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Inhalt

Über Jakob Wassermann ............................ 4

Programmablauf der Preisverleihung ............ 5

Robert Schindel – Biografisches ................... 6

Ansprache vonOberbürgermeister Dr. Thomas Jung ........... 8

Laudatio vonGunhild Kübler .......................................... 12

Dankrede vonRobert Schindel ......................................... 18

Der Jakob-Wassermann-Literaturpreis:Richtlinien und Kuratoriumsmitglieder ....... 25

Sonderpreis zum Stadtjubiläum

Verleihung desJakob-Wassermann-Literaturpreises 2007an

ROBERT SCHINDEL

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Über Jakob Wassermann,den großen RomancierJakob Wassermann wurde am 10. März1873 als Sohn eines jüdischen Gemischt-warenhändlers in Fürth geboren und wuchsin ärmlichen Verhältnissen auf. Der Vaterschaffte es als glückloser Geschäftsmannnicht, die Familie ausreichend zu versorgen.Als dann auch noch die schöne und gelieb-te Mutter früh starb,nahm eine herzloseStiefmutter ihrenPlatz ein, die die Kin-der aus erster Ehe nurals nutzlose Esser be-trachtete. Eine trost-lose Kindheit, dieWassermann prägteund von der er späterunter anderem in sei-ner autobiografi-schen Schrift „MeinWeg als Deutscherund Jude“ erzählte.Deshalb zog es ihn be-reits früh, mit 16 Jah-ren, fort aus seinerGeburtsstadt.1895 wurde er Sekretär des SchriftstellersErnst von Wolzogen in München und einJahr später Redakteur beim „Simplicissimus“,in dem erstmals Gedichte und Erzählungenaus Wassermanns Feder erschienen.Von 1898 an lebte er in Wien und von1923 an in Altaussee (Steiermark), wo eram 1. Januar 1934 starb.

Wassermann war sehr produktiv. In der Zeitnach dem Ersten Weltkrieg zählte er zu denmeistgelesenen deutschsprachigen Auto-ren. Romane wie „Das Gänsemännchen“,„Caspar Hauser oder Die Trägheit des Her-zens“ und „Der Fall Maurizius“ waren in

nahezu jeder literarisch interessierten Familiezu finden. Der Freund von Arthur Schnitzler,Hugo von Hofmannsthal und Thomas Mannwar ein exakter Schilderer von Menschen undihrer psychischen Strukturen, der gesellschaft-lichen Situation seiner Zeit, besonders aberauch des jüdischen Lebens. Und er war einüberaus exakter Rechercheur, dessen histori-sche Werke wie das 1929 entstandene Por-trait über „Christoph Columbus“ auch heute

nichts von ihrerBedeutung ver-loren haben.

Wassermann warkein in erster Liniepolitisch denken-der Mensch. Den-noch nahm er diegesellschaftlich re-levanten Strömun-gen und Verände-rungen durchauswahr und sah denEntwicklungen mitBesorgnis entgegen.

Im Gegensatz zuseinen Zeitgenos-

sen ist Jakob Wassermann seit langem –eigentlich unverständlich – in den Hinter-grund getreten. Sein wertvolles wie umfang-reiches Werk, das zu Lebzeiten internationaleAnerkennung fand, und die Person Wasser-manns verdienen eine neue, starke Aufmerk-samkeit.

Seit 1996 wird deshalb der Jakob-Wasser-mann-Literaturpreis an deutschsprachigeAutorinnen und Autoren verliehen, derenWerk dem literarischen Schaffen JakobWassermanns gerecht wird und der Förde-rung von Humanität, Toleranz und Gerech-tigkeit verpflichtet ist.

„Jakob Wassermann ist der Romancier von

Geblüt. Hätte es vor ihm den Roman nicht

gegeben, er wäre der Mann gewesen, ihn zu

erfinden. (...) Der Roman behauptet bei ihm

seinen volkstümlichsten Sinn, Spannung,

Geheimnis, Enthüllung, großer Aufbau,

die Befriedigung durch deutliche Handlungen;

– und in dem allen schlägt fortwährend ein

Herz, wacht immer ein menschlich bemühter

Geist und offenbart sich ein herrlicher

Dichter.“

Heinrich Mann

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UrlichtGustav Mahler (1860-1911)Text: Des Knaben Wunderhorn

Begrüßung und Ansprache:OberbürgermeisterDr. Thomas Jung

Laudatio:Gunhild Kübler

GanymedLudwig Thuille (1861-1907)Text: Robert Hamerling (1830-1889)

Ehrung:OberbürgermeisterDr. Thomas Jung

Eintrag ins Goldene Buch

Dankrede:Robert Schindel

Er hatte ein Heim auch ohne dichUwe Strübing (*1956)Text: Rainer Fliege

Musikalische Ausgestaltung:Rebecca Broberg (Gesang) undHans Martin Gräbner (Klavier)

Programmablaufder Preisverleihungam 11. März 2007im Stadttheater Fürth

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Robert Schindel –Biografisches

04.04.1944 Robert Schindel wurde als Kindösterreichischer Kommunisten jüdischerHerkunft geboren. Die Eltern flogen als Mit-glieder einer Widerstandsgruppe auf. DerVater starb 1945 im KZ Dachau, die Mutterüberlebte und fand ihren Sohn wieder, densie unter falscher Identität („Waise von aso-zialen Eltern unbekannter Herkunft“) in ei-nem Wiener Kinderheim der nationalsozia-listischen Volkswohlfahrt versteckt hatte.

1959 verließ Schindel das Gymnasium undbegann eine Buchhändlerlehre bei einemWiener Verlag, die er abbrach. Es folgtenReisen nach Paris und Schweden, wo er sichmit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt.

1967 holte er die Matura nach und studiertevon 1967 bis 1973 Philosophie und Jura ander Universität Wien. Von 1968 bis 1971war er Wortführer der „Kommune Wien“,dem radikalsten Teil der Wiener Studenten-bewegung, anschließend, bis 1978, warSchindel in „maoistischen Kreisen“ politischsehr aktiv. Später distanzierte er sich vompolitischen Engagement seiner Jugendjahre.Mit dem Schreiben (vor allem Lyrik) begannSchindel in den späten 1950er Jahren, en-gagierter dann ab 1969, als er die Literatur-zeitschrift „Gruppe Hundsblume“ gründete.

1986 wurde Robert Schindel freiberuflicherSchriftsteller. Davor hatte er seinen Lebens-unterhalt mit zahlreichen Jobs unter ande-rem bei Post und Bahn, als Bibliothekar inder Wiener Hauptbücherei (1975-1980),Nachtredakteur bei Agence France Press(1981-1983) und als Gruppentrainer fürArbeitslose (1983-1986) bestritten. Neben-bei entstanden auch Arbeiten für Film, Fern-sehen und Rundfunk. Eine zentrale Rolle in

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Bibliografie:„Kassandra“, Roman, 1970„Drei Miniaturen“, Erzählungen, zusammenmit Gustav Ernst und Wolfgang Murawatz,1970„Zwischen den Maulschellen des Erklärens“,Gedichte, 1970„Brockt sie frisch von den Weibern“, Prosa,1971„Haikus im Ruderleiberl“, 1971„Ohneland“, Gedichte vom Holz derParadeiserbäume 1979-1984, 1986„Geier sind pünktliche Tiere“, Gedichte,1987„Im Herzen die Krätze“, Gedichte, 1988„Ein Feuerchen im Hintennach“, Gedichte1986-1991, 1992„Gebürtig“, Roman.„Die Nacht der Harlekine“, Erzählungen.1994„Gott schütz uns vor den guten Menschen.Jüdisches Gedächtnis – Auskunftsbüro derAngst“, 1995„Immernie. Gedichte vom Moos derNeunzigerhöhlen“, 2000„Nervös der Meridian“, Gedichte, 2003„Zwischen Dir und mir wächst das Paradies“,Liebesgedichte, Mit einem Vorwort vonAndré Heller, 2003„Mein liebster Feind“, Essays, 2004.„Fremd bei mir selbst“, Gedichte, mit einemNachwort von Marcel Reich-Ranicki, 2004„Kassandra“, Roman, Neuauflage 2004„Wundwurzel“, Gedichte, 2005

Preise, Auszeichnungen und Ehrungen:1989: Förderpreis des Kulturkreises imBundesverband der Deutschen Industrie1992: Förderpreis des österreichischenStaatspreises für Literatur1992: Förderpreis des Marburger Literatur-preises1992: Dr.-Emil-Domberger-Literaturpreisder B’nai B’rith Européen1993: Erich-Fried-Preis1995/96: Stadtschreiber von Klagenfurt1997: DAAD-Stipendium zu Berlinseit 1999: Juryvorsitzender des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, Klagenfurt2000: Eduard-Mörike-Preis der Stadt Fell-bach2003: Preis der Stadt Wien für Literatur2007: Jakob-Wassermann-Literaturpreis derStadt Fürth

seinen Werken spielt die Shoa, sein ambi-valentes Verhältnis zu Wien, jener Stadt,die er auch als „Vergessenshauptstadt“ be-zeichnet, und dem dort noch immer beste-henden Antisemitismus. 1989 trat Schindelwieder in die Israelitische Kultusgemeindeein.

