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7 Katja Lembke, Jochen Luckhardt und Rainer Stamm Vorwort zur neuen Reihe .................................................9 Cornelia Aman, Babette Hartwieg Vorwort der Herausgeberinnen ....................................10 Die Geschichte des Retabels und sein historisches Umfeld Carsten-Peter Warncke Die Teile und das Ganze. Das Göttinger Barfüßer- retabel und sein Bild in der Forschung ........................13 Heide Grape-Albers, Babette Hartwieg, Cornelia Aman Das Göttinger Barfüßerretabel von 1424. Geschichte des Werkes und seiner Restaurierungen .....................20 Urs Boeck Die Barfüßerkirche in Göttingen ..................................30 Eva Schlotheuber Die politische und kulturelle Stellung der Franziskaner im spätmittelalterlichen Göttingen ..............................41 Ellen Widder Sühnezeichen, Gedächtnisstiung, Zukunsplanung, Bewältigungshandeln? Das Barfüßerretabel und der Göttinger Herzogshof ..............................................54 Tafeln 1–14 ......................................................................83 Ikonographie, Funktion, Zusammenhänge Martin Schawe Der geschlossene Zustand .............................................99 Michael Brocke Die biblisch-hebräischen Bücher des Barfüßerretabels .....................................................112 omas Noll Zur Ikonographie der ,Festtagsseite‘ des Göttinger Barfüßerretabels ..........................................117 Ulrich Willerding Zur Darstellung von Flora auf dem Göttinger Barfüßerretabel ...........................................143 Klaus Niehr Erzählebenen, Erzählformen, Erzählmotive im Bild. Die Festtagsseite des Göttinger Barfüßerretabels ............................................................161 Johannes Tripps Zum franziskanischen Bildprogramm und zur stilistischen Herkun ............................................177 Heike Schlie Die Ordnung der Bilder. Positionierungen im Hochaltarretabel der Göttinger Barfüßerkirche ..............................................................185 Petra Marx Das Magdalenenretabel aus dem Hildesheimer Reuerinnenkloster. Überlegungen zu seiner Herkun anhand von Bildprogramm, Entstehungs- kontext und Sammlungsgeschichte ............................211 Martina Sitt Fragen zu sechs Heiligen in der Hamburger Kunsthalle – Teil eines Magdalenenretabels und von der Hand des Meisters des Göttinger Barfüßeraltars? ..............................................................236 Cornelia Aman Die Unterzeichnungen der Barfüßer-Werkstatt im stilistischen Vergleich .............................................241 Götz Pfeiffer Im Blick gen Westen – Die Stellung des Barfüßer-Meisters zur Malerei in Köln und Westfalen um 1400 .......................................................262 Inhalt Diese Publikation wurde ermöglicht durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenscha und Kultur und durch die Fritz yssen Stiung für Wissenschasförderung

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Katja Lembke, Jochen Luckhardt und Rainer StammVorwort zur neuen Reihe .................................................9

Cornelia Aman, Babette HartwiegVorwort der Herausgeberinnen ....................................10

Die Geschichte des Retabels und sein historischesUmfeld

Carsten-Peter WarnckeDie Teile und das Ganze. Das Göttinger Barfüßer-retabel und sein Bild in der Forschung ........................13

Heide Grape-Albers, Babette Hartwieg, Cornelia AmanDas Göttinger Barfüßerretabel von 1424. Geschichtedes Werkes und seiner Restaurierungen .....................20

Urs BoeckDie Barfüßerkirche in Göttingen ..................................30

Eva SchlotheuberDie politische und kulturelle Stellung der Franziskanerim spätmittelalterlichen Göttingen ..............................41

Ellen WidderSühnezeichen, Gedächtnisstiung, Zukuns planung,Bewältigungshandeln? Das Barfüßerretabel und der Göttinger Herzogshof ..............................................54

Tafeln 1–14 ......................................................................83

Ikonographie, Funktion, Zusammenhänge

Martin SchaweDer geschlossene Zustand .............................................99

Michael Brocke Die biblisch-hebräischen Bücher des Barfüßerretabels .....................................................112

omas NollZur Ikonographie der ,Festtagsseite‘ des Göttinger Barfüßerretabels ..........................................117

Ulrich WillerdingZur Darstellung von Flora auf dem Göttinger Barfüßerretabel ...........................................143

Klaus NiehrErzählebenen, Erzählformen, Erzählmotive im Bild. Die Festtagsseite des Göttinger Barfüßerretabels ............................................................161

Johannes TrippsZum franziskanischen Bildprogramm und zur stilistischen Herkun ............................................177

Heike SchlieDie Ordnung der Bilder. Positionierungen im Hochaltarretabel der Göttinger Barfüßerkirche ..............................................................185

Petra MarxDas Magdalenenretabel aus dem HildesheimerReuerinnenkloster. Überlegungen zu seiner Herkun anhand von Bildprogramm, Entstehungs-kontext und Sammlungsgeschichte ............................211

Martina SittFragen zu sechs Heiligen in der Hamburger Kunsthalle – Teil eines Magdalenenretabels und von der Hand des Meisters des GöttingerBarfüßeraltars? ..............................................................236

Cornelia AmanDie Unterzeichnungen der Barfüßer-Werkstatt im stilistischen Vergleich .............................................241

Götz PfeifferIm Blick gen Westen – Die Stellung des Barfüßer-Meisters zur Malerei in Köln und Westfalen um 1400 .......................................................262

Inhalt

Diese Publikation wurde ermöglichtdurch das Niedersächsische Ministerium für Wissenscha und Kultur und durch die Fritz yssen Stiung für Wissenschasförderung

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Die Niederdeutschen Beiträge zur Kunstgeschichte sindseit ihrem ersten Erscheinen 1961 das wichtigste wis-senschaftliche Periodikum zur Kunstgeschichte Nord-westdeutschlands, zugleich sind sie ein bedeutenderPublikationsort für Untersuchungen zur internationalenKunst- und Kulturgeschichte. In insgesamt 44 Bändenwurden unter der Herausgeberschaft des Landesmu-seums Hannover bis zum Jahr 2005 rund 420 Aufsätzezur Architektur, Malerei, Skulptur und dem Kunstge-werbe vom 8. bis ins 20. Jahrhundert veröffentlicht.

Seit dem ersten Erscheinen haben sich jedoch nichtnur die Anforderungen an ein wissenschaftliches Jahr-buch deutlich geändert. Auch die Herausforderungender Museumsarbeit waren in den letzten Jahrzehnteneinem grundlegenden Wandlungsprozess unterworfen,heute lässt sich der Zeit- und Arbeitsaufwand, den diePublikation einer solchen Reihe fordert, nur noch untergrößten Mühen im Museumsalltag verankern. Nicht we-nige Museumsperiodika haben daher zuletzt ihr Er-scheinen eingestellt, und auch die NiederdeutschenBeiträge zur Kunstgeschichte ruhten seit 2005.

Gemeinsam mit dem Herzog Anton Ulrich-Museumin Braunschweig und dem Museum für Kunst und Kul-turgeschichte Oldenburg haben wir nun ein neues undtragfähiges Konzept für die Zukunft der Niederdeut-schen Beiträge entwickelt: Mit Erscheinen des vorlie-genden Bandes treten die drei Kunstsammlungen desLandes Niedersachsen erstmals gemeinsam als Heraus-geber der Reihe auf. Künftig wollen wir mit vereintenKräften neue Perspektiven für die wissenschaftliche Pro-filierung der niedersächsischen Landesmuseen eröffnenund deren nationale wie internationale Sichtbarkeitdeutlich erhöhen. Die Schriftleitung der einzelnen Bändewird im Rotationsverfahren von jeweils einem der dreikooperierenden Museen übernommen. Dem neu gebil-deten wissenschaftlichen Beirat danken wir an dieserStelle für seine Bereitschaft, uns bei der Einwerbung wich-tiger Beiträge zu unterstützen und uns im wissenschaft-lichen Gespräch kritisch zu begleiten. Für die jahrelangeund mit hohem Einsatz verbundene Zusammen arbeit beider Entstehung vorangegangener Bände danken wirauch dem bisherigen Beirat. Er hat den Niedersächsi-

schen Beiträgen und seinen Schriftleitern, denen gleich-falls unser Dank ausgesprochen sei, über viele Jahre treuzur Seite gestanden.

