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Blick ins schwarze ElendZahnstatus im Mittelalter: Kein Gebiss ohne Karies
Zahnhygiene im Mittelalter? Fehlanzeige! Das beweisen eindrucksvoll Funde im Kloster Lorsch. Über 110 Skelettreste wurden wissenschaftlich untersucht. Das Fazit für die meisten Gebisse: großflächige Karies, heftige Wurzelentzündun-gen, millimeterdicker Zahnstein und häufiger Zahnausfall.
Gemütlich schaut er aus, der Mönch von Klos-
ter Lorsch. Breite Nase, markante Züge um den
Mund, warme Augen, ein dünner Haarkranz und
eine recht stattliche Figur. Fast möchte man ein
Gespräch mit ihm beginnen. Geht aber nicht.
Denn das Besondere an ihm: Sein Gesicht ist eine
3-D-Rekons truktion. Denn er ist seit rund 1 150 Jah-
ren tot. 1999 fanden Archäologen den Schädel auf
dem Mönchsfriedhof. Als er starb, muss der Mann
zwischen 35 und 40 Jahre alt gewesen sein. Das
dazugehörige Körperskelett wurde nicht gefunden.
Aber allein sein Schädel reicht, um eine kleine Ge-
schichte zu erzählen. Zusammen mit vielen weite-
ren Skelett- und Zahnfunden wird diese zu einer
größeren Geschichte – die, der Menschen von und
um Kloster Lorsch des 8. bis 11. Jahrhunderts. Mit-
erzählt wird sie von Claus Kropp, der das dazuge-
hörige Forschungsprojekt leitet. Dazu später mehr.
Fast wie neuDer Schädel: Nahezu vollständig sieht er auf den
ersten Blick aus. Lediglich einige Schneidezähne
und ein Eckzahn sowie das rechte Jochbein fehlen.
Schaut man genauer hin, erkennt man, dass sich
am Unterkiefer eine Parodontitis gebildet hatte. Im
Oberkiefer waren jeweils der zweite Molar rechts
und der zweite Prämolar links von Karies befallen.
Während die Kariesläsion am Backenzahn relativ
klein ist und nicht tief in den Zahn hineinreicht,
ist die Krone des zweiten Vorbackenzahns voll-
ständig zerstört. An den vorhandenen Eckzähnen
lassen sich zudem horizontal verlaufende Rillen
im Zahnschmelz erkennen. Dies ist wohl auf Nah-
rungsmangel, Fieber, Infektionskrankheiten und
andere Krisensituationen während des Wachstums
zurückzuführen, die der Mann im Alter zwischen
eineinhalb und vier Jahren hatte. Dass sich au-
ßerdem Zahnstein gebildet hat, ist fast schon nur
eine Randnotiz wert. Man mag es kaum glauben,
aber dieser Mönch hatte damit sogar noch recht
ordentliche Zähne.
Mehr Stein als ZahnDenn es gibt auch ganz andere Exponate, die je-
dem Putzunwilligen das Grauen ins Gesicht treiben
sollten. Fast alle litten unter Karies. Dabei sind die
einzelnen Zähne meist völlig zerstört. Häufig haben
sich zudem an den Wurzelspitzen Entzündungen ge-
bildet, nachdem durch den Wurzelkanal Bakterien
eingedrungen sind. Für die Ü-40-Generation hieß es
oft, ohne Backenzähne durch das restliche Leben zu
gehen. Ihre Kiefer bildeten sich zurück. Es ist davon
auszugehen, dass auch das auf Karies und Entzün-
dungen der Wurzeln zurückzuführen ist. Nüchtern
zieht Archäologe Claus Kropp sein Fazit: „Wir wissen
jetzt mehr über die Zahnhygiene der Menschen im
8. bis 11. Jahrhundert. In diesem Zeitraum änderte
sich im Grunde nichts. Die Zahnhygiene war gleich-
bleibend schlecht.“ Zugleich ist er beeindruckt von
dem, was er alles gesehen hat: „Drei bis vier Milli-
meter dicker Zahnstein, massive Karies und Wurzel-
entzündungen kamen sehr oft vor.“
Betäubender SchmerzHeftige Zahnschmerzen waren also die täglichen
Begleiter der Mönche und ihrer Helfer im Klos-
ter Lorsch. Das „Lorscher Arzneimittelbuch“ half Fast bekommt man selbst Zahnschmerzen, wenn man den Zustand der Zähne sieht.
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| BZB Mai 17 | Reise und Kultur66
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ihnen, die Schmerzen zu lindern. „Aber es wurde
nie die Wurzel des Übels angepackt“, weiß Kropp.