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Ansprache vonOberbürgermeisterDr. Thomas Jung

Gestern jährte sich Jakob Wassermanns Ge-burtstag zum 134. Mal: Am 10. März 1873wurde er in Fürth geboren. Jakob Wasser-mann war zu Lebzeiten das, was man heuteeinen Bestsellerautor nennen würde. DieMenschen hatten seine spannenden Romanegeradezu verschlungen, beispielsweise „Cas-par Hauser“, „Der Fall Maurizius“ oder „DasGänsemännchen“. Als einer der populärstenund meist gelesenen deutschen Schriftstellerwurden seine Werke in viele Sprachen über-setzt – ein Werk „made in Germany, made inFürth“ – es war ein richtiger Exportschlager.

Meine Damen und Herren,wenn eine Stadt Jubiläum feiert, erinnert siesich mit Vorliebe an ruhmreiche Zeiten, be-sondere Errungenschaften und große Persön-lichkeiten. Jakob Wassermann ist so eine gro-ße Persönlichkeit der Kleeblattstadt. Vielleichthat er nicht den internationalen Bekannt-heitsgrad eines Henry Kissinger oder den his-torischen Stellenwert der Geschichtsschreibereines Ludwig Erhard, Max Grundig oderGustav Schickedanz.

Aber Jakob Wassermann gehört ohne Zwei-fel zu den wichtigsten Fürther Söhnen undTöchtern, die uns etwas sehr, sehr Wichtigeshinterlassen haben: Den Aufruf zu mehrMenschlichkeit, Gerechtigkeit und Toleranz.Werte, die sich durch fast alle wichtigen Wer-ke des Schriftstellers ziehen, und Werte, dieWassermann Zeit seines Lebens im Umgangmit so vielen Menschen vermisste. Bei Famili-enangehörigen, Freunden, Kollegen, Frem-den gleichermaßen.

Der Antisemitismus begegnet dem jüdischenMitbürger Wassermann in allen Facetten des

Alltags in der Weimarer Republik. Und erleidet Zeit seines Lebens daran, dass er, dersich in erster Linie als deutscher Dichter sieht,immer mehr unter dem Gesichtspunkt des„Jüdischen“, des „Andersseins“ bewertetwird. Ist er also ein deutscher Jude, oder einjüdischer Deutscher oder einfach nur einMensch, dem seine eigenen religiösen Wur-zeln fremd sind? „Es ist vergeblich, für sie zuleben und zu sterben. Sie sagen: er ist einJude.“ – so schreibt Wassermann in seinemautobiographischen Essay „Mein Weg alsDeutscher und Jude“ im Jahr 1921 – in einerZeit, in der antisemitische Schuldzuweisun-gen einen ersten Höhepunkt haben.

Doch trotz dieser anklagenden Einschätzung– zwölf Jahre bevor die Nazis die Macht er-langen –, zieht Wassermann keinen radikalenSchnitt. Er erhält sich den Wunsch, sich zuder kultivierten deutschen Gesellschaft zuge-hörig zu fühlen. Und so nimmt er die schlim-men Erfahrungen der Demütigung undZurückweisung eben dieser Menschen not-gedrungen in Kauf.

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Vielleicht, weil Zurückweisungen und Demü-tigungen für Jakob Wassermann zeitlebensvertraute Gefährten waren. Denn bereits alsKind litt er unter der Kälte seines Vaters undder schlimmen Lieblosigkeit der Stiefmutter.Darum flüchtete er in die Welt der Geschich-ten und des Erzählens. In dem er schrieb, be-freite er sich von den Lasten der Ungerechtig-keit und schuf in seiner Phantasie und Vor-stellung eine andere und bessere Welt. Undindem Wassermann auf diese Weise für dieSchwachen und Leidenden die Stimme er-hob, wirkte er an der Humanisierung der Ge-sellschaft mit. Sein Zeitgenosse und Schrift-stellerkollege Thomas Mann drückte es sehreindrucksvoll aus: „Er war stets um das Gutebesorgt und sah dies als seine moralischeVerpflichtung an.“

Die Menschen, die Leser jedenfalls, sie liebtenWassermanns Werke, seine Figuren, seineSprache, oftmals auch seine Botschaft. DieseHoch-Zeit dauerte etwa von der Jahrhundert-wende bis 1933, bis zur MachtergreifungHitlers. Man könnte sagen, dass der früheTod Wassermanns in der Neujahrsnacht 1934ihn vor der persönlichen Verfolgung durchdie Nationalsozialisten bewahrt hat. SeineSchriften aber wurden verboten und als nicht-deutsch verachtet. Wassermann sollte – wiealles Jüdische in Deutschland – ausgelöschtwerden und in Vergessenheit geraten. Wiesehr er unter dieser neuen Form und unterdem jahrelang latent lodernden Antisemitis-mus gelitten hat, macht folgender Satz in ei-nem Nachruf auf ihn deutlich: „Er starb auchan seinem Gram und den Qualen der Zeit.“

Meine Damen und Herren,anders als seine Schriftstellerkollegen der da-maligen Zeit – beispielsweise Thomas undHeinrich Mann –, mit denen Wassermannlange Zeit in einem Atemzug genannt wurde,schaffte sein Werk den erneuten Durchbruchnach dem Krieg nicht mehr. Mit dem Be-

schluss des Fürther Stadtrats aus dem Jahre1993, einen Literaturpreis zu Ehren diesesSohnes unserer Stadt auszuloben, geht derWunsch einher, das Leben und Werk JakobWassermanns wieder ins Licht der Öffentlich-keit zu rücken. Dorthin, wo seine Botschaft,sein Appell auch heute noch dringend ge-braucht wird.

Dies wollen wir erreichen, indem wir mit Hilfedes Jakob-Wassermann-Literaturpreises jeneSchriftstellerinnen und Schriftsteller ehrenund auszeichnen, die sich in ihrer Arbeit eben-falls den Werten der Toleranz, Gerechtigkeitund Humanität verpflichtet fühlen. Im Ringenum Wahrheit und die richtige Sicht der Dingescheuen diese Autoren nicht davor zurück,mit – wenn nötig – drastischen Worten wach-zurütteln. Und dieses Wachrütteln gilt nichtnur einer kleinen Gruppe Unbelehrbarer, wiewir es uns gerne einreden. Angesprochensind wir alle. Wir alle, die wir so gerne dazuneigen, uns unsere eigenen Wahrheiten zuzimmern und einen bequemen, ungestörtenWeg gehen.

Die Wahl des Kuratoriums fiel auf den 63-jäh-rigen österreichischen Autor Robert Schindel.In Bad Hallbach bei Linz geboren, überlebteRobert Schindel als Kind kommunistischerEltern jüdischer Herkunft das reichsdeutscheWien – versteckt unter falschem Namen ineinem Kinderheim der nationalsozialistischenVolkswohlfahrt. Groß geworden, studierteRobert Schindel Jura und Philosophie undengagierte sich lange Zeit in der Kommunisti-schen Partei sowie als Wortführer der Studen-tenbewegung „Kommune Wien“. Später dis-tanzierte er sich vom politischen Engagementseiner Jugendjahre und prangerte die „Ideo-logieinfektion“ an – „eine der schwerstenInfektionen des Zwanzigsten Jahrhunderts“,wie er sagt. Mit Beginn der 1980er Jahre be-schäftigt sich Robert Schindel zunehmend mitseiner jüdischen Herkunft, dem Judentum all-

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gemein und dem Holocaust aus der Perspek-tive der Nachfolgegeneration. Seit 1986 ist erals freier Autor, Lyriker und Regisseur tätigund lebt derzeit in Wien. Sein bislang einzi-ger Roman „Gebürtig“ erscheint 1992 undwird 2001 verfilmt.