Den ersten Band der neuen Folge verantwortet dasNiedersächsische Landesmuseum Hannover. Dank dergroßzügigen Förderung des Ministeriums für Wissen-schaft und Kultur konnte von Juni 1999 bis Juli 2005 einviel beachtetes Projekt zur „Konservierung, Restaurie-rung und Erforschung des Göttinger Barfüßeraltars von1424“ in der Mittelaltersammlung der Landesgalerie verwirklicht werden. Den Abschluss bildeten die Neu-präsentation des restaurierten Retabels sowie ein in Zu-sammenarbeit mit dem Kunstgeschichtlichen Seminarder Georg-August-Universität Göttingen veranstaltetesKolloquium, dessen Finanzierung dankenswerter weisedie Fritz Thyssen Stiftung übernommen hat. Die Veröf-fentlichung der Kolloquiumsbeiträge sowie der Restau-rierungsergebnisse hat sich zwar deutlich verzögert, nunaber liegt der opulent ausgestattete Band vor. Dem MichaelImhof Verlag, der die Neue Folge der Niederdeutschen Beiträge zur Kunstgeschichte von nun an verle gerisch be-treut, danken wir in diesem Zusammenhang für die guteZusammenarbeit, dem Deutschen Kunstverlag möchtenwir unseren Dank für die verlegerische Betreuung vor-angegangener Bände aussprechen.

In der Forschung zur Retabelkunst des 15. Jahrhun-derts wird unsere Publikation zum Göttinger Barfüßer-retabel seit langem erwartet. Wir hoffen und wünschenuns, dass sie beim Leser auf ein ähnlich reges Interessestößt wie das Retabel, das nicht nur zu den „Lieblingen“unseres Publikums, sondern auch zu den unbestrittenenHauptwerken der Mittelaltersammlung des Landesmu-seums Hannover zählt.

Katja LembkeLandesmuseum Hannover

Jochen LuckhardtHerzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig

Rainer StammMuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg

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Maria DeitersDas Barfüßerretabel und die ‚mitteldeutsche Kunst‘ – Zum kunsthistorischen Beziehungsgefüge im spätmittelalterlichen ‚Sachsen‘ ...............................275

Tafeln 15–22 ..................................................................295

Kunsttechnologische Forschung, Konservierung undRestaurierung

Babette HartwiegDas Projekt „Konservierung, Restaurierung und Erforschung des GöttingerBarfüßeraltars von 1424“ ..............................................305

Personentafel und Dank ..............................................319

Babette HartwiegKunsttechnologische Analyse des Göttinger Barfüßer-retabels mit Schlussfolgerungen zu Charakteristikaund Struktur der Werkstatt .........................................321

Christoph Herm, Armin GrossMaterialanalysen am Göttinger Barfüßerretabel .............................................................381

Erling S. SkaugStippled angels and ‘forgotten haloes’ ........................395

Babette HartwiegAusgewählte technische Befunde vom Göttinger Barfüßerretabel im zeitgenössischenVergleich .........................................................................403

Iris HerpersDie Magdalenentafel des Barfüßer-Meisters –technologische Befunde im Vergleich ........................442

Babette HartwiegWerke und Werkstatt des Barfüßer-Meisters ............449

Babette Hartwieg, Sonja Friedmann, Karin LeopoldDie Schäden und ihre Kartierung ..............................469

Babette Hartwieg, Harald eissDie statischen Mängel und die Wiedergewinnung der Wandelbarkeit .........................................................499

Viola Bothmann, Babette HartwiegDie Maßnahmen. Konservierung, Restaurierung und Neupräsentation ..........................511

Bibliographie .................................................................528Abbildungsnachweis .....................................................532Kurzbiographien der Autoren .....................................534Impressum .....................................................................536

Vorwort der Herausgeber der Reihe

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Alle Geschichtsschreibung, auch die der Kunst, ist Kon-struktion und geprägt von den Meinungen, Interessenund Absichten ihrer Konstrukteure. Der Kenntnisstandüber den so genannten Göttinger Barfüßeraltar kannhierfür als exemplarisch gelten. Seine Erforschung isteng mit der Geschichte unserer Disziplin, ihren Metho-den und den sie generierenden Fragestellungen verbun-den. Forschungsgeschichte ist deswegen immer auch einStück Selbstkritik und so stellen wir uns auf den Prüf-stand eines rückschauenden Resümierens des bisher wis-senschaftlich Erreichten.

Die Ausgangslage, das sei zunächst der guten Ord-nung halber festgehalten, ist zwar, wie bei aller mittelal-terlichen Kunst, weit davon entfernt befriedigend zusein, doch in unserem Falle vergleichsweise günstig. DasObjekt selbst, der verkürzt als Altar bezeichnete, im Mit-telteil aus Eichenholz, an den Seitenflügeln und der Pre-della aus Kiefernholz gefertigte und durchgängig be-malte Altaraufsatz, ist zwar nicht unversehrt und voll-ständig original auf uns gekommen,2 aber er ist doch soweit in seinem ursprünglichen Zustand erhalten, dassverlässliche Aussagen über eine ganze Reihe der mit sei-nem Aussehen, seiner Funktion und seiner kunstge-schichtlichen Stellung zusammenhängenden Aspekte ge-macht werden können, und restauratorische Untersu-chungen wichtige Erkenntnisse aus dem materiellen Be-stand vermitteln. Schon das Format und die Gestalt zei-gen Entscheidendes: Wir haben ein außergewöhnlichgroßes Retabel vor uns. Es gilt sogar als der größte über-haupt erhaltene spätmittelalterliche norddeutsche Al-taraufsatz, ja, als „der größte Wandelaltar, der sich welt-weit in einem Museum befindet“.3 Damit war zwangs-läufig bereits ein Anspruch verbunden, denn auch wenn

analoge Werke verloren gegangen sein sollten, muss dieschiere Größe schon den Rang des Objektes gemäß sei-ner funktionalen Bestimmungen angezeigt haben. Eshandelt sich außerdem um einen doppelflügeligen Wan-delaltar, der je nach Wandlungsstatus drei unterschied-liche Zustände zeigt (Taf. 1–3), aber sie bieten aus-schließlich gemalte Darstellungen. Er ist also nicht, wieseinerzeit bei Altaraufsätzen dieses Typs vorherrschend,4

in einer Steigerung von gemaltem zu geschnitztem unddamit von flächigem zu räumlichem Schmuck gestaffeltaufgebaut. Das war zwar seinerzeit nichts gänzlichNeues,5 ist aber selbstverständlich als wichtige Tatsachefür das Verständnis dieses Retabels angemessen zu wür-digen.

