. Vgl. dazu u. a. R . Boehm, Zum Begriff des „Absoluten" bei Husserl (Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. X I I I , 1959, S. 214 ff.). R . Ingarden, Edmund Husserl. Zum 100. Geburtstag. Zeitschrift für philosophische Forschung, Band X I I I , 1959, S. 459 ff. Der Schreibende ist der Ansicht, daß die Ansprüche, die A. Diemer (Die Phänomenologie, S. 261 f.) an die Phänomenologie stellt, nach der Methode, die aus Husserls Werken abzuleiten ist, am besten erfüllt werden: „Sie ist wie jede Wissenschaft .neutral' und fällt keine metaphysischen Entscheidungen und Werturteile, sondern erhellt immer nur die bedingenden Möglichkeiten hierfür."
18 E . Husserl, Ideen, S. 10 ff. 19 E . Husserl, Ideen, S. 16 f., 50 f. 20 E . Husserl, Ideen, S. 13.
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2. Kapitel, 21-30
21 E . Husserl, Ideen, S. 13. 22 E . Husserl. Ideen, S. 51 f. 23 E . Husserl, Ideen, Beilage I , S. 383 f. 24 E . Husserl, Ideen, S. 14. Vgl. dazu: A. Diemer, Edmund Husserl,
S. 131 ff.; F . Mayer-Hillebrand, Franz Brentanos ursprüngliche und spätere Seinslehre und ihre Beziehungen zu Husserls Phänomenologie. Zeitschrifl: für philosophische Forschung, Band X I I I , 1959, S. 316 fr.; J . Thyssen, Husserls Lehre von den „Bedeutungen und das Begrifrspro-blem". Zeitsdtrifl für philosophische Forsdiung, Bd. X I I I , 1959, S. 163 ff., 438 ff.
25 E . Husserl, Ideen, S. 15 f.: „Gewiß liegt es in der Eigenart der Wesensanschauung, daß ein Hauptstück individueller Anschauung, nämlich ein Erscheinen, ein Sichtigsein von Individuellem ihr zugrunde liegt, obschon freilich keine Erfassung desselben und keinerlei Setzung als Wirklichkeit; gewiß ist, daß infolge davon keine Wesensanschauung möglich ist ohne die freie Möglichkeit der Blickwendung auf ein ,entsprechendes' Individuelle und der Bildung eines exemplarischen Bewußtseins — wie auch umgekehrt keine individuelle Anschauung möglich ist ohne die freie Möglichkeit des Vollzugs einer Ideation und in ihr der Blickrichtung auf die entsprechenden, sich im individuellen Sichtigen exemplifizierenden Wesen; aber das ändert nichts daran, daß beiderlei Anschauungsarten prinzipiell unterschieden sind, und in Sätzen, derart wie wir sie soeben ausgesprochen haben, bekunden sich nur ihre Wesensbeziehungen."
26 E . Husserl, Die Krisis, S. 4. 27 Kant, Krit ik der reinen Vernunft, Allgemeine Anmerkungen zur trans
zendentalen Ästhenk (B 59, 60, A 42, 43, Bd. I I , S. 87). I . Kern, Husserl und Kant, 1964, S. 124 f., weist darauf hin, daß Kant im dritten Hauptstück der Analytik der Grundsätze (Von dem Grunde der Unterdrückung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena) dem „Ding an sich" einen anderen Gehalt gegeben habe. Das „Ding an sich" oder „Noumenon" Kants dürfe nur zusammen mit dessen Idee des „intellectus archetypus" gesehen werden. Das „Ding an sich" habe für Kant nur eine positive Bedeutung, wenn es in bezug auf eine andere Erkenntnis, nämlich auf die göttliche, gesetzt werde. Was Kant an dieser Stelle (B 307 ff., Bd. I I , S. 277 flf.) sagen wollte, ob er die oben zitierte Aussage ergänzen oder sie sogar ändern wollte, ist hier nicht zu erwägen. Festzuhalten ist nur, daß Kant sowohl die Erkenntnis des transzendenten Objekts wie auch seines Wesens ablehnte.