Wenn man nun zwei Literaten miteinandervergleicht, deren Werk und Biografie genaueranschaut, kommt man zwangsläufig auf dieeine oder andere Gemeinsamkeit. Aber keineSorge, lieber Herr Schindel, meine sehr ge-ehrten Damen und Herren, ich will Sie jetztnicht mit irgendwelchen an den Haaren her-beigezogenen Übereinstimmungen und Ge-gensätzen langweilen. Es geht um Grund-sätzliches. Etwa Ihre Erfahrungen, lieber HerrSchindel, mit Anfeindungen aufgrund derReligionszugehörigkeit. Ihr Ringen um Identi-tät, um die Frage „Wer bin ich?“. Wie bereitserwähnt, hat sich Wassermann in seiner Au-tobiographie „Mein Weg als Deutscher undJude“ damit eingehend auseinandergesetzt.Sie haben die ähnliche Problematik in einemeinzigen Satz auf den Punkt gebracht: „Ichbin juristisch Österreicher, bin jüdischer Her-kunft und ein nicht gläubiger Jude.“

Sie haben vor einigen Jahren geäußert, dassSie ins Schreiben geflüchtet sind, weil Sie alsJude vor Hohn und Drohungen nie sicher wa-ren und Ihnen schon als Kind das „Juden-bua“ ins Gesicht geschrien wurde. Dass Ih-nen die Sprache nach und nach die Steine er-setzte, die Sie als Kinder damals aufeinanderwarfen. Zitat: „Ich lief schreiend der Vergan-genheit davon, ich weiß es noch, ich lief indie deutsche Sprache hinein, als sei die einAdlerhorst.“ Ich möchte anmerken, dass esfast einem Wunder gleicht, dass Sie fähigwaren, Ihre schmerzlichen Erfahrungen undVerletzungen in so großartige Literatur zuverwandeln – hier sind wir wieder bei einergroßen Gemeinsamkeit mit Jakob Wasser-mann. Eine weitere Gemeinsamkeit ist Ihre

autobiographische Nähe zu vielen Szenen undFiguren Ihres Werkes – ganz besonders fälltdies natürlich beim lyrischen „Ich“ Ihrer Ge-dichte auf.

Die deutlichste Übereinstimmung sehe ichallerdings in einem anderen Ausspruch vonIhnen, ich zitiere: „Ich wohne nirgends. Ichbin überall daheim. Schreiben ist meine ei-gentliche Heimat.“

Sehr geehrter Herr Schindel,Sie erhalten heute den Jakob-Wassermann-Literaturpreis für Ihr lyrisches Gesamtwerk.Bereits mit Ihren ersten Gedichtbänden„Ohneland. Gedichte vom Holz der Paradei-serbäume“, „Geier sind pünktliche Tiere“,„Im Herzen die Krätze“ und „Ein Feuerchenim Hintenach“ haben Sie sich den Ruf erwor-ben, eine der kraft- und ausdrucksvollstenStimmen zeitgenössischer Dichtkunst zu sein.Mit Ihrer Lyrik haben Sie darüber hinaus dieThese des Philosophen und Soziologen Theo-dor Adornos widerlegt, dass nach Auschwitzniemand mehr Gedichte schreiben könne.

Sie werden von der Stadt Fürth ferner für Ih-ren Roman „Gebürtig“ ausgezeichnet, in demIhnen das Kunststück gelang, das Thema Ho-locaust als Betroffener aus der zweiten Gene-ration auf eindrucksvolle, auf ganz neue Weisedarzustellen. In dem Sie sowohl mit wiene-rischem „Schmäh“ als auch mit analytischerSchärfe, mit Ironie aber auch viel Mitgefühlaufbereiten, was Juden und Nichtjuden trenntaber auch verbindet. Auch in dem Film zumBuch, den Sie zusammen mit Lukas Stepanikgedreht haben, haben Sie praxisnah verdeut-licht, dass die Probleme der Vergangenheitauch in der Gegenwart bewältigt werdenmüssen, um dann befreit Zukunft aufzubauen.

Und diesen Anspruch haben Sie auch an sichselbst, wenn Sie etwa in dem Essayband „Gottschütze uns vor den guten Menschen“ auch

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mit sich selbst und Ihrem früheren politischenWirken durchaus hart ins Gericht gehen.

Lieber Herr Schindel,Sie erhalten diesen Literaturpreis, weil sichähnlich wie bei Jakob Wassermann derWunsch nach Gerechtigkeit und Mensch-lichkeit durch Ihre Werke zieht.

Die Entscheidung, den Jakob-Wassermann-Literaturpreis im Jubiläumsjahr 2007 anRobert Schindel zu verleihen, begründet dasKuratorium wie folgt:

„Das Werk des in Wien lebenden Schriftstel-lers Robert Schindel hat die Problematik einerdeutsch-jüdischen Identität nach dem Holo-caust ebenso beispielhaft wie facettenreichgestaltet. Der Roman „Gebürtig“, sein be-kanntestes Buch, beschreibt die Schicksaleund Ängste der jüdischen Nachkriegsgenera-tion vor dem Hintergrund der zweiten Schuld,des Verdrängens und Verschweigens der NS-Verbrechen.

Mit seiner expressiv-unverwechselbaren Spra-che, seiner Fabulierlust und seinem abgründi-gen Witz zählt Schindel zu den interessantes-ten, aber auch eigentümlichsten Autoren derGegenwartsliteratur. Politisches und literari-sches Engagement sind nicht zu trennen.Streitbar und unangepasst wendet er sich ge-gen Antisemitismus und Xenophobie, und dieHoffnung auf eine Welt ohne Hass und Vor-urteil ist in seiner Lyrik und Erzählprosa alskonkrete Utopie zu erkennen.Robert Schindel wird damit dem SchaffenJakob Wassermanns in hervorragender Weisegerecht. Mit Werk und Person steht er rück-haltlos für die propagierten Werte der Hu-manität, Toleranz und Gerechtigkeit ein.“

Diese Begründung ist überzeugend.

Lieber Herr Schindel, ich gratuliere Ihnenzum Jakob-Wassermann-Literaturpreis 2007der Stadt Fürth!

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Laudatio vonGunhild Kübler

Ich beginne meine Laudatio mit einemSonett von Robert Schindel.

„Da war die Kindheit, war ein Mordstheater

Zuerst erwürgten sie mir glatt den Vater

Dann kam die Mutter zruck aus dem Kazett

Streichelte mich ins ICH, doch ich war weg.

Vagabundierte durch die Leidenschaften

Sodass die Schulen als die Zitadellen

Des Lebens stürzten. Und sie schafften

Des Aufruhrs Winde, des Versagens Wellen

Und prallte ab bei Menschenkindern

Stiess rasch hinein in solche Roten Träume,

Sodass Parolen mich umküssten ausGenossenmündern.

Bis in die Kindheit runter werfen Marx- undLeninbäume

Die Zukunftsschatten, welche meine Ge-genwart verhindern:

Rauchnasenkinder zeug ich mir vom Steinder Vatersteine.“

I. Splitter Kindheit hat Robert Schindel diesesGedicht aus den frühen 80er Jahren über-schrieben. Ungewöhnlich und riskant istschon der Anfang: Das Gedicht scheint imTon ganz konventionell beginnen zu wollen.– Aus dieser Kindheit gibt es Schauerliches zuberichten? Na, da wird man halt den belieb-ten alten Moritatentonfall, der sich bei allerleiSchauerdramen schon so schön bewährt hat,probeweis aus der literarischen Rumpelkisteholen.

Was dann aber an Fakten zum Vorscheinkommt, ist absolut inkompatibel mit diesem

Ton. Das angesprochene „Mordstheater“war wirklich tödlich, eine Katastrophe undeben gerade kein Theater. Und so verschwin-det der Moritatenton von selbst. Was imGedicht zu Umbrüchen führt, nicht bloss imTon. Es folgt eine Serie von schneidend kon-trastreichen Aktionen, angerissenen Kurz-szenen und Bildern, die so wild aufeinandergestapelt werden, dass die streng geregelteSonettform schier zu reissen droht.