Sein inhaltliches Programm ist nahezu lückenlos re-konstruierbar, allein die gesondert erhaltene und zumgrößten Teil in Verlust geratene Predella ist so fragmen-tiert, dass wesentliche Teile unwiederbringlich verlorenscheinen. Außerdem ist das Retabel mit Inschriften ver-sehen, die sowohl Aufschluss über die Darstellungengeben, wie auch über den Zeitpunkt der Fertigstellung,seine Aufstellung und seine Auftraggeber. Schließlichbesitzen wir eine fast lückenlose Provenienz und schrift-liche Dokumente, die uns über sein geschichtlichesSchicksal unterrichten, in den wesentlichen Aspektensogar zweifelsfrei.6 Deswegen wissen wir, dass wir es hiermit dem Hochaltaraufsatz zu tun haben, der am 20. Maides Jahres 1424 in der Kirche des Franziskanerkonven-tes zu Göttingen aufgestellt wurde, einer am Beginn des19. Jahrhunderts zerstörten Anlage, die sich an Stelle desheutigen zentralen Ortes der Universität, des Wilhelms-platzes bzw. südwestlich davon befunden hat. Der Her-zog und elf Adelsfamilien, die allesamt identifiziert wer-den können,7 stifteten ihn und als eigentlicher Auftrag-geber fungierte der Guardian, also der Vorsteher, desKlosters, ein gewisser Luthelmus. Mit ihm zusammenwird ein Bruder Heinrich von Duderstadt zu Füßen desKreuzes im Mittelbild des innersten Zustands dargestellt

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Carsten-Peter Warncke

Die Teile und das Ganze. Das Göttinger Barfüßerretabel und sein Bildin der Forschung1

Abb. 1, S. 2Landesmuseum Hannover, Aufstellung des Göttinger Barfüßer-retabels von 1424 nach der Restaurierung 1999–2006

Die Geschichte des Retabels und sein historisches Umfeld

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15Carsten-Peter Warncke

und inschriftlich bezeichnet (Abb. 2, 3). Einige dieserTatsachen gaben Anlass zu unterschiedlichen Interpre-tationen. Franz Kugler und sogar später noch Carl GeorgHeise verwechselten z.B. den früheren Aufbewahrungs-ort des Altares, die zur Universitätsbibliothek umfunk-tionierte Dominikanerkiche, mit dem ursprünglichenBestimmungsort und bezeichneten ihn fälschlich alsPaulineraltar,8 und seit dem 19. Jahrhundert hält sich bisin jüngere Zeit hinein die Ansicht in Teilen der Litera-tur, der genannte Frater Henricus von Duderstadt sei alsKünstler, also als Maler der Darstellungen anzusehen,9

doch sprechen alle historischen Umstände dagegen.10

Wir haben mithin Ort, Zeit und Bestimmung desWerkes, also weit mehr als in so vielen anderen Fällen.Damit bildet das ehemalige Hochaltarretabel des Göt-tinger Minoritenkonventes eine erstrangige kunsthisto-rische, aber auch kirchen-, sozial- und politikgeschicht-liche Quelle.

Man sollte meinen, die kunstgeschichtliche Forschunghätte mit großer Genugtuung den so genannten Göttin-ger Barfüßeraltar als Angelpunkt aller Bemühungen zurRekonstruktion der Geschichte der norddeutschen reli-giösen Tafelmalerei in der ersten Hälfte des 15. Jahr-hunderts genommen, doch dem ist nicht so. Zwar, voneiner ersten kurzen Erwähnung noch des verändertenZustands durch den Göttinger Professor Fiorillo,11 demersten Inhaber eines kunstgeschichtlichen Lehrstuhlesan einer Universität überhaupt,12 über die großen kunst-historischen Standardwerke des 19. Jahrhunderts vonKugler13 und Schnaase14 bis hin zu den Regionalüber-sichten von Heise und Habicht15 kurz nach dem ErstenWeltkrieg, der Barfüßeraltar fand durchaus Beachtung.Aber man hat doch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahr-hunderts hinein den unabweisbaren Eindruck, es miteinem ungeliebten Störenfried zu tun zu haben. Das Ur-teil der älteren Forschung ist nämlich zwiespältig und ge-prägt von einer als irritierend wahrgenommenen Dis-krepanz zwischen Inhalt und Form.16

Solche Wertung hat ihre Gründe, die in der Verfas-sung der kunsthistorischen Forschung in der Grün-dungsphase unseres Faches als moderne Wissenschafts-disziplin liegen. Man schuf seinerzeit, auf älteren Vor-stellungen aufbauend, die hier nicht eigens dargestelltwerden müssen,17 das Instrumentarium der Stilanalyseund Stilkritik,18 um untersuchen und wissenschaftlichsystematisch erfassen und erklären zu können, wofür essonst keine oder nur unzureichende Belege gab. Aus der

Erkenntnis verallgemeinerbarer formaler Erscheinun-gen heraus, die sich nach unterschiedlichen Kategoriendes Zeitlichen, Örtlichen und Persönlichen wieder dif-ferenzieren ließen, entwickelte man die Vorstellung vonZeitstilen, Lokal- und Personalstilen, die nach Epochen,Nationen oder Regionen, sowie nach Personengruppenund Individuen unterschieden werden können und bisheute das fruchtbarste der Kunstgeschichte eigentümli-che methodische Instrumentarium darstellen. Damalswaren derartige stilistische Untersuchungen von wenig-stens vier im Grunde ideologischen Prämissen be-stimmt, die zu einer Konditionierung des Blicks auf ver-gangene Epochen und deren künstlerische Geschichts-zeugnisse führten: zum einen der Überzeugung, dasssich in der formalen Gestalt der künstlerische Sinn amreinsten ausspreche, verengt betrachtet, dass er sich ein-zig hier ausspreche,19 mit der Folge einer ahistorischenVerabsolutierung des Formalen. Einher ging dies mitder Ansicht, die kunstgeschichtliche Entwicklung werdewesentlich von überragenden Einzelpersönlichkeiten,den als Genies begriffenen so genannten großen Mei-stern, getragen, deren Innovationen die Maßstäbe fürnachfolgende Generationen und ganze Stilrichtungensetzten.20 Dies schloss sich direkt zusammen mit einer te-leologischen Geschichtsvorstellung, die vom Fort-schrittsgedanken geprägt eine lineare Entwicklungs-struktur postulierte.21 Schließlich bildete in der Epocheder Nationalstaaten die Vergötterung des Nationalen diezeittypische Folie der Frage- und Untersuchungsinteres-sen.22 So war auch die Forschung zum Barfüßeraltar undseiner kunsthistorischen Kontextualisierung ganz daraufabgestellt, das Werk in ein Beziehungsgeflecht völki-scher, individueller und formaler Bezüge zu setzen. Manverortete ihn innerhalb einer Kunstszene, deren grund-sätzlich über einen großen europäischen Raum rei-chende analoge Prinzipien man sehr wohl erkannte,stellte ihn aber seinen kunstgeographischen, stilistischenund individuellen Voraussetzungen nach wahlweise inunterschiedliche Regionen und geprägt von den wenigenKünstlerpersönlichkeiten, die man für diesen Raumnamhaft machen konnte. Deswegen wurde der Altar zu-erst als Werk einer kölnisch geprägten,23 dann westfä-lisch24 oder niedersächsisch25 konditionierten Kunst dis-kutiert, deren Wurzeln man in völkischen Eigenheiten

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Die Teile und das Ganze. Das Göttinger Barfüßerretabel und sein Bild in der Forschung

Abb. 2Göttinger Barfüßerretabel, Kreuzigung der Mitteltafel

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durch das Land Niedersachsen angekauft worden. Auchwenn sich der Zustand des Retabels stabilisiert zu habenschien,62 fanden regelmäßig Festigungsarbeiten statt, beidenen laut mündlicher Überlieferung Wachs und PVA-Leim zur Anwendung kamen. Dank strengerer Klima-kontrollen seit Mitte der 1980er Jahre konnte die Häu-figkeit von Malschichtlockerungen und nötiger Siche-rungsmaßnahmen reduziert werden.63 In Anbetracht desfragilen Zustands der Malschichten sowie der Beein-trächtigungen des statischen Gefüges wurden die Altar-flügel seit Ende der 1980er Jahre so gut wie nicht mehrbewegt. Zu sehen war ausschließlich der vollständig ge-öffnete Zustand. Die einzigartigen Darstellungen derWerktags- und Sonntagsseite wie auch das Erlebnis derWandlungen blieben den Betrachtern vorenthalten.

Wegen der Generalsanierung und Modernisierungdes Museumsgebäudes am Maschpark war die Samm-lung mittelalterlicher Kunst von 1995 bis 1999 geschlos-sen. In diesem Zusammenhang wurde die Malerei desAltars im Jahre 1997 durch die Restauratoren des Hau-ses gesichert und der Zustand genau erfasst und doku-mentiert. Heide Grape-Albers veranlasste und verant-wortete als Direktorin des Niedersächsischen Landes-museums Hannover die Entwicklung eines Restaurie-rungs- und Konservierungsprojektes durch die leitendeRestauratorin Babette Hartwieg, auf deren GrundlageMittel in Höhe von insgesamt 1,2 Millionen Euro schritt-

weise beim niedersächsischen Ministerium für Wissen-schaft und Kultur eingeworben wurden. Als Projektlei-terin führte Frau Hartwieg zusammen mit einem größe-ren Restauratorenteam die jüngste Restaurierungsmaß-nahme in den Jahren 1999 bis 2005 durch, die am Endedieses Bandes ausführlicher dokumentiert ist.