28 Vgl. dazu u. a. K . Jaspers, Die großen Philosophen, S. 428 fT. 29 K . Jaspers, Die großen Philosophen, S. 430. 30 G . Husserl, Recht und Zeit, S. 20: „Ein Ding ist für mich da, indem
es mich in irgendeiner Weise angeht. Indem es mich angeht, wird eine (mehr oder minder intensive) Beziehung zu dem Ding hergestellt, und es hat nun Teil an meinem Dasein. Von einem Ding, das niemanden
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2. Kapitel, 31—33
angeht mithin für niemanden da ist, zu sagen, es sei ein wirkliches Ding, hat keinen Sinn."
31 Z u Kants „Kopernikanisdien Umdrehung" und ihrem erkenntnistheore-dsdien Ungenügen: E . Husserl: Die Krisis, S. 93 ff., S. 105 ff.; Kants kopernikanisdie Umdrehung und der Sinn einer solchen kopernikanisdien Wendung überhaupt; Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie (beide Abhandlungen in: Erste Philosophie, S. 208 ff., 230 ff.). W. Maihofer (Redit und Sein, S. 57 ff.) legt dar, daß Kant die „Kategorien der Wirklichkeitserfahrung", Husserl hingegen die „Konstituen-tien unserer Wesenserfahrung", das „Apriori einer Wesensanalyse" im Blick gehabt haben. E r sieht aber als Endziel des Husserlschen Weges nicht die Wesenserkenntnis, sondern das Wesenserlebnis. Maihofer läßt Husserl demselben „transzendentalen Idealismus" verhaftet sein wie Kant (S. 64). Auch Bochenski (Europäische Philosophie der Gegenwart, S. 150) schrieb: „So endet die Philosophie Husserl bei einem transzendentalen Idealismus, der in mancher Hinsicht dem der Neukantianer ähnlich ist." Hingegen sagte Bochenski (Die zeitgenössischen Denkmethoden, S. 26) unter dem Stichwort „Objektivismus": „Die zweite Hauptregel der phänomenologischen Methode, wie sie Husserl selbst vertrat, könnte so formuliert werden: In der Forschung soll das Denken ausschließlich auf den Gegenstand gerichtet sein mit vollständiger Ausschaltung alles Subjektiven. Somit wird objektive Wesenserkenntnis und nicht das Verstehen von Sinn und Wesen der Welt im „Wesenserlebnis" (Maihofer, Recht und Sein, S. 59) angestrebt. Das werden die weiteren Ausführungen noch eingehender dartun.
32 E . Husserl, Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie, Erste Philosophie, S. 274: „In rein transzendentaler Betraditung ist die Welt, so wie sie an sich selbst und in logischer Wahrheit ist, zuletzt nur eine im Unendlichen liegende Idee, die ihren Zielsinn aus der Aktualität des Bewußtseinslebens schöpft."
33 E . Husserl, Ideen, S. 63 ff., S. 67. „Tue ich so, wie es meine volle Freiheit ist, dann negiere ich diese „Welt" also nicht, als wäre ich Sophist, ich bezweifle ihr Dasein nicht, als wäre ich Skeptiker; aber ich übe eine im eigentlichen Sinn ,phänomenologische snoxt]', das ist: die mir beständig als seiend vorgegebene Welt nehme [ich] nicht so hin, so wie ich es im gesamten natürlichen praktischen Leben tue, direkter aber auch so wie ich es in den positiven Wissenschaften tue: als eine im voraus seiende Welt und in letzter Hinsicht nicht als einen universalen Seinsboden für eine in Erfahrung und Denken fortschreitende Erkenntnis. Keine Erfahrung von Realem vollziehe idi hinfort naiv-geradehin." S. 69: „Die ganze, in der natürlichen Einstellung gesetzte, in der Erfahrung wirklidi vorgefundene Welt, vollkommen ,theorienfrel" genommen, wie sie wirklich erfahrene, sich im Zusammenhange der Erfahrungen unter Ausmerzung von Sdieinen klar ausweisende ist, sei jetzt außer Geltung gesetzt, sie soll ungeprüft, aber auch unbestritten eingeklammert werden.