Lebenslaufgedichte haben Tradition in derdeutschen Lyrik:

Hoch auf strebte mein Geist, aber dieLiebe zog

Schön ihn nieder; das Leid beugt ihngewaltiger;

So durchlauf ich des Lebens

Bogen und kehre, woher ich kam.

heisst es beispielsweise in trotz inhaltlicherGewaltsamkeit geradezu klassisch klarer,gerundeter Linienführung bei Hölderlin.

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Schindel dagegen entwirft einen Zickzack-kurs und scharfe Bewegungskontraste: Auf„Mordstheater“ und „Kazett“ folgen sanftemütterliche Streichelbewegungen, von denenes heisst, dass sie das dem Schrecken entron-nene Kind erst zu einem Ich machten. Da ha-ben wir es quasi in seiner biografischen Ur-form, dieses charakteristische Miteinandervon Grauen und lebenerweckender Zärtlich-keit, das sich in der Lyrik dieses großen Poe-ten aus Wien überall manifestiert.

Im Gedicht folgt nun ein Hin und Her jugend-lichen Vagabundierens, der Sturz zitadellen-hafter Bildungsanstalten, Aufruhr und Versa-gen, ein Fortgerissenwerden und Abprallen,dann ein Hineinstossen in politische Träumeund in die Umarmungen („Umküssungen“heißt es) der Gleichgesinnten. Danach gehtsrunter in den frühen Schatten marxistischerGesellschaftsentwürfe – und am Ende hinü-ber zu etwas, das starr und stumm wie einDenkmal über all dem aufgeregten Zickzackaufragt: Stein der Steine, der Vaterstein.

Die Fakten dahinter sind die Fakten vonRobert Schindels Biografie: Geboren im April1944 als Sohn von jüdischen Eltern, die zumLinzer Widerstand gehörten, hat er den Holo-caust ausgerechnet in der Obhut des NS-Kin-derheims in der Wiener Leopoldstadt über-lebt. Seine gesamte Familie wurde deportiertund vernichtet. Einzig seine Mutter kam mitihrem Bruder zurück.

Sie, die schon früh aus dem Judentum wegund in die Weltrevolution hineingelaufenwar, sorgte dafür, dass der Sohn als treuerJungkommunist aufwuchs. Wenig hat er vonder Mutter über seine in Riga, Auschwitz undDachau ermordete Familie erfahren. Sie blick-te energisch nur nach vorn und in eine lichteZukunft. „Völkerverständigung“ war RobertSchindels erstes schwieriges Wort. Und als erwegen seiner Judennase schon auf der Stras-

se von den andern Kindern gehänselt wurde,erklärte ihm die Mutter: „Juden sind religiöseMenschen wie Christen. Wir aber sind ohneBekenntnis, daher auch keine Juden“.

In seinem späteren Leben ist Robert Schindelden Weg seiner Mutter in umgekehrter Rich-tung gegangen. Auch davon redet das Ge-dicht. Der Vaterstein wurde ihm zum Weg-weiser einer Umkehr, die ins unverwech-selbar Eigene, ins Schreiben hineinführte.An ihm ist er selber zum Vater geworden,mit ihm hat er seine „Rauchnasenkinder“gezeugt: Texte, die wie Feuermelder-Mecha-nismen funktionieren. Sie wollen ihre LeserZeit-wach halten und aufmerksam machenauf jeden „künftigen Radau“. Darin liegt ver-mutlich Robert Schindels Schreibantrieb, sei-ne Schreibmotivation von Anfang an.

„Mein Gesichtstypus bezichtigte mich nichtals Jude... Ich hatte eine gerade Nase“, schriebJakob Wassermann in seinen Reflexionenüber seinen „Weg als Deutscher und Jude“,der mitnichten ein individueller war. Zitat:„Genau betrachtet war man Jude nur demNamen nach und durch die Feindseligkeit,Fremdheit oder Ablehnung der christlichenUmwelt“.

Jakob Wassermann lebte im Spannungsfelddes jüdischen und des nichtjüdischen deut-schen Pols und fühlte sich beiden zugehörig.Angeboren war ihm zudem das – Zitat –„Verlangen, in einer gewissen Fülle des michumgebenden Menschlichen aufzugehen.“Man könnte es auch den „Seid-umschlun-gen-Millionen“-Impuls nennen. Aufgehenwollte er im „umgebenden Menschlichen“aber nicht unter Verlust seiner Eigenart, son-dern als einer, dessen spezifische Art undHerkunft eben gerade nicht ignoriert werden.

Die Entscheidung, vor die ihn der Judenhassseiner antisemitischen Umwelt und auch

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noch seine nichtjüdischen Freunde stellten,war jedoch immer dieselbe: „Bist du Judeoder bist du Deutscher?“ Eine qualvolle,herzbeengende Frage für Wassermann. SeinBeharren darauf, „Jude und Deutscher“ zusein, stiess erst auf eine stabile Wand vonMisstrauen und wurde dann lebensgefähr-lich. Er sah bereits den rasenden Antisemitis-mus späterer Jahre heraufkommen und wiesjeden Trost von sich. Den Optimismus derVerharmloser aber teilte er nicht.

„Sie übersehen“, schrieb Wassermann nichtganz dreissig Jahre vor dem Holocaust mit ei-ner Klarsicht, bei der es einem heute kaltwird, „sie übersehen die Zahl der Opfer... dieBeredsamkeit von furchtbaren Tatsachen...und dass es müssig ist, wenn ich mich als Ge-fangener in einem Raum voll Kohlenoxydgasbefinde, mich damit zu beruhigen, dass mor-gen die Fenster geöffnet werden.“ Was füreine Präzision in der Prophetie.

Was Wassermann kommen sah, haben wirnoch heute alles andere als hinter uns. Niegab es im Schatten einer solchen Vergangen-heit eine Stunde Null. Tiefer, wenn auchlängst nicht so offensichtlich wie Bomben-krater und Einschusslöcher an deutschen Fas-saden, waren die inneren Verheerungendurch die Katastrophe. Ihr Weiterwirken dar-zustellen, ihre Nachwirkungen zu beschrei-ben, dieses Thema hat der SchriftstellerRobert Schindel sich nicht ausgesucht, es istihm lebensgeschichtlich aufgezwungen. Un-aufhörlich reden davon seine Gedichte, Arti-kel und Essays und kurzen Erzählungen undsein grosser Roman.

Schindel geht es nicht um die Formel „Judeund Deutscher“ oder „Jude und Oester-reicher“ etc., also um eine Art von Doppel-existenz wie sie Jakob Wassermann als Idealnoch vorschwebte. „Ich bin ein Jud ausWien“, so eröffnet Robert Schindel sein zen-

trales Gedicht Vineta 1 mit einer an ein Dik-tum von Sigmund Freud angelehnten, trotzigselbstbewussten Formulierung. Als nicht-religiöser, nichtzionistischer Jude sieht er inder Solidarität mit den Beleidigten, Verjagten,Vernichteten die für sein eigenes Judentumentscheidende Kategorie. Judentum ist fürihn eine Form des Widerstands, die sich zwaraus der Erinnerung an die Judenvernichtungergibt, sich aber nicht bloss gegen den Anti-semitismus als die Urform von Verfolgung, In-toleranz und Aberglauben richtet.

Im Essayband Mein liebster Feind rekapituliertSchindel die von Jakob Wassermann durch-lebten Zeiten vor dem Holocaust mit folgen-den Worten, Zitat: „Das nichtjüdisch-jüdischeVerhältnis hierorts war stets ein Täuschungs-verhältnis, eine einseitige Gemeinheit, einePerfidie, ein Skandal, ein Verbrechen, niemalssymbiotisch, nie freundschaftlich, zu keinerZeit egalitär, es war miserabel... Was für einGehocke in der Ersten Republik in Oester-reich, in der Weimarer draussen. Die Augenentweder in die Ferne gerichtet oder auf denBoden, die Ohren mit semipermeablen Mem-branen, man hörte, was einem passte. Ge-prasselte Beleidigungen gegen die Judenwurden von denen mit unverschämter Gelas-senheit hingenommen.“

Schauderhaft war „nicht bloss der brennendeEhrgeiz, etwas zu werden, auch die brennen-de Liebe zu den nichtjüdischen Deutschen(und Wienern), diese Einseitigkeit im Verhält-nis war schauderhaft: Während viele deut-sche Juden deutscher waren als die Deut-schen, denn sie waren ja Deutsche, sinniertendie „wahren“ Deutschen darüber nach, wiesie sich jener entledigen könnten.“

Diese Sätze stammen von Robert Schindel –aus dem Präteritum ins Präsens versetzt –könnten sie auch von Jakob Wassermannstammen. Ihre Bestandsaufnahme ist uner-

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bittlich und das Fazit klar: Eine deutsch-jüdi-sche Symbiose hat es nicht gegeben.

