Sturzprävention als kommunale Aufgabe

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Public Health Forum 21 Heft 79 (2013)http://journals.elsevier.de/pubhef

Sturzpr€avention als kommunale Aufgabe

Diana Klein, Michaela Kupper, Kilian Rapp, Clemens Becker und Petra Benzinger

Die Inzidenz von Sturzen und sturz-

bedingten Verletzungen ist gut unter-

sucht (Baßgen et al., 2012; Peel, 2011).

Ebenso sind die damit verbundenen

Folgen wie Pflegebedurftigkeit, Sturz-

angst oder erhohte Mortalitat bekannt

(Campbell et al., 1990; Kannus et al.,

1999; Scheffer et al., 2008). Sturzbe-

dingte Verletzungen und deren Folgen

stellen eine erhebliche Gesundheitsge-

fahr fur die betroffene Person und oko-

nomische Belastung fur das Gesund-

heitssystem sowie die Gesellschaft dar

(Heinrich et al., 2010).

Zahlreiche kontrollierte Studien haben

die Effektivitat einzelner Praventions-

maßnahmen wie z.B. Trainingsinter-

ventionen, Reduktion psychotroper

Medikamente oder Wohnraumanpas-

sung bei visusgeminderten Personen

nachgewiesen (Gillespie et al., 2012).

Diese fokussieren in der Praxis jedoch

meist nur auf wenige kleine Personen-

gruppen und werden nur durch einzel-

ne Akteure umgesetzt (z.B. Arzte, Ver-

eine, Deutsches Rotes Kreuz). Auf

Grund dessen ist zweifelhaft, dass

die fur den Einzelnenwirksamen Inter-

ventionen auf Bevolkerungsebene ei-

nen nennenswerten Effekt haben. Viel-

mehrmussen allgemeine Bedingungen

geschaffen werden, die a) die Umset-

zung der angesprochenen Praventions-

maßnahmen erleichtern und damit zur

Regel werden lassen und die b) die

Funktionalitat alterer Menschen schon

a priori soweit erhalten, dass eine er-

hohte Sturzgefahrdung gar nicht oder

erst im hoheren Alter auftritt. Dies

kann aber nicht die alleinige Aufgabe

einzelner Akteure, wie z.B. der Kran-

kenkassen sein. Sturzpravention muss

vielmehr als kommunale Aufgabe

aufgefasst und angenommen werden.

Dabei sollte begrifflich zwischen

Maßnahmen und Strategien unter-

schieden werden (Christoffel und

Scavo Gallagher, 1999). Maßnahmen

sind einzelne Interventionen, wie z.B.

die Steigerung korperlicher Aktivitat,

Sturzpraventionstraining oder Wohn-

raumanpassung, welche bekannt und

gut untersucht sind. Strategien be-

zeichnen dagegen Instrumente, mittels

derer die Maßnahmen letztlich umge-

setzt und beworben werden. Dies kon-

nen u.a. Regulierungsprozesse oder

Werbe- und Bildungsmaßnahmen

sein. Wahrend also evidenzbasierte

Maßnahmen bereits zur Verfugung ste-

hen, geht es nun um Erfolg verspre-

chende Strategien, diese Maßnahmen

nachhaltig in kommunale Strukturen

einzubetten und damit der gesamten

alteren Bevolkerung, in Abhangigkeit

von deren Bedarf, zukommen zu las-

sen. Erfolgreiche kommunale Modell-

projekte ausAustralien oder Schweden

verdeutlichen die Relevanz der Vernet-

zung lokaler Akteure sowie die Bun-

delung von Handlungskompetenzen

(Hahn et al., 1996; McClure et al.,

2010; Svanstrom et al., 1996).

Im Rahmen einer dreijahrigen Studie

in der suddeutschen Stadt Reutlingen

(112.000 Einwohner), erfolgt seit Sep-

tember 2010 modellhaft die Entwick-

lung, Implementierung und Evaluation

einer bevolkerungsbezogenen Inter-

vention zur Reduktion von Sturzen

und sturzbedingten Verletzungen. Die

involvierten lokalen Akteure erhalten

keine zusatzlichen finanziellen Mittel,

da untersucht werden soll, welche be-

reits vorhandenen Strukturen, Institu-

tionen und Ressourcen fur die Imple-

mentierung von Sturzpraventionsmaß-

nahmen genutzt werden konnen.

Wenn auch das primare Ziel die Pra-

vention von Sturzen ist, sollten in der

Kommunikation stets die positiven

Auswirkungen korperlicher Aktivitat

auf den Erhalt von Gesundheit und

Selbstandigkeit im Alter betont

werden.

