02 - Dammann - Zur Geschichte Des Ethnographischen Blicks

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  • 5/16/2018 02 - Dammann - Zur Geschichte Des Ethnographischen Blicks

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    Campus ForschungBand671

    I IRudiger Da.mm.a.rm,Dr. phil., Dipl.-Soziologe, studierteSoziologle, Ethnologle, Psychologte und Volkswirtscha.ft.slebreund arbeitetjetzt a.ls Ver~lektor inHamburg. f!Ir;

    Rudiger DammannDie dialogische Praxis derFeldforschungDer etbnographisohe Bliok alsParadigmaderErkenn~ge~ung

    Campus VerlagFra.nkfurt/New York

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    InhaltEinleitrurg ........................Propl ideut i . scher E x I a . u s i iber den Kann iba l i rmus 21L Zur wissenschaftstbeoretischen und forschungspraktischenSituation inSoziologie und EthDologie 291.1. SOziologie..........................................................................................31.1.1. Verstehen a ls u nh in te rg eh ba re B ed in gu ng

    empirischer Sozialforschung? 391.2. Ethnologie 431.2.1. Vertiefender Exkurs

    zur Freeman-Mead-Kontroverse 462. Empirle: der ethDologische Erfahnmgsbegriff

    und die Praxis der Fe1dforschUDg 612.1. Zur G es ch ic hte d es e th no gra ph is ch en B lic ks 642.1.1. D ie Z eita lte r d er m aritim en E ntd ec ku ng en 702.1.2. D er G eist der Aufkl8.rung

    u nd d ie V e rw is se ns ch af tl ic hu ng d es R ei se ns 76Von de r Ent de cl ru ngs re is e zurForschungsexpedition 902.1.4. Ethnologie a ls Wissenschaft 972.2. Zum Feldforschungsprogramm

    Bron is law Ma li nowski s 107T ei ln ahm e u nd B eo ba ch tu ng 120Ein Tagebuch im s trik te n S in ne d es W o rte s 126Feldforschung a ls Dialog 132

    Von de r Fo rs chung spr ax is

    2.1.3.

    Die Deutsche Blbliothek - CIP-Einheltsaufna.bmeDammann. Rudiger:Die dialoglsche Pra.xis der Feldforsohung : der ethnographisoheBliok ala Paradigm a der Erkenntn1sgewmnung / RudigerDa.mm.ann. - Fra .nkfurt/Maln ;New York: Campus Verlag, 1991(Campus: Forsohung ;Bd. 671)ISBN 3-693-34668-4NE: Campus / Forschung

    2.2.1.2.2.2.2.2.3.2.3.

    zu r Logik der Forschung ...............................................443. Methodologie: Gnmdlagentbeoretische WurzelnethDographischer Fe1dforschDDg 151

    Das Werk einschl1eillioh aller seiner T eU e 1 St urheberrechtlich geschutzt.Jede Verwertung 1stohne Zustimmung des Verlags unzulissig. Des giltinsbesondere filr VervielfilJ.tJgungen, Ubersetzungen, M1krovel'fi1mungenund die Einspeioherung und Verarbeltung in elektronisohen Systemen.Copyright 1991 Campus Verlag GmbH, Fra.nkfurt/Ma.tUmscblaggesta.ltung: Atelier W8.I'IIl1nskl, Bud!ngenDruck und Bindung: Druok Partner Rubelmann, Hemsba.chPrinted in Germany

    3.1.

    3.1.1.3.2.3.3.

    Zum e rk en nt ni sth eo re ti sc he n u ndw is se ns ch af ts hi st or is ch en H in te rg ru nd d erfunktionalen Methode Bronislaw Malinowskis : 153

    Malinowski a ls SchUle r de s Empir i okr it iz i smus 158Zum Positivismus Ernst Machs 165Heuristik statt Positivismus: Das Erbe Machs 176

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    3.3.1. Malinowski versus Mach-da s MiBverstiindnis des Anti-Historismus ......................79

    3.3.2. Malinowski mit Mach -Erkenntnis aI s Anpassung 1843.4. Heuristik und/oder Hermeneutik? 1894. Gegenstand und Methode: Zum.Verstehensbepiff ..........95 Fur Susanne ...4.1. Zur Vorgescbichte eines4.2.4.3.

    .4.4.4.5.4.5.1.

    wissenschaftlichen Verstehensbegriffs ......200Die herm.eneutische Wende: .210Hermeneutik und Heuristik bei Schleiermacher ...............13Die Grundlegung der Geisteswissenschaften. .225Phanomenologie statt Hermeneutik? .237

    Ungelebte Erfahrung -Die uneingeschrinkte Macht des Selbst ....................249Weder Phinomenologie noc:hHermeneutik? .......258 ..5.2.S. Tastende KouzeptiOD einer

    interdisziplinlren Methociologie .2635.1. Von der Philosophie zur Methodologie ...............................2675.2. Theorie und Empirie: Integration statt Konkurrenz ................755.3. Theorie aus Praxis - Wissenschaft als Heuristik 2805.3.1. Gegenstand und Methode -

    Mach mit Schleiermacher .2895.3.2. Abbilden, Verstehen, Entdecken -

    Wider die falsche Polarisierung vonForschungsaitemativen ......................................99

    Epilog .3()6Verzeichnis d er Mot t i .311Literatu rverze ichrlis .....3 12

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    2.1. Zur Geschichte des etbnographischen Blickss