Wer nun aber etwas über das heutige Zu-sammenleben von deutschen undösterreischischen Juden und Nichtjuden imSchatten des Holocaust erfahren will, dersollte sich auf Schindels bisher im doppeltenWortsinn gewichtigen Roman Gebürtig ein-lassen.

Dieses Buch steht in der deutschsprachigenLiteraturlandschaft nach dem Krieg als eingrosser literarischer Wurf. Unvergleichlich istes, was sein Thema angeht: die beharrlich indie Tiefe bohrende Auseinandersetzung mitden Auswirkungen des Holocaust auf die so-genannte zweite Generation, also auf dienachgeborenen Kinder von Opfern, Täternund Mitläufern. Unvergleichlich ist es aber

auch in seiner Vielschichtigkeit und Viel-stimmigkeit, und besonders in der Brillanz sei-ner raschen, pointierten, von Melancholieund Selbstironie getränkten Wortwechsel.

Der Roman führt ins Jahr 1987, eine Zeit, inder Oesterreich durch die Waldheim-Affäre inder Welt negative Schlagzeilen machte. VielePassagen spielen in Wiener Kaffeehäusern.Dort versammelt Schindel sein Personal, einenFreundeskreis von jüdischen und nichtjüdi-schen jungen Erwachsenen, die nicht zuletztaufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft –Schindel redet von „Gebürtigkeiten“ – einenstarken Reiz aufeinander ausüben. Auch wennsie es überspielen, macht sie das Bewusstseinbeklommen, dass sie sich gemeinsam auf ver-mintem Gelände bewegen und, jeder auf sei-ne Weise, an einer spezifischen Krankheit lei-den – der Vergangenheitsneuralgie.

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Normalität im Zusammensein kann es zwischenihnen nicht geben. Selbst in den Freundschafts-und Liebesbeziehungen sind diese Freundegeprägt von den Projektionen, Wünschenund Verdächtigungen, mit denen sie sich um-spinnen. Eine der zentralen Fantasien ist die,dass sie sich gegenseitig vom ungeliebten Ei-genen erlösen und als „exotische Fluchtorte“dienen könnten, wobei sich besonders dieTäterkinder durch ihre Nähe zum Jüdischenvon väterlicher Schuld entlasten mögen.

Das führt gegen Ende des Romans zu einerironisch skizzierten, subtil komischen undvertrackten Absolutionsszene, wo der Sohndes in Nürnberg hingerichteten Generalgou-verneurs von Polen im Gespräch mit einemjüdischen Freund Entlastung sucht. – Vor sol-chem Roman-Hintergrund, meine ich, ist eskein Wunder, dass einer der wenigen Men-schen, denen Günter Grass das Geheimnisvon seinem jugendlichen Einsatz bei der Waf-

fen-SS schon vor vielen Jahren erzählt hat,sein Wiener Schriftstellerkollege Robert Schin-del gewesen ist. Hier hat mit Sicherheit in derRealität jener Entlastungsmechanismus ge-spielt, dem Schindel in seinem Roman so ein-dringlich nachspürt.

„Fremdsucht“ ist ein Schlüsselwort beiRobert Schindel. Einzig zwischen den Wör-tern und in der Liebe sei die mächtige Fremd-sucht zu befriedigen, heisst es einmal. Fremd-sucht ist es, die eine Brücke schlägt und da-mit das sanfte und lebensrettende „Dazwi-schen“ ermöglicht, mit dem die letzte Strophedes letzten Gedichts im Gedichtband „Im-mernie“ anhebt: „Dazwischen“ heisst es hier,

Dazwischen vor

Jeglichem Entzwei

Singen wir

Unser Dennoch.

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Kann also „Fremdsucht“ alle Abgründe zwi-schen den „Gebürtigkeiten“ überbrücken?Der Erzähler Schindel kennt das Risiko sol-cher Fantasie am besten. Zitat: „So was gehtimmer so aus... Jud ist Jud“, lacht im Romaneine gewisse Hanna Löwenstein schaden-froh, als sie hört, dass einer der vielen Versu-che ihres Freundes Paul Hirschfeld, sich miteiner nordisch blonden Riesendame zuverbandeln, wieder mal gescheitert ist.

„So ein Unsinn“, ärgert sich daraufhin Paul,„das ist unsere selbstgebaute Verrücktheit.In erster Linie bin ich ein Mensch, dann erstJude oder Eskimo oder Pangermane“. – „Sohättest du`s gern“, meint Pauls dabei sitzen-der jüdischer Freund und trinkt dessen Wod-ka aus.

Und wo steht Robert Schindel selbst? Esgehe heute darum, zur Vergangenheit einVerpflichtendes, aber kein verschlingendesVerhältnis zu finden, hat er einmal gesagt.Im Epilog seines Romans „Gebürtig“ und imVorspann seines gleichnamigen Films zeigtsich, wie das gemeint sein kann: ZwischenBaracken und Stacheldraht eines KZ-Gelän-des sieht man im Schneegestöber zitterndeKZ-Häftlinge in ihrer gestreiften Kluft herum-stehen. Eine Gruppe von SS-Männernkommt ins Bild. Die bekannten Uniformen,dicke Mäntel, Schäferhundegebell. DieHäftlingskolonne setzt sich in Marsch. Dagleitet ein alter Mann auf dem gefrorenenBoden aus und stürzt. Die SS-ler eilen auf ihnzu. Die Hand eines SS-lers kommt ins Bild,schon duckt man sich im Kinosessel in Erwar-tung von Brutalitäten. Da fasst die SS-Handden gestürzten Häftling am Arm und hilftihm aufstehen. Der Alte zupft sich eine Ziga-rette aus der Kappe und der SS-Mann gibtihm Feuer. Die beiden rauchen. – Das ganzeentpuppt sich als Szene unter Komparsenvon einem Holocaust-Film.

Müssen wir Verzweifelte sein? fragt im Ro-man Danny Demant, der Erzähler. Buch undFilm antworten, dass wir als Nachgeboreneandere Optionen haben. Als Therapie gegendie Verzweiflung können wir uns die ver-gangene Katastrophe mitsamt Ohnmachtvom Herzen spielen, sie fantasieren, sie mitMitteln der Sprache rekapitulieren, transfor-mieren, bearbeiten und bannen.

Eine unserer grössten Chancen ist es dabei,dass wir an dem Wiener Erzähler, Lyriker,Essayisten und Filmemacher Robert Schindeleinen an künstlerischer Energie und Erfah-rung, an Klugheit, Leidenschaft, Zartheit undEmpathie so reichen, mit einem Wort einenso trefflichen Spielleiter haben.

Dazu, meine Damen und Herren, könnten wiruns zuallererst selber mal kräftig gratulieren.

Es soll aber heute anders herum gehen:Herzliche Gratulation zum Jakob-Wasser-mann-Preis, lieber Robert Schindel.

Gunhild Kübler ist promovierte Germanistin. Sie lebt undarbeitet als Journalistin und Literaturkritikerin in Zürich.

Text nach Schweizer Rechtschreibung der Autorin.

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Dankrede von RobertSchindel aus „Mein Wien“

1.

Mein Wien ist ein nachblutender Witz. Esgibt keine witzigere Stadt als Wien, nichteinmal Tel Aviv. Der Witz dieser Stadt steigtdie Wendeltreppe herauf, die im Inneren desWienkörpers bis in nebelige Vorzeit hinunter-führt, gedreht um eine nicht vorhandeneWirbelsäule, um durch die Goschen in Formeines melodiösen Rülpsers ins Tageslicht zufahren, aber sofort wiederum im Gehorchder Wiener zu verschwinden. So stapelt undakkumuliert sich Monstrosität in winzigenWitzteilchen und fleischt sich den Einwoh-nern ein für alle Mal ein.