Zur breiten Verankerung in der Kom-

mune wurden drei Handlungsebenen

geschaffen. Eine ubergeordnete Len-

kungsgruppe soll Ziele formulieren

und Strategien priorisieren. Lokale

Entscheidungstrager sind hier Vertreter

der kommunalen Verwaltung, des

Gesundheitswesens (Kreisarzteschaft,

Geriatrischer Schwerpunkt, Pflege-

dienste), der Sportvereine, Bildungstra-

ger undWohlfahrtsverbande. Auf einer

zweiten Ebene erarbeiten themenbezo-

gene Ideengruppen mogliche Hand-

lungsstrategien. Die Teilnehmer sollen

praktische Erfahrungen in den ent-

sprechenden Bereichenvorweisen kon-

nen. Themenfelder waren bislang z.B.

,,Bewegungsangebote‘‘, ,,Gesundheits-

wesen‘‘ oder ,,Stadt- und Verkehrspla-

nung‘‘. Die Ideen werden zunachst von

externen Experten bewertet und dann

von der Lenkungsgruppe priorisiert,

ehe die praktische Umsetzung in den

jeweiligen Projektgruppen erfolgt.

Exemplarisch kann das Vorgehen an

einem von vielen Projekten verdeut-

licht werden: So wurde sowohl in der

Lenkungs- als auch in der entsprech-

enden Ideengruppe das Fehlen einer

Ubersicht uber fur altere Menschen

geeignete Bewegungsangebote be-

mangelt und die Erstellung eines web-

basierten Verzeichnisses angeregt.

Nach Beschluss in der darauf folgen-

den Lenkungsgruppensitzung erfolgte

die Umsetzung unter Mitarbeit von

Vertretern des organisierten Sports,

der Volkshochschule, des Deutschen

Roten Kreuzes, des Amts fur Schulen,

Jugend und Sport sowie der Abteilung

31.e1

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fur Altere der Stadtverwaltung. Mitt-

lerweile sind ca. 200 Bewegungsan-

gebote auf der Webseite www.schritt-

halten-reutlingen.de verzeichnet. Zur

Bekanntmachung der Webseite wurde

Werbematerial wie Flyer und Plakate

erstellt, Verlinkungen auf andere

Webseiten gesetzt und Artikel in loka-

len Printmedien veroffentlicht. Zudem

erfolgte die Bewerbung im Rahmen

regionaler Veranstaltungen wie Vor-

trage, Messen und Aktionstage. Es

kann zunehmendes Interesse und stei-

gende Nutzung seitens der alteren

Burger selbst sowie der professionel-

len Akteure festgestellt werden und

bislang somit ein positives Zwischen-

fazit gezogen werden.

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Insgesamt zeigt sich, dass auch ande-

re Kommunen das Problem der Sturze

und Frakturen im Alter zunehmend

erkennen und sich auf den Weg ma-

chen, Bewegung und korperliche

Funktionalitat ihrer alteren Burger

zu fordern und hierfur auch geeignete

Umgebungsbedingungen zu schaf-

fen. Um die Erfahrungen aus dem

Modellprojekt in Reutlingen auch an-

deren Akteuren und Kommunen zu-

ganglich zu machen, wird ein frei

verfugbarer Maßnahmen- und Strate-

gienkatalog erarbeitet, der eine Uber-

sicht moglicher Handlungsoptionen

bietet und als Planungsgrundlage ei-

gener Aktivitaten dienen kann. Wei-

tere Informationen und Materialien

zum Projekt sind unter www.schritt-

halten.info zu finden.

Das Projekt wird vom Bundesministe-

rium fur Bildung und Forschung gefor-

dert (Forderkennzeichen:01EC1007A).

Die korrespondierende Autorin erklart, dasskein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur siehe Literatur zum Schwerpunkt-thema.http://journals.elsevier.de/pubhef/literatur

http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2013.03.007

Gerontologin, M.A. Diana KleinRobert-Bosch-KrankenhausKlinik fur Geriatrische RehabilitationAuerbachstr. 11070376 Stuttgartdiana.klein@rbk.de

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Einleitung

Evidenzbasierte Maßnahmen zur Sturzpravention stehen bereits zur Verfugung. Vielmehr geht es nun um erfolgver-

sprechende Strategien, dieseMaßnahmen nachhaltig in kommunale Strukturen einzubetten und damit der gesamten alteren

Bevolkerung, in Abhangigkeit von deren Bedarf, zukommen zu lassen. Sturzpravention und Steigerung der korperlichen

Aktivitat im Alter kann nicht Aufgabe vereinzelter Institutionen sein. Sie muss als gemeinsame Herausforderung aller

kommunalen Akteure verstanden werden.

Summary

Evidence-based interventions for the prevention of falls are available. However, little is known about promising strategies

for successful and sustainable implementation into a wider community. Fall prevention and increase of physical activity in

old age cannot be the task of single institutions. This challenge has to be considered as a shared endeavour of a whole local

community

Schlusselworter:

Sturzpravention = fall prevention, korperliche Aktivitat = physical activity, bevolkerungsbezogene Interventionen =

population-based interventions, zu Hause Lebende = community-dwellers, altere Menschen = elderly

Literaturverzeichnis

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