    .i,~:.Goethes sowohl tingstliebes a1s aueb hoffendes Diktum, wonacb ein Rei-sender nicht a1s derjenige zuriickk.ehrt, al s der er einst fortgegangen ist,entspricht der aueh heute noch geltenden Uberzeugung. da B Reisen bil-det. DaB dies jedoeh seit jeher eher Programm ist, denn den Charaktereiner Notwendigkeit hat, daB dies ebenso miBIingen wie gelingen kann,lehrt uns ein Blick in die Geschiehte des Reisens, der zugleicb ein Blickindie Geschiehte des anthropologiscben Wissenschaftskomplexes ist, ebensowie es uns die eigenen Urlaubs- oder Studienreisen immer wieder vorAugen fiihren. Allein, um andere Menscben, fremde Landscbaften, femeUnder in ihrer Eigentiimlichkeit iiberhaupt wahrzunehmen und das heiSt,run ErfaJuungen im eigentlicben Sinne zu machen und nieht bloBe Bin-driicke zu sammeln, deren Resultat kaum mehr ist al s die statistiscbeErkenntnis der Vielfalt des Faktischen, bedarf es einer Reihe von Voraus~setzungen und nieht unerhebliehen - durchaus aueh schmershatten nndangsterzeugenden - Anstrengungen.Erfahrung im urspriingliehen Sinne von Durehwanderung nimlieh ist,wie beispielsweise Hegel betont hat, ein ProzeJ.l, der sich vom einfachenHinblicken, von einer bIoS passiven, induktiven Datena.nfnabme, von derAufmerksamkeit auf da s Gegenwirtige als solehes (HEGEL 1970,S.16), grundlegend unterscheidet.6 Erfahrungen lassen sich demnach nieht5 Da s Zur U n Tl te l h a t programmatiscben Charakter. Es ist bier keine voUstiJldigeun d chrouologisch cinwBndlreic WISSCDSChaftsgeacl l icb t .ebeabsichtigt, s on de m e inercigmsgcschic:chcr AbriB, cine Art wisseussoziologWcb intcrcssicr tc Pro-blemskine de r historischen Kno teDpUDkt c - mit B li c: k au f d ie aktucllen methodi-&chen KoDtrovcr&eJl. Da B cine solcbc Dars te1luDgswisc sowohl cine s tarke Vercin-f a c : h U D g a1 s auch cine Auswahl nOt ig macbt , di e dcm inde r Gesc:bic::htssc er-reicbten Forsc:hungsstaDd woh l bum gerccbt werden buD, e rg ib t s ic h vo n s c l b s t .Da d a & m t C l ' C S S C j c doch ke in primir hi stori sches . . S O D d c m s ic h au f di e Schwicrig-keitcn hcutigcr Empiric ricb1et, soUtc s ich die inKauf genommcne LiictcnbaCtigkc

    . a 1 s mcthodischcr Vorzug crweiseD.Einc solchc b loB regi st ri cr eDde , s chc inb a r ob jck ti v ic reDdc Aufmcrksamke it eat-spricht indesscn clem hcute, wi e schon zu Zeiten HegeIa weithin dominicrendcnEm~vc rs tiDdu is . H e gc Js b cw u8t se hl sp hi lo sp bi sc hc r ADsa t z steht damit inOp -p o & U i o n m d e m t I a d it io n e U e n e m p i r i s t js c he n Er fahnmgsbegr i f de r stets das u n -mitteJbar, sp r ich : U I l W I D I i tt e 1 t Gegcbenc a1 s G r uDd d at um s e in er Tatsachcnfor-&chuog dc6nicrtc. H cg cJ s zu m TciI p o J c m i & c : h c Kritik a n c iD er c l e m . GegeDStand

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    s a m m e J n ; man kann sie - wortwortlieh - nur machen, indem man in einerpermanenten Bewegung Fragen formuliert, umAntworten hervorzuru/en,die ibrerseits zu neuen Fragen AnIaB geben. Damit ist < l a s sinnlicheGewabrwerden eine zwa r notwendige, keineswegs aber eine hinreiehendeBedingung von Erfahrung. die vielmehr zuallererst ein Akt des BewuBt-seins ist und also der Reflexion bedarf, das heiSt eines di o l og i sc he n Pro-zesses der aJctiven Aneignung und Auseinandersetzung.

    Der lange, kontemplative Blick (.) , dem Menschen und Dinge erstsieh entfalten, ist immer der, in dem der Orang zum Objekt gebrochen,reflektiert isl Gewaltlose Betraehtung, von der alles Gluck der Wahr-heit kommt, ist gebunden daran, daB der Betrachtende nieht dasObjekt sich einverleibt: Nabe an Distaoz. (ADORNO 1982, S.111f)Erst mittels Reflexion gerinnt die sinnliehe Wahmebmung zur Erfahrung,die nun freilich dazu fiibren kann, da B < l a s BewuStsein sein Wissen andernmuS, UID. es dem Gegenstande gemiiS zu machec (HEGEL 1970, S.78).Im Zuge dieser Verinderung aber andert sich in der Tat auch derGegenstand selbst (.. .) oder der MaBstab der Priifung andert sich, wenndasjenige, dessen MaBs tab er sein soIlte, in der Priifung nieht besteht; unddie Priifung ist nieht nur eine Priifung des Wissens, sondem aueh desMaSstabes (ebd.). NUl eine solche 4tIJialekdscheBewegung schlieSlich,welehe das BewuStsein an ibm selbst, sowohl an seinem Wissen als anseinem Gegenstande ausiibt, wo/em ihm d el' ne ue w a h r e Gegen.s tanddaraus enJspringt, ist eigentlich dasjenige, w as Erfahrung genannt wird(HEGEL ebd.), Erst in dieser, a1s EntiuSerung, als ein Sich-aufs-Spiel-Setzen potentiell riskanten Bewegung, kann ein unvertrauter Gegenstand,kann das Fremde in seiner EigentUmlicbkeit erkannt und damit zwar nichtan s i c h, aber fU r UlIS etwas anderes, ein Angeeignetes, Bekanntes werden.Die hierzu notwendigen Fihigkeiten aber, beispielsweise die Fihigkeit,mit Bcwu.8tsein zu reisen und da s Wahrgenommene und/oderGesammelte auch inteIlektueIl zu verarbeiten, sowie die Bereitsehaft, daseigene (Vor-)Wissen dabei grundsitzlieh zur Disposition zu stellen, habensieh historisch erst relativ spit entwickelt.W"lSSensehaftsgeschlchtlicheEinfiihrungen in die Ethnologie beginnenzumeist mit den friihesten Dokumenten einer Erweiterung des ethnogra-phischen Weltbildes (MOln.MANN 1984, S.25) und datieren den

    iu8cr lichen, ~ unci zudcm gruncIDaMa. objektivitit is t dabe i Da ch w ieVOl durcb aus ak tue II . Dean imG e s e n a a t z zum vorhc rr :s chenden Thcor ic -Emp ir ie -VcrstiDdDis mit sciDct entapm:hcnden Subjekt.Qbjckt-polaritit, nach dcm de r Er-f ah rung c in e b loB Obcrpri ifende, b c s t i t i g e n ; m C : : h y po th cs cn te st en d c) R ol le z u-kommt, bctoDt Hegel derca thN icbildt:nd e

