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45 RAAbits Ethik/Philosophie Dezember 2015
S I 1Kohlbergs Modell der MoralentwicklungB Moralphilosophie · Beitrag 10
Kohlbergs Modell der Moralentwicklung –
Stufen auf dem Weg zur Selbstbestimmung
Dr. Pit Kapetanovic, Heilbronn
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Klasse: 9/10Dauer: 8–11 Stunden + 1 Stunde LernerfolgskontrolleArbeitsbereich: Moralphilosophie / Entwicklungspsychologie
Unsere Moralvorstellungen ändern sich im Laufe des Lebens. Diese Erfahrung macht jeder. Wie aber vollzieht sich diese Veränderung? Lässt sich eine regelmäßige Entwicklung feststel-len, die bei allen Menschen ähnlich abläuft? Gewinnen wir im Alter tatsächlich ein höheres Maß an Selbstbestimmung und moralischer Kompetenz?
Das Modell der kognitiven Entwicklung von Piaget erweiternd, entwarf der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg ein viel diskutiertes Stufenkonzept der moralischen Ent-wicklung. Die vorliegende Einheit gibt sowohl einen Einblick in dieses Konzept als auch die Methoden der Ermittlung moralischer Urteilsfähigkeit. Die Lernenden erörtern unterschied-liche Handlungsoptionen in komplexen Situationen und entwickeln anschließend ähnliche Situationen selbst. Abschließend erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeit Kohlbergs.
Lawrence Kohlberg (1927–1987), US-amerikanischer Psychologe und Professor
für Erziehungswissenschaft an der Harvard University School of Education.
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45 RAAbits Ethik/Philosophie Dezember 2015
S I2 Kohlbergs Modell der Moralentwicklung B Moralphilosophie · Beitrag 10
Fachwissenschaftliche Orientierung
I Worum geht es in Kohlbergs Theorie der Moralbegründung? – Grundgedanken
Kohlbergs Theorie der Moralbegründung wird bis heute rezipiert und diskutiert. Erstmals ent-wickelte er sie 1958. Bis zu seinem Tod 1987 hat er sie immer wieder überarbeitet und im Zuge dessen präzisiert. Seine Kernpositionen blieben dabei immer gleich. Ausgehend von Piaget, der die Moralentwicklung von Kindern beim Befolgen von Regeln unter anderem während des Spielens beobachtete, intendierte Kohlberg ein Stufenmodell moralischer Entwicklung, das bis weit ins Erwachsenenalter reicht und universellen Anspruch erhebt.
Dabei geht Kohlberg davon aus, dass sich Moral rational entwickelt, sofern die Rahmenbedin-gungen stimmen. Moralische Urteilsfähigkeit entwickelt sich also bestenfalls so wie unser logi-sches und mathematisches Wissen. Entscheidend für Kohlberg ist in der Moral jedoch der Übergang von der Fremd- zur Selbstbestimmung. Die höchste Stufe ist diejenige, bei der wir unsere moralischen Urteile aufgrund unserer eigenen Überzeugung, aufgrund selbst gesetzter Regeln fällen. Und diese Regeln haben immer den umfassenden Schutz der Menschenwürde zum Ziel.
II Das Kernstück der Theorie Kohlbergs – das Stufenmodell
Für Kohlberg entwickelt sich die Moral idealtypisch von der Fremd- zur Selbstbestimmung. Kernstück seiner Theorie ist das Stufenmodell. Vormoralisch ist die blinde Orientierung an un-mittelbaren Autoritäten, wie wir sie bei Kleinkindern beobachten. Ein höheres Niveau stellt das ebenfalls noch blinde, aber schon mehr Einsicht voraussetzende Einhalten von Regeln dar. Erst im höheren Alter werden diese Regeln verinnerlicht, wird ihr Sinn verstanden. Wohl erst im Erwachsenenalter, wenn überhaupt, erreichen wir die höchste moralische Stufe. Erst dann ver-mögen wir ein Leben nach eigenen, vernünftigen, auf dem Gedanken der Menschenwürde basierenden Prinzipien zu führen. Dabei bildet die eigene Vernunft die höchste Instanz, an der wir uns orientieren, nicht mehr Regeln oder Gesetze. Die Nähe zu Kant ist evident.