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2. Kapitel, 36-38
In gleidier Weise sollen alle noch so guten, positivistisch oder anders begründeten Theorien und Wissenschaften, die sich auf diese Welt beziehen, dem selben Schicksal verfallen."
34 E . Husserl, Ideen, S. 72: „Somit bleibt die reine Bewußtseinssphäre mit dem von ihr Unabtrennbaren (darunter dem ,reinen Ich') als ,phäno-menologisches Residuum' zurück als eine prinzipiell eigenartige Seinsregion, die als das zum Feld einer Bewußtseinswissenschaff eines entsprechend neuen — prinzipiell neuen — Sinnes werden kann — der Phänomenologie." Vgl. zur Bewußtseinserhellung vorn, Einleitung.
35 E . Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 38 f.: „Aus dem bereits Gesagten ergibt sich, daß wir im Strome unserer Welterfahrung, wie er bezogen ist auf die immer sdion vorgegebene Welt, gar nicht so ohne weiteres jene gesuchten letztursprünglichen Erfahrungsevidenzen finden werden, jene wirkliche Urstlftung vorprädikativer Evidenz Im Aufbau auf ganz ursprünghdie, ursprünglich gestiftete Erfahrungsevidenz. Dazu genügt es nicht, von einzelnen Urteilen, wie sie nur als Beispiele vor Augen stehen mögen, einfadi zurückzugehen auf die Weise der Vorgegebenheit ihrer Substratgegenstände, so als ob von jedem beliebigen Urteil als Beispiel der Rückgang auf eine letztursprüngliche Erfahrungsevidenz ohne weiteres angetreten werden könnte. Vielmehr müssen wir, um uns die Struktur eines ganz ursprünglichen Erwerbes von Kenntnissen zu vergegenwärtigen, immer im Auge behalten, in welchem Erfahrungshorizont jede solche Erfahrungsleistung unlöslich darin steht."
36 E . Husserl. Die Krisis, S. 106 f.: „Natürlich ist vorweg mit den Kantischen Fragestellungen die alltägliche Lebensumwelt als seiende vorausgesetzt. In der wir alle, auch ich der jeweils Philosophierende, bewußtseinsmäßig Dasein haben, und nicht minder die Wissenschaften, als K u l turtatsachen in dieser Welt mit Ihren Wissenschaftlern und Theorien. Wir sind In ihr Objekte unter Objekten, lebensweltlich gesprochen; nämlich als da und dort seiende. In schlichter Erfahrungsgewißheit, vor allen wissenschaftlichen, sei es physiologischen, psychologischen, soziologischen usw. Feststellungen. Wir sind andererseits Subjekte für diese Welt, nämlich als die sie erfahrenden, bedenkenden, bewertenden, zwecktätig auf sie bezogenen Ichsubjekte, für welche diese Umwelt nur den Seinssinn hat, den ihr unsere Erfahrungen, unsere Gedanken, unsere Wertungen usw. jeweilig gegeben haben, und in den Geltungsmodis (der Seinsgewißheit, der Möglichkeit, ev. des Scheins usw.), die wir als die Geltungssubjekte dabei aktuell vollziehen bzw. als habituelle Erwerbe von früher her besitzen und In uns tragen, als beliebig wieder aktualisierbare Geltungen und Gattungen des Inhalts. Das freilich Ist In vielfältigem Wandel, während sich dabei doch ,die' Welt als einheitlich seiende, nur sich im Gehalt korrigierende durchhält."
37 E . Husserl, Die Krisis, S. 108. 38 E . Husserl, Die Krisis, S. 133; W. Biemel, Die entscheidenden Phasen In
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2. Kapitel, 39
Husserls Philosophie, S. 213: „Die Konstitution der wissensdiaftlidien Welt setzt die primäre Konstitution der Lebenswelt voraus. Die wissen-sdiaftlidie Welt entsteht durdi eine Verwandlung der Lebenswelt."