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    Beginn der Wissenschaft bis in s 5. vorchristliehe lahrhundert zwiick.D~eh war es Herodo t von H a I i k a r n a s s (ca. 480 -430 v.Chr.), der durehseine Beschr~ibungen der Briuche und Gewohnheiten von Persern,Skythen und Agyptem ein literarisehes Genre begriindete, das bis heuteniehts v~n seiner ~aszinationskraft verloren hat: die literariseh-journalisti-sehe RelSebeschrelbung. Gilt Herodot deshalb z wa r nicht zu Unrecht als

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    daB sie schon von ihren Zeitgenossen mit einem . _'gJliigten Augenzwin-kern aufgenommen wurden (BORNER 1984, S.61), ja sogar, daB dieReisen Mandevilles uberwiegend wohl in dessen Phantasie statt imRaume stattfanden, spielt in unserem Zusammenhang nieht nur keineRolle, sondem ist aus Griinden der Anschaulichkei t sogar recht zutragl ich.InMandeville wie in Marco Polo ar tikuliert sich nicht zuletzt der Geist

    ihrer Epoche, der ohne Zweifel auch die geographiscb, ethnologisch , zoo-logisch oder botanisch bedeutenderen Schrif ten ihrer Forscherkol legenbeseelt hatte . Die plo tz lich zunehmende Wel tkenntnis, d ie geographischeErwei terung der Horizonte, die das mittelalterliche Europa ebenso aufri it -teIte wie die gleichzeit ige Wiederbelebung des antiken Gedankengutesll,konfront ierte den Beobachter mit e iner Fiil le neuartiger und unerwarte terEindrUcke, deren Fremdartigkeit ibn stets zu iiber-wiltigten drohte. Sotreten Gesehenes und Gehortes, .Reales und Fiktives, Dichtung undWahrheit wie selbstverstindlich nebeneinanden Alles ist ibm gleichfremd, so auch gleichwertig, geht also ungepriift und ohne jede Absiehtder Gliederung, ohne Versuch einer Einordnung oder Bewertung(WUTIIENOW 1985, S.267) in die wahrhaftigen Beschreibungen ein.Dies ist, trotz gradueller Unterschiede, in der Tat eines der Hauptmerk-male der alteren Reiseberichte. Der nach modemem Verstiindnis refle-xionslose, kritiklose und unsynthetische Blick vermag nur staunend- zurKenntnis zu nehmen und das auf diese Weise fassungslos Er faBte initeiner Tendenz zu vennitteln, die dessen Fremdartigkeit gleichsam dena-turier t, indem sie das am Fremden Yom Vertrauten der eigenkulturellenErfahrungswelt Abweichende mit dem aus der eigenkulturellen Traditionvert rau ten Fremden gleichsetzt (KOHL 1987, S.80).

    Eine zur Uberheblichkeit neigende At ti tUde der Uberlegenhei t is t derhistor ischen Riickschau hier allerdings denkbar unangemessen. Denn sosehr die gerade beschriebene Haltung und deren entsprechende Optikdem heutigen Wissenschaf tsverstiindnis zuwider 1iuft, so wenig darf dasdarin aufscheinende Grundproblem jeder interkulturellen Wahrnebmungdeshalb schon als uberwunden gel ten. Insofem sich dieses Grundproblem,wenn auch in einer geradezu satirisch iiberspitzten Variante, am Beispielder frUhen Reisenden eindruclcsvol l veranschaulichen liBt , enthi il lt sichauch der Sinn unseres Ri ickbl icks, der zum Ausbl ick werden-soll ,

    11 B e id es k cmIZc ic lm c nd f ii r d ie Zeit de r RCi lDa i ssw : c a 1 s e iDe r Phase d e c geistigcnWtede rgebur t d es MCDSChcD ,da s hei.8t e i D e r allmihlicben VcrabsclUeduug des bisdahin theozeDtr isc:hcn zugunstcn cines nun anthropozcDtris Weltbildcs.

    1,

    Bevor ich diesen Riickblick nun fortsetze, der also alles andere als einantiquarisches Interesse verfolgt, sondem mittels historischer Rekonstruk-t ion der Vergegenwartigung noch heute virulenter Problemlagen und rele-vanter Frageste llungen dient, war es deshalb wicht ig , jenes Grundproblemzumindest anniherungsweise zu skizzieren , dessen man sich. freilich zuZeiten Herodots, Polos oder Mandevilles noch nicht bewuBt war, niehtbewuBt sein konnte: Jede Erfahrung des Neuen, Anderen, Fremden U W tsich nur in den kulturell iiberlieferten und sozial gepragten Bildem undDenkweisen artikulieren. Die menschliche Wahrnebmung - wie allesHandeln iiberhaupt - ist mithin durch solche BUder, ist durch die Vor-,Mit- und Folgeweit determiniert. Das heiSt, der Mensch konst i tu iert seineWelt und verleiht ihr einen Sinn, den sie als solche durchaus nicht hat.Es entsteht gleichsam eine andere Welt neben der eigentlichen, einescheinbare Welt, die - in Anlehnung an Nietzsche - in Wahrheit jedochdie einzige ist: die wahre Welt ist nur hinz ugelogen (NIE1ZSCHE 1973,Bd.ll. S.958).12

    Dies entspricht imKern der heut igen Grunderkenntn is , daB ein voraus-setzungsloses W8hrnehmen, ein die Faktizitit bloB reproduzierendesBeobachten unmoglich ist. Die menschliche Wahmehmung ist sowenigwie die Erfahru.ng reproduktiv, sondem produktiv, indem sie den auBerenReizen immer eine Bedeutung zuschreibt , d ie diese als hyle tische Daten(HusserI) nicht haben. Dadurch werden aus der real gegebenen Umweltsymbolische Wirklichkeiten. Und eben darin unterscheiden sich die friihe-sten und frUhen Reisenden ebenso wenig von den modemen Touristen wievon den imFeld titigen Ethnologen.

    Gelenkt wird das etbnographische Auge von individuel len Erfahrun-gen und Wunschvorste llungen ebenso wie von den einem historischenWandel unterworfenen kollek tiven Erfahrungsst rukturen und Konflik-ten der eigenen Gesell schaft. (KOHL 1987, S.4)

    Der einzige Unterschied besteht zunachst und allein in der Tatsache, da Bdie friihen Entdecker dem Fremden wesentlich unvorbereiteter gegen-iiberstanden als jeder Reisende nach ibnen, daB sie, um es modem zuformulieren, noch nber keinerlei angemessene symbolische Reprasentan-zen verfiigten, um das Unvertraute erfassen und es dann auch noch12 Die EiDsic:ht abcr, daB d ie ( soz i al e ) WJI 'k I ic : bkc it nu r b csch ri eben werden kann, wi esic DDS e r sc : hc iut , w i e s i e crfahrcn wi r d , bcdcutct zugleich, a uf d ie B eh au ptu Dg z uverzic:htcn, a ng eb en z u kfumeD, w ie s ic dcnn nun wi rk l i ch beschaffcn ist. Ja, es 1i.6takh nicht cinmal mebr eiDsichtig m ac he n, w ie m an U bc rh au pt v on d ie se r D if fe re DZwisscn kaDn.