Seit meinem vierten Lebensmonat lebe ich indieser Stadt an der Donau und an der Wienund habe das Lachen von der Pike auf ge-lernt.

Das erste Gelächter, das mir entgegenschoss,beinhaltete die Geschichte vom Judenbalg,den findige Kinderschwestern inmitten der Na-tionalsozialistischen Volkswohlfahrt vor denZugriffen der Gestapo versteckten. Da lag derschwarzhaarige, nicht gerade unbenaste Säug-ling inmitten der blonden Engerln in der Kin-derkrippe und war halt der Franzos, dessenZwangsarbeitereltern bei einem Bombenan-griff ums Leben gekommen sind, indes seinewahren Juden- und Kommunisteneltern nachAuschwitz abgereist wurden. Da lag er nebenden Wiener Putzerln und fürchtete sich wie sievor den Eisenstücken, die häufig vom Himmelfielen. Und wo lag er? Nicht irgendwo in Wienin einer der Kinderkrippen der NSV wurde ernächtlings wie die andern in den Luftschutz-keller getragen, sondern in der Leopoldstadt,im Herzen der Judenstadt vor dem Krieg, imZentrum der Mazzesinsel, die die Wienernunmehr Glasscherbeninsel tauften, schrie derSäugling, von Hitler unbemerkt, sich der Be-freiung entgegen.

Die Leopoldstadt war schon inVorzeiten ein Ansiedlungsgebietder Juden gewesen. Damals hießdie Vorstadt Im Werd. Doch derurgemütliche Kaiser Leopold I.schmiss sechzehnhundertsiebzigsämtliche Juden aus der Stadt undnannte die Gegend hierauf sich zuEhren Leopoldstadt, um ein Bei-spiel für den nachblutenden Witzzu geben. Pünktlich dort habensich die Juden wieder hinbegeben,als sie das sukzessive wieder durf-ten, bis sie siebzig Prozent imBezirk waren, aber neunzehn-vierundvierzig / fünfundvierzigwaren bloß ich und zwei Dutzendweitere Versteckte dort nicht auf-gefunden worden. Bis heute woh-ne ich in der Leopoldstadt.

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Neunundvierzigmal hat man den Gast bei derTür aus dem Wirtshaus hinausgeworfen.Nach dem fünfzigsten Mal aber ist er übersDach zurückgekommen. So liest es sich beimSchwejk von Jaroslav Hašek. Das zweite Ge-lächter beinhaltet die Liebe zu dieser Stadt.Aus dem Erdreich oder aus den Wolken kehr-ten Geister in Gestalt ihrer fleischlichen Nach-kommen nach Wien zurück.

Unlängst lud der damalige KunstministerRudolf Scholten den in Wien auf Kurzbesuchweilenden Filmemacher Billy Wilder in seineWohnung ein, und dazu ein paar Leute, dieandächtig den Anekdoten der fast neunzig-jährigen Witzkugel lauschen durften. Ich sah,dass Wilder sowas nicht zum ersten Malmachte oder machen musste, denn eine ArtSekretär warf ihm unermüdlich Hölzchen zu,damit der Anekdoten kein Ende sei. Dasmüdete den alten Herrn beträchtlich, daweilwir uns in Kompanie die Bäuche hielten undSeitenstechen bekamen. Er hetzte uns wahr-lich das Jahrhundert rauf und runter, undScholtens Wohnung bebte unter dem Ge-pruste und Gekudere, in dessen Zentrum,gleichsam im Auge der Lachstürme, einenicht geringe Traurigkeit zu spüren war.Doch der Sekretär war gnadenlos, und beidem langen Leben des Urwieners Wilder wür-den wir vermutlich noch heute sitzen und la-chen, wenn nicht der alte Sir sich plötzlich zumir gewandt hätte, um mich zu fragen, wasdenn mit der Admira los sei. Ich war zufälligneben ihm zu sitzen gekommen und hattebemerkt, dass er mich zwischen den Anekdo-ten immer wieder etwas beäugte. Das ist einintellektueller Wiener Jude, dachte sich Wilder,der muss doch was von Fußball verstehen.Und Billy Wilder pflegte sich nicht zu irren,wenn es um solche Dinge ging. „Ach Gott,die Admira“, antwortete ich. „Nebochanten.Ich bin Austria-Anhänger.“ „Alle Juden wa-ren Austria-Anhänger“, sagte er. „Nur ichnicht.“ „Sondern?“ „Na eben Admira.“

„Was, Admira“, staunte ich ihn an, „wie sindSie denn auf die Idee gekommen?“ Auf jaund nein befanden wir zwei uns in einer in-tensiven Fußballdiskussion. Die damaligenWunderteamkicker Schall und Vogel nahmenan unserem Tisch Platz, daweil die heutigenGäste sich von den Lachschmerzen zu erho-len begannen und sich in kleine Redegrüpp-chen aufteilten. Wilder sprach mit Wärmevon den Fußballern, er entsann sich genau,und ich packte mein bisschen Wissen überjene Jahre aus dem Fundus und warf ihmFußballernamen zu wie vorher der Sekretärseine Witzhölzel. Schließlich erzählte er mirexklusiv jene Geschichte, die ich schon kann-te, weil sie der Torberg schon berichtet hatte,aber ich ließ mir nichts anmerken:

Vor dem Krieg gabs doch die jüdische Fuß-ballmannschaft, die Hakoah. Die spieltenziemlich gut, überhaupt für jüdische Verhält-nisse. Es begab sich, dass die Saujuden zumZünglein an der Waage wurden. Wenn siegegen Admira gewinnen, wird Rapid Meister.Rapid, das war und ist der anhängerstärksteKlub der Stadt, und diese Anhänger konntennun die Juden noch weniger leiden als an sichüblich – damals. Nun aber pilgern die Rapid-Anhänger ins feindliche Jedlesee – noch dazuüber die Donau –, um gegen die dort ansässi-ge Admira zu schreien, also zu Hakoah zuhalten. In welchen Worten entstieg dieserWitz der Wendeltreppe der Geschichte undentfuhr den Goschen der Rapid-Anhänger?„Gemma, gemma. Hoppauf – Herr Jud!“Die Juden dankten es ihnen, schlugen dieAdmira, Rapid wurde Meister, und Wilderweinte. Dann ging er vor der Zeit nach Berlinund rechtzeitig nach Hollywood.

Aber die seltsame Liebe der Herausgeschmis-senen zu den Hinausschmeißern, wurzelt siein dieser Heimeligkeit, in der Umarmung deswienerischen und des jüdischen Witzes, wo-bei bei diesem im Auge das Lächeln, bei je-nem aber der Tod steht?

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Ich jedenfalls bin ein passabler Fußballer ge-worden und gewesen. Auf der Jesuitenwiesedes Praters haben wir gespielt – die Wiesemusste Jesuitenwiese heißen –, und das„Hoppauf - Herr Jud!“ begleitete mich durchdie Kindheit.

2.

Wie kommt denn dieser Mensch dazu, unserWien so jüdisch anzufärbeln und gleichzeitigals so antisemitisch hinzustellen?

Unser Wien war immer eine gemütlicheStadt. Und den Herrn Tennenbaum aus demGemeindebau haben wir gern gehabt. Einhaglicher, feiner Herr war das, und dann ister nach Amerika abdampft, hat sich in Floridaoder wo die Sonn aufn Bauch scheinen las-sen, daweil uns die Bomben aufn Schädelgfallen sind. Nachn Krieg ist er zurückkom-men, war angfressen, weil wir Bombenopferihm nicht genug den gschamster Dienergmacht haben, und ist wieder weggefahren.Was können bitte wir dafür? Bei uns, SieSaukerl, hat vorm Krieg ein jeder leben kön-nen. Was die Judenfeindschaft anlangt, dasverstehen Sie nicht. Wir Wiener sind nicht aso. Das war ja gar nicht persönlich gemeint,das war bei uns Usus, wie auch gegen dieZiegelböhm, gegen die Krawodn, das war jafamiliär. Der Adolf aber hat uns die ganzeJudenpflanzerei verdorben. Seither darf manja gegen gewisse Kreise kein lautes Wort sa-gen, sonst bist gleich ein Faschist. Was wis-sen denn Sie von der Wiener Seele. Die wer-den Sie naturgemäß nie ergründen.

