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» … dass das ganze Leben Buße sei.«

Arbeiten zur Systematischen Theologie

Herausgegeben von Heinrich Bedford-Strohm, Ulrich H. J. Körtner, Rochus Leonhard, Notger Slenczka und Günter Thomas

Band 7

Anne Helene Kratzert

» … dass das ganze Leben Buße sei.«

Fundamentaltheologische Überlegungen zu einer praktischen Theologie evangelischer Buße

Anne Helene Kratzert, Dr. theol., Jahrgang 1978, studierte Evangelische Theologie in Leipzig, Cheltenham/UK, Berlin und Heidelberg. Derzeit ist sie Pfarrerin der Badischen Landeskirche und in Karlsruhe tätig. Sie ist Mitglied der Gesellschaft für Evangelische Theologie und wurde mit der vorliegenden Arbeit 2013 von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg promoviert.

Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Datensind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · LeipzigPrinted in Germany · H 7805

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek tronischen Systemen.

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Cover: Jochen Busch, LeipzigSatz: Sabine Ufer, LeipzigDruck und Binden: Hubert & Co., Göttingen

ISBN 978–3-374–03910–4www.eva-leipzig.de

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dis-sertation, mit der ich im Sommersemester 2013 an der Ruprecht-Karls-Uni-versität Heidelberg promoviert wurde. Zeit, Danke zu sagen. Zunächst danke ich den beiden Betreuern dieser Arbeit. Das ist zum einen Prof. Dr. Ingrid Schoberth. Sie ist meiner Idee, eine Arbeit über die evangelische Buße zu schreiben, von Anbeginn mit Offenheit und ehrlichem Interesse begegnet. Ihre Offenheit, in verschiedene Richtungen zu denken, und ihr Interesse, dieses Denken zugleich immer wieder an einer reformatorisch verantwor-teten zeitgemäßen Theologie auszurichten, haben diese Arbeit fachlich ge-tragen und profiliert. Auch für ihr Nachfragen und ihre Ermutigungen danke ich ihr von Herzen. Sie hat das Erstgutachten für diese Arbeit erstellt. Zum anderen danke ich Landesbischof Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm. Er war von Beginn meines Studiums an ein Begleiter meines theologischen Ler-nens. Für jede Förderung, insbesondere für die Impulse, die diese Arbeit ihm und seinem Doktorandenkolloquium verdankt, bin ich ihm sehr verbun-den. Stellvertretend für die gesamte Herausgeberschaft danke ich ihm auch für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der »Arbeiten zur Systematischen Theologie«. Für die Erstellung des Zweitgutachtens danke ich Prof. Dr. Gre-gor Etzelmüller. Mithilfe eines Gerhard-von-Rad-Stipendiums der Theologi-schen Fakultät in Heidelberg konnte ich am Anfang meiner Promotionszeit das Thema sondieren. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat mir mit der Gewäh-rung eines Promotionsstipendiums ein sorgenfreies Arbeiten ermöglicht. Die Evangelische Landeskirche in Baden hat die Veröffentlichung der Arbeit mit einem Druckkostenzuschuss unterstützt. Friedemann Richter in Leipzig hat eine präzise Letztkorrektur vorgenommen. Auch hierfür sage ich herz-lich Dank.

Es gibt Menschen, die mit diesem Projekt eng verbunden sind und ohne die ich nicht in der Weise hätte arbeiten können, wie ich konnte. Und so danke ich zuallererst meinen Eltern: meinem Vater, Dr. Konrad Fischer, dafür, dass er die Liebe zur Theologie in mir geweckt hat und zu jeder Zeit

6 Vorwort

auch auf die Mühen dieser Liebe ansprechbar war. Seine theologische Denk-schärfe und seine Lateinkünste sind in diese Arbeit eingegangen. Meiner Mutter, Marie-Luise Fischer, danke ich neben allem, wofür man einer Mutter danken kann, für die vielen Nachmittage, an denen sie meinen Kindern gab, was ihre Mutter ihnen gerade nicht geben konnte. Gleiches gilt für meine Schwiegermutter Dr. Christine Kratzert. Mein Schwiegervater Hans Kratzert hat das Endmanuskript mit Akribie Korrektur gelesen. Ihnen allen sei herz-lich gedankt.

Meine Brüder und alle Freundinnen und Freunde, die Interesse an die-sem Projekt gezeigt haben, die Entwürfe, Vorfassungen, fertige Kapitel ge-lesen haben, die abgelenkt und aufgemuntert haben, haben es auch mit ge-tragen. Auch ihnen möchte ich danken.

Und zuletzt gebührt großer Dank der Familie, die mein Alltag ist. Nichts ist so alltäglich wie die Liebe. Und nichts ist dabei eine solche tragende Kraft. Meinem Mann, Dr. Lucius Kratzert, danke ich für die Sommerurlaube mit den Kindern ohne mich, für jeden Freiraum, den er mir geschaffen hat, für jede theologische Diskussion und alle anderen Interessen, die wir teilen. Unseren Kindern Elisabeth und Fritz dafür, dass sie das Schicksal, Kinder promovierender Eltern zu sein, so langmütig und geduldig ertragen haben und dabei immer gute Ideen fanden, ihre Eltern auf den Boden sehr irdischer, leiblich-lieblicher Tatsachen zu holen. Unser Miteinander hat mir in den ver-schiedenen Phasen der Entstehung dieses Buches abseits des Schreibtisches immer wieder gezeigt, wie wunderbar das Leben ist, auch, oder gerade, wenn das ganze Leben Buße ist.

Anne Helene Kratzert, Juli 2014

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1.1 Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131.2 Warum eine Theologie der Buße? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191.2.1 Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2.1.1 Die Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2.1.2 Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231.2.2 Kommunizieren: Für eine praktische Theologie

evangelischer Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.2.2.1 Die Schuld individualisierter Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.2.2.2 Moderne Bußen: Innere Reinheit, Lebenshilfe

und Ratgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341.3 Christliche Buße als Ausstieg aus autopoietischen

Kreisläufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

2 Die Reue als Ursprung der Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

2.1 Luthers Kritik am Ablass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412.1.1 Die Entwicklung des Ablassinstituts bis 1517 . . . . . . . . . . . . . . . 422.1.2 Luthers 95 Thesen über den Ablass: Disputatio

pro declaratione virtutis indulgentiarum (1517) . . . . . . . . . . . . . . 452.2 Die Liebe zu Gott und die Liebe zur Gerechtigkeit:

Der Sermo de poenitentia (1518) und der Widmungsbrief an Johannes von Staupitz (30. Mai 1518) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

2.2.1 Der amor iustitiae et dei und das neue Leben des Gerechtfertigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

2.2.2 Der amor iustitiae et dei in der theologischen Literatur . . . . . . . . 62 2.2.2.1 Reinhard Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

8 Inhalt

2.2.2.2 Susanne Hausammann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.2.2.3 Steffen Kjeldgaard-Pedersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662.2.3 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672.3 Die zuvorkommende Gnade: Die Leipziger

Disputation (1519) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712.4 Das Gesetz: Die Assertio omnium articulorum . . . . . . . . . . . . . . . . 732.5 Die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder und

der Ursprung der Buße in Christus: Der Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (1519) . . . . . . . . . 80

2.6 Gesetz und Evangelium: Die rezeptionsorientierte Bedeutungsdimension der Begriffe Gesetz und Evangelium: Die Predigt über Lk 5, 1–11 (1537) und die Schrift »Wider die Antinomer« (1539) . . . . . . . . . . . . . . . 84

2.7 Praxisausblick: Gesetz, Evangelium und Buße als Aufgaben der Seelsorge? Die seelsorgerische Dimension der Predigt von Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . 97

2.8 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

3 Das innere Geschehen der Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

3.1 Buße: Ereignisdimension des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073.1.1 Buße: Erzitternder und getrösteter Glaube: Von

der babylonischen Gefangenschaft der Kirche (1520) . . . . . . . . . 1083.2 Das Menschenbild in der Buße: Die relationale

Ontologie der Person in ihrer Bedeutung für die Buße . . . . . . . . 1143.2.1 Der Mensch: Ens relationale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1143.2.2 Die Konstitution des Menschen als innerer und

äußerer, geistlicher und fleischlicher Mensch . . . . . . . . . . . . . . . 1183.2.3 Die geistliche Entscheidungssphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.2.3.1 Nisus und affectus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3.2.3.2 Passio und rapi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1213.2.4 Das Hören des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1223.2.5 Der exzentrische, responsorische und eschatologische

Charakter des Person-Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1233.2.6 Exkurs: Intentionalität als Strukturprinzip

menschlichen Seins (Melanie Beiner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1273.3 Das Gottesbild in der Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313.3.1 Der deus absconditus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

9Inhalt

3.3.1.1 Der deus absconditus in der Heidelberger Disputation (1518) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

3.3.1.2 Der deus absconditus in der Schrift De servo arbitrio (1525) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.3.1.3 Deus absconditus und deus revelatus . . . . . . . . . 145

3.3.2 Der deus absconditus: Chiffre der göttlichen Drohung in der Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

3.3.3 Der deus absconditus und das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1533.3.4 Das Handeln Gottes unter dem Gegenteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1563.3.5 Kampf mit Gott – Festhalten am Wort:

Gott im Gewissen überwinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1563.3.6 Resümee und Praxisausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1593.4 Christologische Dimensionen der Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1603.4.1 »Ist nu das nit ein fröliche wirtschafft … ?«:

Die communicatio idiomatum als soteriologische Mitte der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

3.4.2 » … quod sua passio efficax«: Das wirksame Leiden Christi . . . . . . 1673.4.3 Gesetz und Leiden Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1683.4.4 Stellvertretung und cognitio sui im Kreuz:

Der Mensch als Objekt der Passion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1723.4.5 Der Mensch als auctor passionis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1773.4.6 Zwischenergebnis: Der gläubige Vollzug des Karfreitag

als das Grundereignis der Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1803.4.7 » …nostri in consolationem«: Der Trost des Kreuzes . . . . . . . . . . . 1863.4.8 »exemplum vel consolatio … «: Mit Christus im Resurrexit . . . . . . 1893.4.9 Vor-Bild und Rück-Blick: Die Bewertung von

Bußaktivität vor dem Hintergrund des Verständnisses Christi als exemplum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

3.5 Pneumatologische Dimensionen der Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1953.5.1 Das Wirken des Heiligen Geistes als Evidentwerdung der

res des Kreuzeszeichens: Eine pneumatologische Relektüre . . . . . 1963.5.2 Buße: Gottes- und Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1993.5.3 Buße: Transitus mentis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2023.5.4 Buße: Geistliche Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2093.5.5 Buße: Transmutatio mentis et affectus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3.5.5.1 Der Begriff des Affekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2153.5.6 Die Etablierung einer neuen Selbstgewissheit in

der Buße (nach Eilert Herms) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2173.5.7 Buße: Leben in der Heiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

10 Inhalt

4 Das äußere Geschehen der Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

4.1 Die Beichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2274.1.1 Das Sündenbekenntnis: Der konsekutive

Zusammenhang von Sündenbekenntnis und Sündenerkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

4.1.2 Inhalt und Form des Beichtbekenntnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 4.1.2.1 Die offenkundig drückenden Sünden . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 4.1.2.2 Ohrenbeichte und offene Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2364.2 Die Absolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2394.2.1 Die Wirksamkeit der Absolution allein aus Glauben . . . . . . . . . . 2394.3 Schlüsselamt und allgemeines Priestertum . . . . . . . . . . . . . . . . . 2434.4 Die mutua consolatio fratrum und das mutuum

colloquium als Kennzeichen evangelischer Gemeinschaft . . . . . 2454.5 Abschließende Betrachtung: Ein evangelisches