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    sprachlieh vermitteln zu konnen, Sowaren sie ihren Wabrnehmungen wieden selbst miirchenhaftesten Informationen weitgehend staunend ausgelie-fert und konnten in ihren Beschreibungen nieht selten bloBdieses Staunenartikulieren. Gerade in Anbetracbt solcher im Vergleich zu heute eherrudimentiren Voraussetzungen allerdings konnen ihre Pionierleistungengar nicht hoch genug eingeschitzt werden. Unter Beriicksichtigung desdamals vorhandenen Wissens haben sie Hervorragendes geleistet. Denn:ohne Vorwissen keine Erkenntnis (=Theone), keine Erkenntnis aber auchohne die Fahlgkeit, dieses Vorwissen gegebenenfalls zu suspendieren( =Reflexion).

    Das nun anhand der friihen Reiseberichte zumindest identifizierte _und vor allem methodologisch iuBerst bedeutsam.e - Problem einer histo-risch, kuIturell und gesellschaftIich immer schon vermittelten sowie sub-jektiv und motivational eingefirbten Fremd-Erfahrung. auf das wir aueh inder Folge in je spezifischer Form immer wieder stoBen werden, und vondem - vielleicht am sinnfiilligsten - die vielzitierte Alltagsweisheit kundtut,wonach jeder Reisende sich seIber mitnimmt, gilt es imAuge zu behalten,wenn wir nun mit der Problemskizze fortfahren.2.LI. DieZeitalter der maritimen EntdedamgenMit dem Beg inn der Neuzeit, den die Geschiehtsschreibung haufig auf da sJahr 1492 datiert - dem Jahr der wohl beriihmtesten Entdeckungsreisealso -, nimmt die Weltkenntnis der Buropier in einem unerMrten Aus -maBe zu . Nachdem die wiihrend des 13.1ahrhunderts aufgenommenenHandelsbeziebungen zwischen Europa und den lAndem des Ostens gegenBnde des 14. Jahrbunderts aufgrund geo - und machtpolitischer Veriinde-rungen13 wieder abbrachen und der Landweg nun bis auf weiteres ver-schlossen blieb, setzte eine ebenso entschiedene wie folgenschwere Suchenach Alternativrouten ein. Weder wollten die hemehenden Schichten aufdie gerade liebgewonnenen Luxusgiiter des Orients, auf Gewiirze, EdeI-steine und Geschmeide verzichten, noch aber von arabischen Zwischen-hiindlem abhiingig werden, die den Ostliehen Seeweg nutzbringend kon-trollierten und enorme Preisaufscliliige verlangten. Indieser Zwa.nplageklammerten sie sich deshalb an die nach einzig verbliebene M6glichkeit,13 Ein!,"eits schlo8 sich C hin a - oach de c M a c b t t i b e m a h m e de c MiDg-DyDastic _ her-m~ g eg cn ~ n Westen ab , andcrcrseits g e I a n g es d c m . osmanjscben Reic:b , se i-BCDEiDfluBberClch a~dchncn unci den 0stIumdcl rig or os a n s ic h z u rc iBcn (gI.B lT I'E .R .U 1 97 6 u nd BORNER 1 98 4) .

    nimlieh den Weg nach Osten in westlicher Riehtung zu suchen, daraufboffend, da B die nocb recht vagen Vorstellungen fiber die Kugelgestalt derBrde sieh bewahrheiten wiirden.

    Der nun folgende, beispiellose Aufsehwung einer maritimen ~tdecker-tltigkeit stand, wie ma n wei8, zunichst ganz im Zeichen Spamens undPortugais. Angefangen bei Heinrich, der, obzwar Dieselbst zur See gefah-ren, der Seefahrer genannt wird, fiber Kolumbus, Vasco da Gama14 undMagellanlS bis bin zu Cortez und Picarro, dienten simtIiche Reis~~ alsoZlJnichst einem handfesten materiellen Interesse und unterlagen okono-mischen Zwangen, die nieht nur den Blick der Reisenden p~rspektivisc~einfirbten, sondem ihr Handeln auf die be.kannt fatale WeISe detem:n-nierten.16 Zentraler Gegenstand der iiberseeischen Kulturbe~egnun~ 1Stnicht der Handelspartner, sondem die Ware, die er zu venmtteln hiIft(BITrBRU 1976, S . 310 ) bzw. die Ware, die jener fremde Han?els-partner selber darstellt. So ist da s Fremdkulturelle iiberhaupt nur mso-fern von Interesse aI s seine Kenntnis fU r den profitablen Ablauf der Ge-schiftsbezi.ehunge~ von Nutzen ist (BlTTERl.I, ebd.). Man nimmt niehtnu r nicht wahr, wa s ma n sieht, sondem sieht fiberhaupt nur, was mansueht.

    Besonders deutlieh wird dieser Verwertungsaspekt - worauf insbeson-dere Joachim Moebus (1982) hingewiesen bat - bereits bei Christo~hKolumbus, der bei alIer verldArenden Faszination fiber den ibm paradie-siseh anmutenden Naturzustand immer aueh dazu tendierte, auf die pro-fittrlchtige Verwertbarkeit der Indios hinzuweisen, ja, ~e aus ~angelan anderen SchitzeD sogar aI s einzige QueUe der Reichtumsbildungaozupreisen:

    Wenn Eure Hoheiten die Anordnung beschlieBen wiirden, so konntema n sie alle simtlieh nach Kastillien fortbringen oder sie auf ihrereigenen Insel in der Sklaverei balten, denn fiinfzig Mann reichen aus,um sie inRespekt zu halten und sie zu zwingen, alles zu maehen, wasman wi ll .( . ..} Sie besitzen ke~e ~affen und sie geheD;ganz ~~. Sieverfiigen iiber keine KenntDiSSem der Kunst des Krieges, m diesem

    14 Vasco daG am a b Ji eb c s v o r b c h a J l e D . 1498 tat&ichlich das o st as ia ti sc h e F es t1 a nd z uc n e i c : b o D . unci d ami t d en O&thandc l PortugaJs wiedcnubeleben.15 nc r c l ur ch s e ine erste WoJtumscsluug den crstcn und b es te n B cw ei s fU r di e Kugel-g c a t a J t de c &de erbracbte.16 Fatal nadr I i ch fUr c l i o BCVr'Ohncr dcr IICIl eutdcckt.en Landstriche, d ie w en An-achlu8 a n d en emo pi is cb ca K ul tu rr aum, ibn cHandclspartncrsc:h scbr s c : 1 m e l l1 I I l d iu8erst zabJreic:h mi t clem Leben bczahJen soIlten.