39 E . Husserl, Die Krisis, S. 110: „Aber die leiblidie Idilidikeit ist selbstverständlich nicht die einzige, und jede ihrer Weisen ist von jeder anderen nicht abzutrennen; sie bilden bei allem Wandel eine Einheit. So sind wir konkret leiblich, aber nidit nur leiblidi als volle Ich-Subjekte, je als das volle Idi-der-Mensdi im Wahrnehmungsfeld usw., und, wie weit immer gefaßt, im Bewußtseinsfeld. Also wie immer Welt als universaler Horizont, als einheitliches Universum der seienden Objekte bewußt ist, wir, je Ich der Mensch und wir miteinander, gehören alle miteinander in der Welt Lebende eben zur Welt, die eben in diesem „Miteinanderleben" unsere, die uns bewußtseinsmäßig seiend-geltende Welt ist." S. I I I : „Selbstverständlich gilt das nicht nur für mich, das je einzelne Ich, sondern wir im Miteinanderleben haben Welt im Miteinander vorgegeben, als die für uns seiend-geltende, zu der wir im Miteinander auch, zur Welt als für uns alle, als der in diesem Seinsinn vorgegebenen, gehören. Und als im wachen Leben immerzu fungierend, sind wir auch miteinander fungierend, in mannigfachen Weisen des im Miteinander Betrachtens gemeinsam vorgegebener Objekte, miteinander Denkens, miteinander Bewertens, Vorhabens und Handelns." S. 175: „ N u n kompliziert sich alles, sobald wir bedenken, daß Subjektivität nur in der Intersubjektivität ist, was sie ist: konstitutiv fungierendes Ich. Das bedeutet für den Gesichtspunkt ,Ich' die neuen Themen der spezifisch Ich und anderes Ich (jedes rein als Ich) angehenden Synthesis, der Idi-Du-Synthesis und ebenso, aber komplizierter, der Wir-Synthesis." S. 257: „Aber nun überlegen wir uns, daß jeder in seinem Verkehr mit Anderen in seinem Weltbewußtsein zugleich das Bewußtsein von Fremden in der Jeweiligkeit dieses Fremden hat, daß in wunderbarer Weise seine Inntenionlität in die des Anderen hineinreicht und umgekehrt, daß dabei eigene und fremde Seinsgeltung sich in Modis der Einstimmigkeit und Unstimmigkeit verbinden, daß immer und notwendig durch wechselseitige Korrektur schließlich einstimmiges Bewußtsein von derselben gemeinsamen Welt mit denselben Dingen zur Geltung kommt, denselben, die der Eine so auffaßt, der Andere anders." Vgl. zu Husserls Lehre von der Intersubjektivität: H . Zeltner, S. 292 ff., S. 306: „Durch ihre Intentionalitäten sind die einzelnen Subjekte miteinander verkettet, verfloditen: dies ist es also, was die Rede von der Lebensgemeinschaft der transzendentalen Intersubjektivität besagen wil l . Eine Personifikation der Intersubjektivität ist dafür nicht vonnöten. Nur in „Mittelbarkeiten des intentionalen Konnexes" werden die einzelnen zu Subjekten für eine gemeinsame Weltapperzeption. Wodurch diese Mittelbarkeit zustandekommt, wissen wir bereits: es ist die Appräsen-
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2. Kapitel, 40—41
tation des anderen in und mit meiner Selbstapperzeption. Die anderen sind gegenwärtig im Einfühlungshorizont der Mitsubjektivität. Es ist jedodi stets Sadie des einzelnen, diesen Horizont ,zu eröffnen durdi direkten und indirekten Verkehr' (6, 259)." Zeltner zweifelt an der Tauglidikeit von Husserls Theorie der transzendentalen Intersubjektivität als Grundlegung einer Sozialphilosophie (S. 309 ff.). E r meint, das Idi und das D u seien wie Larven anzusehen, hinter denen das eigentlidie ego und dessen Nidit-Idi ihr Spiel treiben. Der Sdireibende hoffl, durdi diese Studie das Gegenteil zu beweisen.