Bußsakrament? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

5 Spuren der Buße in der Theologie Henning Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2575.2 »Identität und Fragment« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2675.2.1 Erste Spur: Buße als Bewusstsein eigener Fragmentarität . . . . . . 2765.2.2 Zweite Spur: Buße als Möglichkeit eines Lebens

als Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2795.2.3 Dritte Spur: Buße und die Ästhetik des Fragments . . . . . . . . . . . 2815.3 »Schmerz und Sehnsucht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2855.3.1 Vierte Spur: Buße als Erlösungsbedürftigkeit im Alltag . . . . . . . 2875.4 »Der fiktive Andere« und »Das unruhige Herz« . . . . . . . . . . . . . . 2895.4.1 Fünfte Spur: Buße als Leben im Urteil des

»fiktiven Anderen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2955.5 »Ich ist ein Anderer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2975.5.1 Sechste Spur: Praktische Theologie als Diakonie . . . . . . . . . . . . . 3025.6 »Die Lügen der Tröster«, »Identität und Fragment«,

Predigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3055.6.1 Siebte Spur: Der Bußruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 5.6.1.1 Der Glaube als Ruf in die Buße:

»Die Lügen der Tröster« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

11Inhalt

5.6.1.2 Das Fragment als Ästhetik des Bußrufes: »Identität und Fragment« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

5.6.1.3 Der Bußruf als Einladung ins Himmelreich: Die Predigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

5.7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

6 Sieben Bausteine zu einer praktischen Theologie evangelischer Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

6.1 Lehre, Predigt, Seelsorge: Mut zur Authentizität! . . . . . . . . . . . . 3246.2 Erfahrung von Gericht, Zorn und Gnade: Mut zum

personalen Gott! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3266.3 Mut zu einer christologisch verantworteten

Theologia crucis! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3286.4 Unvollendet: Mut zum Fragment! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3306.5 Das Ich und das Ende: Mut zur Eschatologie! . . . . . . . . . . . . . . . . 3306.6 Das Gespräch mit dem (fiktiven) Anderen:

Mut zur Beichte! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3326.7 Metanoeite: Mut zur Umkehr – Mut zu Gott! . . . . . . . . . . . . . . . . 333

7 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335Hilfsmittel und Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336

1 Einleitung

1.1 Ziel der Arbeit

Es gibt keine Theologie ohne Schmerz und Sehnsucht. Was der Marburger Theologe Henning Luther am Ende des 20. Jahrhunderts als wesentlich für die Theologie konstatiert, Schmerz und Sehnsucht1, die Artikulation des Menschen in seinen Abgründen und Hoffnungen, erinnert an Martin Lu-thers Ausführungen über die Buße in seiner Schrift über die babylonische Gefangenschaft der Kirche aus dem Jahr 1520.2 Die Theologie, so der Re-formator, kann den Glauben immer nur als büßenden Glauben verstehen, dessen Grunddynamik im stetigen Übergang von Reue in fiducia besteht. Im 16. wie im 20. Jahrhundert wurde glaubende Existenz in der theologischen Reflexion beschrieben als eine, die sich in den Existenzialien von Schmerz und Reue, Sehnsucht und glaubendem Vertrauen bewegt.

Diese Beschreibungen sind Ausdrücke einer Theologie der Buße. Sie sind aus einem Verständnis Gottes und des Menschen und ihrer gegenseitigen Bezogenheit heraus formuliert, dem implizit (Henning Luther) oder explizit (Martin Luther) die Buße als Prinzip inhäriert.

Die vorliegende Arbeit macht sich dieses Prinzip zu eigen und intendiert, die Buße als Gestaltwerdung christlich-evangelischen Lebens neu zur Gel-tung zu bringen. Dass diese Gestaltwerdung in der Geschichte der evange-lischen Buße häufig mehr eine »Geschichte ihrer Verstellungen«3 war, zeigt

1 Henning Luther, Schmerz und Sehnsucht. Praktische Theologie in der Mehrdeutig-keit des Alltags, in: Religion und Alltag, Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts (im Folgenden RuA), Stuttgart 1992, 239–256.2 WA 6, 484–573.3 »Buße kann als Zentralbegriff der christlichen Theologie und Frömmigkeit bezeich-net werden; […] Jedoch ist trotz der Angabe des hohen Stellenwerts, der dem Begriff der Buße im christlichen Denken zukommt, nicht zu übersehen, daß die Geschichte der Buße

14 Einleitung

sich schon in einem kurzen und begrenzten Blick auf den Ursprung und die Entwicklung des evangelischen Bußbegriffs:

Die Ablassthesen von 1517 gelten in der kirchengeschichtlichen Wissen-schaft als Initialpunkt der Reformation. Das Ablasswesen war schon längere Zeit Auslöser einer umfassenden Kirchenkritik, und die negative Beurteilung des Ablasses erhielt durch Martin Luther eine neuartige theologische Fun-dierung und damit auch eine neue Sprengkraft. Die Lehre vom Ablass hat ihre dogmatische Wurzel im dritten Teil des katholischen Bußsakraments. Dieses, bestehend aus contritio cordis (Zerknirschung des Herzens), confessio oris (Bekenntnis mit dem Munde) und satisfactio operis (Genugtuung durch das Werk), sieht als Genugtuung durch das Werk eben auch den Ablass vor, den es in verschiedenen Formen gab.4 Luther, bemüht um eine theologische Klärung dieses Topos, setzt konsequenterweise zum Zweck der Definition von Sinn und Wirkung der Ablässe mit einer Aussage über die Buße ein.5 Dies tut er, indem er auf Jesu Ruf zur Buße in Mk 1,15 rekurriert. In seiner kurzen Auslegung des Bibelverses wird deutlich, dass in seiner Sicht die sakramen-tale Praxis der Buße das biblische Bußverständnis in seiner Ganzheitlichkeit und Radikalität relativiert. Nicht im Gang zum Beichtvater, nicht in punk-tueller Buß- und Beichtgelegenheit hat die Buße ihren Ort. Vielmehr sei die Buße ein Zentralvorgang christlichen Lebens, der sich täglich auf ein Neues in der gläubigen Seele vollzieht. Dies findet letztlich seinen Niederschlag in Luthers Aussagen zur Taufe im Kleinen Katechismus, in welchem er die Ent-Sakramentalisierung der Buße durch eine Hineinnahme des Bußsakraments in das Taufsakrament vollzieht. So konstatiert Luther im Kleinen Katechis-mus, Taufe bedeute, »dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten«6.

Sakrament der Sündenvergebung ist damit die Taufe, ein eigenständiges Bußsakrament wird überflüssig.

Eine wichtige Erkenntnis hierbei ist die Tatsache, dass die Reformation inhaltlich eröffnet wurde mit der Diskussion um ein rechtes Verständnis von

zugleich die Geschichte ihrer Verstellungen ist.« Falk Wagner, Art. Buße VI. Dogmatisch, TRE 7, Berlin, New York 1981, 473.4 Martin Ohst, Art. Ablaß I. Geschichtlich, RGG4 1, Tübingen 1998, 66 f.5 WA 1, 233, 10 f.6 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche: herausgegeben im Ge-denkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 121998, 516. Grundlegendes zum Zusammenhang von Taufe und Buße s. Volker Stolle, Taufe und Buße. Luthers Inter-pretation von Röm 6, 3–11, KuD 53/1 (2007), 2–34.

15Ziel der Arbeit

Buße. Diese Beobachtung deckt sich mit dem Ergebnis einer Untersuchung Volker Leppins, der feststellt, dass die »rechtfertigungstheologische Erkennt-nis« Luthers »nicht allein negativ durch das Ringen um den iustitia-Begriff vorbereitet« wurde, »sondern auch positiv durch eine theologische Neube-wertung des Bußbegriffs«7. Für Luther war ein rechtes Verständnis der Buße und eine sachgemäße Bußpraxis offenbar zentrales Element eines christli-chen Lebens, wenngleich beim »späteren Luther« das Ringen um einen neu definierten Gerechtigkeitsbegriff Dreh- und Angelpunkt seines theologischen Arbeitens wurde. Es verdient aber Beachtung, dass dieses Ringen um einen Gott adäquaten Gerechtigkeitsbegriff, dieses Ringen um einen gnädigen Gott sowie die spätere Ausformulierung der Rechtfertigungslehre seinen Aus-gangspunkt nahm in einer von Buße als Grundlebenshaltung geprägten De-mutstheologie. Diese fand ihren Weg von der Denkbewegung »Wer Gott recht gibt (in der eigenen Erkenntnis des Sünderseins und damit in der Buße, vgl. Ps 116,11 f), dem gibt Gott recht«, hin zu einem forensischen Gerechtigkeits-verständnis, dem Gerecht-Sein des Sünders im Gerichtsurteil Gottes.

Die Ent-Sakramentalisierung des Bußbegriffs diente dem Zweck der Rückführung der Buße zu ihrer eigentlichen Identität im Sinne eines radi-kalen, ganzheitlichen Bußverständnisses. Der Ausgang dieser Re-Identifizie-rung der Buße war jedoch ambivalent. Zum einen war der Sachgehalt der Buße nun nicht mehr äußere Genugtuung wie zuvor noch im Ablass, son-dern Genugtuung des Herzens, Selbstanklage und Neubesinnung auf Gott, ein rein innerlicher und somit nicht von menschlicher (ergo: priesterlicher) Seite abprüfbarer Vorgang, sondern eine Interaktion zwischen Gläubigem und Gott, ähnlich dem Gebet.

Zum anderen aber zog die Ent-Sakramentalisierung auch eine Ent-Ge-genständlichung und Ent-Ritualisierung des Begriffs nach sich, die dazu führte, dass der feste Ort der Buße in der Frömmigkeitspraxis protestanti-scher Christen wenig definiert war.

In pietistischen Kreisen, namentlich im Halleschen Pietismus, fand die Buße noch einmal eine zentrale Stellung, welche aber durch die Unabding-barkeit eines Bußkampfes für das wahre Christsein selbst wieder einer Ver-gesetzlichung nahe kam und somit am reformatorischen Verständnis von Buße als Lebensprinzip vorbeiglitt.

7 Volker Leppin, »Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit«  – Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in: Archiv für Reformationsge-schichte 93 (2002), 7–25, 23.

16 Einleitung

Dieser Weg von der Ent-Sakramentalisierung und Ent-Gegenständli-chung hin zur Eliminierung der Buße fand eine deutliche Illustration in der Streichung des Buß- und Bettages8 als gesetzlichem Feiertag im Jahre 1994.9

Die Buße als Prinzip allen Nachdenkens über die Beziehung von Gott und Mensch wird allerdings durch die dargestellten Aufweichungen ihres Begriffs nicht obsolet. Im Gegenteil: Die Botschaft von der Buße hat in der Gegenwart nicht an theologischer und gesellschaftlicher Relevanz verloren. Die vorliegende Arbeit soll dies verdeutlichen.