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    Punkt sind sie Feiglinge. so d a B ihrer tausend es Dicht riskieren wO r -den, drei von den unsrigen auf stehendem FuSe z u e rw a r te n, Manersieht daraus , daB sie geeignet sind, daB man sie kommandiert undarbeiten laBt.., wobei si e dariiberhinaus bervorragende Hand lan-ger abgeben wurden, da sie einen aufgeweckten Geist haben undbestens gebaut sind (KOLUMBUS, zitiert nacb MOEBUS 1982,S.49f)DaB eine solche Attittlde, die den ethnographiscben Blick tiber zwei Jahr-hunderte priigen sollte, einen Dialog bereits im Ansatz verhindert, beda r fkeiner weiteren Erliutenmg. Die militArisch-technische Uberlegenheitrechtfertigte die Inbesitznahme der exotischen VerfUgllngsmaSlje,und dasnoch ungebrochene moralisch-ethiscbe Superioritatsgefiihl legitimierteden europaischen Filhrungsanspruch, mitsamt dem entsprechenden erzie-herisch-missionariscben Impetus. Damit offenbart sicb bereits bei Kolum-bus die grundlegende Ambivalenz jener doppelten Er f ahrung (Abwehrund Verlangen), die unser Verhiltnis zum Fremden bis heute prigt (sieheoben, Exkurs tiber den Kannibalismus). Einerseits Urheber de s BUdesvom Guten Wilden, das die abartigen Monstren der mittelalterlichenChroniken durch friedfertige, sanftmutige und wehrlose Men-schen(kinder) ersetzt, leitet Kolumbus doch andererseits die grausameEpocbe der Konquista ein (siehe bierzu vor allem MOEBUS 1973sowieKOHL 1981.insb. S .8 -1 6 ). '

    Und dennocb laBt sich bier im Bereich der interlrulturellen Wahmeh-mung durchaus von einem Fortschritt17 sprechen, insofem die akonomischund machtpolitisch motivierte Versachlicbung des Fremden zu seiner Ent-zauberung beitriigt und eine zunehmend kiihle Inaugenscheinnabme ver-langt, Was verwertet werden son, gehOrtprazise gepriift, gezahlt und ver-messen, Die daraufhin immer umfassenderen empirischen Daten undKenntnisse aber, sowie die praktischen Probleme und Konsequenzen decrasch vorangetriebenen Kolonisation stellten nun auch die im 16. Jahr-hundert ausschlie8lich theologischen Anthropologen vor eine vallig neueund problematische Aufgabe.18 Denn gerade die imGefolge der erobern-den Goldsucher reisenden Missiooare. denen wir vielfach die erstendezidiert etbnographischen Darstellungen verdanken (vgl. GREVERUS17 Hier ist froilich von e in om F o rt sc h ri tt im wisseDscbaft l ic nicbt im mora1ischenSinne di e R cd e ( vg l. B I1 TE Rl J 1 97 6, 5 . 31 0) .

    S in nf jl li gs te r A u sd ru ck u nc i b er ed te s Z eu gn is h ie rv on ist de r im 16. Jahrhundertvom $ p 8 D i & c : h c n Klerua le idenscbaft l ich gefiihr te D is pu t, ..ob di e der cbristJichenOffenb l lrUDg Picht tei1baft igen IDdianer denn clem Tier- oder clem Mcnschenreichzuzureclmen s e i e m o (KOHL 1981, S.13).

    18

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    1978. S.15). lieferten ebenso divergente Beschreibungen wie konkurrenteInterpretationen - Interpretationen, die al s konservative oder kritischeEthnologie modellhaft verdicbtet und theoretisch untermauert, die diszi-plinire Diskussion bis in die jiingste Vergangenheit prigten.

    So lassen sich bereits im 16. Jahrhundert mehrere Formen einer mitwissenschaftlichem Anspruch betriebenen Ethnologie identifizieren. Wih-rend etwa der Spanier Fem6nd e z de Ovi edo (1478-1557). treuer Dienerund Chronist des KOnigs, seine Daten so anordnete, daB die spanischeHemchaft uber die Indianer legitimiert wurde19 (ERDHEIM 1982,S57). indem er fast ausschlieBlich jene Kulturmomente uberzeichnendhervorhob - Wollust, Kannibalismns, GOtzendienerei, Faulheit, Sehwieheetc. -. die es imNamen der Menscblichkeit und unter spanischer Oberauf-sieht abzuschaffen galt, steht sein leidenschaftlicher Antipode B a r t o l o m ede Las Casas (1475-1566) fU r eine idealisierende Tendenz (ERDHEIM1982, S.59), die den fremden Kulturen ga r eine Vorbildfunktion zumaB.Las Casas, der a ls schirfster Ankliger gegen die von den Spaniem prakti-zierte Form der Kolonisation20 und a ls Verteidiger der Indianer bekanntgeworden ist, leugnete zwa r keineswegs da s Vorhandensein der vonOviedo beschriebenen Kulturmomente. versah sie jedoch mit einer ganz-lich anderen Interpretation. Wihrend Oviedo beispielsweise den natur-verbundenen MiiBiggang der Eingeborenen a ls tugendlose FaulheitgeiBelte, die es ihnen erlaubte, ihren Vielen anderen Schmutzereiennacbzugehen (OVIEDO 1557, zitiert nach BRDHElM 1982, 8.58), deu-tete La s Casas dieselbe Beobacbtung folgendenna8en:

    .und sie erreichten mit nur wenig Arbeit all die notwendigen Guterin groBem OberfluS. Die viele Zeit, die ihnen ubrig blieb, wenn ihreBedilrfnisse befriedigt waren (da sie we Seelen nicht dem Teufel ver-schrieben, um Reichtiimer anzuhiufen oder Lindereien zu ver-gro.Bem). verbracbten sie mit anstandigen Spielen (...) und Tanzen undGesingen, in welchen sie alle ihre Geschichten (.) rezitierten, (lASCASAS 1542.zitiert nach ERDHEIM 1982,8.60)Hier wird deutlich, wie formbar, nimlich je nach MaBgabe eines vonauBen angelegten Brkenntnisrasters, dem das Selbstverstindnis derMerkmalstriger gleichgilltig bleiben muS, die reinen Beobachtungsda-19 Dies wa r die e io d eu ti g am weitesten verbreitete T e ll de n z UD te r den MissioDaren,Cbronistc I l und Beric:hterstat tem der Kouquista.