Wir waren immer unpolitisch, merken Siesich das! Und bevor Sie fortfahren, das eige-ne Nest zu beschmutzen, schauen Sie sich lie-ber Ihre Landsleute an und was die mit denArabern machen. Sie sind ein Österreicherseit der Geburt? Ja, ja, passmäßig, da ist

heutzutage schnell einer ein Österreicher. EinWiener wie ich? Dass ich nicht lach. Kommenleicht Ihre Vorfahren aus Brünn? Wirklich,Ihre Vorfahren kommen auch aus Brünn? Nadann. Weißt was? Ich lad dich auf ein Achterlein. Nix für ungut. Trotzdem: Dassd’ einSchlawiener bist, glaub ich dir sofort. Aberein echter Weaner? Was es alles gibt …

3.

Ganz andere Gestalten irrlichterten durchmeine Wiener Kindheit. Neben dem GrünenPrater aufgewachsen, spielten wir – wieschon gesagt – in diesem Fußball, was verbo-ten war. „Tschif, der Praterschas“, hieß es,wenn der Prateraufseher mit seinem Fahrradin der Ferne sichtbar wurde. Wir nahmen denBall auf und spielten Handball, was gestattetwar. Der Praterschas (da Brodaschas) über-wachte und sortierte jedes Grasbüschel undwar fast so gefürchtet wie sein Bruder imGeiste, der Kinderverzahrer, der auch ein inti-mes Verhältnis zu Grasbüscheln, aber auchzu dämmrigen Kellerstiegen hatte. Er ist diemythische Gestalt der Wiener Kindheiten ge-wesen.

Die Erwachsenenwelt der Fünfzigerjahre gabzwei sich abwechselnde Geräusche von sichund orchestrierte damit unser Heraufkom-men: Gejeier und Händegespuck. Es war dieMusik der Kriegs- und Aufbaugeneration.Eben hatten sie noch geschossen, jetzt spu-cken sie in die Hände und bauen auf, ebenhatten sie Heil Hitler gerufen, jetzt jeiern sievon demselben als Dämon und Verführer.Dieses Geklage über den Opfergang einerGeneration war mit einem „Hoppauf Öster-reich“ verschmolzen. Die verzopften christli-chen Dreißigerjahre in der Maske der Fünfzi-ger wollten wiedergutmachen, was dieschön-schaurigen Vierziger angerichtet hat-ten.

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Die Besonderheit meines Wien dabei war,dass sich die Akteure ohne viel Aufhebensvon der Bühne in den Zuschauerraum bega-ben und von sich behaupteten, stets dort ge-sessen zu sein. Damit knüpften sie an das an,was den Habitus seit langem gebildet hat:Der Wiener ist von Beruf Zuschauer. Er saßimmer schon in den Parkettreihen des Gro-ßen Welttheaters. So beglotzte er den Drei-ßigjährigen Krieg gradso wie die Revolutio-nen, die im fernen Frankreich abliefen undvon denen er offiziell gar nichts wusste. DerWiener Kongress ging direkt in die Hausmu-sik über.

Mit dem Wiener meine ich natürlich nicht dieMehrheit der Wiener in den Vorstädten, die,wie die unteren Klassen überhaupt, selbstver-ständlich ihre Haut zu Markte tragen muss-ten und in jenen und diesen Kriegen zuSchanden gingen. Ich meine nicht die na-menlos im Elend eingesperrten proletarischenund halb proletarischen Wiener, die vombombastischen Paravent des Biedermeier bisheute verdeckt bleiben. Den Kleinbürger mei-ne ich, den Mittelstand dazu, das Pfiffig-Wei-nerliche einer Zuschauerschicht, das dieserStadt stärker den Stempel aufdrückte als diekämpfenden Arbeiter und Studenten vonachtzehnachtundvierzig oder gar die vonneunzehnvierunddreißig.

In den Musiken von Strauß und Lanner, indenen der Schrammel-Buam bildete sich dasKlischee eines Wieners heraus, das wahrhaf-tig lebendig wurde.

Dieser Wiener nun, eine Mischung aus Block-wart, Schütze Arsch und Heurigensänger, saßauf der Galerie und spuckte auf unsere Kind-heitsbühne. Diese Spucke, abwechselnd indie eignen Hände und in die Gesichter derNachkommenschaft, das waren die neuenWerte, das war das demokratische Öster-reich.

Es ging wahrlich demokratisch zu in Wien.Die zweihunderttausend Juden gingendamals keinem ab. Es gab zwar keine Schrift-steller, keine Künstler, keine Wissenschaftler,keine brauchbaren Zeitungen mehr, aber werbenötigte denn sowas? Man war bodenstän-dig, unter sich, durchschnittlich, aber arro-gant. Unter diesen Bedingungen gelang derWiederaufbau meiner Stadt exzellent.

Und doch war mein Wien stets ein jüdischesWien, obwohl ich damals gar kein Jude seinwollte. Das war das dritte Gelächter, in dasich teilweise schon selber einfiel. Denn inWien lernt man das Lachen von der Pike auf.Auch das Sterben.

4.

Der Tod ist eine viel zu ernste Angelegenheit,als dass man die seelische Kompetenz überihn Nichtwienern überlassen darf.

„Der Tod, das muss ein Wiener sein, gradwie die Liab a Französin. Denn wer führt dichpünktlich zur Himmelstür? Ja da hat nur derWiener das G’spür dafür.“ (Georg Kreisler.)

Der Wiener hat ja eine Leidenschaft zum The-ater, grad wenn es mitten im Leben spielt. Je-der Mord ist hier vor allem ein Mordstheater,ein Ereignis und wird nicht vergessen. Was istschon Frankreich mit seinem Landru gegenunsere Akteure, von Hugo Schenk überAdrienne Eckhardt (Fleischmaschine), Gufler,Engleder (Maurerfäustl), Bergmann und re-tour. Bernhards Heldenplatz wird ebenso lei-denschaftlich diskutiert wie der Mord an IlonaFaber beim Russendenkmal. Hörts auf mit derPolitik; auf die Ereignisse kommts an. Wohersie kommen, wohin sie gehen, was darauswird, dazu reicht die Geduld eines sinnlichenZuschauers nicht aus. Für mein Wien entwi-ckelt sich nichts; es war immer schon da,

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oder das gibts gar nicht. Mit soeinem Fotogedächtnis hat mandie Kompetenz über den Tod.

Und so erschien der fünfundvier-zigjährige Georg P. mit einer Flin-te im Spital, in dem seine Ehefraulag, riss die Tür auf, schob dieKrankenschwester zur Seite undrief: „Hedwig, pack zsamm, wirfahrn in’ Himmel!“ Sie überlebteden Anschlag, er sitzt beimHimmelvater.

Und Wolfgang Ambros singt: „Eslebe der Zentralfriedhof und alleseine Toten.“ Schön kann mansich in diesem riesigen Grabstein-park ergehen unter alten Bäu-men. Entlang der SimmeringerHauptstraße Erstes, Zweites, Drit-tes, Viertes Tor, gegenüber dieGrabsteingeschäfte, eines nebendem anderen. Eines dieser Ge-schäfte verkauft Grabsteine undGebrauchtwagen, besser gesagtGebrauchtwagen und Grabstei-ne. Und wenn Wiens Wonnemo-nat, der November, seinen Nebelauf Gerechte und Ungerechtelegt, dann spüren auch die Millio-nen Toten ihn bis ins Bein. Dageht der Wiener aufrecht zwi-schen den Gräbern unter blattlo-sem Gezweig, und auch in sei-nem Herzen ist der Nebel zuhaus,und er spürt den grünen Blick desTodes aus dem Nebel. »Ja als aToter, als a Toter macht an desLeben erst a Freud“, singt ArikBrauer, und so ist es bei uns da-heim.

Der Tod ist in Wien allgegenwär-tig, er ist der rauschige Vater des

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wienerischen Gelächters. Das Sterben aber,das dramatische Vorspiel, das ist ein Buschen-schank, ein Heuriger und seine Musik.

5.