Das Vorgehen, mit dem dieser Zweck erfüllt wird, lässt sich am Untertitel der Arbeit ablesen: »Fundamentaltheologische Überlegungen zu einer prak-tischen Theologie evangelischer Buße«10. Einem fundamentaltheologischen Ansatz folgend, müssen zunächst die Bedingungen der Möglichkeit, von der Buße zu sprechen, geklärt werden. Dies geschieht in einer breiten, dogma-tisch angelegten Untersuchung des Begriffs Buße. Es wird gewissermaßen die theologische Matrix ausgelotet, in der dieser Begriff steht und verknüpft ist. Vor dem Hintergrund einer religionswissenschaftlichen Grunddefinition, nach welcher die Buße den Versuch der Umkehrung eines verkehrten Gottes-verhältnisses11 darstellt, müssen in christlicher Hinsicht zur Beschreibung

8 Zur geschichtlichen Entwicklung, Situation und zeitgemäßen Feier des Buß-und Bet-tages hat Maike Neumann eine umfassende Arbeit vorgelegt, s. Maike Neumann, Der Buß- und Bettag, Geschichtliche Entwicklung  – aktuelle Situation  – Bedingungen für eine erneuerte Praxis, Neukirchen-Vluyn 2011. Zur Thematik des Buß-und Bettages s. a. Jörg Haustein, Zur Geschichte des Bußtages. Ein historischer Abriß, in: Reiner Marquard (Hrsg.), Buß- und Bettag – Umkehr und Erneuerung: eine Arbeitshilfe für Gemeinde und Schule, Bensheimer Hefte 81, Göttingen 1996, 27–35.9 Für einen ausführlichen Überblick über die Geschichte von Verständnis und Praxis evangelischer Buße und Beichte s. Matthias Haudel, Das evangelische Buß-, Beicht- und Versöhnungsverständnis in ökumenischer Perspektive, KuD 56 (2010), 299–322, sowie Gustav Adolf Benrath, Art. Buße V. Historisch, TRE 7, Berlin, New York 1981, 452–473.10 Der Titel der Arbeit » … dass das ganze Leben Buße sei.« zitiert aus Martin Luthers erster These gegen den Ablass (WA 1, 233, 10 f.) und steht der Arbeit als Grundthese und zugleich als richtungsweisender Horizont, auf den die Arbeit zugeht, voran. Dass unter ähnlichem Titel schon einmal ein Text zum evangelischen Bußverständnis erschienen ist (Wolfgang Ratzmann, … »dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei« – Evangelisch-lu-therisches Buß- und Beichtverständnis zwischen theologischem Anspruch und kirchlicher Wirklichkeit, in: Karl Schlemmer (Hrsg.), Krise der Beichte – Krise des Menschen? Ökume-nische Beiträge zur Feier der Versöhnung, Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 36, Würzburg 1998, 12–30.) erweist die Griffigkeit und Prägnanz von Luthers These.11 Gemäß Hans Wißmann bezeichnet die Buße in religionswissenschaftlicher Hinsicht den Versuch der Umkehrung der »Verkehrung dessen, wie der Mensch leben oder sein

17Ziel der Arbeit

dieses Versuchs Fragen nach der Reue im Bußgeschehen (2), nach der Funk-tion des Glaubens (3.1), in welchem die Buße überhaupt erst als geistlicher Sachverhalt zum Ausdruck kommen kann, nach dem Menschenbild (3.2), das einem evangelischen Bußbegriff zugrunde gelegt werden muss, nach dem Gottesbild in der Buße (3.3), nach der in ihr relevant werdenden Chris-tologie (3.4), nach der Bedeutung der Pneumatologie für ihren Begriff (3.5) und nach den konkreten Vollzügen (4), in denen die Buße ein sinnenfälliges Phänomen geistlichen Lebens wird,12 geklärt werden.

sollte.« (Hans Wißmann, Art. Buße I. Religionsgeschichtlich, TRE 7, Berlin, New York 1981, 431.). Ähnlich beschreibt Karl Hoheisel die Buße religionsgeschichtlich als die »Wiederherstellung gestörter Beziehungen von Menschen untereinander oder mit den Nu-mina« (Karl Hoheisel, Art. Buße I. Religionsgeschichtlich, LThK 2, Freiburg, Basel, Wien 32006 (durchgesehene Sonderausgabe der dritten Auflage 1993–2001), 825.) und weist auf den wichtigen Sachverhalt hin, dass mit der Idee der Buße im religiösen Modus ihrer Verwendung immer die Vorstellung eines Menschen im Gegenüber zu einer numinosen Gottheit gesetzt ist. Schon Rudolf Otto wies darauf hin, dass das der Buße zugrundelie-gende Gefühl immer nur dort entstehen kann, wo der Mensch sich mit einer heiligen, majestätischen Macht konfrontiert sieht. So schreibt er über die Wirkungen des Heiligen auf das menschliche Gemüt: »Das Moment der majestas kann lebhaft erhalten bleiben[,] wo das erste Moment, das der Unnahbarkeit, zurücktritt und abklingt, wie es z. B. in der Mystik geschehen kann. Besonders auf dieses Moment der schlechthinnigen Übermacht, dieser »majestas«, bezieht sich als ein Schatten und subjektiver Reflex jenes »Kreaturge-fühl«[,] das als Kontrast zu dem objektiv gefühlten Übermächtigen als das Gefühl eigenen Versinkens[,] Zunichtewerdens[,] Erde-, Asche- und Nichts-Seins sich verdeutlicht und sozusagen der numinose Rohstoff ist für das Gefühl der religiösen Demut.« Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Ra-tionalen, BsR 328, Nachdruck der ungekürzten Sonderausgabe 1979, München 1997, 23.12 Für die evangelische Kirche gibt es zahlreiche Möglichkeiten, der Buße Gestalt zu verleihen. Dass die evangelische Kirche an sich schon eine Bußgemeinschaft ist, zeigt sich an ihrer traditionellen Kirchenfarbe violett, der liturgischen Farbe für die Buße. Außerdem gibt es zahlreiche traditionelle Bußtage und -zeiten über das Kirchenjahr verteilt. Seit der Eisenacher Konferenz 1852 gilt der Mittwoch vor dem letzten Sonntag des Kirchenjahres als Buß- und Bettag. Weitere, im Kirchenjahr festgelegte Bußtage sind der Aschermittwoch und der Karfreitag, als Bußzeiten gelten die Adventswochen (vgl. EG 5,2; 7,4; 8,5; 10,3; 11,4.5.6.8.10; 15,3) und die Passionswochen. Während der Bußcharakter der Adventswo-chen durch die gesellschaftlich dominantere Vorfreude auf Weihnachten mit allen ihren auch kommerziellen Ausdrücken in den Hintergrund gerückt wurde, hat die Passionszeit auch in volkskirchlichen Kontexten eine stärkere Profilierung als Bußzeit durch Aktionen wie »7 Wochen ohne« erhalten. Diese bundesweite Fastenaktion der Evangelischen Kir-che in Deutschland bezweckt eine Einladung zur bewussten Gestaltung der Passionszeit als Vorbereitung auf Ostern, entsprechend dem traditionellen Proprium kirchlicher Buß-

18 Einleitung

Zugleich wird diese fundamentaltheologische Untersuchung für eine praktische Theologie dienstbar gemacht. Zielpunkt dieser Arbeit sind somit Überlegungen, die orientierend in die Gestaltung kirchlicher Praxis in ver-schiedenen Handlungsfeldern eingreifen (6), wenngleich der Übertrag in ein konkretes kirchliches Handeln nicht geleistet werden kann. Alle Überlegun-gen, auch die zur praktischen Gestaltwerdung evangelischer Buße, bleiben auf der Metaebene. Die vorliegende Argumentation folgt demnach dem An-spruch, im Metadiskurs die Buße als zentralen theologischen Topos in der Bezugnahme auf reformatorische Theologie und auf das spätmoderne Werk

tage: Sie dienten der geistlichen Vorbereitung der Gottesbegegnung an den kirchlichen Hochfesten. Die Vorstellung der Buße als Vorbereitung der Gottesbegegnung findet auch in verschiedenen liturgischen Vollzügen Ausdruck. Das Bußgebet mit Kyrie-Ruf im Ein-gangsteil eines Gottesdienstes mit angekoppeltem Gnadenspruch und Gloria, wie es die Liturgie 3 der Badischen Agende vorsieht, ist einer davon (Agende Für Die Evangelische Landeskirche In Baden, Bd. 1: Ordnung der Gottesdienste, Karlsruhe 1996). Das evangeli-sche Gottesdienstbuch (Evangelisches Gottesdienstbuch: Agende für die Evangelische Kir-che der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands/hrsg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union. Berlin u. a. 2002), das die Tradition der lutherischen Messe (Grundform I) und die Tradi-tion des oberdeutschen Predigtgottesdienstes (Grundform II) aufnimmt, bietet »verschie-dene Orte eines möglichen Bußaktes im Gottesdienst« an (Haudel, Verständnis, 314): »So wird ein gemeinsames Schuldbekenntnis im Eröffnungsteil angeboten, der in der Tradition des Confiteor ein Rüstgebet enthält oder die in unierter Tradition gepflegte Verbindung von Sündenbekenntnis und Kyrie sowie von Gnadenzusage und Gloria.« (Ebd.). Haudel nennt ferner die Möglichkeit des Bußaktes der »Offenen Schuld« direkt nach der Predigt sowie eine »spezielle Gottesdienstordnung für den Buß- und Bettag« (ebd.). Auch die Ver-bindung von Bußgebet/Sündenbekenntnis und Abendmahl kann unterschiedlich gestaltet werden, entweder in Form der Abendmahlsvorbereitung im Eingangsteil oder unmittelbar vor der Einsetzung des Abendmahls (s. Badische Agende, Liturgie I und II). Haudel weist fernerhin auf die verschiedenen Möglichkeiten hin, die der Evangelische Erwachsenenka-techismus zur Gestaltung der Beichte bietet, sowie auf ein gestiegenes Interesse an Taufge-dächtnisgottesdiensten (s. Haudel, Verständnis, 316; Evangelischer Erwachsenenkatechis-mus: glauben – erkennen – leben, im Auftrag der VELKD hrsg. v. den Geschäftsführern der Katechismuskommission der VELKD. Manfred Kießig (u. a.), Gütersloh 72001, 589 ff.). Weitere Literatur dazu: Frieder Schulz, Umkehr und Versöhnung im evangelischen Gottes-dienst, LJ 46 (1996), 232–240. Auch Angebote zur religionspädagogischen Ausschreitung des Begriffs Buße und Beichte werden gemacht, vgl. Ingrid Schoberth, Religionsunterricht mit Luthers Katechismus, Göttingen 2006, 29–40.

19Warum eine Theologie der Buße?

des Theologen Henning Luther (5)13 für gegenwärtiges theologisches Deuten und Stiften fruchtbar zu machen.

1.2 Warum eine Theologie der Buße?

In der Einleitung zu seinem Buch »Lebensgeschichten. Lebensentwürfe. Sinndeutungen« stellt Wilhelm Gräb die seinen Ausführungen zugrunde liegende Frage, »was am Christentum heute als wesentlich erkannt und kommuniziert werden kann«14. Nur indem diese Frage an die gegenwärtige Praxis der Kirche immer wieder herangetragen wird, kann es gelingen, die Botschaft des christlichen Glaubens lebensdienlich und »orientierungs-praktisch«15 zu kommunizieren. Sein Anliegen, die biblische Botschaft im Licht der Fragen der Zeit zu lesen, führt in einen hermeneutischen Zirkel. Botschaft und Situation haben dann, wie schon Paul Tillich forderte, eine wechselseitige Erschließungsfunktion.16 Die biblische Botschaft wird, indem sie auf Fragen der Zeit reagiert, aktualisiert, neu zur Geltung gebracht und damit im wahrsten Sinne des Wortes re-formiert. Die Situation wiederum wird in einem Versuch der Analyse durch das Evangelium erkannt, benannt, interpretiert.