    Siebe den DOth heute 1esenswerten un d seit 40 0 Jahren ebenso erfolgreichen wieUIIlItrittenen ~en Bericht von de r VerwUstung de r Westindischen Un-der, F r a D k f u r t fM . 1981 (Original 1542) .20

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    ten sind. So erseheinen Tranen dem einen als Trauer, dem anderen alsFreude, und die Tdtung eines Mensehen als grausamer Mord, als ErlOsungoder al s gerechte Strafe - wie es gerade genehm ist. Wer sein Beobach-tungsobjekt nur als Stimulans benutzt und die Realitit als offenes Buehmilldeutet, wer seine Wahrnebmung von einer Person oder Lebensformnicht aueh an deren Selbstbild kontrolliert, dem bleibt eine Fremd-Erfah-rung verwehrt. So verteilt aueh Las Casas - wenn aueh sympathisehere _letztlieh nur strategische, die eigene Uberzeugung bestitigende Zuschrei-bungen. Ebenso wie mit der von Oviedo diagnostizierten Faulheit ver-fuhr er mit allen anderen, stets am europ8.ischen MaBstab ausgeriehtetenVo~rfen, indem er ihnen den btosen UmkehrsehluB entgegenhielt,da rn i t aber ebenso zwangslaufig wie sein Widersacher in den Bereich derFiktion geriet und die indianisehen Kulturen mit Ziigen auszustattengezwungen war, die sieh am politisch-weltansehaulichen Ziel seinerBeweisfuhrung, nicht aber an der Realitat orientierten. Soist das methodi-~che y orgehen Oviedos' und La s Casas' durchaus vergleichbar, wenn DiehtIdentlsc~; d.er ~~~ers~hied besteht lediglich in der die Wahmebmungs-und Prolekttonstaugjceu steuemden Forsehungsoptik, welcher - gegeniiberdem Forschungsgegenstand - absolute Prioritat eingeraumt wird.Auch d~es ~at selbstverstandlich sozialhistorische Hintergriinde, die sich wis-senssozl(~lo~h aufldiir~n lassen. So weist etwa auch E rd he im ( vg I. 1 98 2, S.BS!)dar~uf hin, Wl~ sehr ~ledo u!ld L as C as as gerade in ihren kont ra re n Ab - uridAnsl~hten. Kinder ihrer Zei t waren und die gesell schaftl ichen KonflikteSpaniens ~ der Fremde abz~ac~i ten versuchte!l ' Wahrend Oviedo daran gele-gen war, die feudalen Verhaltnisse zu konscmeren und ein Aufkommen desersta;kenden Biirgertums zu verhindern, machte sich Las Casas die Sacbe derspanisehen Bauern zu eigen, deren Lage sich scit dem 15. Jahrhundert zuneh-mend verschlechtert.hatte, un~ wa.rbzunaehs t da rum, statt Krieger Bauem nach~ E sP 3.ll:? la zu schicken. ~eil die ~auemfrage im feudalen Europa offenbarDIehl zu lose? w~, .transp~D1ert~ er sie sch1ieBlichin die Neue Welt, meinte dieBauern und ldealiaierte die I nd ia ne r, u rn seine Utopie einer friedlichen Koloni-s ie ru ng - niimlich durch die Bauern, deren Probleme er dadurch g1eichfaUszuIosen hoffte - zu legitimieren un d aufrecht erhalten zu konnen.Neben diese legitimatorisehen und idealisierenden Tendenzen, die heutekeineswegs als iiberwunden, sondem allenfalls als stets neu zu iiberwindengel.ten mussen,. trat nun im 16 . Jahrhundert erstmals eine auf VermittlungZWIschender eigenen und der fremden Kultur angelegte anthropologischeRichtung, die sich im Ansatz durchaus als ve r s t e h end apostrophieren liillt,und deren bedeutendster Vertreter der spanische Franziskaner Bemhar -dina de SahagUn (1500-1590) war (vgl. MiiHLMANN 1984; ERDHEIM1982). Sahagun, Missionar wie Las Casas, bandelte nach der Oberzeu-

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    gung, daB eine Evangelisierung, eine Belehrung der Indianer niehtgelingen kOnne, solange man deren Kultur und Lebensweise dabei volligunberiieksichtigt IaBt.Er w8hlte deshalb einen Ansatz, den er konsequen-terweise mit dem Anamnese-Prinzip der iirztlichen Praxis verglieh:

    Der Arzt konnte dem Kranken gewiBkeine entsprechende Medizingeben, ohne zuerst in Erfahrung gebracht zu haben, von welchen Sal-ten und von welehen Ursachen die Krankheit kommt. Das heiJlt, daBes von Vorteil ist, wenn der gute Arzt ein gro2es Wissen besitz t ( . .. )damit er gegen jede Krankheit das entsprechende Mittel einsetze~kann. Und well sieh doch die Prediger und offentlichen Beichtiger nutder Seele beschaftigen, so bedeutet das, daB sie Erfahrung hab7 n m~-sen mit den Medizinen und Krankheiten der Seele - der Prediger mitden Lastem der Gemeinschaft, damit er seine Lehre dagegen aufrieh-ten kann; und der Beiehtiger, u rn z u wissen, welehe Fragen er z u s te l-len hat. (SAHAGUN 1575, zitiert nach ERDHEIM 1982, S.63)

    Erscheint die fremde Kultur nach diesem Modell auch als Krankheit, sogelang es SahagUn doch gleichzeitig. sie erstmaJs aus der S i eh l d e r I nd i a ne rzu schildern. Und je tiefer er dabei in die aztekische Lebenswelt eindrang,umso mehr verfliichtigte sieh sein missionarischer Eifer und maehte einertheoretischen Neugierde21 Platz, die seine urspriingliche Motivation inden Hintergrund dringte (vgl. ERDHEIM 1982, S.64ff). Mit geradezumodem anmutenden Methoden22, die auch heute noeh praktiziert werden,sammelte er ein reichhaltiges etbnographisches und sprachliches Material,das erst dreihundert Jahre spater als F lo r en ti nU ch e r C o de x (12 Baade)verOffentl icht23 und in seiner Bedeutung erlcannt werden sollte (vgl.MO In .MANN 1984, S37). Mit dieser Dokumentation, in der es urnObersetzung, nicht um Kommentierung geht, schuf Sahagun - worauf Erd-heim (1982, S.66) zurecht hinweist - ein neues Paradigma der Forschung,21 D ie ac s ic h z u BegUm der Neuzeit kODS ti tu i er ende cNeug i erde kennze ichnet fUrHaDa Blumenberg de n epochalen AnfaDg d er m od em en W " l S S C D S c h a f t (sieheB lumenbe rg, Ha IlS ,D ie Legitjrnitit der Neuzeit,F ra nk fw tj M. 1 96 6) .