Insgesamt stellt Kohlberg sechs Stufen fest, die jedoch nicht von jedem erreicht werden. Auch variiert das Alter, in welchem wir eine höhere Stufe erlangen. Deshalb lehnt Kohlberg Altersan-gaben für die einzelnen Stufen ab.
III Wie ging Kohlberg vor? – Die Methode
Kohlberg arbeitete empirisch, geleitet von starken rationalen Vorannahmen. Die Ideen der Stu-fenfolge, der weitestgehend linearen Entwicklung, der Parallele von logischer und moralischer Kognitionsentwicklung, das normative Potenzial dieser Stufenfolge, der Grundsatz, Menschen mögen danach streben, eine höhere moralische Stufe zu erreichen – all diese Grundannahmen seiner Theorie übernahm Kohlberg von Piaget.
Kohlberg Leistung lag darin, dass er Jugendliche mit Dilemma-Situationen konfrontierte und ihre Antworten mithilfe standardisierter Fragebögen systematisch auswertete. Die berühmteste Dilemma-Situation ist das sogenannte Heinz-Dilemma. Heinz, der Protagonist der Geschichte, muss entscheiden, ob er eine für seine Frau lebenswichtige, aber für ihn unbezahlbare Medizin stehlen will. Die Urteile der Heranwachsenden und deren Motivationen kategorisierte Kohlberg im Zuge der Auswertung.
IV Was spricht für Kohlbergs Ansatz?
Kohlberg fand zahlreiche Anhänger. Er selbst war zeitlebens daran interessiert, seine Forschun-gen für die Schule nutzbar zu machen. Ein Dilemma, didaktisch geschickt eingesetzt, kann die Sicherheit einer moralischen Stufe zerstören und den Lernenden auf eine höhere Stufe vorbe-reiten. Die didaktischen Grundgedanken Kohlbergs wurden von Georg Lind zur „Konstanzer Methode“ weitergeführt. Diese beschreibt genau, wie man Dilemma-Situationen im Unterricht sinnvoll nutzen kann, um die Lernenden zu höheren Stufen zu führen, auch wenn hier nicht alle Annahmen Kohlbergs geteilt werden.
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45 RAAbits Ethik/Philosophie Dezember 2015
S I 3Kohlbergs Modell der MoralentwicklungB Moralphilosophie · Beitrag 10
V Was spricht gegen Kohlbergs Theorie?
Kohlbergs Theorie wurde immer wieder kritisiert. Man warf ihm vor, die Betonung des Indivi-duums und dessen Selbstbestimmung sei auf einen westlich-liberalen Raum beschränkt und lasse sich nicht verallgemeinern. Ebenso wurde kritisiert, die Betonung des rationalen, regel-geleiteten Elements der Moral vergesse die Fürsorge- und Verantwortungsethik. Vor allem Carol Gilligan wies in einer berühmt gewordenen Studie darauf hin, dass damit der Ethik auch das „weibliche Element“ fehle und Jungen, die früher und konsequenter zum rationalen Denken erzogen wurden, in den Tests besser abschnitten. Fraglich ist darüber hinaus, wie es Kohlberg mit moralischen Gefühlen hält. Unterschätzt er nicht das Bedürfnis von Kleinkindern nach Zu-wendung und deren Empathiefähigkeit?
Kritisiert wurde auch der Absolutheitsanspruch des Kolberg’schen Modells: Warum soll die quasi kantische Idee der Menschenwürde an der Spitze der Ethik stehen? Ist die Arbeit mit fik-tiven Dilemmata sinnvoll, die bestimmte Antworten vielleicht schon implizit vorgeben? Sagt die Herausbildung der Urteilsfähigkeit schon etwas über das moralische Handeln der Heranwach-senden aus, das ja stark vom Wissen über das, was „richtig“ und „falsch“ ist, abweichen kann?
Die Auseinandersetzung mit dem Kohlberg’schen Modell ermöglicht es, schnell und für die Lernenden leicht verständlich zu den Grundfragen der philosophischen Ethik zu gelangen: Fra-gen der Moralbegründung, Fragen nach der Bedeutung moralischer Gefühle, Fragen nach der Lernbarkeit von Moral. Deshalb ist dieses Modell nicht nur als Basis für neue Unterrichtsme-thoden interessant, sondern auch als Unterrichtsgegenstand selbst.