40 Die komplexen Probleme der intersubjektiven Verständigung in der Husserlschen Phänomenologie sind einläßlidi dargelegt bei A . Diemer, Edmund Husserl, S. 283 ff. H . Zeltner, S. 314, weist auf das Apriori der Sprache hin. E r sagt hierauf (S. 315): „Aber auch sie ist — Sprache, auch sie kann und muß die Möglichkeit des Verstehens voraussetzen, auch sie fußt bereits auf einem vorgängigen Einverständnis, von dem aus sie sich weiter vortastet. Und vor allem: sie benennt auch mit ihren kühnsten Errungenschaften wiederum nur etwas, was a priori gemeinsam sein muß, etwas, das prinzipiell, wenn auch nicht faktisch, von allen erkannt zu werden, was gemeinsamer Erkenntnisbesitz zu werden vermag. K u r z : Sprache, Vernunft, Logos wurzeln in der Gemeinsamkeit der Wahrheit. Dies ist es, was dazu nötigt, Husserls Begriff der transzendentalen Intersubjektivität weiter zu entwickeln und umzubilden, vor allem aber ihm durch ein — im einzelnen noch näher aufzuklärendes — Apriori ursprünglicher Gemeinsamkeit erst sein wahres Fundament und seine letztgültige Begründung zu geben." Vgl. zur existenziell vorgegebenen Verbindung der Menschen und der Gemeinschaften vorn, S. 66 ff.
41 L . Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, hat dies in unübertrefflicher Kürze festgehalten: 3.1 „Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus." 3.11 „Wir benützen das sinnlidi wahrnehmbare Zeichen (Laut- oder Schriftzeichen etc.) des Satzes als Projektion der möglichen Sachlage. Die Projektionsmethode ist das Denken des Satz-Sinnes." 7 „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." Vorwort: „Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr — nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt). Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein." Damit ist die Grenze des Verstandes- und vernunftmäßigen Erkennens gezogen. Nur dieses und seine sprachliche Mitteilung hat für die Rechtswissenschaft Bedeutung.
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2. Kapitel, 42—48
Das Zitieren dieser Wittgensteinchen Sätze bedeutet nicht etwa Zustimmung zu all seinen Ansichten. So widerspricht der hier übernommenen phänomenologischen These Wittgensteins Behauptung, daß wir uns Bilder der Tatsachen machen (2.1), daß das Bild ein Modell der Wirklichkeit ist (2.12). Die Tatsachen erscheinen originär als solche In unserem Bewußtsein. Wir formen sie nicht noch zu Bildern um. Das gelingt erst dann, wenn eine Erscheinung im Bewußtsein sich zeigt. Damit Ist sie aber schon da. Das Bewußtsein gewinnt nicht das, was es schon hat, dadurch, daß es davon noch einmal ein Bild macht.
42 Heraklit lehrte (Anfänge der Philosophie, S. 59 f.): „Wer in denselben Fluß steigt, dem strömt immer wieder neues Wasser zu." „Wir steigen in dieselben Fluten und tun es doch wieder nicht; denn wir sind und sind nicht." „Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen (— auch nicht ein sterbliches Wesen zweimal berühren und in seiner Beschaffenheit fassen —) es zerfließt, strömt wieder zusammen, kommt herzu und entfernt sich." „Alles strömt, und nichts dauert."
43 E . Husserl, Die Krisis, S. 148: „Es Ist das eigene der synthetischen Totalität, in der für uns ein vordem völl ig Unbekanntes, als Erkenntnisaufgabe nie Erschautes und Ergriffenes zu eigen werden kann: nämlich das universale leistende Leben, in welchem die Welt als die für uns ständig in strömender Jeweiligkeit seiende, die uns ständig ,vorgegebene' zustande kommt." S. 149: „Nämlich nichts anderes soll uns interessieren als eben jener subjektive Wandel der Gegebenheitsweisen, der Erscheinungsweisen, der einwohnenden Geltungsmodi, welcher, ständig verlaufend, das einheitliche Bewußtsein des schlichten ,Sems' der Welt zustande bringt." Vgl. zum Zeitproblem: A . DIemer, Edmund Husserl, S. 143 ff.