Interessant an dem im Jahr 795 aufgesetzten Buch
sei, dass es auf antiken und heidnischen Arzneimit-
teln basiert. Jedoch stellte das die Menschen vor ein
Problem: Christen dürfen nicht in Gottgewolltes,
wie Zahnschmerzen als Strafe, eingreifen. Deswe-
gen griffen sie auf das Gebot der Nächstenliebe
zurück, um den Menschen doch Erleichterung zu
verschaffen. Als Behandlungsmöglich keiten waren
zum Beispiel die Vier-Säfte-Lehre und Umschläge
beschrieben. Dennoch: „Der Schmerz muss für je-
den sehr präsent und allgegenwärtig gewesen sein.
Aber im Grunde wird man einfach damit gelebt
haben müssen, gemildert durch Arzneimittel“, stellt
Kropp fest.
35 bis 40 Jahre alt war der Mönch, dessen Gesicht Wissenschaftler rekonstruiert haben. Er lebte in der Zeit zwischen 888 und 966 nach Christus im Kloster Lorsch. Karies machte ihm wie vielen seiner Zeitgenossen zu schaffen.
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Reise und Kultur | BZB Mai 17 | 67
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Lebe lang und glücklichWarum es überhaupt so weit kam, liegt auf der
Hand – mangelnde Zahnhygiene und eine karies-
fördernde Ernährung. Honig, der im Kloster pro-
duziert wurde, wird seinen Teil dazu beigetragen
haben. Überhaupt muss es ihnen recht gut gegan-
gen sein, den Mönchen von Kloster Lorsch und den
Arbeitern, die sie unterstützten – zumindest, was die
Ernährung betrifft. Eindeutige Hinweise auf Man-
gel- oder Fehlernährung konnten die Wissenschaft-
ler nicht erkennen. Lediglich einige Fehlbildungen
im Zahnschmelz zeigen, dass manche Personen im
Kindheitsalter zwischen eineinhalb und fünf Jahren
unterversorgt gewesen sein müssen. Und recht alt
sind sie auch geworden. „Wir fanden zahlreiche In-
dividuen, bei denen wir nachweisen konnten, dass
sie über 50 Jahre alt geworden waren“, berichtet
Kropp. Das ist weit über Durchschnitt, wurden die
Menschen damals doch eher nur Mitte bis Ende 40.
Stark wie ein BärIhr Leben gestaltete sich dabei sehr unterschied-
lich, wie die Forscher aus den gefundenen Kno-
chen ablesen konnten. Kropp: „Anders sah es bei
den körperlichen Merkmalen aus. Die Menschen,
die für das Kloster gearbeitet haben, haben teils
ungemein starke Muskelansätze – nicht durch das
Fitnessstudio, sondern durch schwere körperliche
Arbeit. Bei vielen Mönchen erkennt man dagegen,
dass sie keine körperliche Arbeit leisten mussten.
Diese Merkmale passen ganz gut ins Bild, das man
von der damaligen Zeit und dem Klosterleben
hat.“ Abgenutzte Lendenwirbel, leichte Arthrose
in Hüft- und Kniegelenken, Gelenkveränderungen
am Schultergelenk und vereinzelte Knochenwuche-
rungen wurden erkannt. Nichts, was ins Gewicht
fällt. Und somit scheinen massive Zahnprobleme
das Hauptübel für die Menschen gewesen zu sein.
Denn ansonsten litten sie häufig nur an Krankhei-
ten, die mit alters- und aktivitätsbedingten Abnut-
zungen der Gelenke in Zusammenhang stehen.
Für Kropp ist diese erste interdisziplinäre natur-
wissenschaftlich-anthropologische Untersuchung
noch lange nicht das Ende des Projekts. „Wir kön-
nen noch viel mehr erreichen. Wir haben große
Chancen, hier im Kloster mehr über die Ernährung,
Herkunft, Krankheiten und Genetik der Menschen
jener Zeit zu erfahren. Aber dazu müssen wir noch
Sponsoren finden. Wir stehen am Anfang eines viel
größeren Forschungsprojekts.“ Die 3-D-Rekons-
truktion des Mönchs hat dem Kloster sein erstes
Gesicht gegeben. Die erste Geschichte ist erzählt,
vielleicht folgen weitere.
Ilka Helemann
Die ehemalige Benediktinerabtei im südhessischen Lorsch gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Wer möchte, kann in Lorsch aber auch in das Leben im Frühmittelalter eintauchen. Seit 2012 wird das experimentalarchäologische Freilichtlabor Lauresham aufgebaut.
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: Sta
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