Didaktisch-methodische Überlegungen
I Wie bettet sich die vorliegende Reihe in den Lehrplan?
Diese Reihe befasst sich mit Fragen der persönlichen Entwicklung und der Frage nach der Begrün-dung von Moral gleichermaßen. So lassen sich in nahezu allen Lehrplänen Anknüpfungspunkte finden. Genannt seien drei Beispiele: Der Bildungsplan Baden-Württemberg sieht für Klasse 9/10 vor, dass die Schülerinnen und Schüler „entscheidende Phasen ihrer Entwicklung und Sozialisa-tion“ reflektieren können. Auch lernen sie in diesen Schuljahren erste moralphilosophische Posi-tionen kennen. Mithilfe dieser Reihe gelingt der Übergang zwischen beiden Schwerpunkten. Im Lehrplan Hessen ist Kohlberg in Klasse 9 fest verankert. Er fällt unter das Stichwort „ethische Identität und Verantwortung“. In Sachsen findet sich in Klasse 9 der Schwerpunkt „Entscheidungen treffen“. Verwiesen wird dabei auch auf das Stichwort „Dilemmata erörtern“.
II Welche Ziele verfolgt diese Unterrichtseinheit?
Vorrangiges Ziel dieser Einheit ist die Reflexion der eigenen Moralentwicklung. Die Lernenden führen sich im Zuge der Auseinandersetzung mit Kohlberg die Schritte ihrer eigenen Entwick-lung vor Augen. Sie erkennen, dass sie das Ende des Weges noch nicht erreicht haben. Sie lernen, ihren Standpunkt innerhalb des Stufenmodells zu verorten. Zugleich stellt diese Reihe auch eine Einführung in moralphilosophische Grundfragen dar, die in der Kursstufe später ver-tiefend behandelt werden. Ohne, dass hier der Name Kants fällt, wird man bei dessen späterer Behandlung aus den innerhalb dieser Reihe gewonnenen Erkenntnissen Nutzen ziehen können: der Begriff der Autonomie ist eingeführt und die Idee einer vernunftorientierten, kognitiven Moralbegründung behandelt.
III Welche methodischen Schwerpunkte setzt diese Einheit?
Diese Reihe liefert zahlreiche Impulse in Form von Bildern, Zitaten sowie möglichen Begrün-dungen, die in Diskussionen münden. Textexegese spielt altersangemessen nur eine unterge-ordnete Rolle. Stattdessen sind die Lernenden aufgefordert, sich selbst einzubringen und die Materialien auf ihre eigene Lebenswelt zu beziehen. Auch lernen die Jugendlichen in Ansätzen die Arbeitsweise von Psychologen kennen. Sie arbeiten mit der Dilemma-Methode und üben, eine Umfrage eigenständig zu konzipieren, durchzuführen und auszuwerten.
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45 RAAbits Ethik/Philosophie Dezember 2015
S I 5Kohlbergs Modell der MoralentwicklungB Moralphilosophie · Beitrag 10
Materialübersicht
Stunde 1 und 2 Wie entwickelt sich unsere Moral? – Vormeinungen reflektieren
M 1 (Bd) Der Versuchung widerstanden?
M 2 (Tx) Wie könnte der Junge seine Entscheidung begründen?
M 3 (Gd) Lawrence Kohlberg – das Stufenmodell der moralischen Entwicklung
Stunde 3 und 4 Wie vollzieht sich der moralische Aufstieg? – Kohlbergs Theorie
M 4 (Bd) Ein Einbrecher auf der höchsten Stufe der moralischen Einsicht?
M 5 (Tx) Wie lassen sich Stufen der moralischen Entwicklung voneinander
unterscheiden? – Lawrence Kohlberg erklärt sein Schema
M 6 (Ab) Wie lassen sich Entscheidungen begründen?
M 7 (Tx) Martin – eine Entwicklung im Sinne Kohlbergs?
M 8 (Ab) Wie kann ich moralisch selbstbestimmt werden?
Stunde 5 Wie formulierte Kohlberg die Stufen seines Modells? –
Dilemmata erörtern
M 9 (Tx) Wie kam Kohlberg zu seinen Ergebnissen? – Das „Heinz-Dilemma“
M 10 (Tx) Katharinas Dilemma
Stunde 6 und 7 Dilemata entwerfen – die Dilemma-Werkstatt
M 11 (Bd/Fo) Ein Eichhörnchen, eine Torte – und ein moralisches Dilemma?