Eine tragfähige Theologie der Buße muss demnach zweierlei leisten. Sie stellt die biblische Botschaft von Buße und Umkehr in einen zeitgemäßen Horizont und führt sie somit zu ihrer wesentlichen Funktion zurück, dem aktualen Lebensvollzug des Einzelnen oder einer Gemeinschaft ein existen-tieller Sinnzusammenhang zu sein. Und sie deutet die Gegenwart unter dem hermeneutischen Vorzeichen der Buße. Die von Gräb zitierten Vollzüge von »erkennen« und »kommunizieren« geben dabei die Ebenen vor, auf denen sich eine praktische Theologie der Buße bewegen muss. Sie muss zunächst erkennen. Sie muss erkennen, was die Menschen heute umtreibt. Was ist ihre Situation, was ihre Angst? Was ist ihr Schmerz, was ihre Sehnsucht? Worin besteht ihr Glück? Und mehr noch: Sie muss die unter diesen Phäno-

13 Inwiefern sich vom Werk Martin Luthers her eine Bezugnahme auf das Werk Hen-ning Luthers nahelegt, wird in der Einleitung zu Kap. 5 (5.1) dieser Arbeit erläutert.14 Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten. Lebensentwürfe. Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, 34.15 Ebd.16 Vgl. die Methode der Korrelation in der Theologie Paul Tillichs: Paul Tillich, Systema-tische Theologie I/II, Berlin, New York 81987, 73–80.

20 Einleitung

menen liegende Selbst- und Weltsicht aufdecken und ausloten, wie in den Strukturen dieser Weltsicht heute plausibel von der Buße, die das ganze Leben ist, gesprochen werden kann. Eine praktische Theologie evangelischer Buße muss diese Sachverhalte erkennen, damit wiederum erkannt werden kann, dass das Evangelium von Jesus Christus mit seiner Forderung des Bu-ße-Tuns hier Wesentliches zu sagen hat. Womit zugleich der Gegenstand der Erkenntnis auf eine kommunikative Ebene geführt ist. Die Botschaft von der Buße will kommuniziert sein. Unter dem Anspruch, die Situation im Rahmen der Buße deuten und bearbeiten zu können, braucht sie ein Vokabular, wel-ches sachgemäß und gegenwartstreu auszudrücken vermag, inwiefern sie heute ein aktuelles, (zu)treffendes und sinnerschließendes Wort ist. Zugleich versucht sie, diese Botschaft vom Evangelium und dem darin eingeschlos-senen Buße-Tun in einer Weise zu Gehör zu bringen, dass sie als viva vox evangelii Trost und Heil nicht nur in Aussicht stellt, sondern auch schenkt.

1.2.1 Erkennen

1.2.1.1 Die PostmoderneWie die Menschen heute leben, was sie hoffen, was sie fürchten, woraufhin sie sich entwerfen, was ihr Schmerz ist, was ihre Sehnsucht  – all diesen Fragen muss sich unter der Perspektive von Überlegungen zur Gesellschaft der Postmoderne angenähert werden. Eine adäquate Analyse aktueller Le-benswelt muss sich demnach im Rahmen der Diskussion um den Begriff der Postmoderne bewegen. Mit diesem Begriff wird im Allgemeinen der Zu-stand der Gesellschaft »nach« der Moderne beschrieben, wobei eine zeitliche Abgrenzung schwierig ist.17 Wegweisende Überlegungen zur Postmoderne veröffentlichte in gebündelter Form der französische Philosoph Jean-Fran-çois Lyotard. Sein Text »Das postmoderne Wissen«, der zum Schlüssel- und Grundlagentext der Diskussion um die Postmoderne wurde, wurde 1982 erstmals in deutscher Sprache publiziert. Er leitet aus dem zunächst sozio-logischen und somit analytisch-deskriptiven Begriff »postmodern« ein philo-sophisches Programm ab. Die »Postmoderne« wird mithin eine Denkbewe-gung, die die Grundannahmen der Moderne im Bereich von Kunst, Kultur

17 Das postmoderne Zeitalter wird zuweilen mit dem postindustriellen Zeitalter par-allelisiert. Sein Anfang kann somit zeitlich im Beginn des 20. Jh. gefunden werden. Als philosophischer Diskussionsgegenstand begegnet der Begriff allerdings erst seit den 80er Jahren des 20. Jh.

21Warum eine Theologie der Buße?

und Gesellschaft kritisch hinterfragt und Alternativen zu den denkerischen und gestalterischen Ausdrücken der Moderne findet.

Die Postmoderne als philosophisches Programm verortet sich selbst in einem nach-modernen Zeitalter, das sich dezidiert nicht als prolongierte Mo-derne, sondern als ihr Abbruch versteht. Dieser Bruch kommt nach Lyotard zuallererst wissenschaftstheoretisch zum Tragen. Die aktuellen Entwick-lungen in der Wissenschaft sind seines Erachtens in traditionellen Begrün-dungszusammenhängen nicht mehr zu erfassen, es ist zu einem Abbruch überkommener Legitimationsweisen von Wissen und Wissenschaft gekom-men. Zu diesem gehört das von Lyotard diagnostizierte Ende der großen Erzählungen (auch: Metaerzählungen). Mit der Erkenntnis- und Wissen-schaftstheorie als ihrer wesentlichen Aufgabe führt die Philosophie einen permanenten »Legitimationsdiskurs«18 über sich selbst. Dabei habe die Phi-losophie explizit »auf diese oder jene große Erzählung«19 zurückgegriffen. Als große Erzählungen definiert Lyotard umfassende philosophisch erarbei-tete Welterklärungssysteme, die axiomatisch von einem allgemein anzu-nehmenden Prinzip her entworfen sind. Darunter fallen beispielsweise »die Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns, die Emanzipation des ver-nünftigen oder arbeitenden Subjektes«20, somit Idealismus, Aufklärung und Marxistische Gesellschaftstheorie. Auch das Christentum stellt eine große Erzählung im Lyotardschen Sinn dar.

Diesen Rückgriff des Metadiskurses auf Metaerzählungen zum Zweck der Legitimierung von Wissen sieht Lyotard als Wesenszug der Moderne. In Bezug auf die Aufklärung präzisiert er, wie, ausgehend von einer »großen Er-zählung« wie der der Autonomie des Subjektes, Begründungslinien in sicht-bare gesellschaftliche Institutionen gezogen werden können:

»So wird etwa die Konsensregel zwischen Sender und Empfänger bei einer Aussage mit Wahrheitswert für annehmbar gehalten, wenn sie sich in die Perspektive einer möglichen Einstimmigkeit der mit vernünftigem Geist begabten einschreibt: Das war die Erzählung der Aufklärung, worin der Heros der Wissenschaft an einem guten ethisch-politischen Ziel, dem universellen Frieden, arbeitet. Man sieht daran, dass die Legitimierung des Wissens durch eine Metaerzählung, die eine Geschichtsphilosophie impli-

18 Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Vollständige überarbei-tete Fassung der Übersetzung, die in der Zeitschrift »Theatro machinarum« 3/4, 1982, erschienen ist, Graz, Wien 1986, 13.19 Ebd.20 Ebd.

22 Einleitung

ziert, zur Frage über die Gültigkeit der Institutionen führt, die den sozialen Zusammenhang bestimmen: Auch sie verlangen, legitimiert zu werden. So sieht sich die Gerechtigkeit ebenso wie die Wahrheit auf die großen Erzäh-lungen bezogen.«21

Postmoderne zeichnet sich durch eine »Skepsis gegenüber den Meta-erzählungen«22 aus. Diese führen als totalitäre Systeme letztlich zu einer Ausblendung heterogener Elemente von Gesellschaft, weil sie es nicht schaf-fen, das Differente, das sich im Rahmen einer großen Erzählung nicht erklä-ren lässt, zu integrieren. Die Postmoderne als philosophischer, kultureller und ethischer Programmbegriff bejaht jedoch das Nebeneinander differen-ter heterogener Elemente, unter welchen keines einen absoluten Wahrheits-anspruch vertreten kann. Die Gesellschaft der Zukunft entwirft sich somit nicht ausgehend von einer großen Erzählung, sondern unter der Prämisse der »Pragmatik der Sprachspiele«23. Damit findet sie ihren Grund nicht in der Wahrheit, die auf Übereinstimmung beruht,24 sondern in der »Paralo-gie«25 zweier Kommunikanten: »Das postmoderne Wissen ist nicht allein das Instrument der Mächte. Es verfeinert unsere Sensibilität für die Unter-schiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen. Es selbst findet seinen Grund nicht in der Übereinstimmung der Experten, sondern in der Paralogie der Erfinder.«26

Postmodernes Wissen findet seinen Grund nicht im Sinne der Korres-pondenztheorie in der Annahme, dass Wahrheit dann gegeben ist, wenn es eine Korrespondenzbeziehung zwischen Satz und Ding gibt, eine Identität von Bezeichnetem und Bezeichnung, eine adaequatio rei et intellectus;27 sie begründet sich auch nicht im Konsens einer Gemeinschaft von Menschen, wie es die Konsenstheorie anführt.28 Sondern das Wahre ist das Nicht-Iden-

21 Ebd., 14.22 Ebd.23 Ebd., 15.24 Hier wendet sich Lyotard gegen Habermas’ These der Diskurstheorie, nach welcher die Legitimation von Wissen sich aufgrund eines durch Diskussion erreichten Konsenses vollzieht.25 Ebd., 16.26 Ebd.27 Vgl. Art. Wahrheit, Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, begr. Von Friedrich Kirchner und Carl Michaelis. Fortges. von Johannes Hoffmeister. Vollst. neu hrsg. von Armin Regenbogen und Uwe Meyer; Philosophische Bibliothek Bd. 500, Hamburg 1998, 715–718.28 Vgl. ebd.

23Warum eine Theologie der Buße?

tische. Postmodernes Wissen hat seinen Grund in der Paralogie der Erfinder, d. h. im buchstäblichen Aneinander-Vorbeireden und Nicht-Verstehen derer, die ohne Rückgriff auf Metaerzählungen Ausdrucksweisen für ihren Welt-zugang »erfinden«. Lyotard greift hier auf Ludwig Wittgensteins Theorie der Sprachspiele zurück. Er bezeichnet diese konkret als »die Methode«29 der Legitimation des Postmodernen Wissens in den »informatisierten Gesell-schaften«30, welche er als sein Untersuchungsfeld benennt. Im Gegensatz zu den großen Erzählungen mit ihren Absolutheitsansprüchen bieten die ver-schiedenen Sprachspiele mit ihren eigenen Binnensemantiken und Sprach-rationalitäten viele unterschiedliche Weltzugänge und -erklärungen an.