    Erdheim b e ri cht e t, w i e SahagUn den I ndi anem ZUDii cbs tsein Vorbab en e r li ll te r te ,um sic d a m n um M it ar be it z u enuchea. WihrcDd der Dicbsten Jabre Wh rt e e r D i e h lnu r &trUkturierte Gesprichc mit den vom Dorf au f seine ADfragc biD ausgewihltenMimlem, sondem bat dic&c zugIcic:h, ihrc Antworten auch in aztckischer Sprachefestzuha1tcn. Diesc Dokumcmte besprach er dann spiter wiederum mi t den Infor-maD t cD . c ines ander cn Dorfes. Di e Ergcbujssc dicscs intcnsNen, iDsbesondere Iin-guistisch e rgiebigen Vorgehens worden spit er zwcisprachig verOffentlicht(ERDHEIM 1982,S.63f).S a h a g 6 u , Bernadino de (1829-1830) , H i st o ri a genera l de las c:osas de Nueva-Espana,hng. vo n eM. Bustamank, 3 Bde., M6xico sow ie de rs . ( 1952 f f. ), F l or ent ine Codex.Geacral Hia tory of the 'I'hiDgs of New S pa iD , 1 2 B d e. , S an ta F 6 .

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    i~ofem die Eingebo~enen seIber schlieSlich zu den Ethnologen ihrereigenen, von den Sparuem zerstorten Kultur wurden - ein Paradigma, dasheute a J s emiscber Ansatz in der Ethnologie ebenso aktuell ist wie ImBereich der ~ualitativen Forschung (Ethnomethodologie, Biograpbie-For-schung usw.) inder Nachbardisziplin Soziologie.2.1.2. Der Geist der Autldlrung

    und die Verwissenschaft lichung des ReisensUiB.~ sich bereits SahagUn. als der vielleicht erste Humanist(M UH LMANN 1 984 , S . 37) und al s ein veritabler Vorliufer der heutigenEthnologie bezeichnen, so sollte es doch erst dem 18 . Jabrhundert vorbe-halten bleiben, das geistesgescbichtliche Fundament f U r ein als wissen-schaf t l ich zu charakterisierendes Reisen, damit fU r die modeme Anthro-pologie iiberhaupt zu legen. Denn der Wandel, der sich bei SahagUn zwei-felsohne andeutet, vollzog sich bei ihm noch auf einer eher intuitivenEOOne,ohne da B er den Vorzug etwa seiner Doppelrolle al s Beobachterund Teilnehmer klar erkannt oder ga r zum methodischen Pcinzip wei-terentwickelt harte. Um diesen wichtigen Schritt zu vollziehen, den Scbrittvon einer additiven Vennehrung des Wissens hin zu dessen intellektuellerDurchdringung, zur systematischen Refiexion, bedurfte es erst desCartesianischen Bruehs, das heiSt jener weltanschaulichen Voraus-setzungen, fUr die Descanes und New t on im AnschluB an Galilei, Kepleru.a. den Grundstein legen soUten.~ierzu ~ ar ein w : m r haft ph il~ sop l$. ch-epi s temolog i sche r B inschn it t notig, de run Verzicht auf die selbstherrliche Uberzeugunggipfeln soUte, Europa sei dasZentrum der Welt , und die Werte der abendli indiach-christ lichen Traditionseien absolut; erst j etzt konnte man sich den 'Anderen' und ihren Denk- undLebensformen zuwendens (MORAVIA 1977, S.121). Ebenso wie die Wahrneh-~ung ers.t .mitteJs Retlexion zur Erfahrung wird (s.o.), gewinnen auch die rurerne empirisehe Forschung notwendigen Alltagsmethoden (Beobachtung. Befra-gung, ~er iment). einen wissenschafl ichen Charakter ers t durch Reflexion:Indem ich ret lekt~ert handle (er lebe und tue), besteht die Chance zur Autlo-sung des Unretlektierten in seine Bestandteile, die Beziehung von 'Subjekt' und'Objekt', damit die Chance zur 'Objektivitat'. (KLElNINO 1986,S.727)1m Zentrum dieser perspelctivischen bzw. reladonalen Brechung, diesesweltanschaulichen Wandels, in dessen Verlauf sich mit demparadigmatischeJl (Kuhn) Bezugsrahmen schlieSlich auch das Ver-standnis dessen wandelt, was als Wissenschaft gelten dar!, steht einemathematiscl1-naturwissenschaftlich begrtindete Ontologisierung der

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    Natur.24 Das mitteIalterliche, religiOs-integrierte Weltbild weicht einemdualistischen Weltvcrstindnis, da s von Descartes, der die Eigenartmathematischer Erkenntnis in ihrer Unabhingigkeit von der sinnlichenErfabrung bzw. vom Sinnlichen iiberhaupt durch die scharfe Trennungzwischen res cogitans und res extensa ins Ontologische hineinprojiziert(KONDYUS 1986, S .177) , am konsequentesten durchbucbstabiert wurde,zugleich aber Widersprliche, Ambivalenzen freiliea, die zu r Austragungherausforderten und noch heute herausfordern. 2S Denn mit der Aufwer-tung der Natur, die diese zum Hauptgegenstand menscblichen Interessesmachte, muBte sieb notwendig auch der Status des Menschen verandem;