M 12 (Ab) Wie konzipiert man eine Dilemma-Geschichte?
Stunde 8 Kritik an Kohlberg
M 13 (Bd/Fo) Der Geist ist willig, aber das Fleisch?
M 14 (Ab) Kritik am Modell der Moralstufen Kohlbergs
Stunde 9, 10 und 11 Das Dilemma als Testinstrument – eine Umfrage erarbeiten
M 15 (Ab) Wir testen – ein Dilemma in der Straßenumfrage
Stunde 12 Lernerfolgskontrolle
M 16 (Tx) Vorschlag für eine Lernerfolgskontrolle: Judys Dilemma
Minimalplan
Die aufwendige Straßenumfrage kann entfallen oder nur „theoretisch“ in Form einer Metho-
denreflexion besprochen werden: „Was müsste man beachten, wenn man so eine Umfrage
durchführen wollte?“
AnmerkungenAb = Arbeitsblatt, Bd = Bild, Fo = Farbfolie, Gd = grafische Darstellung, Tx = Text
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45 RAAbits Ethik/Philosophie Dezember 2015
S I6 Kohlbergs Modell der Moralentwicklung B Moralphilosophie · Beitrag 10
M 1 Der Versuchung widerstanden?
Auf den nachfolgenden Bildern begründen zwei Personen unterschiedlichen Alters, warum sie einer Versuchung widerstanden haben. Lest selbst. Klingt das, was sie sagen, plausibel?
Ein Bonbon mopsen?Das Vertrauensverhältnis Verkäufer-Kunde,
die Basis unserer Wirtschaft, für eineSüßigkeit opfern? Nicht mit mir!
Ein Bonbon mopsen?Wenn Mami das erfährt,dann gibt ’s wieder Haue!
Beide Zeichnungen: © fenny – Eberhard Fendrich, Heilbronn 2015.
Aufgaben (M 1)
1. Überlege, was das Thema der kommenden Stunden sein könnte.2. Erkläre, warum uns die angeführten Begründungen merkwürdig vorkommen. 3. Erarbeite mögliche andere Begründungen, die Bonbons nicht zu stehlen.4. Erläutere anhand von Beispielen: Hat sich in deinem Leben dein Verhalten und dessen Be-
gründung in solchen oder ähnlichen Situationen verändert? Gehst du heute anders mit Ver-suchungen um?
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45 RAAbits Ethik/Philosophie Dezember 2015
S I8 Kohlbergs Modell der Moralentwicklung B Moralphilosophie · Beitrag 10
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45 RAAbits Ethik/Philosophie Dezember 2015
S I14 Kohlbergs Modell der Moralentwicklung B Moralphilosophie · Beitrag 10
M 5 Wie lassen sich Stufen der moralischen Entwicklung
voneinander unterscheiden? – Lawrence Kohlberg
erklärt sein Schema
Lawrence Kohlberg war Psychologe. Seine Untersuchungen führte er an Probanden durch,
welche er befragte. Später wertete er ihre Aussagen aus. In einem Text aus dem Jahr 1968 er-
läutert er seine Arbeitsweise. Darüber hinaus erklärt er auch das Stufenmodell.
[1] Ein Beispiel für die Tatsache, dass sich jüngere Kinder […] an der Strafe orientieren und nicht an einer als unan-tastbar betrachteten Regel, findet sich in einer Untersu-chung.
Die Kinder wurden hier gebeten, eine ebenso hilfsbereite wie folgsame Handlung zu bewerten (einen kleinen Bru-der zu hüten, während die Mutter fort ist), der aber eine Bestrafung folgt (die Mutter kehrt heim und schlägt den Jungen, der auf das Baby aufgepasst hat). Die meisten Vierjährigen ignorieren die konkrete Qualität des fragli-chen Verhaltens und sagen, der folgsame Junge sei böse: Er sei schließlich bestraft worden. Im Alter von sieben sagt der größere Teil der befragten Kinder, dass der Junge gut war und nicht schlecht, ungeachtet der Tatsache, dass er bestraft wurde.