1.2.1.2 IndividualisierungIn engem Zusammenhang mit dem Ideenkomplex der Postmoderne steht das Individualisierungstheorem, das maßgeblich von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts erarbeitet wurde. Der heutige Mensch des westlich-zivilisierten Kulturraums wird hier als der in seiner Selbst- und Weltwahrnehmung sowie in seiner Lebensge-staltung zutiefst individualisierte Mensch beschrieben. Der Konnex zu dem von Lyotard ausgerufenen Ende der Metaerzählungen liegt auf der Hand: Wo die großen Erzählungen nicht mehr verfangen, wo universale Welterfas-sungssysteme mit ihren ihnen zugrunde liegenden absoluten Prinzipien ihre Plausibilität verloren haben, da muss der Einzelne sich seinen sinnvollen und sinnstiftenden Zugang zur Welt selbst erschaffen. Lyotard hat in »Das postmoderne Wissen« die Befürchtungen, mit welchen der Postmoderne als philosophischem Programm begegnet wird, selbst aufgenommen: »Aus die-sem Zerfall der großen Erzählungen […] ergibt sich, was einige als die Zer-setzung des sozialen Bandes darstellen und als den Übergang der sozialen Gemeinschaft zu dem Zustand einer aus individuellen Atomen bestehenden Masse, die in eine absurde Brownsche Bewegung geworfen sind.«31 Lyotard beschreibt hier treffend, was in der Folgezeit die Vorurteile gegenüber dem Individualisierungstheorem werden. Im Gegensatz zu Lyotards Überlegun-gen zur Begründung des postmodernen Wissens war jedoch das Individuali-sierungstheorem nie ein Programm, sondern immer soziologische Beschrei-bung, somit Analyse, nicht aber kritisch-alternative Denkbewegung.

29 Ebd., 36.30 Ebd., 19.31 Ebd., 54.

24 Einleitung

Das Individualisierungstheorem beschreibt die Folgen aus den gesell-schaftlichen Veränderungen der Postmoderne. Die der Individualisierung heute häufig angelasteten Untugenden, u. a. Egoismus, fehlender Gemein-schaftssinn, skrupelloser Karrierismus und das Wegbrechen bewährter Werte, erweisen sich als vorschnelle qualitative Wertungen eines heute bei nahe un-ausweichlichen Lebensstils. Es wird suggeriert, die heutigen Zeitgenossen hätten sich absichtsvoll gegen eine kommunitäre und für eine atomisierte Le-bensführung entschieden, wohingegen doch das Individualisierungstheorem schlicht den notwendigen Zugriff heutiger Zeitgenossen auf eine postmodern geprägte Welt beschreibt.32 Ob und inwiefern die Individualisierung tatsäch-lich zu einer »Zersetzung des sozialen Bandes« führt, ist m. E. darüber hi-naus fraglich. So beschreibt etwa die Shell-Jugendstudie 2010, deren Unter-suchungsgruppe der 12–25jährigen sich als zutiefst individualisiert erweist, die heutigen Jugendlichen als optimistisch, zufrieden, leistungsbereit, werte-orientiert, aber nicht angepasst, mit einem Sinn für soziale Beziehungen und im Nahbereich mit einem zupackenden Pragmatismus.33

Was aber sind die wesentlichen Thesen des Individualisierungstheo-rems?

Albrecht Grözinger fasst den Erkenntnisgewinn des Individualisierungs-theorems für heutige Gesellschaften treffend zusammen und zeigt zugleich auf, inwiefern es kausal mit dem Phänomen der Pluralisierung verknüpft ist: »Mit dem Begriff der Pluralisierung versuchen die Human- und Gesell-schaftswissenschaften die strukturellen Momente der Vervielfältigung und Ausdifferenzierung von kulturellen und weltanschaulichen Optionen zu be-schreiben. Lebensgeschichtlich werden diese Optionen jedoch immer nur individuell realisiert. Wie diese individuelle Realisierung lebensgeschicht-licher Optionen unter sich verändernden Bedingungen vor sich geht, wie

32 Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim bezeichnen daher im Austausch mit Kritikern des Individualisierungstheorems den heutigen Menschen als einen zur Indivi-dualisierung »verdammten« Menschen, der sich nicht selbst zur Individualisierung ent-schieden hat, sondern dem sich die Individualisierung als einzig sinnvoller und effektiver Weltzugang erweist. S. Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim, Nicht Autonomie, son-dern Bastelbiographie: Anmerkungen zur Individualisierungsdiskussion am Beispiel des Aufsatzes von Günter Burkhart, Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 178–187.33 Vgl. die Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie: Mathias Albert, Klaus Hurrel-mann, Gudrun Quenzel, TNS Infratest Sozialforschung, Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Herausgegeben von der Shell Deutschland Holding, Frankfurt a. M. 2010, 15–35.

25Warum eine Theologie der Buße?

sie ›funktioniert‹, wird gegenwärtig mit dem Begriff der Individualisierung zu entschlüsseln versucht.«34 Das Individualisierungstheorem dient somit dem Versuch der Beschreibung alltäglicher Lebensbewältigung angesichts vielfältig sich ausdifferenzierender Lebensoptionen. Diese individuelle Rea-lisierung von Lebensoptionen führt auf der einen Seite zu Erosionserschei-nungen bei denjenigen Elementen, die in der Moderne Grundpfeiler gesell-schaftlichen Zusammenlebens sind, während sich auf der anderen Seite für das Individuum neue Möglichkeiten öffnen: Die Familie bleibt eine optionale Lebensart, man kann, muss aber nicht mehr  – quasi gesellschaftlich ver-ordnet – ein Leben im Ehe- bzw. Familienverbund führen. Ähnlich verhält es sich mit der traditionellen Geschlechterordnung. Eine moderne Frau kann, muss aber nicht das traditionelle Rollenbild der Hausfrau und Mutter aus-füllen, ebenso kann, muss aber nicht der Mann die Hauptverantwortung für Haus und Familie übernehmen. Zusätzlich kann je nach Lebensabschnitt und beruflicher Situation der jeweiligen Partner nach Belieben ein Rollen-tausch stattfinden. Insofern markiert die Individualisierung ein Aufbrechen traditioneller Rollenvorgaben und normativer Traditionen bei gleichzeitiger Zunahme an Verantwortung und Risiko35 für das Leben, das man wählt: »An die Stelle bindender Traditionen treten die Vorgaben, ein eigenes Leben zu organisieren.«36 Beck beschreibt jedoch auch den Gegentrend zur Enttradi-tionalisierung als ein Charakteristikum der Individualisierung: Wo die Tra-dition ihrem früheren, selbstverständlichen Lebensgestaltungsautomatis-mus enthoben wird, wo sie verobjektiviert, betrachtet und bewertet wird, da kann sie auch wiederum im Sinne einer zu realisierenden Lebensoption

34 Albrecht Grözinger, Homiletik, Lehrbuch Praktische Theologie Bd. 2, Gütersloh 2008, 19.35 Zu risikoreichen Konsequenzen umfassender Individualisierung schreibt Beck: »Eine wesentliche Besonderheit des Individualisierungsschubs in der Bundesrepublik liegt in seinen Konsequenzen: Er wird nicht mehr durch eine soziale Bezugseinheit im Reproduk-tionsbereich aufgefangen. Sehr schematisch gesprochen: An die Stelle von Ständen treten nicht mehr soziale Klassen, an die Stelle von sozialen Klassenbildungen tritt nicht mehr der stabile Bezugsrahmen der Familie. Der oder die einzelne selbst wird zur lebensweltli-chen Reproduktionseinheit des Sozialen. Oder anders formuliert: Die Familie als »vorletzte« Synthese generations- und geschlechtsübergreifender Lebenslagen und Lebensverläufe zerbricht, und die Individuen werden innerhalb und außerhalb der Familie zum Akteur ihrer marktvermittelten Existenzsicherung und ihrer Biographieplanung und -organisa-tion.« Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1996, 209 (Hervorhebungen im Original).36 Ulrich Beck, Ulf Erdmann Ziegler, Timm Rautert (Ill.), Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben. München 1997, 11.

26 Einleitung

als die zum individuellen Selbst passende Wahl befunden werden: »›Indivi-dualisierung‹ in diesem Sinne meint Enttraditionalisierung, aber auch das Gegenteil: die ›Erfindung von Traditionen‹. Die Idylle – Omas Apfelkuchen, Vergißmeinnicht und Kommunitarismus – hat Hochkonjunktur.«37

Die Enttraditionalisierung, die mit dem Prozess der Individualisierung einhergeht, bedeutet jedoch nicht per se mehr Unabhängigkeit. Die Abhän-gigkeiten des Lebens haben sich vielmehr verlagert: »Die qualitative Diffe-renz zwischen traditionaler und moderner Biographie liegt nicht darin – was oft unterstellt wird –, daß früher in ständischen und agrarischen Gesellschaf-ten Kontrollen und Vorgaben die Lebensgestaltung auf ein Minimum einge-schränkt und eingeschnürt haben, während diese heute kaum noch bestehen. Gerade im Bürokratie- und Institutionendickicht der Moderne ist das Leben in Netzwerke von Vorgaben und (bürokratischen) Regeln fest eingebunden. Das Entscheidende ist vielmehr, daß die modernen Vorgaben die Selbstorga-nisation des Lebenslaufes und die Selbstthematisierung der Biographie gera-dezu erzwingen.«38 In Risikogesellschaft benennt Beck die neue Abhängigkeit von vorgegebenen institutionalisierten Regeln als »Standardisierung« des Le-bens. Sie bildet die andere Seite der Medaille einer individualisierten Gesell-schaft: »Eben die Medien, die eine Individualisierung bewirken, bewirken auch eine Standardisierung. Dies gilt für Markt, Geld, Recht, Mobilität, Bildung usw. in jeweils unterschiedlicher Weise. Die entstehenden Individuallagen sind durch und durch (arbeits)marktabhängig. Sie sind sozusagen die Per-fektionierung der Marktabhängigkeit bis in alle Fasern der Existenz(siche-rung) hinein, sie sind ihr spätes Ergebnis in der wohlfahrtsstaatlichen Phase. Sie entstehen in der durchgesetzten Markt- und Arbeitsmarktgesellschaft, die traditionale Versorgungsmöglichkeiten nicht oder kaum kennt.«39 Nach Heinrich Bedford-Strohm, der die Individualisierung unter der Fragestellung ihrer Gemeinschaftspotenziale untersucht, beinhaltet Individualisierung demnach sowohl eine »Freisetzungs- und Entzauberungsdimension« als auch eine »Reintegrationsdimension«: »In der modernen Gesellschaft kom-men auf den einzelnen […] neue, institutionelle Anforderungen, Kontrollen und Zwänge zu, […], die als ›Standardisierung‹ bezeichnet werden können.«40

37 Ebd., 14.38 Ebd., Hervorhebungen im Original.39 Beck, Risikogesellschaft, 210 (Hervorhebungen im Original).40 Heinrich Bedford-Strohm, Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zu-sammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag. Öffentliche Theo-logie 11, Gütersloh 1999, 113.

27Warum eine Theologie der Buße?