44 Vorn. S. 37 ff. 45 E . Husserl, Ideen, S. 203: Cartesianische Meditationen, S. 87 ff.; Philo
sophie als strenge Wissenschaft, S. 36 ff. A. Diemer, Edmund Husserl, S. 12: „ N u n gibt es aber ein solches ,trel-bendes Problem', das das Philosophieren Husserl immer wieder von neuem in Atem hält: es Ist das sich aus dem philosophischen Fragen nach dem ,Sinn und Sein' des Seienden erhellende Prinzip der Intentionalität, das als das Grundprinzip und als das Grundmotiv der Husserlschen Phänomenologie bezeichnet werden muß."
46 E . Husserl, Ideen, S. 79 f., 81 ff. 47 E . Husserl, Ideen, S. 83. 48 E . Husserl, Ideen, S. 83 f.: „Dank dieser Objektivation stehen uns In
der natürlichen Einstellung und damit als Glieder der natürlichen Welt, nicht bloße Natursachen gegenüber, sondern Werte und praktische Objekte jeder Art, Städte, Straßen mit Beleuchtungsanlagen, Wohnungen, Möbel, Kunstwerke, Bücher, Werkzeuge usw. So nicht nur für konkrete reale Objekte, sondern auch für Vorgänge, Beziehungen, Verbindungen, Ganzes und Teil usw. Z . B. wir haben nicht nur Naturvorgänge, sondern
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auch Handlungen, Veränderungen von Geisteswerken, von Kulturobjekten jeder Art und als solchen (z. B. Entwertung von Kunstwerken durch ,Verderben', oder Uebrauchbarwerden von Maschinen), Zusammenhänge von literarischen Werken, nicht als bloßen Naturdingen, sondern als Kapitel eines Buches, oder als Zusammenhang von Werken einer nationalen Literatur, bezogen auf Autoren, Leser, Nationen usw. In Hinsicht auf die Gegebenheitsweisen finden wir dann nicht bloß dingliche ,Hor)-zonte' als Horizonte möglicher naturaler Erfahrung, sondern auch wertliche und praktische Horizonte; z. B. der praktische Horizont, den der Handelnde in seinem zwecktätigen Tun jeweils hat, bezogen auf die E i n heit eines Zweckes, der selbst in weiteren Zweckzusammenhängen steht. Dazu kommen aber auch wesensmäßig mögÜche Einstellungsunterschiede (immer im Gesamtrahmen der natürlichen Einstellung), nämlich sofern alle wie immer hoch fundierten Objektivitäten, etwas aus der ursprünglich wertenden oder praktischen Einstellung, übergeführt werden in die theoretisch erfassende und so zu Themen vorübergehenden oder konsequenten ,Vorstellens', im besonderen eines Erfahrens, Explizierens, Produzierens usw. werden können." Vgl. ferner S. 203 ff.
49 E . Husserl, Ideen, S. 219. 50 E . Husserl, Ideen, S. 221. 51 E . Husserl, Ideen, S. 226. 52 E . Husserl, Ideen, S. 225 f. 53 N . Hartmann, Das Problem: zum objektiven Geist, S. 175 ff.; zum ob
jektivierten Geist, S. 406 ff. 54 N . Hartmann, Das Problem, S. 516 f.: „Objektivierter Geist ist nur gei
stiges Gut, nicht geistiges Leben." 55 N . Hartmann, Das Problem, S. 518. 56 N . Hartraann, Das Problem, S. 522 f.