[2] Ähnlich verhält es sich, wenn ein Zehnjähriger auf Fra-gen nach dem „moralischen Sollen“ antwortet. Ist das Problem z. B., ob ein Junge seinen älteren Bruder verra-ten soll [in einer Geschichte, wo der Bruder sich weigert, Geld, das er verdient hat, dem Vater auszuhändigen], dann richtet sich das Urteil auf Stufe 1 nach der Wahr-scheinlichkeit, mit der der Betreffende, je nach Verhalten, vom Vater oder aber dem Bruder verhauen wird. Kinder auf der Stufe 1 antworten nicht mit einem moralischen Urteil, das universelle Gültigkeit beansprucht (d. h., sich auf alle Brüder in solch einer Situation anwenden lässt und bei allen Leuten, die sich über diese Situation Gedan-ken machen, Zustimmung erhalten sollte). […]. Im Ge-gensatz dazu benutzen Aussagen auf Stufe 6 […] spezifisch moralische Worte wie „moralisch recht“ oder „Pflicht“ […]. In Wendungen wie „ungeachtet, um wen es geht“ oder „nach dem Gesetz der Natur oder Gottes“ drückt sich Universalität [= Allgemeingültigkeit, der Satz gilt für alle und soll immer gelten] aus. Jemand, der sagt „Mora-lisch betrachtet würde ich es tun, trotz der Angst vor Be-strafung“, abstrahiert [= sieht ab von] von persönlichen Interessen und formuliert ein verpflichtendes Ideal.
[3] Es ist natürlich möglich, dass sich Kinder mit unterschiedlichem Tempo weiterentwickeln, oder auch, dass sie auf irgendeinem Niveau stehenbleiben […], wenn sie sich aber weiter die Stufenleiter hinaufbe-wegen, müssen sie dies in Übereinstimmung mit der Stufenfolge tun.
Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. S. 25 [1], 29 [2], 30 [3].
Aufgaben (M 5)
1. Erläutere in eigenen Worten, was aus dem Beispiel in Abschnitt [1] ersichtlich wird.
2. Erläutere den Unterschied zwischen nicht-moralischen Urteilen und allgemeingültigen
moralischen Urteilen in Abschnitt [2]. Formuliere weitere Beispiele für Situationen, in denen
man moralisch und vormoralisch handeln kann.
Lawrence Kohlberg
Lawrence Kohlberg gilt als bedeutendster Theoreti-ker der Moralentwicklung, auch wenn sein Werk auf den Erkenntnissen des Schweizers Jean Piaget auf-baut. Dieser hatte Kinder beim Spielen beobachtet und aus deren Umgang mit Regeln versucht abzu-leiten, wie sich mit wachsendem Alter Moralvorstel-lungen ändern.
Kohlberg wurde 1927 in Bronxville, New York, gebo-ren als Sohn assimilierter, politisch konservativer jüdischer Eltern. Kohlberg war ein talentierter, aber undisziplinierter Schüler. Früh beschäftigte er sich mit moralphilosophischen Fragen. 1945 reiste er als Mitglied der Handelsmarine nach Europa. Dort ver-störte ihn die Allgegenwart des Holocaust. Er heu-erte auf einem Schiff an, das osteuropäische Juden illegal nach Palästina schmuggelte und geriet in bri-tische Gefangenschaft. Hier überdachte er sein Leben und kam zu dem Schluss, bis jetzt nur aus Egoismus und Abenteuerlust menschenfreundlich gehandelt zu haben. Er studierte Psychologie und arbeitete in Kinderkrankenhäusern und psychiatri-schen Kliniken.
1968 wurde er Professor an der Harvard Universität. Dort leitete er das Zentrum für „moralische Erzie-hung und Entwicklung“. Zahlreiche Anhänger in der ganzen Welt erweiterten sein Stufenmodell oder suchten es für die Praxis tauglich zu machen.
Während einer Forschungsreise in Mittelamerika fing er sich einen tödlichen Parasiten ein, der zu einem schleichenden Verlust der geistigen und kör-perlichen Kräfte führte. Um einem Verlust seiner Selbstbestimmung zuvorzukommen, ertränkte er sich 1987 im Atlantik. Sein Motto war „Das unge-prüfte Leben ist nicht lebenswert“. Zusammenfas-sung nach: Gatz, Detlev: Lawrence Kohlberg zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 1996. S. 11–25.