Diese Reintegrationsdimension der Individualisierung, die als Standardisie-rung des modernen Lebens eine neue Form der Repression darstellt, kann, so seine These, durch bestimmte Traditionen, die Orientierungsarbeit leisten, bearbeitet werden: »Solche Traditionen […] bilden eine entscheidende Quelle des Widerstandes gegen die Macht der Standardisierungszwänge. In ihnen liegt der Schlüssel für ein konstruktives Verhältnis von Individualisierung und Auto-nomie ebenso wie von Individualisierung und Gemeinschaft.«41

Selbstorganisation und Selbstthematisierung sind somit die »Folgelas-ten«42 der Individualisierung für die Individuen. Sie führen dazu, dass eigenes Leben entweder selbst erfunden wird oder nicht ist. Was eine Chance für das Leben ist, was eine Gefahr darstellen könnte, wo Ambivalenzen des Lebens guten Gewissens zu ertragen sind, all dies sind Definitionsleistungen, durch welche der Einzelne strapaziert, zuweilen gar überfordert wird: »Chancen und Lasten der Situationsdefinition und -bewältigung verlagern sich damit auf die Individuen, ohne daß diese aufgrund der hohen Komplexität der ge-sellschaftlichen Zusammenhänge noch in der Lage sind, die damit unver-meidlichen Entscheidungen fundiert, in Abwägung von Interesse, Moral und Folgen verantwortlich treffen zu können.«43

Das Resultat der Individualisierung in Bezug auf den Einzelnen be-schreibt Beck mit Hitzler als »Bastelbiographie«: »Die Normalbiographie wird zur Wahlbiographie, zur »Bastelbiographie« (Hitzler), zur Risikobiographie, zur Bruch- oder Zusammenbruchsbiographie.«44 Das eigene »biographische Planungsbüro«45 baut sich das Leben nach eigenen Wünschen und Vorstel-lungen zusammen, die je nachdem, als wie risikoreich sich eine Option und als wie prekär sich die daraus entstandene Lebenssituation erweist, ein Ge-lingen oder Scheitern heraufführen. Insofern ist das Unglück des eigenen Le-bens zumeist radikal auf eigenes Scheitern zurückgeworfen: »Die Konsequenz ist, daß auch gesellschaftliche Krisen  – z. B. Massenarbeitslosigkeit  – in Form individueller Risiken auf die einzelnen abgewälzt werden können. Ge-sellschaftliche Probleme können unmittelbar umschlagen in psychische Dis-positionen: in persönliche Schuldgefühle, Ängste, Konflikte und Neurosen. Es entsteht – paradox genug – eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, daß

41 Ebd., 135 (Hervorhebungen im Original).42 Grözinger, Homiletik, 21.43 Ulrich Beck, Die feindlose Demokratie. Ausgewählte Aufsätze, Stuttgart 1995, 32.44 Ders., Eigenes Leben, 12 (Hervorhebungen im Original).45 Ebd.

28 Einleitung

gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und nicht mehr oder nur noch sehr vermittelt in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden.«46 Die Fokussierung auf das Individuum und seine Alleinstellung als Garant für alle Koordinaten, in denen das individualisierte Leben »sich entwirft« – sei es die Koordinate der beruflichen Ausrichtung, sei es die Koordinate des moralischen Fundaments, auf dem eigene Urteile basieren,47 sei es die Koor-dinate der Gestaltung einer nach eigenen Maßstäben ausgelebten Sexualität, sei es die Koordinate des selbst erschaffenen sozialen Netzwerkes – mündet in einer Lebensdeutung, in welcher eine Fortsetzung des Selbst über den Tod hinaus, in welcher Form auch immer sie geglaubt sein mag, und das heißt: ein »Leben« abseits der eigenen permanent laufenden Sinnstiftungs-maschine, die das die eigene Existenz deutende und die Zukunft entwer-fende Bewusstsein ist, nicht mehr plausibel gedacht werden kann. Wo das Bewusstsein und die eigene Urteilskraft aufhören, hört das Leben auf: »Das eigene Leben ist das Diesseitsleben, sein Ende ist das Ende. Es gibt ein Leben vor dem Tod. Man muss hinzufügen: nur eines.«48 Getreu der Dialektik von Trend und Gegentrend beobachtet Beck wiederum die Kehrseite: »Das ist ein wesentlicher Grund für das (scheinbare) Gegenteil: die Flucht in die Esoterik und die neuen Religionsbewegungen aller Art.«49

Was heißt nun also Individualisierung? Wenn Albrecht Grözinger schreibt, Individualisierung sei die Antwort auf die Frage, wie die indivi-duelle Realisierung lebensgeschichtlicher Optionen unter sich verändern-den Bedingungen vor sich geht,50 dann lässt sich sagen: Individualisierung bedeutet die permanente Eigenleistung des deutenden und stiftenden Be-wusstseins unter unterschiedlichsten Optionen in unterschiedlichsten Le-benslagen und mit allen Konsequenzen. Was sich in allen Phänomenen der Individualisierung manifestiert – in Enttraditionalisierung wie in Retraditio-

46 Ebd.47 »Das eigene Leben ist durchaus ein moralisches Leben, jedenfalls ein Leben auf der Suche nach einer Moral der Selbstbestimmung, einer Moral von unten. Diese darf allerdings nicht mit den eingeschliffenen, abgegriffenen, widerspruchsvoll gewordenen Pflichtformen und -formeln gleichgesetzt bzw. verwechselt werden. Die Frage aber nach der Sozialmoral des eigenen Lebens ist damit auch eine politische. Denn gefragt wird auch, wie die veralte-ten Bilder des Sozialen in den Institutionen mit den Anforderungen und den Paradoxien des »eigenen«, global vernetzten Lebens abgestimmt werden können.« Ebd., 16.48 Ebd., (Hervorhebungen im Original).49 Ebd.50 Grözinger, Homiletik, 19.

29Warum eine Theologie der Buße?

nalisierung, in Entzauberung und Freisetzung wie in Reintegration – ist die Souveränität und Selbsttätigkeit des Subjektes in der jeweiligen Entschei-dung, die, wenn auch nicht immer so frei wie angenommen, so doch indivi-duell gefällt wird.51

1.2.2 Kommunizieren: Für eine praktische Theologie evangelischer Buße

Auf diese Eigenleistung und im Rahmen dieser Eigenleistung der Selbsttä-tigkeit des Bewusstseins wollen Menschen angesprochen werden. Eine mo-derne Theologie muss sich authentisch bzw. besser noch: authentifizierbar, und das heißt: vom individuellen religiösen Bewusstsein verifizierbar, zei-gen.52 Dies entspricht den Ergebnissen von Gerhard Schulzes soziologischer Untersuchung, die unter dem Titel »Erlebnisgesellschaft« eines der kultur-hermeneutischen Schlagwörter unserer Zeit lieferte.53 Schulze deklariert darin den heutigen Menschen des westlich-zivilisierten Kulturraumes als einen primär auf das ästhetische Empfinden hin ausgerichteten Menschen. Der spätmoderne Mensch ist somit nicht nur zutiefst individualisiert, er ist – und dies in logischer Konsequenz  – auch zutiefst ästhetisiert. Das Leben ist ein Erlebnisprojekt, das in seinen alltäglichen Auswirkungen erfahren

51 Heiner Keupp bezeichnet in einer m. E. immer noch zutreffenden Analyse den perma-nenten Zwang zur Eigenleistung der Selbsttätigkeit des Bewusstseins als »unaufhebbare Reflexivität unserer Lebensverhältnisse«: »In diesem Prozeß stecken enorme Chancen und Freiheiten, aber auch zunehmende Gefühle des Kontrollverlustes und wachsende Risiken des Mißlingens. Die qualitativen Veränderungen in der Erfahrung von Alltagswelten und im Selbstverständnis der Subjekte könnte man so zusammenfassen: Nichts ist mehr selbst-verständlich so wie es ist, es könnte auch anders sein; was ich tue und wofür ich mich ent-scheide, erfolgt im Bewußtsein, daß es auch anders sein könnte und daß es meine Entschei-dung ist, es so zu tun. Das ist die »unaufhebbare Reflexivität unserer Lebensverhältnisse«: Es ist meine Entscheidung, ob ich mich in einer Gewerkschaft, in einer Kirchengemeinde oder in beiden engagiere oder es lasse.« Heiner Keupp, Subjektsein heute. Zwischen Post-moderner Diffusion und der Suche nach neuen Fundamenten, WzM 51 (1999), 137.52 So konstatiert Wilhelm Gräb in Bezug auf die notwendigen modernen Formen reli-giöser Kommunikation: »Was in religiöser Kommunikation allein Gewicht hat, ist dies, dass die religiöse Äußerung als authentische anerkannt sein will: ›Ich glaube das so.‹ ›Ich sehe das so.‹ ›Das ist meine Überzeugung‹. Oder auch bei den Hochreligiösen: ›Ich habe das so erfahren.‹ ›Ich habe das erlebt.‹« Wilhelm Gräb, Die Zukunft des Christentums, Pastoraltheologie 100 (2011/7), 342.53 Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frank-furt, New York, 1993.

30 Einleitung

sein will. Und wiederum ist es – wie schon im Fall des Individualisierungs-theorems – unsachgemäß, den Begriff der Erlebnisgesellschaft zum Zweck kulturkritischer Larmoyanz ideologisch aufzuladen. Erlebnisorientierung ist eben nicht nur die unmittelbarste Form der Suche nach Glück  – vgl. bei-spielsweise den Vorwurf des selbstbezogenen Hedonismus, der der Gene-ration der unter Dreißig-Jährigen häufig gemacht wird54 –, sondern der eine und einzige Verifikationsrahmen konsequent individualisierter Existenz. Wo das Leben aufgrund der postmodernen Bedingungen zur Wahlbiographie wird, wo Entscheidungen nicht mehr durch die Erfahrungen vorangegange-ner Generationen abgesichert werden können, wo vorgegebene Rollenbilder nicht mehr plausibel sind, sondern stets auf ihre Praktikabilität im Rahmen der selbstgewählten Lebensumstände hinterfragt werden müssen, da wird die eigene Biographie zum Testbericht durchlaufener Lebensvollzüge.

Auch der Glaube will erfahren sein. Er will erlebt sein, als ästhetisches Empfinden am eigenen Leib und an eigener Seele »geschmeckt« werden.55 Er

54 Auch hiergegen kann die Shell-Jugendstudie ins Feld geführt werden. Nicht ein blan-ker Hedonismus ist charakteristisch für die junge Generation, sondern das mehrheitlich ent-institutionalisierte Engagement im Alltag für Dinge, die man für richtig hält. Der An-teil der politisch interessierten Jugendlichen wächst, wenngleich er mit 37 % im Jahr 2010 weit hinter den Ergebnissen früherer Studien (insbesondere aus den 1970er Jahren) zu-rückliegt. Dies kann man mit einem grundlegenden Misstrauen heutiger Jugendlicher in Politik, Wirtschafts- und Finanzsektor erklären, wohingegen das persönliche Interesse und Engagement in Sachen Klimaschutz sehr stark ist: »Mit 95 % hat so gut wie jeder Jugendliche schon mal vom Klimawandel gehört. Gefragt nach den Bewertungen des Kli-mawandels, halten 47 % der Jugendlichen diesen für ein großes und weitere 29 % für ein sehr großes Problem.« (Jugend 2010, 26.) Die Kritiker des Klimawandels ziehen hieraus durchaus persönliche Konsequenzen: »Immerhin jeder zweite Jugendliche, der schon ein-mal vom Klimawandel gehört hat, berichtet als persönliche Maßnahme zum Klimaschutz über ein bewusstes Energiesparen im Alltag (…).« (Ebd., 27).55 Meines Erachtens ist dies einer der Gründe für den relativ großen Zulauf evangeli-kaler und freikirchlicher Gemeinden. Sie kommunizieren den Glauben in einer Weise, dass er sich mit eigenen Erfahrungen verknüpfen lässt. Zudem finden sie in ihren Got-tesdiensten Ausdrucksweisen für das Glaubensempfinden, das zutiefst auf menschliche Impulse und Affekte eingeht. Der Glaube kommuniziert sich hier nicht so sehr kognitiv über das Verstehen, sondern häufig emotional über nonverbale, körperliche Ausdrucks-weisen. In der gelegentlich nicht unberechtigten Kritik an der Kurzgriffigkeit evangelika-ler Theologie darf andererseits nicht übersehen werden, dass hier eine Sinnlichkeit der Glaubensmitteilung aufbewahrt ist, die der universitäts- und kirchenamtlichen Theologie weithin verlorengegangen ist. »Der liebe Heiland« hat in der Sprache der Kirche seinen Platz ebenso räumen müssen wie »der Tag des Zorns«, »die Macht des Teufels« oder »der

31Warum eine Theologie der Buße?

hat dabei zwei Funktionen: Er soll helfen zu erkennen, und er soll helfen, zu kommunizieren.