1 Vgl. im vorliegenden Band Boeck, S. 38, Hartwieg, Kunsttech-nologische Analyse, S. 322.

2 [A]nno domini millesi[mo] quadringe[ntesimo] [vicesi]moquarto sabato ante d(omi)nicam q[uart]am post pa[scha] / istatabula conpleta est sub fratre luthelmo pro tunc gardiano co-nuentus istius orate pro eo.

3 Ebd., S. 102.4 Mindermann 2005, S. 147.5 Mindermann 1993, S. 55–58; MINDERMANN 1996, S. 141–144. Dazu im vorliegenden Band Schlotheuber, S. 43f., Widder,S. 55f.

6 Die Göttinger Reformation begann am 29. August 1529 mitdem Einbruch der Lutheraner in die Bartholomäus-Prozes-sion, siehe Bernd Moeller, Die Reformation, in: Göttingen. Ge-schichte einer Universitätsstadt, Bd. 1, Göttingen 1987, S. 492.

7 Zit. nach BEHRENS 1939, S. 28. Die Inventare befinden sich imStadtarchiv Göttingen, Altes Aktenarchiv (AA) Nr. 5578: In-ventare des Dominikaner- und Barfüßer-Klosters (auch Fron-leichnamskapelle) 1526–1540. Dort auch Amtsbücher (AB) MS20: Abrechnung der Liquidatoren über verkauftes Inventar desBarfüßerklosters 1535. Vgl. Eva Schlotheuber, Die Aufhebungder Bettelordensklöster in der Reformation, in: AUSST. KAT.GÖTTINGEN 1994, Kat. Nr. 100, 101.

27Heide Grape-Albers / Babette Hartwieg / Cornelia Aman26

Das Göttinger Barfüßerretabel von 1424. Geschichte des Werkes und seiner Restaurierungen

Abb. 7wie Abb. 3, Ergänzungen von ca. 1955

Abb. 8wie Abb. 4, Ergänzungen von ca. 1955

Abb. 9wie Abb. 3, Überarbeitung nach 1956. Foto 1999

Abb. 10wie Abb. 4, Überarbeitung nach 1956. Foto 1999

Abb. 11a, bMontage des GöttingerBarfüßerretabels in der

Marktkirche in Hannovervor der Orgel im

Westchor, Fotos 1957

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Denn nur eine bildliche Darstellung konnte diese Tradi-tion begründen und garantieren; eine textliche Überlie-ferung hätte dies nicht vermocht. Dem Exemplar der Zis-terzienserkirche in Doberan (Abb. 3), zweifellos das äl-teste unter den erhaltenen, muss der Ehrentitel eines Pro-totypus nicht zwangsläufig zuerkannt werden.4 Eine di-rekte Entwicklungslinie von den frühen Mühlenbilderndes 12. Jahrhunderts im Hortus deliciarum oder demwunderbaren Kapitell in Vezelay ist ebenfalls nicht er-kennbar (Abb. 4, 5).5 Wenngleich diese auf dieselbennoch zu erläuternden biblischen Quellen zurückgehen,zeigen sie unterschiedliche bildliche und inhaltliche Aus-formungen: das der Instruktion von Klosterfrauen die-nende Buch der Herrad von Hohenburg gibt eine text-nahe Umsetzung von Lk 17,35, das Kapitell versinnbild-licht in der Handlung des Propheten und des hl. Paulusdie Vollendung des Alten Testaments im Neuen.

Die Grundlagen, die die spezifisch spätmittelalterlicheAusprägung der Allegorie vorbereiten halfen, sind in derBibel zu finden, in der an 14 Stellen Mühlen oder Teiledavon metaphorisch oder konkret verwendet werden.6

Dabei rücken gleich mehrere Zitate in das Zentrum der

Exegese: Lk 17,35 mit dem bereits genannten Gleichnisder zwei Frauen, die an einer Mühle stehen und mahlenund als Ecclesia und Synagoge gedeutet werden; Dtn 24,6mit dem Verbot der Pfandnahme des oberen oder unte-ren Mühlsteins (Metapher für die Untrennbarkeit vonAltem und Neuem Testament), das Gleichnis vom Sauer-teig aus Lk 13,21 sowie Joh 6,35 („Ego sum panis vivus“),Grundlage aller „Brotallegorie“, die Christus selbst for-mulierte.7 Auch die zahlreichen, seit dem Hochmittelal-ter auftretenden Mühlenlieder haben auf derselbenGrundlage die bildliche Formulierung mit vorbereitet.8

Es wundert nicht, dass angesichts desselben Zeithori-zonts die Lieder des 15. Jahrhunderts den Bildern in Per-sonal und funktionalem Ablauf besonders nahestehen.In der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts scheinen sich aller-dings der bildliche und der literarische Entwicklungs-strang gekreuzt zu haben: Das in vielen niederdeutschen(„Moehlen Leeth“) wie hochdeutschen Fassungen über-lieferte Mühlenlied, das den zu diesem Zeitpunkt schonweit verbreiteten bildlichen Darstellungen am nächstenkommt, könnte unter dem Eindruck der Bilder entstan-den sein. In einer niederdeutschen Druckausgabe ausdem Jahre 1552 – also der Entstehungszeit der Bildernoch sehr nahe – betont der Herausgeber, Pfarrer Jo-hannes Winnigstedt, der Verfasser des Liedes sei „ein ge-larter Man“ gewesen. „Denn alles was er singet, hat einAllegorien oder geistliche bedeutung, welcher er ein teilhat genommen aus einem Sermon des h. Maximi, wel-cher der siebende Bischoff zu Mentz ist gewesen vnd hatsolchs gepredigt vber das siebende Capittel Luce. Denn

101Martin Schawe

Abb. 3 Mühlenaltar, Mitteltafel, 1410/20. Ehem. Zisterzienserklosterkir-che Bad Doberan

Mühle (Abb. 2, Taf. 11). Vermutlich sollte jeder der Evan-gelisten Worte seiner eigenen Schrift in Händen halten,doch wurden die Sprüche des Lukas und Matthäus –wohl versehentlich – miteinander vertauscht. Der Jo-hannes-Adler hält ein Spruchband mit den Worten „inprincipio erat ve[rbum]“ (Joh 1,1), der Matthäus-Engeleines mit den Worten „vidim(us) hoc verbum qu(od)d(omi)n(us)“ (Lk 2,15; das sind die Worte der Hirten aufdem Feld nach der Verkündigung durch den Engel), derLukas-Stier „q(uod) in ea na(tum est de spirito sanctoest)“ (Mt 1,20; das sind die Worte des Engels zu Joseph);

den Markus-Löwen sehen wir mit den Worten „hic e(st)filius (carissimus hunc audite)“ (Mk 9,6; das ist dieStimme vom Himmel während der Verklärung Christi).Schon im Trichter werden diese Sätze miteinander ver-mengt und senken sich als klare Aussage „et deus eratverbum“ (Joh 1,1) in das Mahlwerk hinab. Die ZwölfApostel stehen seitlich des Mühlenkastens an Kurbeln,die viel zu lang sind, um zu taugen, aber dennoch dasMahlwerk in Gang setzen. Als Produkt empfangen dievier lateinischen Kirchenväter das Jesuskind im eucha-ristischen Kelch. Dieses wird mit den Worten „etv(er)b(u)]m caro f(a)c(tu)m e(st)“ (Joh 1,14) begrüßt.Auch wer nicht lesen kann, versteht den Vorgang, weiler es sieht.