H . Henkel, S. 17: „Als ein spezieller Bereich der Objektivation des Gemeingeistes ist schließlich das Recht zu nennen." Das trifft für jene Rechtsordnung zu, die von den Gesetzesunterworfenen als richtig anerkannt ist und befolgt wird. Hingegen ist Henkels Aussage (a.a.O. S. 28) mit Vorbehalt zu lesen: „der Gemeingeist ist Schöpfer des Rechts." Der Gemeingeist wirkt mit, wenn die zwischenmenschlichen Beziehungen geordnet werden. Die Ordnung selber aber ist stets das Werk von einzelnen Personen (die an der Gesetzgebung arbeiten, die Recht sprechen oder wissenschaftlich forschen. Nur das Bemühen der individuellen Rechtsschöpfer bringt die klare Ordnung zustande. Erst dann, wenn sie in ihrem Bewußtsein die Ordnung der Lebensverhältnisse wahrgenommen, wenn sie sich darüber intersubjektiv verständigt und das Ergebnis in Worten festgehalten haben, Ist ein Teil der Rechtsordnung gestaltet.
56a Vgl. dazu die überaus aufschlußreiche Studie von G . Broggini, Dauer und Wandel im Recht, Zeltschrift für Schweizerisches Recht, n. F . Bd. 84, 1965, I . Halbband, S. 1 ff.; H . Henkel, S. 39 ff.
57 Vorn, S. 12. A . A . R . Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, S.
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2. Kapitel, 58-59
175: „Der Gegenstand der Betraditung ist das in der Gesdiidite gegebene Redit." „Es bleibt ein abzulehnende Mißverständnis, als ob diese Forsdiung es mit einem apriorisüschen Suchen und Finden zu tun hätte.
58 E . Husserl, Die Krisis, S. 138 f.: „Es liegt an der eigentümlidien Natur der uns zugewadisenen Aufgabe, daß die Zugangsmethode zu dem Arbeitsfeld der neuartigen Wissenschafl — mit dessen Erreichung erst Arbeitsprobleme derselben gegeben sind — [sich] in eine Vielheit von Schritten gliedert, deren jeder in neuer Weise den Charakter einer Epoche, einer Enthaltung von natürlidi-naiven, und jedenfalls von schon im Vollzug stehenden Geltungen hat. Die erstnotwendige Epoche, also der erste methodisdie Schritt, ist uns schon durch die bisherige Vorbesinnung in den Gesichtskreis getreten. Es bedarf aber einer ausdrücklichen universalen Formulierung. Offenbar ist allem voran erfordert die Epoche hinsichtlich aller objektiven Wissenschaften. Das meint nicht bloß eine Abstraktion von ihnen, etwa in der Art eines fingierenden Umdenkens des gegenwärtigen menschlichen Daseins, als ob darin nichts von Wissenschaft vorkäme. Vielmehr gemeint ist eine Epoche von jedem Mitvollzug der Erkenntnisse der objektiven Wissenschaften, Epoche von jeder kritischen, an ihrer Wahrheit oder Falschheit interessierten Stellungnahme, selbst zu ihrer leitenden Idee einer objektiven Welterkenntnis. Kurzum, wir vollziehen eine Epoche hinsichtlich der ganzen objektiven theoretischen Interessen, der gesamten Bezweckungen und Handlungen, die uns als objektiven Wissenschaftlern oder auch nur als Wißbegierigen eigen sind."
59 E . Husserl, Die Krisis, S. 139 f., legt dar, daß die Ausübung der Reduktion (Epoche) einer Berufsausübung gleichzusetzen sei. Jeder Beruf habe seine Zeit aktualisierender Betätigungen. E r verwahrt sich aber dagegen, daß man das phänomenologische Sehen nur als ein neues, rein theoretisches Interesse, als „ein sich sehr ideal gebärdendes intellektualistisches Spiel oder als eine höherstufige intellektuelle Technik im Dienst der positiven Wissenschaften" behandle. „Vielleicht wird es sich sogar zeigen, daß die totale phänomenologische Einstellung und die ihr zugehörige Epoche zunächst wesensmäßig eine völ l ige personale Wandlung zu erwirken berufen ist, die zu vergleichen wäre zunächst mit einer religiösen Umkehrung, die aber darüber hinaus die Bedeutung der größten exi-stenziellen Wandlung in sich birgt, die der Menschheit als Menschheit aufgegeben ist." Beim ersten Hinhören tönen diese Worte überheblich, unwissenschaftlich. Wer aber bedenkt, welche Macht Dogmen und Meinungen haben, wird auf das „Vielleicht", mit dem der Satz beginnt, achten und auch diese Bemerkung nicht sogleich negieren, sondern sie vorläufig nur einklammern, bis er im Weiterschreiten sehen kann, ob die Ergebnisse sie rechtfertigen. H . Zeltner, Das Ich und die andern, S. 289: „Die Epodie ist für das Verhältnis von Philosophie und Leben allgemein, sie ist vor allem für den Daseinsbezug des Philosophen selbst von einschneidenden Folgen.