Er soll helfen, die eigenen Umstände des Lebens zu analysieren, eine Sehhilfe im Dickicht sich ausdifferenzierender Lebensfunktionalitäten, Rol-len und Optionen sein, eine Klärung der Selbstverständnisfrage. Und er soll Sprache verleihen, das Selbstverständnis zu benennen und alternative Sicht-weisen eröffnen. Dazu braucht der Glaube jedoch eine Theologie, die ihn in Bezug auf diese Dimensionen nährt.

Meine These ist: Eine zeitgemäße Theologie der Buße kann dies leisten. Oder entschiedener formuliert: Das zeitgenössische, postmodern soziali-sierte, in seinen Lebensvollzügen individualisierte, in seiner Wahrnehmung ästhetisierte religiöse Individuum braucht eine tragfähige, elaborierte Theo-logie der Buße.

Hierauf weisen verschiedene Implikate des zeitgenössischen mensch-lichen Selbstverständnisses und Selbstumgangs hin, die sich aus der oben vollzogenen Allgemeindiagnose heutiger Lebensumstände ergeben. Es gibt Motive der Buße in unserem Alltag, die erkannt und analysiert werden müs-sen, um bußtheologische Handlungsdesiderate aufzuspüren. Eine praktische Theologie evangelischer Buße findet ihre Handlungsmotive in diesen Deside-raten und setzt sie um.

1.2.2.1 Die Schuld individualisierter ExistenzUnsere heutige Gesellschaft leidet unter einem dezidierten Schuldkomplex. Mit dieser Behauptung ist nicht angespielt auf die beispiellose Schuld, die Deutschland in den beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts auf sich geladen hat. Hierbei handelt es sich – jedenfalls nominell – um eine Kol-lektivschuld, die als Kollektiv angenommen werden muss. Gleichwohl muss dieses Schuldgefühl nicht individuell realisiert werden. Widerspricht sich die Idee einer Kollektiv-Schuld ohnehin im Kern selbst – wer ist schon das Kol-lektiv? wie kann etwas kollektiv »empfunden« werden? –, so blieb hier immer die Möglichkeit, das Empfinden der Schuld dem Nächsten zu überlassen.

Der Schuldkomplex, von dem hier die Rede ist, ist eine direkte Konse-quenz aus Freiheiten und Risiken, die die Postmoderne und die in ihr ent-haltene Notwendigkeit zur Individualisierung mit sich bringen. Schuld ist

lodernde Abgrund der Hölle«. Womit nicht eine Re-Klischierung oder Repristinierung der Frömmigkeitssprache intendiert sein soll, sondern bloß eine Sensibilisierung für seman-tische Sinnlichkeit. Die Fülle des verheißenen Heils und endzeitlicher Erlösung ist ohne eine materiale Sinnlichkeit der Bildsprache kaum zu vermitteln.

32 Einleitung

nicht mehr Kollektivschuld; Schuld im eigenen Leben der Postmoderne ist individualisierte, eigene Schuld. Diese Schuld und die Intensität ihrer Emp-findung ist ein sehr aktuelles Phänomen. Der heutige Mensch bewegt sich dauerhaft zwischen vielen verschiedenen Rollen hin und her und scheitert nicht selten bei dem Versuch, eine vollkommen diffuse Bedürfnislage zu befriedigen. Während beispielsweise Mütter früher gesellschaftlich frag-los akzeptiert, all ihre Energie und Zeit dafür verwendeten, die Bedürfnisse von Kindern und Ehemann zu stillen und den Haushalt zu managen, finden sich heutige Mütter (und Väter!) häufig in einer weitaus differenzierteren Situation wieder: Zu Haushalt und Kindern kommt die eigene Erwerbstätig-keit hinzu, zur Erwerbstätigkeit der eigene Anspruch, ein selbstbestimmtes Dasein zu führen, dessen Souverän man ist. Niemand möchte sein Leben als von Arbeits- und Alltagszwängen heteronom gegängeltes führen. Man möchte auch seine eigenen Ziele, Sehnsüchte und Wünsche realisiert sehen und die individuell gegebenen Möglichkeiten und Talente ausschöpfen. So wird die Kompensation der Standardisierungszwänge des individualisierten Lebens in die Freizeit verlagert. Man verwirklicht sich – und das heißt die selbst definierte soziale Identität – schrankenlos selbst in Hobbies und Frei-zeitvergnügungen, kulinarischem Expertentum und exotischen Urlauben. Die Jagd auf eine ausgewogene work-life-balance verringert dabei nicht not-wendigerweise den Druck auf das eigene Leben, sondern erhöht ihn unter Umständen noch. Nicht nur muss man sich permanent der eigenen Zeitsou-veränität vergewissern, indem man das Leben in Zeiteinheiten wie quality-time (im Sinne von verlässlichen und selbstbestimmten Zeitoptionen)56 und working-time, Freizeit und Alltag etc. einteilt. Sondern man muss sich auch der eigenen Lebensgestaltungs- und damit Selbstverwirklichungssouveräni-tät versichern, die aus dem eigenen Leben das Beste macht. Man kann das diesen Bestrebungen zugrunde liegende Menschenbild als ein ästhetisie-

56 Vgl. die Definition des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend: »Als Qualitätszeit für Familien betrachten wir verlässliche und selbstbestimmte Zeitoptionen, die Familien bewusst für gemeinsame Aktivitäten nutzen. Dabei kann es sich sowohl um gemeinsame Ausflüge oder Spielnachmittage handeln als auch um Akti-vitäten, wie etwa gemeinsames Kochen und Essen, solange sie bewusst als Familienzeit wahrgenommen werden. Reine Haushaltstätigkeiten oder Hobbys, bei denen andere Fa-milienmitglieder auch anwesend sind, zählen hingegen nicht dazu. Für uns bemisst sich Zeitwohlstand in bewusster Interaktion, Fürsorge und Zuwendung mit dem Ergebnis von Wohlbefinden.« Memorandum Familie leben. Impulse für eine familienbewusste Zeitpoli-tik, BMFSFJ, 6 f.

33Warum eine Theologie der Buße?

rend-humanisierendes Menschenbild beschreiben: Es ist darauf angewiesen, sich das eigene Leben zu erarbeiten, es zu erleben, seine Höhen und Tiefen im Empfinden, in der sinnlichen Wahrnehmung zu erschließen, während es zugleich unter dem in der philosophischen Bewegung des Humanismus auf-gekommenen Postulat der Selbstverwirklichung als einem Anspruch, immer das den eigenen Potenzen Entsprechende zu realisieren, steht.

Modernes Leben ist ein druckbelastetes Leben. Dies belegt auch die Stu-die »Eltern unter Druck«, die das Sinus-Institut im Auftrag der Konrad-Ade-nauer-Stiftung milieuperspektivisch differenzierend und hinsichtlich der konkreten Situation moderner Eltern erarbeitet hat: »Viele Eltern sehen sich heute unter vielfältigem Druck: Zeitdruck, Organisationsdruck, Leistung im Beruf, Erfolg der Kinder in der Schule, Erziehungsdruck und – auch Partner-schaftsdruck (Sind Aufgaben richtig und gerecht/gleichberechtigt verteilt?). Viele Eltern sind verunsichert, ein Drittel fühlt sich im Erziehungsalltag oft bis fast täglich gestresst, die Hälfte immerhin gelegentlich.«57 Dieser Druck baut sich über das Wissen auf, in permanenter Selbsttätigkeit des individuel-len biographischen Planungsbüros (Beck) sich sein Leben entwerfen zu müs-sen, sowie durch die mitgehende Angst, in diesem Projekt zu scheitern.58 Dieses Scheitern ist im Großen wie im Kleinen alltägliche Realität: Jede ein-zelne Rolle des Lebens bringt verschiedene Anforderungen mit sich, mit der permanent mehrere Anforderungen anderer Rollen um Zeit, Energie und Lebensraum, den sie jeweils einnehmen, konkurrieren. Bei jeder Erfüllung

57 Christine Henry-Huthmacher, Michael Borchardt (Hrsg.), Eltern unter Druck: Selbst-verständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebens-welten. Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung von Sinus-Sociovision im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., von Tanja Merkle und Carsten Wippermann, Stuttgart 2008, 32 (Hervorhebungen im Original).58 Die Angst, so stellt auch Petra Steinberger im Leitartikel der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung vom 20./21. August 2011 fest, ist permanenter Begleiter einer risiko überforderten Gesellschaft. Steinberger benennt den gegenwärtigen Zeitgeist als »Vollkasko-Ära«, in der »Risiken keinen guten Ruf« haben. Ihre Diagnose krankt aller-dings an einer kausalen Herleitung dieser Phänomene. Es ist m. E. wenig gewonnen, wenn ein Symptom moniert wird, ohne seine Ursache aufzuspüren. Dass die Menschen heute Risiken nicht analysieren, sondern nur verdrängen, wie Steinberger schreibt, hat existentielle soziale und wirtschaftliche Gründe. Wo Risiken existentiell werden, ist mit dem feuilletonistischen Zuruf, Menschen dürfen sich irren, der Fehler sei nur, dass sie das nicht realisieren, wenig geholfen. Denn hiermit wird nur wiederum dem Individuum die Schuld für ein gesellschaftliches Problem zugeschrieben. Ein typischer Ausdruck in-dividualisierten Denkens: Der Einzelne ist schuld.

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einer Aufgabe bleibt das Gefühl zurück, unzählige andere Aufgaben nicht erfüllt zu haben.

Modernes Leben verwirklicht sich somit selbst unter einer dauerhaft präsenten Potentialität der Schuld durch Scheitern. Diese Schuld des mo-dernen individualisierten Lebens wird deshalb als so hart, als so existentiell empfunden, weil sie nicht abgegeben werden kann. Wenn der Karren des eigenen Lebens in den Dreck gefahren ist, dann ist dies niemandes anderen Schuld. Es ist allein die eigene Schuld.59

Für dieses Schuld-Dilemma gibt es verschiedene gesellschaftlich propa-gierte Lösungs-Versuche. Ich bezeichne sie als »Moderne Bußen«. Sie sollen dazu dienen, die Schuld als basso continuo moderner Existenz handhabbar zu machen, das Gefühl des Scheiterns zu kompensieren.