Seitlich der Kirchenväter knien zwei Heilige: Franzis-kus freut sich wie Weihnachten in Greccio und äußertdies mit den Worten „saluator noster dilectissimi hodienatus [est] ga[udea]mus“. Der Franziskanerbischof Lud-wig, der hier wie auch andernorts die Hierarchietaug-lichkeit des Bettelordens belegt, stimmt mit ein: „natifi-tas tua gaudium annunciauit universo … mundo“. Dieden oberen Bereich flankierende „Verkündigung“ zeigtmit dem üblichen Text nach Lk 1,28 und 1,38, wie allesanfing: „aue … gracia plena d(omi)n(u)s tecum“; „ecceancilla domini fiat michi secu(n)du(m) v[er]bumtuu(m)“. Schon die Spruchbänder der Evangelisten sindzum Teil dem Kontext der Geburt Jesu entnommen; dieVerkündigung, die Kindgestalt des „Mahlproduktes“und die Kommentare der Ordensheiligen unterstreichendiesen Aspekt, der aber eben nur ein Aspekt des kom-plexen Gegenstandes ist.

25 Mühlenbilder in der Tafel-, Wand-, Glas- undBuchmalerei, entstanden zwischen 1400 und 1534, zwi-schen Doberan und Bern, haben sich in dieser und ähn-licher Art erhalten. Harald Rye-Clausen erfasste undanalysierte sie 1981. Die Denkmäler im Einzelnen vor-zustellen, verbietet sich aus Platzgründen. Sie alle zeigenzumeist die Mühle im Zentrum, am Trichter Evangelis-ten, Apostel, die für den Antrieb sorgen, Kirchenväter,die das „Mahlprodukt“ in Empfang nehmen, und die„Verkündigung“. Variationen gibt es in Details: BeimMahlgut, das in den Trichter gesenkt wird, in der Art derEinbeziehung Marias und Gottvaters oder beim Antriebder Mühle. Das Göttinger Mühlenbild steht in einer Tra-dition von erstaunlicher Homogenität. Dies verlangt nacheinem wahrscheinlich verlorenen Prototyp, der an einemprominenten Ort öffentlich sichtbar gewesen sein muss.

100

Der geschlossene Zustand

Abb. 2Göttinger Barfüßerretabel, Außenseite des linken äußeren Flügels, Mühlenbild, Detail

Abb. 4Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg, Darstellung einerGetreidemühle, um 1180, fol. 112r. Nachzeichnung

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An diesem Urteil lässt schon zweifeln, dass das Göt-tinger Barfüßerretabel gerade in den vier großen Szenender so genannten Werktagsseite wegen fehlender Vor-bilder die schöpferische Phantasie des Malers geradezuvoraussetzte.6 Es verwundert auch, dass dem Barfüßer-Meister nach Stanges Meinung die gesamte künstleri-sche Entwicklung seit 1400 entgangen wäre bzw. er diesenur über Conrad von Soest erfahren hätte. Und eine kri-tische Durchsicht seiner Beurteilung erscheint nicht zu-letzt deswegen angebracht, weil die kunsthistorische For-schung seitdem die Bedeutung und Wirksamkeit der inKöln seit den 1390er Jahren tätigen Maler an vielerleiBeispielen herausgestellt hat.7

Bereits Paul Jonas Meier hatte 1921 – und damit gut15 Jahre vor Alfred Stange – auf Momente einer Rezep-tion des 1403 vollendeten Wildunger Retabels (S. 169,Abb. 6) des Conrad von Soest besonders auf der so ge-nannten Feiertagsseite des Barfüßerretabels aufmerk-

sam gemacht, lehnten sich doch „die Anbringung derNebenbilder auf der Mitteltafel, der Typus des Gekreu-zigten, das Legen nur der Unterarme der Schächer überden Querbalken, Johannes, der im Schmerz die Händeüber dem Kopf zusammenlegt – wenn auch in etwas ab-weichender Form –, die Frau links in der Gruppe umMaria, der vornehme ältere Jude im langen Rock mitKette, Schellen und Gürtel – allerdings im Gegensinn –Longinus mit der phrygischen Mütze unmittelbar anden Wildunger Altar an“.8

Offensichtlich sind einige Ähnlichkeiten zwischen denKreuzigungen der beiden Retabel bei der Gruppe rechtsunter dem Kreuz (Abb. 1, 2): die gleiche Position desHauptmanns im Bildraum, eine verwandte Verschrän-kung seines Zeigens nach links – auf dem Retabel ausGöttingen allerdings mit zwei Händen – und der Kopf-wendung nach rechts, der gleiche blonde Bart, dessenSträhnen auf der späteren Kreuzigung hingegen fester

263Götz J. Pfeiffer262

Abb. 3Göttinger Barfüßerretabel, Kreuzigung, Detail

Abb. 4Wildunger Retabel, Kreuzigung, Detail

Zur stilistischen Einordnung des Göttinger Barfüßerre-tabels scheint mit den Urteilen Alfred Stanges im drit-ten Band der „Deutsche(n) Malerei der Gotik“ von 1938und den darauf fußenden Angaben im ersten Band sei-nes „Kritischen Verzeichnisses der deutschen Tafelbildervor Dürer“ von 1967 alles gesagt zu sein.2 Als Charakte-ristik des Malers stellte er „die Raumlosigkeit, die Beto-nung der Figuren in den Bildkompositionen, die derbenTypen, überhaupt die Trockenheit und Nüchternheit“heraus und beurteilte den gewonnenen Gesamteindruckvon „Festigkeit, Ruhe und eine(r) mitunter gewiß nüch-terne(n) Sachlichkeit“ als niedersächsische Eigenart.3

Nachgerade vernichtend ist sein hieraus gezogenes Ur-

teil, der Göttinger Barfüßer-Meister sei „kein großerMaler und Künstler“ gewesen, sondern einer, der „un-schöpferisch lebte und zehrte von überliefertem Gut“,was ihn notwendig nach den Vorbildern fragen ließ.4

Stange sah diese im Maler des Göttinger Jacobikirchen-retabels, den er gleichsam als Erblasser für regionale Prä-gungen verantwortlich machte (S. 194f., Abb. 3), in Mei-ster Bertram, von dem er ältere Traditionen übernom-men sah, und schließlich in Conrad von Soest, aus des-sen alleinigem Vorbild jüngere Tendenzen zu erklärenseien. In die Kunst der 1420er Jahre wäre der Barfüßer-Meister dann als rein kopierender, von anderen Malernweitest gehend abhängiger Maler einzuordnen.5

Götz J. Pfeiffer

Im Blick gen Westen – Die Stellung des Barfüßer-Meisters zur Malerei in Köln und in Westfalen um 14001

Abb. 1Göttinger Barfüßerretabel von 1424, Mitteltafel, Kreuzigung, Detail

Abb. 2Conrad von Soest, Wildunger Retabel,Kreuzigung, 1403, Detail. StadtpfarrkircheBad Wildungen

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TAX“-Spektrometer arbeitet zerstörungsfrei in situ(Abb. 10). Sie erlaubt die IdentiUzierung chemischerElemente anhand ihrer charakteristischen Röntgen-strahlung sowie eine „halbquantitative“ Abschätzungder Konzentration. Methode, Parameter, Möglichkeitenund Grenzen werden ausführlicher an anderer Stelle imvorliegenden Band besprochen.24 Da die Maße des Bar-füßeraltars die Reichweite des serienmäßigen Stativsweit überschritten, kam stattdessen, wie bei der IR-Re-VektograUe, das große, für ein Wandmalerei-Projektentwickelte Fotostativ vor dem Retabel zum Einsatz.25

Messpunkte konnten damit auch in großer Höhe ange-fahren werden.