Sie mit Ihren Klischees! Wie soll aus dieserStadt je was werden, wenn sogar die linkenSchriftsteller die Klischees bedienen! Odersind Sie bloß auf sie hereingefallen? Und wasist mit dem Roten Wien, Sie Spießer? Wuss-ten Sie, dass in Wien die erste Abwehr-schlacht gegen den Faschismus geschlagenwurde und die Simmeringer Arbeiter die tap-fersten waren? Nix Zentralfriedhof. Und derWiderstand gegen die Nazis von Kommunis-ten, Sozialdemokraten und Christen? Warendas etwa keine Wiener? Die Wiener, die ge-gen die Stalinisten … Die Wiener, die gegendie Amerikaner … Die Wiener für Neutralität… gegen Neonazis. Und die Achtundsech-ziger, die das Wien bissl auslüfteten. HabenSie das schon vergessen?

Überhaupt, wer lacht schon in Wien? Spar-pakete, korrupte Politik, Provinzialismus, werbitte lacht? Ich nicht, Herr Schriftsteller. DieArmen werden ärmer, die Reichen reicher,kein Wunder, dass der Haider leichtes Spielhat. Das ist der Einzige, der lacht. Und das istschon wieder ein Oberösterreicher. Sie habenvon Wien keine Ahnung. Sind Sie überhauptein Wiener? Sie schauen gar nicht so aus.

Ach so. No, das muss man respektieren.Okay, gut, jedem sein Wien, entschuldigenSie. Aber vergessen Sie doch nicht das Politi-sche. Der Wiener interessiert sich nämlichnicht für Politik. Das haben Sie gesagt? Ichsag das! Er exekutiert sie. Damals? Was heißtdamals? Immer! Allerweil!

Wir brauchen ein neues Wien. Machen Siemit? Dann vergessen Sie einfach alles! Fan-

gen wir an! Mein Wien und Ihr Wien könntedoch dereinst unser Wien sein. Nix für ungut,Genosse. Übrigens, darf ich Sie auf einAchterl einladen?

6.

Man erzählt Witze, und die Vergangenheitkommt zurück.

Da war a Jud im Gemeindebau, a gewisserTennenbaum ... sonst a netter Mensch - daham’s so Sachen gegen de Nazi g’schriebeng’habt auf de Trottoir ... und der Tennen-baum hat des aufwischen müssen ... net erallan ... de andern Juden eh aa ... hab i ihmhing’führt, dass ers aufwischt ... und derHausmaster hat zuag’schaut und hat g’lacht... er war immer bei aner Hetz dabei ...

Nachn Krieg ist er z’ruckkommen, derTennenbaum. Is eahm eh nix passiert ... Habi ihm auf der Straßen troffen. I griess eahmfreundlich: „Habediehre, Herr Tennenbaum!“Der hat mi net ang’schaut. I grüaß ihn noamal: „ – d’iehre, Herr Tennenbaum ...“.Er schaut mi wieder net an. Hab i ma denkt…na bitte, jetzt is er bees. (Helmut Qualtin-ger und Carl Merz: Der Herr Karl)

Ich möchte so gern von meinem Wien erzäh-len, wie es sich in mir aufbaut, wenn ich nichtda bin. Von den kranken Kastanienbäumen,vom Flieder, von der Meierei im Prater, vonden Kaffeehäusern, um die herum diese Stadtgebaut ist, von meiner Leopoldstadt, von denSolidaritäten und Verhaberungen, von denKämpfen um mehr Gerechtigkeit und vonden Intrigen um eine Gerechtigkeit, die ei-gene.

Aber die Wiener sind doch die bösartigstenLeute der Welt, und die Stadt selbst ist eineeinzige Genievernichtungsmaschine, sagt

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Thomas Bernhard, der jüngste Heilige derer,die ihn vernichten wollten.

Deshalb ist Wien noch unter Narkose gefähr-licher als das historische Chicago. Unblutig,mit einem leichten Kater schubst man sichselber in die Grube, nicht ohne vorher nochein Aspirin geschluckt zu haben. Man lachtund wird leer. Man trinkt und stirbt. Mansingt, und die Leute bleiben stehen. Man er-zählt Witze, und die Vergangenheit kommtzurück.

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Richtlinien für die Verleihung des Jakob-WassermannLiteraturpreises der Stadt Fürth vom 22. Dezember1993, zuletzt geändert am 13. Mai 1998, in der Fassungvom 27. Juni 2001, zuletzt geändert am 14. November2001, zuletzt geändert am 26. Juli 2006

1. Die Stadt Fürth verleiht zur Erinnerung an den in Fürthgeborenen großen Erzähler und Essayisten Jakob Was-sermann den nach ihm benannten Jakob-Wassermann-Literaturpreis.

2. Mit dem Jakob-Wassermann-Literaturpreis wird eineAutorin/ ein Autor ausgezeichnet, der/die in deutscherSprache publiziert. Ihr/ Sein Werk muss dem literari-schen Schaffen Jakob Wassermanns gerecht werdenund der Förderung von Humanität, Toleranz und Ge-rechtigkeit verpflichtet sein. Gewertet werden einzelneArbeiten oder das Gesamtschaffen einer Autorin/ einesAutoren.

3. Der Preis wird alle zwei Jahre verliehen; er ist mit 10 000Euro dotiert. Eine Eigenbewerbung ist nicht möglich.

4. Der Jakob-Wassermann-Literaturpreis wird zuerkanntdurch Beschluss des Stadtrates auf Vorschlag eines Ku-ratoriums, dem sieben beschließende und zwei beraten-de Mitglieder angehören:

4.1. Beschließende MitgliederEin Vertreter der Bayerischen Akademie der SchönenKünste (Ota Filip)Ein Literaturkritiker einer regionalen Tageszeitung(Inge Rauh, Nürnberger Nachrichten)Ein Professor für Neuere Deutsche Literatur (Prof. Dr.Gunnar Och, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen)Ein Vertreter des Bayerischen Rundfunks (CorneliaZetzsche)Ein Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache undDichtung, Darmstadt (Michael Walter)Der Oberbürgermeister der Stadt Fürth als Vorsitzen-der (Dr. Thomas Jung)Der für Kultur zuständige Referent als sein Stellvertre-ter (berufsmäßiger Stadtrat Dr. Karl Scharinger).

4.2. Beratende Mitglieder:Zwei ehrenamtliche Stadtratsmitglieder ohne Stimm-recht (Stadträtin Birgit Arnold und Stadtrat Rolf Werner).

4.3. Jedes Mitglied des Kuratoriums kann persönliche Vor-schläge in die Beratung einbringen. Zur Erstellung desVorschlages an den Stadtrat genügt die einfache Mehr-heit. Die Mitglieder des Kuratoriums sind ehrenamtlichtätig; die mit dieser Tätigkeit verbundenen Aufwendun-gen werden erstattet.

5. Wird der Preis nicht verliehen, werden die Mittel denStädtischen Bibliotheken zur Verfügung gestellt.

6. Der Jakob-Wassermann-Literaturpreis wird anlässlichdes Geburtstages von Jakob Wassermann (10. März)verliehen.

7. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

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Herausgegeben von der Stadt Fürth, www.fuerth.deBürgermeister- und Presseamt (bmpa), 90744 Fürth;Fotos: Norbert Mittelsdort (bmpa); Günter B. KöglerBitte beachten Sie: Bei den Reden gilt das gesprochene Wort.

Die Stadt Fürth verleiht seit 1996 den Jakob-Wassermann-Literaturpreis erst im drei-, jetztzweijährigen Turnus an einen deutschsprachi-gen Autor / eine deutschsprachige Autorin,dessen / deren Werk dem literarischen Schaf-fen Wassermanns gerecht wird.

Der Preis ging bisher an:

Edgar Hilsenrath (1996)

Hilde Domin (1999)

Dagmar Nick (2002)

Sten Nadolny (2004)

Dr. Uwe Timm (2006)

Robert Schindel (2007, Sonderpreiszum Stadtjubiläum)

Page 27: ˘ˇˆ˙˝˛˚ - Fürth · 1959 verließ Schindel das Gymnasium und begann eine Buchhändlerlehre bei einem Wiener Verlag, die er abbrach. Es folgten ... Juryvorsitzender des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs,
Page 28: ˘ˇˆ˙˝˛˚ - Fürth · 1959 verließ Schindel das Gymnasium und begann eine Buchhändlerlehre bei einem Wiener Verlag, die er abbrach. Es folgten ... Juryvorsitzender des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs,

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