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2. Kapitel, 60—79
Sie bedeutet den Bruch mit aller Naiv i tät ." „Der Philosophierende tritt zum Leben in eine zunädist unüberwindlich scheinende Distanz."
60 Vorn, S. 1, 13 ff., 18 61 E . Husserl, Die Krisis, S. 140 ff. 62 E . Husserl, Die Krisis, S. 144: „Wir können dafür auch sagen: die ver
meintlich völ l ig eigenständige Logik, welche die modernen Logistiker — sogar unter dem Titel einer wahrhaft wissenschaftlichen Philosophie — glauben ausbilden zu können, nämlich als die universale apriorische Fundamentalwissenschaft für alle objektiven Wissenschaften, ist nichts anderes als eine Naiv i tä t . Ihre Evidenz entbehrt der wissenschaftlichen Begründung aus dem universalen lebensweltlichen Apriori, das sie beständig, in Form wissenschaftlich nie universal formulierter, nie auf wesenswissenschaftliche Allgemeinheit gebrachter Selbstverständlichkeiten, immerzu voraussetzt. Erst wenn einmal diese radikale Grundwissenschaft da ist, kann jene Logik selbst zur Wissensdiaft werden. Vorher schwebt sie grundlos in der Luft und ist, wie bisher, so sehr naiv, daß sie nicht einmal der Aufgabe inne geworden ist, welche jeder objektiven Logik, jeder apriorischen Wissenschaft gewöhnlichen Sinnes anhaftet: nämlich zu erforschen, wie sie selbst zu begründen sei, also nicht mehr „logisch", sondern durch Rückleitung auf das universale vor-logische Apriori, aus dem alles Logische, der Gesamtbau einer objektiven Theorie, nach allen ihren methodologischen Formen, seinen rechtmäßigen Sinn ausweist, durch welchen also alle Logik selbst erst zu normieren ist."
63 E . Husserl, Die Krisis, S. 151. 64 E . Husserl, Die Krisis, S. 152. 65 E . Husserl, Die Krisis, S. 153. 66 E . Husserl, Die Krisis, S. 165. 67 E . Husserl, Die Krisis, S. 166 f. 68 E . Husserl, Die Krisis, S. 169. 69 E . Husserl, Die Krisis, S. 170 f. 70 E . Husserl, Die Krisis, S. 171 f. 71 E . Husserl, Die Krisis, S. 175. 72 E . Husserl, Die Krisis, S. 178. 73 E . Husserl, Die Krisis, S. 187 ff. 74 E . Husserl, Die Krisis, S. 190. 75 E . Husserl, Die Krisis, S. 242 f. 76 E . Husserl, Die Krisis, S. 258. 77 E . Husserl, Die Krisis, S. 259. Ebenso S. 260: „Alle Seelen bilden eine
einzige durch die Phänomenologie systematisch zu entfaltende Einheit der Intentionalität in wechselseitiger Implikation der Lebensströme der einzelnen Subjekte; was in der naiven Positivität oder Objektivität ein Außereinander ist, ist von Innen gesehen ein intentionales Ineinander."
78 E . Husserl, Die Krisis, S. 270. 79 E . Husserl, Die Krisis, S. 272 f.
Vgl. dazu A. Diemer, Edmund Husserl, S. 255 ff.
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