Bindemittel-BestimmungenErste Bindemittel-Untersuchungen hinsichtlich der Ma-terial- und Lösungseigenschaen späterer Überzügewurden mit Hilfe der Fourier-Transform Infrarotspek-trometrie (FT-IR) nach Extraktion von Wattebäuschenund an Schabeproben durchgeführt (Prof. Dr. Schulz,HAWK Hildesheim). Die FT-IR-Spektroskopie lieferteauch Hinweise auf Bindemittelgruppen an losen Probenvon der originalen Malschicht. Darüber hinaus wurdenmikroanalytische Gruppentests sowie histochemischeAnfärbungen an Querschliffen durchgeführt, aus denensich ebenfalls Hinweise auf Gruppen organischer Bin-demittel (z. B. Proteine, trocknende Öle) gewinnen las-sen (Prof. Dr. Herm, HfBK Dresden).26

317Babette Hartwieg

nur an exemplarisch ausgewählten, max. 35 x 80 cm gro-ßen Flächen möglich. Im Vordergrund stand die Analyseder Rahmeneckverbindungen und ihrer statischen Funk-tionstüchtigkeit. Wegen der beidseitigen Bemalung derFlügel und der dicken Balken auf der Rückseite der Mit-teltafel war die Auswertung der Röntgenfotos hinsichtlichder Verwendung schwermetallhaltiger Farben, der Art desFarbaurags und eventueller Kompositionsänderungenerwartungsgemäß schwierig und wurde nur beispielhaam linken InnenVügel ausgeführt. Die Bestrahlung erfolgtemit Hilfe einer mobilen Röntgenröhre, ERESCO 200 MFder Fa. Seifert, die vor dem Retabel auf dem Gerüst posi-tioniert wurde, während die Filme hinter die Mitteltafelbzw. die Flügel zu schieben waren (Abb. 9).21 Die Filmewurden maschinell entwickelt (Fa. art-ray, München).

HolzanalysenWährend das überwiegend verwendete Eichenholz ma-kroskopisch bestimmt werden konnte, wurden an den

AußenVügeln und an den Predellenfragmenten Holz-proben entnommen, Dünnschnitte hergestellt und inGlyzeringelatine präpariert. Die Bestimmung der Zell-struktur erfolgte im polarisierten Durchlicht am Unter-suchungsmikroskop durch Prof. Dr. Peter Klein, Uni-versität Hamburg, bzw. durch Romy König, Studentin ander HAWK Hildesheim. Eine dendrochronologische Un-tersuchung war nicht machbar.

Querschliff-UntersuchungenZur Analyse des schichtenweisen Auaus von Malereiund Rahmenfassung sowie zur ersten Pigmentbestim-mung wurden winzige Proben entnommen und mitTechnovit 2000LC eingebettet, mit UV-Licht gehärtetund trocken geschliffen. Die Auswertung führten dieRestauratoren am Untersuchungsmikroskop Leitz La-borlux K der Klosterkammer Hannover im AuVicht beibis zu 320-facher Vergrößerung, im UV-Licht im Wel-lenlängenbereich von 355 bis 425 nm bei bis zu 200- facherVergrößerung durch.22 Die fotograUsche Dokumentationerfolgte über die Fotoeinheit analog auf hochempUnd- liches DiaUlmmaterial.

Methoden der Materialanalyse an entnommenen ProbenPigmente und Füllstoffe in Grundierungs- und Farb-schichten wurden lichtmikroskopisch im Polarisationsmi-kroskop oder mit Hilfe der Fourier-Transform-Infrarot-spektroskopie (FT-IR) bestimmt. Die Optische Emissions-Spektralanalyse (OES) von losen Proben diente dazu, dievorliegenden chemischen Elemente nachzuweisen unddaraus auf die verwendeten anorganischen Pigmente zuschließen. Zur Elementbestimmung an Querschliffenwurde die energiedispersive RöntgenVuoreszenz im Ra-sterelektronenmikroskop (SEM-EDX) eingesetzt (alle vor-stehenden durch Prof. Dr. Herm, HfBK Dresden).23

Zur Analyse der Metalle kam die LASER-Mikrospek-tralanalyse (LMSA) für qualitative Übersichtsaufnah-men und die Atomabsorptionss-Spektralanalyse (AAS)zur quantitativen Bestimmung von Kupfer- und Zink-gehalten zum Einsatz (Prof. Dr. Ernst-Ludwig Richter,Institut für Technologie der Malerei, Akademie der Bil-denden Künste Stuttgart).

Zerstörungsfreie Materialbestimmung mit der Mikro-Röntgenfluoreszenz-AnalyseDie Mikro-RöntgenVuoreszenz-Analyse (abgekürzt:µRFA, englisch: micro-XRF) mit dem mobilen „Art-

316

Das Projekt „Konservierung, Restaurierung und Erforschung des Göttinger Barfüßeraltars von 1424“

Abb. 11 Mikro-Röntgenfluoreszenz-Analysen am Barfüßerretabel mit Hilfe eines Spezialfotostatives

Abb. 10 Spezialstativ mit fahrbarer waagerechter Traverse, hier bei Mikro-Röntgenfluoreszenz-Analysen am linken Innenflügel

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folge sind die Eckverbindungen an den InnenVügelnanscheinend nur mit einem senkrecht zur Platte ge-setzten Dübel gesichert, der am rechten InnenVügelsogar fehlt (Abb. 9).

Durch die unterschiedlichen Eckverbindungen an denAußen- und InnenVügeln ist auf der Sonntagsseite derWechsel von senkrechten Stoßfugen an den äußeren bei-den Flügeln gegenüber waagerechten Fugen an denEcken der InnenVügel auffällig (Taf. 2). Auf der Fest-tagsseite zeichnen sich in der Regel waagerechte Stoß-fugen in Verlängerung der inneren Rahmenkanten ab,nicht jedoch an der rechten unteren Ecke der Mittel tafel(Taf. 4).28 Das Röntgenfoto verrät Verschnitt und Aus-besserung mit einem von außen eingeschobenen Holz-stück mit senkrecht zu den Rahmenzargen verlaufen-dem Faserverlauf (Abb. 9). Eine ähnliche Unregelmä-

ßigkeit weist auch der mit einer Nut- und Feder-Ver-bindung einfach gefügte Rahmen des Verkündigungs-Vügels am Offensener Retabel aus der Werkstatt des Bar-füßer-Meisters auf der Außenseite auf.29 Die Rahmen-nute sind sehr unterschiedlich tief ausgehoben: an denAußenVügeln war nach den Röntgenfotos eine Tiefe von15 bis 23 mm, an der Mitteltafel von 30 bis 50 mm zubestimmen.

Holzschwund und erste Ausbesserungen Die endoskopische Untersuchung an der Rückseite derMitteltafel und die Röntgenaufnahmen machten deut-lich, dass die Eichenholzbretter der Bildtafeln Äste, ein-gesetzte Vierungen und wenig sorgfältige Ausspänungenvon Trocknungsrissen aufweisen. Am linken InnenVü-gel sind breitere Schwundrisse im Holz mit senkrecht zur

329Babette Hartwieg

Abb. 13Rechter Außenflügel, oberes Scharnier

etwas tiefer aus als an den AußenVügeln. Zur Festtags-seite ist das ProUl reich gegliedert und bietet dem Lichtviele verschiedene ReVexionsVächen und -kanten.Neben der Platte sind an der Schräge nach innen zweijeweils von Fasen gesäumte Halbrundstäbe ausgebildet,die eine Vache Kehle einfassen. Im Vergleich mit demHochaltarretabel aus St. Petri in Hamburg von MeisterBertram (1383) oder der Goldenen Tafel aus St. Mi-chael zu Lüneburg (um 1420) und ihren für die ge-schnitzte innere Schauseite gewählten RahmenproUlenerscheint dieses ProUl zwar aufwändig, die Fasen sindaber nicht so prägnant geschnitten, dass Dreiviertel-rundstäbe herausgebildet wären.27 Die Eckverbindun-gen sind mit in einem Steckloch sitzenden verdecktenZapfen und stabilen Eichenholzdübeln mit 20 bis 25 mm