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S I16 Kohlbergs Modell der Moralentwicklung B Moralphilosophie · Beitrag 10
M 7 Martin – eine Entwicklung im Sinne Kohlbergs?
In einem Interview mit dem Spiegel berichtet Martin, ein ehemaliger Rechtsradikaler, über seine
Vergangenheit. Dabei benennt er auch die Gründe für seine Abkehr vom Radikalismus. Hat er
dabei eine Kohlberg’sche Entwicklung durchlaufen? Lest selbst.
Martin, Mitte zwanzig, kahl geschorener Kopf, mittel-groß, ist seit sechs Monaten Aussteiger […]. 16 Jahre war er Teil der rechtsextremen Szene in Sachsen. Ge-walt bestimmte sein Leben. […] Viele Jahre seines Lebens glaubte er an die Allmachtfantasien und die Propaganda der Szene. Martin war ein Mitläufer, hatte nie eine Führungsposition, allerdings eine wichtige Aufgabe: Nachwuchs zu rekrutieren.
Doch nach vielen Jahren kamen die Zweifel. „Ich habe erst versucht, mich mit unseren Taten auseinan-derzusetzen, und sie hinterfragt. Ich habe versucht, Kameraden zu sensibilisieren, dass man auch sein ganzes Leben versauen kann. […] Irgendwann habe ich mich angeekelt gefühlt.“ Martin würde nun gern den Ballast abwerfen, die Vergangenheit loswerden. Doch das ist nicht so einfach.
Martin ist neun Jahre alt, als er in die Szene rutscht. Im Unterschied zu seinen Freunden fällt ihm Lesen und Schreiben sehr schwer. Seine Eltern können sich um den Jungen nicht kümmern. Sie arbeiten im Schichtsystem. Meistens sind sie nicht zu Hause, und wenn doch, sind sie müde. Statt mit den eigenen Eltern übt Martin mit einem Bruder seines Klassen-kameraden. Der 16-Jährige zeigt erstaunlich viel Ein-satz. Nachmittags, wenn die Eltern schlafen, setzt sich der Teenager mit Martin hin und lässt ihn aus einem Buch vorlesen. Es handelt von der deutschen Wehrmacht.
„Damals habe ich nicht mitbekommen, dass ich ge-steuert werde […]“, sagt Martin. Das Buch ist der Ein-stieg in den Rechtsextremismus. Martin liest immer mehr einschlägige Literatur, der Bruder seines bes-ten Freundes weicht ihm nicht mehr von der Seite, er rutscht immer tiefer in die Szene. Neben der Haus-aufgabenbetreuung gibt es Fußballturniere. Die Jungs angeln, bauen Gartenlauben, feiern und jagen. Mit echten Waffen, in Tschechien. Dort lernt Martin den Umgang mit Gewehren, Pistolen und Handgra-
naten. „Ich war 14 Jahre alt, als ich das erste Mal eine MG in den Pfoten hielt“, sagt er.
Dem Teenager gefällt das. „Dieses Wir-Gefühl ist un-beschreiblich. Das kannte ich von zu Hause nicht“, sagt er. Martin hat nun eine zweite Familie, wird ernst genommen, hat eine Beschäftigung in der Frei-zeit. Für Spaß und Abenteuer nimmt er, ohne zu mur-ren, die Pflichten in Kauf. Regelmäßig hört er nach der Schule Vorträge von älteren Kameraden über Ge-schichte, Politik, Deutsch und Gemeinschaftskunde. „Die haben uns von Anfang an geschult, ganz be-wusst“, sagt Martin. Und seine Eltern? Die dachten bis zu seinem 16. Lebensjahr, dass ihr Sohn lediglich einem Hobby nachginge. „Dass es mein ganzes Leben bestimmt hat, haben die nicht mitbekommen.“
Die Kameradschaft bedeutet für Martin Spaß. Doch der schlägt mit den Jahren mehr und mehr in Gewalt um. Erst mit Mitte zwanzig realisiert er, was Rechts-extremismus bedeutet – für die Gesellschaft, aber auch für ihn persönlich: „Gewalt ohne Ende, Wut ohne Ende, Hass ohne Ende, Trauer ohne Ende, Angst ohne Ende“, sagt er, starrt wieder vor sich hin und sagt dann mit leiser Stimme: „Der NS [=Nationalso-zialismus] ist zu allem fähig.“
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Text: Björn Menzel und Jens Kiffmeier: Hass ohne Ende, Angst ohne Ende. In: Spiegel online vom 20.6.2013. Zu finden unter: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/ein-neonazi-berichtet-von-seinem-ausstieg-aus-der-rechten-szene-a-905625.html.