1.2.2.2 Moderne Bußen: Innere Reinheit, Lebenshilfe und RatgeberEin Motiv der Buße in der gegenwärtigen Kultur ist der Wunsch nach körper-licher Reinheit. Es ist ein dezidiertes Bußmotiv, rein sein zu wollen, einen Zu-stand körperlicher Reinheit zu erlangen. Im Fokus dieser Bemühung steht die Annahme einer organischen Einheit von Körper und Geist. Die Reinigung des Körpers ist untrennbar mit der Reinigung des Geistes verknüpft. Ein saube-res, sündenfreies Herz wiederum gilt als Bedingung für die Gottesbegegnung und war jahrtausendelang ein religiöses Phänomen. Buße als »Versuch der

59 Isolde Karle kommt in ihrem Essay über »Das Streben nach Glück« in theologischer Perspektive zu ähnlichen Ergebnissen: »In einer Gesellschaft, die sich nicht mehr an Her-kunft und Schicht orientiert, sondern die Lebens- und Karrierechancen an das Indivi-duum delegiert, entstehen nicht nur neue Freiheiten, sondern auch »neue Formen der Schuldzuweisung« (Beck, Risikogesellschaft, 218). Nach dem Verschwinden aller Instan-zen, die man bislang für sein Schicksal verantwortlich machen konnte, müssen sich In-dividuen zunehmend Ereignisse und Entscheidungen selbst zuschreiben. […] Was früher als Schicksalsschlag oder als Wille Gottes interpretiert werden konnte, ist heute zumin-dest auch Konsequenz eigener Entscheidung, die als solche getragen und verantwortet werden muss. Das macht es noch schwerer, als es ohnehin ist, mit Niederlagen, mit dem Scheitern in Ehe oder Beruf, nicht zuletzt auch mit Krankheit, für deren Entstehen viel zu häufig psychische Ursachen geltend gemacht werden, umzugehen.« Isolde Karle, Das Streben nach Glück. Eine Auseinandersetzung mit der Beratungsgesellschaft, in: Hein-rich Bedford-Strohm (Hrsg.), Glück-Seligkeit, Theologische Rede vom Glück in einer be-drohten Welt, Neukirchen-Vluyn 2011, 54 f. Im Zusammenhang des Rückschlusses von Krankheit auf psychische Ursachen vgl. Susan Sontag, Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern, Frankfurt a. M. 22005.

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Umkehrung eines verkehrten Gottesverhältnisses«60 begegnet in nahezu allen Religionen in Form ritueller Akte mit vielen verschiedenen Ausdruckswei-sen, die alle einen Reinheitszustand anstreben: »Als einen für nahezu alle Re-ligionen gültigen Sinn von Buße kann man den Versuch einer Wiederherstel-lung der in Unordnung geratenen ›numinosen Ordnung‹ durch rituelle Akte (Reinigung, Askese, Fasten, Kasteiungen, Tier- und Menschenopfer, Beichte, stellvertretende Sühne [Sündenbockmotiv]) verstehen.«61 Bei der Betrachtung der rituellen Bußakte fällt auf, dass ein wiederkehrendes Motiv das Sich-Ent-ledigen von Körperinhalten ist. Dem liegt eine Identifizierung von Sünde, die die Ordnung durcheinander bringt, mit materialen, gegenständlichen Ele-menten und Stoffen, also gewissermaßen ein substanzieller Sündenbegriff, zugrunde: »Wo Sünde als eine Art Unreinheitsstoff angesehen wird, besteht Buße lediglich in seiner äußeren Entfernung durch Waschungen, drastischer durch Brechmittel!«62 In verwandter Manier dient das Fasten in christlichem Kontext vor den kirchlichen Hochfesten einer inneren, körperlichen, aber eben auch geistigen Reinigung. Nichts, was Körper und Geist belasten könnte, soll zwischen dem Gläubigen und Gott stehen. Durch die Reinigung des Kör-pers soll der Geist frei gemacht werden für die Gottesbegegnung. Auch das Aussprechen innerer Verfehlungen, das Bekennen der Sünden, ist als Abla-dung von verunreinigtem »Material« zu deuten: »Zentral im Buß-Prozess steht der Akt des Bekennens; er wird eingeleitet durch Reinigungsriten und weitere symbolische Aktionen. Ein bezeichnendes Bespiel ist von den Kikuyu63 be-kannt: kotahikio = confessing ist abgeleitet vom Verb tahika = erbrechen; dem-entsprechend wird auch jedes Bekennen begleitet von Ausspucken.«64

Deutliche Parallelen hierzu finden sich in gegenwärtigen Praktiken der Wellness-Bewegung. Sie hat das Bußphänomen der inneren und äußeren Reinigung annektiert. Entschlacken, Schröpfen, Abführen, Fasten- und Ent-giftungskuren sollen  – bei zweifelhafter medizinischer Indikation  – dazu dienen, den Körper von einem angenommenen Ballast zu reinigen und einen Zustand der Unbeschmutztheit zu erlangen. Offensichtlich ist es ein

60 Vgl. Wißmann, Buße, 431.61 Wolfgang Gantke, Art. Buße I. Religionsgeschichtlich, RGG4 1, Tübingen 1998, 1904.62 Wörterbuch der Religionen, Art. Buße, Stuttgart 41985, 113.63 Die Kikuyu sind eine ethnische Gruppe im ostafrikanischen Kenia. Sie machen etwa eine Viertel der Gesamtbevölkerung Kenias aus. Damit bilden sie im Vielvölkerstaat Kenia die größte ethnische Gruppe.64 Klaus Zinniel, Art. Buße, Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart, Berlin, Köln 1990, 189.

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menschliches Grundempfinden, nicht so rein zu sein, wie man eigentlich sein sollte.65 Auffallend dabei ist, dass im Wellness-Kontext Gott als Gegen-über verschwindet. Ist in allen dualistischen Religionen, also in denjenigen Religionen, in denen der Mensch sich auf eine numinose Macht bezogen sieht, Gott der meist personal gedachte Adressat, welchem die Reinigungs-bemühungen gefallen sollen, so ist im modernen Wellness-Kult Gott gewis-sermaßen in Körper und Psyche der Menschen hineingerutscht. Der Begriff der Sünde wird ent-transzendiert und in einem welt-immanenten Horizont umgedeutet. Die begangenen Sünden werden nicht mehr als Entfernung von einem dem Menschen gegenüber-stehenden Gott begriffen, sondern als Ent-fernung von einem menschlichen Urzustand, der rein ist und den es wieder zu erlangen gilt.66 Sünde ist Entfernung von sich selbst, nicht mehr Entfer-nung von Gott. Die wahre Bedrohung des Lebens besteht darin, sich nicht selbst zu verwirklichen, nicht die eigenen Potenzen in Aktion zu bringen und seine Potenziale auszuschöpfen, die falsche Lebensweise, den falschen Beruf, den falschen Partner gewählt, sprich: die falschen Lebensoptionen verwirk-licht zu haben. Hiermit einher geht eine Auslagerung der Bearbeitung von Versagens- und Schuldkomplexen aus dem religiösen Kontext heraus in the-rapeutische Kontexte hinein. Die Bearbeitung von Schuld findet immer we-niger in kirchlichen und immer häufiger in psychologisch-therapeutischen Einrichtungen statt. Buße und Beichte, Sündenbekenntnis und Absolution haben mit der Ent-Transzendierung des Sündenbegriffs an Plausibilität ver-loren, ihre Funktionen sind in einen Markt der Lebenshilfe abgewandert.

Eng mit diesen Phänomenen verbunden ist die Durchschlagskraft mo-derner Ratgeber für alle Lebenslagen. Die grundsätzliche Verunsicherung,

65 Hermann Unterstöger bringt in einer Beilage der Süddeutschen Zeitung den Zusam-menhang zwischen Wellness-Bewegung und religiösen Reinigungsritualen zur Sprache: »Als die innere Reinheit noch nicht in dem Maß wie heute mit Entschlackung und ähn-lich unappetitlichen Prozeduren in eins gesetzt wurde, war sie ein deutlich religiöses Phänomen. […] Man mag es für seltsam halten oder nicht, aber die Menschen scheinen seit Urzeiten und über alle Kulturen hinweg das Gefühl gehabt zu haben, nicht so rein zu sein, wie sie eigentlich sein sollten. […] Sie haben, wenn sie nicht völlig verbumfeit sind, den nur selten nachlassenden Drang, mit sich und der Welt – sehr oft auch mit Gott – im Reinen zu sein.« Süddeutsche Zeitung, Wohlfühlen Nr. 2, Juni 2011, 6.66 In popular-ethnologischer Manier findet dieser menschliche Urzustand seine Referen-zen häufig in einem stark ideologisierten Bild von »Urvölkern« wie »den Indianern«, »den Eskimos«, dem Menschen der Steinzeit u. ä. Sie begegnen als Sinnbilder unbefleckter, mit sich und der Natur im reinen lebender Menschen und sind doch nur romantisierende Pro-jektionen, mehr noch: Chiffren, die Defizite heutiger Selbstdefinitionen aufdecken.

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die der Wegfall normativer Werte und vorgegebener Lebensläufe hinterlas-sen hat, wird durch eine Industrie der Ratgeber-Bücher aufgefangen. Pas-send zum Problem der jeweiligen Lebenslage gibt es mannigfache Literatur, die konkretes Handeln anweist und somit von der Anforderung, selbst die Lösung für das jeweilige Problem zu finden, entlasten soll.67 In einem Neben-effekt soll sie die Angst der Bedrohung des Scheiterns verringern: Die ge-wählte Handlungsoption ist ja wissenschaftlich abgesichert.68

Als problematisch an all diesen Bemühungen erweist sich, dass sie immer autopoietische Maßnahmen darstellen. Autopoiese aber kann keine Befreiung von einer Sünde erlangen, die man selbst ist. So gesehen lassen sich die autopoietischen Bußbestrebungen heutiger Zeitgenossen als mo-derne Gestaltwerdungen des homo incurvatus in se beschreiben. Der Mensch bleibt in seinem Erlösungshandeln einem selbstbezüglichen System ver-haftet. Der Übertritt bußtheologischer Motive in den Wellness-Kult und den Bereich psychologischer Beratung ist somit ein typischer Ausdruck indivi-dualisierter Religion. Jedes einzelne Element des Bußprozesses stellt das Individuum selbst dar. Es ist Verursacher der Sünde, Opfer der Sünde – als derjenige, an dem Wiedergutmachung zu leisten ist – und Sühnemittel in geistig-körperlicher Personalunion. Damit stellt es den alleinigen Referenz-rahmen für die Buße dar.69

67 »Eltern unter Druck« schildert den Teufelskreis aus Druck, Angst vor Scheitern in Er-ziehungsfragen, Konsultation verschiedener Beratungen und Erhöhung des Drucks, in dem viele moderne Eltern sich befinden: »Die in den letzten beiden Dekaden gestiegene Flut an Erziehungsratgebern und Elternzeitschriften dokumentiert diese Unsicherheit und einen Bedarf. Weil hier ein neuer, wachsender Markt entstanden ist, mit verschiedenen (auch gegensätzlichen) Philosophien, Ansätzen, Konzepten und Rezepten, wurde die Verunsiche-rung vieler Eltern bestätigt, gefestigt und sogar sukzessive gesteigert: ein paradoxes Phäno-men.« Christine Henry-Huthmacher, Michael Borchardt (Hrsg.), Eltern unter Druck, 32.68 »Die Ratgeberliteratur und Ratgeberszene verschärft diesen Modus individueller Zu-rechnung, weil sie ihrerseits von einer sehr weitreichenden Gestaltbarkeit und Steuerbar-keit des Lebens ausgeht. »Jeder kann ganz anders werden. Es gibt keine Grenzen: Ratgeber sind selbst ein gutes Beispiel für das gesamtgesellschaftlich dominante Steigerungsspiel« (Manfred Prisching, Die Ratgeber-Gesellschaft, ThPQ 154, 2 (2006), 122). Insbesondere bei der Motivationsliteratur fällt das auf. Dort scheint man beinahe von einer beliebigen Gestaltbarkeit des »Menschenmaterials« auszugehen. Den Individuen wird suggeriert, sie könnten letztlich alles, was sie wollten, wenn sie es nur ernsthaft wollen und dabei ein paar gute Ratschläge befolgten«. Karle, Glück, 55.69 Ähnliches diagnostiziert Haudel: »Der Umgang mit persönlicher und gemeinschaft-licher Schuld und den Möglichkeiten von Versöhnung ist in allen Konfessionen durch