Durchmesser gefügt und damit der Konstruktion derKastenVügel am Jacobikirchenaltar nah verwandt (Abb.7). Am Barfüßerretabel wurde das Augenmerk daraufgelegt, dass sich die dicken Dübel nicht an der Vorder-seite abzeichnen. An der Mitteltafel sind je Ecke zweiDübel übereinander, von hinten und von der Seite, zurSicherung des Zapfens eingeschoben, wobei sich nuran der oberen linken Ecke der von der Rückseite ge-setzte Dübel vorn auf der Platte und an der unterenrechten Ecke das von der Seite geführte Bohrloch in derRahmenkehle abzeichnet. Wieso der Zapfen an der lin-ken unteren Ecke der Mitteltafel schwalbenschwanz-förmig ausgebildet ist, ist nicht plausibel. Hier blieb ein87 mm tief von der Seite gebohrtes Dübelloch offen(Abb. 8). Den exemplarischen Röntgenaufnahmen zu-

328

Kunsttechnologische Analyse des Göttinger Barfüßerretabels

Abb. 11Mitteltafel und Innenflügel im geschlossenen Zustand Eckerechts unten, Scharniere und Eisenstabilisierungen

Abb. 12Linker Außenflügel, unteres Scharnier

Abb. 10Röntgenaufnahme vom linken Innenflügel: ausgespänte Risse

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(Messpunkt BF5.3RF2) und auf der Festtagsseite am Bro-katbehang hinter der Maria (Messpunkte BF23RF2) mit-tels µRFA untersucht. Die Analyse ergab für diese Be-reiche einen deutlichen Goldanteil, der etwas höher liegtals bei den Zwischgold-Partien auf dem Barfüßerretabelund auch höher als bei modernen Zwischgold-Refe-

renzproben. Damit kann die Verwendung von Blattgoldoder Zwischgold für eine zweite Metallauflage über demBlattsilber angenommen werden.

Neben den noch gut erhaltenen Silberbrokatimitatio-nen erscheinen viele Brokate heute dunkelgrau bis braun,so dass gefärbte Überzüge angenommen werden kön-nen. Deutliche Kupfergehalte an den meisten Mess-punkten im Brokat mit Ausnahme des orangerot gemu-sterten Jakobusgewandes (Messpunkt BF5.4RF2) weisen

387Christoph Herm, Armin Gross

Abb. 12µRFA-Messungen (Mo-Target, Line-Scan) an einer Zwischgold-auflage mit Fehlstelle (Messpunkt BF18.9 RF1): In der Fehlstelle(y = 0,54…0,94 mm) zeigt die parallele Abnahme der Gold-(Au-) und Silber-(Ag-) Signale Zwischgold an, die Abschwächung derKupfer-(Cu-) und Blei-(Pb-)-Signale in der Fehlstelle die Anwe-senheit dieser Elemente im Überzug

Abb. 13Rechter Innenflügel innen, Heimsuchung (BF 22), Brokat-Unter-gewand der Elisabeth: grün-brauner Überzug auf Blattsilber, roteBemalung und lokale Blattgoldauflage

Gold (Au) und Silber (Au) reduziert. Der quantitativeVergleich der Röntgenintensitäten von Silber und Goldzeigt, dass die Zwischgoldauflagen am Barfüßerretabelund der Goldenen Tafel einen höheren Goldgehalt habenals modernes Zwischgold (Gehalt Au:Ag = ca. 23:76Massen-%, Linienintensitäten 35:65 %, Abb. 11).

Die aufwändig gestalteten Brokate sind grundsätzlichauf der Blattmetallauflage mit farbigen Lasuren, gemal-ten Mustern und gemalten Falten aufgebaut und stel-lenweise mit einer zweiten, hellen Metallfolie abgesetzt.Das Blattmetall des Brokat-Untergrundes ist meistensBlattsilber, wie anhand des Silbergehaltes an zahlreichenµRFA-Messpunkten festgestellt wurde: Auf der Sonn-tagsseite an den Brokatuntergewändern des Jakobus(Messpunkt BF5.4RF2) und des Petrus (MesspunktBF5.5RF2) sowie an mehreren Stellen auf der Festtags-seite: im Brokatgewand des Josef (Messpunkt BF10RF1,2, 3, 4), am Brokatbehang hinter der Maria in den Bild-feldern 22 und 23 (Messpunkte BF22RF3, BF23RF3, 5,6, 7), am Brokatuntergewand der Elisabeth (MesspunktBF22RF2), am Gewand der Maria (Messpunkt BF23RF1) und am Gewand des Mannes rechts vor dem Kreuzauf der Haupttafel (Messpunkt BF18.8RF1).

Neben dem Blattsilber findet man auch ganzflächiggoldfarbenes Blattmetall zur Gestaltung von Brokat, soam Gewand des Hauptmanns in der Kreuzigung auf derMitteltafel (Messpunkt BF18.9RF1). Die Verhältnisse derGold- und Silber-Signale sind zwar ähnlich wie in denunten beschriebenen goldfarbenen Auflagen auf Blatt-silber, doch ist in dem Gewand keine silberne Unterlagezu sehen. Daher kann man hier Zwischgold annehmen.Ein weiteres Indiz dafür liefert eine Serie von µRFA-Punktmessungen („Line-Scan“) über einer Fehlstelle, inder der Goldgehalt gleichsinnig mit dem Silbergehaltabnimmt (Messpunkt BF18.9RF1, Abb. 12). In dieselbeKategorie fällt eine Glocke am Gewand dieser Figur, dieauf demselben Blattmetallgrund ausgeführt ist (Mess-punkt BF18.6RF4). Das Brokatgewand der Maria auf derFesttagsseite (Abb. 9, Messpunkt BF13RF1) ist ebenfallsganzflächig goldfarben unterlegt (Abb. 14a). Auch hierdeutet der Gold- und Silbergehalt auf die Verwendungvon Zwischgold hin. Neben den ganzflächigen goldfar-bigen Zwischgold-Untergründen im Brokat gibt es dortauch lokale zusätzliche Muster aus goldfarbenem Metallauf dem Blattsilber im Brokat (Abb. 13). Diese Detailswurden auf der Sonntagsseite an den Untergewänderndes Petrus (Messpunkt BF5.5RF1) und des Johannes

386

Materialanalysen am Göttinger Barfüßerretabel

Abb. 10µRFA-Messungen (W-Target, Line-Scan) an der goldfarbenenMetallauflage mit Kreispolitur der Goldenen Pforte (MesspunktBF10 RF4, wie Skaug S. 397, Abb. 4)

Abb. 11Vergleichende µRFA-Messungen (W-Target) an Blattmetallaufla-gen, halbquantitative Auswertung der Linienintensitäten im Ver-gleich mit modernem Zwischgold als Referenz; Ag = Silber, Kα1-Linie, Au = Gold, L-α1-Linie

Abb. 9 Göttinger Barfüßerretabel, Mitteltafel (BF 18.6), Textilstruktur-imitation auf Zwischgoldauflage am Brokatumhang des Haupt-manns unter dem Kreuz

Abb. 8Mitteltafel, Detail vom Soldaten am rechten Rand (BF 18.6): Rüstung in Blattsilber mit unterschiedlich heller Oberfläche

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417Babette Hartwieg

Objekt Partie Kreispunze Durchmesser

, um 13 0/ 0,

LWL-Museum für und Kultur

Schreinrückwand

Gezahnter Kreis, 24 Punkte

Göttinger Barfüßerretabel, 1424, Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum

Nimben, Umrandung der Goldhintergründe

Gezahnter Kreis, 19 Punkte, 5 Punkte

5 mm 3 mm

Barfüßer-Meister, Magdalenenretabel, um 1420, Auffahrt der hl. Maria-Magdalena,

LWL-Museum für und Kultur

Nimbus der Magdalena, oberer Bildrand

Gezahnter Kreis, 19 Punkte

5 mm

Barfüßer-Meister, Magdalenenretabel, um 1420,

, Stuttgart, Staatsgalerie

Nimbus der Magdalena, oberer Bildrand

Gezahnter Kreis, 19 Punkte

5 mm

Kölnisch, um 1460, Köln, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud WRM 111