Aufgaben (M 7)
1. Durchläuft Martin eine Entwicklung im Sinne Kohlbergs? Lies den Text zur Beantwortung der
Frage sehr genau.
– Formuliere Belege für verschiedene Stufen, die Martin durchläuft. Benenne diese Stufen.
– Finde Textstellen, die dagegen sprechen, dass er sich im Sinne Kohlbergs weiterentwickelt
hat. Entscheide dann!
2. Welche Faktoren können dazu beitragen, dass ein Mensch seine moralische Einstellung
ändert? Erläutere dies am Beispiel von Martin.
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S I22 Kohlbergs Modell der Moralentwicklung B Moralphilosophie · Beitrag 10
M 9 Wie kam Kohlberg zu seinen Ergebnissen? –
Das „Heinz-Dilemma“
„Heinz-Dilemma“ – so heißt die berühmteste und wohl am meisten zitierte Dilemma-Situation
Kohlbergs, mit der er vorrangig arbeitete. Er legte ausgewählten Testpersonen die nachfolgen-
de Dilemma-Situation schriftlich vor, wertete ihre Antworten aus und setzte diese dann in Be-
ziehung zum Alter.
Eine Frau in Europa war dem Tode nahe, da sie an einer sehr schweren Krankheit, einer beson-deren Form von Krebs, litt. Es gab ein Medika-ment, von dem die Ärzte annahmen, dass es die Rettung bringen könnte. Es handelte sich um eine Art Radium, das ein Apotheker aus derselben Stadt jüngst entdeckt hatte. Das Me-dikament war teuer in der Herstellung, aber der Apotheker verlangte das Zehnfache dessen, was ihn die Herstellung kostete. Er bezahlte 200 Dollar für das Radium und verlangte 2000 Dollar für eine kleine Dosis der Arznei.
Der Ehemann der kranken Frau, Heinz, suchte alle, die er kannte, auf, um sich das Geld zu lei-hen. Aber er konnte nur etwa 1000 Dollar, die Hälfte des Kaufpreises, zusammenbringen. Er sagte dem Apotheker, dass seine Frau im Sterben läge, und bat ihn, das Mittel billiger abzuge-ben oder ihn später bezahlen zu lassen. Aber der Apotheker sagte: „Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich werde damit Geld verdienen.“ Heinz geriet in Verzweiflung und brach in die Apotheke ein, um das Medikament für seine Frau zu stehlen.
Hätte der Ehemann dies tun sollen? Warum? Warum nicht?
Text: Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. S. 65.
Aufgaben (M 9)
1. Durfte Heinz das Medikament stehlen? Diskutiert gemeinsam in der Klasse und notiert Argu-
mente dafür und dagegen an der Tafel.
Heinz darf das Medikament stehlen,
weil …
Heiz darf das Medikament nicht stehlen,
weil …
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2. Ordnet die Argumente an der Tafel den jeweiligen Kohlberg-Stufen zu.
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45 RAAbits Ethik/Philosophie Dezember 2015
S I 27Kohlbergs Modell der MoralentwicklungB Moralphilosophie · Beitrag 10
M 11 Ein Eichhörnchen, eine Torte –
und ein moralisches Dilemma?
Stellt die nachfolgend dargestellte Situation wirklich ein Dilemma dar?
Moralisches Dilemma: Soll ich den Hochzeitskuchen retten oder ein lustiges Bild machen?
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Aufgaben (M 11)
1. Betrachte das Bild. Handelt es sich bei der dargestellten Situation wirklich um ein morali-
sches Dilemma? Begründe deine Meinung.
2. Wie könnte man hier moralisch für die eine oder andere Option argumentieren?
Was spricht dafür, den Kuchen zu retten … Was spricht dafür, ein lustiges Foto zu ma-
chen …
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