Maria mit Kind nach Willberg: erstmals „Punktring“ in der Kölner Malerei

6 mm

Meister Lyversberg-Passion, um 1464/66, Köln, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud WRM 143-150

Lyversberg Passion

nach Willberg: 7 mm

Meister des Marienlebens, um 1470/74, Berlin, Gemäldegalerie Staatliche Museen, Kat. Nr. 1235B

Maria mit Kind

Gezahnter Kreis, 19 Punkte

6,5 mm

416

Ausgewählte technische Befunde vom Göttinger Barfüßerretabel im zeitgenössischen Vergleich

Tab. 6 Gezahnte Kreispunzen im Vergleich

Objekt Partie Punzenform Durchmesser Körnung Dichte

Peter-und-Paul-Retabel, um 1420 aus Hildesheim, St. Lamberti

Mitteltafel, Hildesheim, St. Lamberti

Nimbus Christi Kreis 2,5 mm

Rechter Flügel, innen, oben links, Auferstehung, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum

Nimben, Rüstungen, Gürtel des rechten Soldaten, Helme rechts oben: Modellierung mit Punzen an der beleuchteten Seite

Punkt Kreis

2 mm 0,5mm 2,5 mm

Rechter Flügel, innen, unten rechts, Weltgericht, Münster, LWL-Museum für Kunst und Kultur

Nimben

Punkt 2 mm (P1) 0,3–0,5 (P2)

Körnung P2 15/cm

Linker Flügel, innen, unten rechts, Judaskuss, Hildesheim, Roemer-Pelizäus-Museum

Gürtel, am Unterschenkel des Soldaten, in Reihen entlang der Rüstung (evtl. Zahnrädchen)

Punkt 2 mm, 0,5 mm

Körnung oder Zahnrädchen 7/cm

Goldene Tafel aus Lüneburg, um 1420 Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum

Sonntagsseite

Nimben Punkt rund Gezahnter Halbkreis 12 Punkte

1 mm (P1) 0,2–0,5 (P2) 8-9 mm

Körnung P2 13–15/cm

Göttinger Barfüßerretabel, 1424 Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum

Barfüßerretabel, Mittlerer und geöffneter Zustand

5 runde Punktpunzen

2–2,5 mm(P1) ~1,3 (P2) ~0,75–1 (P3) 0,2–0,5 (P4) <0,2 (P5)

Barfüßerretabel, Mittlerer und geöffneter Zustand

Gezahnte Kreispunzen 19 Punkte, 5 Punkte

5 mm 3 mm

Barfüßerretabel, Predella

3 runde Punktpunzen

2,5 (P1) 1 (P3) 0,2–0,5 (P4)

Körnung P4 ca. 11/cm

Tab. 5 Vorkommen von Punzen an drei norddeutschen Retabeln um 1420 im Vergleich

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ten der Außenflügel und beidseitig auf die Innenflügel injeweils einer Hälfte, eben dort, wo die Flügel wie oben be-schrieben wohl durch klimatische Einflüsse am meistenin Mitleidenschaft genommen sind. Die Rahmenfassungwar sicher zu ca. 60% gelockert.

Aus maltechnischen Gründen sind die mit dunkelro-tem Farblack dick aufgetragenen Farbpartien, mit denenvor allem Konturen und Schatten verstärkt wurden, vonfeinteiligen Ausbrüchen und Verlusten besonders be-troffen (Abb. 12).

Alterungsschäden und Korrosion

Korrodierende Metallauflagen wie Silber und Zwisch-gold sind häufig stark verändert und schlecht erhalten,weil der Schutzüberzug durch Alterung bricht oder beiReinigungsmaßnahmen angegriffen wird und schädlicheUmwelteinflüsse die Umwandlung in schwarzes Silber-sulfid verursachen. Umso erstaunlicher ist, in welchgutem Erhaltungszustand sich einige Silberpartien (S.356, Abb. 38a–c) und vor allem Brokate auf dem Barfü-ßerretabel noch erhalten haben (S. 359, Abb. 41). Bei der

oben beschriebenen halbseitigen starken Schädigung derInnenflügel sind auch die mit Metallauflagen bedecktenPartien stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Diehier notwendig gewordenen früheren restauratorischenBearbeitungen haben ihr Übriges dazu beigetragen. Be-reibungen der Überzüge und der besonders empfindli-chen Metallauflagen waren die Folge.

Betrachten wir z.B. die Verkündigungsszene auf demlinken Innenflügel unten rechts (Abb. 9), so verbergensich hinter den heute sehr ähnlich bräunlich wirkendenBrokatimitationen des Engel- und des Mariengewandessowie des Ehrentuches hinter Maria mehrere Korrosi-onsphänomene, die zu erheblichen Farbverschiebungenund einem Verlust an Kontrast geführt haben: Währenddas Ehrentuch silbern unterlegt und mit einem goldenenoder evtl. grünen Lack mit grünen Mustern versehenwar, wird sich der Brokat der Maria auf Zwischgold mit

wohl gelblichem Lack und rotem Muster ursprünglichmöglicherweise im Komplementärkontrast abgesetzthaben. Heute sind die Metallauflagen durch Verschwär-zung, die Lacke durch Verbräunung aneinander ange-glichen und das Zinnoberrot ist im Bereich des Ober-körpers der Maria inzwischen ins Blaugraue umgewan-delt (Abb. 11b).21 Die Silberauflage im Bereich des Bro-katgewandes des Verkündigungsengels wirkt im mikro-skopischen Bild wie völlig verschwunden unter dem ver-mutlich verbräunten Lack (Abb. 11a). Ursprünglich wirddas Gewand kühl silbrig gewirkt und in bestimmtemLicht hell reflektiert haben im Gegensatz zu den aufge-malten weißen, aber dann matt und etwas dunkler wir-kenden Mustern. Diese Farbumkehrung tritt heute nochkontrastreicher in den Gewändern des Joachim in derVerkündigung an Joachim (BF 9), im Mariengewand derGeburt Christi (BF 23, S. 357, Abb. 39a), im Kleid der

Maria der Krönung (BF 27) auf, nämlich mit weißemMuster auf Schwarz (verschwärztem Silber), das ur-sprünglich herausschillerte. Im Gewand Joachims derGoldenen Pforte (BF 10), heute Blau auf verschwärzterMetallauflage, ist die ursprüngliche Farbwirkung eben-falls schwer ablesbar (S. 389, Abb. 15). Die Umwandlungder Zwischgoldauflage in einem senkrechten Streifen so-wohl im Ehrentuch der Geburt Christi wie darüber amGewandumschlag des knienden Königs zeigen uns, wel-che Verschiebung des Tonwertes die Korrosion ausmacht(Abb. 13). Daneben muss man von einer Verbräunungder grünen Lacke auf den Metallauflagen ausgehen. Esist deshalb schwer, das Farbkonzept heute objektiv zu be-werten.

Die Alterung des Schutzüberzugs und die Korrosionder Metallauflagen hat hier allerdings in weit geringeremMaße als von anderen Werken bekannt zu feinteiligen

483Babette Hartwieg, Sonja Friedmann, Karin Leopold482

Die Schäden und ihre Kartierung

PP

P

P

P

P

P

P

PP

Abb. 9Linker Innenflügel innen, Verkündigung (BF14), Vorzustand mitaufgeklebten Papieren zur Sicherung von Malschichtschäden

Abb. 10b, cBildfeld wie Abb. 9, Kartierung von b) Fehlstellen und Verputzungen, c) Retuschen und Goldergänzungen

Abb. 10aBildfeld wie Abb. 9, Kartierung der Lockerungen und Kittungen

Retusche

Ergänzung mit Metallpulver

Ergänzungen mit Blattmetall

Fehlstelle bis aufs Holz

Verputzungen

Kratzer, Stoß

Fehlstelle in Farbschichten

Fehlstelle bis Grundierung

Fehlstelle bis auf Leinwand

gelockerte Kittungen

Kittungen

Ablösung der Leinwandvom Holz

gefährdete Bereiche mit Tendenz zur Schlüssel -bildung

Abhebungen in Grundier- und Farbschichten