    Da der tbeologische Gegner per definitionem die Abh~gigkeit b~.UntelWerfung verkOrperte, und da die causae finales emen w~sentli-chen Teil seiner Lehre bildeten, so muBte deren Ablehnung eo IpSOal sBeitrag zu r Forderung menschlicher Emanzipation eingestuft werd~n.Der Verlust der Geborgenheit der causae finales konnte andererseitsum so gelassener hingenommen werden, a1s die neue Weltanschauungetwas zumindest Gleichwertiges bzw. gleicher:ma8en Verlockendes anwe Stelle zu setzen batte: die Verheillung, die Menschen konnten

    24 DaB dieser d ur ch c in e A uf wc rt un g de r Mat hema ti k v or an ge tr ie be ne W an de ltatsidil lch cin VOl' allem W e l t a D S d l a u li c : h e r war, beschrcibt Kondylis i n se ine r Stu-die zu r cAufkJinmg Un lUhmcn des ucuzcitlithcn RatioDalism~: cDcnn d en P Ia -toDismus mit seiner VorJicbo fOr d i e Ma thema ti k ph es berci ts s ei t f as t Z W B D Z i gJahrhUDdertcu , UJld zwar fOr die mcistc Zeit davon m .gcist ig vorhcnschen~er P~ -t iOD,oImc d a B s ich daraus cine mathematiscbe Naturwisseascbaf e rgeb cn ha tt e . DI ea~ VerbiDdllllg von Mathematik unci Phys ik wi rd erst au f dcr Bas isder U b e r z c u g u n g bzw. EDtscheidung m O g l i c : h , die Natur sc i wiirdigcr UJldber~en-barer d .h . vol lkommcn st ruktur icr tcr Brkcnntnisgcgcustand. Inder theologiscbenP~n (..) behielt bckaontlirh di e certitudo obiec:t i f iber die certif :u~o~ proee-dcndi die Obcrb and . Daa bedcutct zweicrlei: Gott , als dcr per definitionem SlchersteErkenntnisgegcJlStand, garandert e o i ps o di e sicherste un d hOchst e B rkenn tn i s, undzw a r selbst WCDIl das mensdllichc bzw. cndIiche BrkeDDtnisvcrmOgcn Uber kcinegaDZ sichcrc weltJich~ratiouale Methode zur &fass ll l lg d ie sc s hO th s t~ B rk e nn~ -gcgcMtandcs ve rf ii g t. Unci 1Imgekebrt : di e Natur kaml schon wcgcn ihrcr ODtoiOgl-sel len InferioriW keinc h&:bste ErkeDll tD is vcnnittcln, unci zwar s e lb s t dann, weandi e fUr d a a D l C J l S C h J i c b c BrkcDntnisvcnnOgcn d cDkba r v oUkommeus tc n m e th o -discben Mittel dam vorhanden wirea. Bs ist dahc r lcicht, den wcltaDschauHchenH im c rg ru nd jc nc r heftigcn DiskussiOl l zu durchschaueu , die sich Un Laufe d es 1 6.Jahrhui:uierts an der Fragc entz i lndc tc , ob die c:ertitudo obiccti oder die certitudomodi proc:cdcudi am~n sci lind die spitC6ten& &cit dem AD fa ug de s 17.JahrhUDderts immer biufigir zur SchIuBfoIgcrung fiihrt, Brkennh l isgew iBhe it s e idoch h6hcr e i D z u s t u f c l L (KONDYUS 1 9 8 6 , S.88)

    2S AB e zcntralcn Problcm.e hcut igcr Pbilosophie un d Me th o do lo g ie , d ie s ic h kompri-micrt in die i ib l it h cn Begr if fs p aa re i ib c rs ct zcn lassca (Sub jekt-Ob jekt ; Leib -See1e;Se in -So ll eu ; N a tu r -Ku It ur ; VcmUDf t- ~ ; Einhcit-V1CJhcit; Erldircn-Verstc~nusw.), k&men letzt l ich au f d iG carteaisrhc Subjckt-Objckt-SpaltuDg. d.h. au f dieFragc uach clem Ort de r BrkemdnisgcwiBhci t zur i ickgefiihr t werden.

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    'comme maitres et possesseurs de la nature' werden, wie es Descartesformulierte - und zwar durch Teclmik und Industr ie. (KONDYUS1986, S.12Ot)Diese gleichsam organisch gekoppeite Ontologisierung der Natur und~manzipation de s Menscben erweist sich jedocb aI s hOcbst prob1ematiscb,msofem de r Mensch ja seIber Naturwesen ist und bei aller tecbnischenBeherrschbarkeit seiner natiirlichen Umwelt immer auch von dieserbeherrscht bleibt. Denn aueh nach den allgemeinen Voraussetzungen derneuen Naturauffassung konnte ja der Mensch von der Natumotwendig-keit (die andererseits Berechenbarkeit liberhaupt erst gewihr1eistet, danur priizise kalkuliert werden kaon, was sieh nach eindeutigen Regelnvollzieht, R.D.) nieht grundsitzlich ausgenommen werden, wenn dieAufwertung der Natur selbst nicht gefiihrdet werden sollte (KONDYllS1986, S.125). So stel lte sich gegen die Begrenzungen des intellektua-lis~chen Rationalismus. der dem Intellekt die alleinige Erkenntnisfibig-kelt zugesprochen hatte, ein theoretischer Einspruch ein, de r entgegendem mathematisehen Naturmodell die Ohnmacht der Vemunft und dieMacht der menschlichen Sinnlichkeit geitend machte (vgL KONDYllS1986, S.124ft). Zwar war das gottliche licht nun im hellen Schein dermenschlichen Ratio verblaBt, doch auch die neue lichtquelle waIf niehtnur Schatt en, sondem erwies sichbald als dif fus, sofem sie nicht durch ~eSinne zusitzlieh erhellt wurde.

    Der emaozipatorische Opt im ismus der intellektualistischen Positionder Friihaufklirer enthie1t damit zugleich da s logische Fundament derAuflclarungslai und setzte eine dialektisehe Bewegung in Gang, die zur -heute bekannten - Ausdifferenzierung der Wissenschaften in einen natur-wissenschaftlichen und einen geisteswissenschaftlichen Zweig fiihrte.Gegen ~escartes, da s heiSt gegen die qua methodischen Zweifel gewon-nene Evidenz der Wesensgleichheit von Erkennendem und Erkanntem,gegen den Akt der reinen Selbsterkenntnis, wonach der Intellekt die uni-vers~e~ Strukturen, die Gesetze im Geist zu entdecken in der Lage ist,~ sie in~r ~atur bloB wieder aufzufinden (Deduktion). werden Ein-wande laut , die stattdessen ein induktives Evidenzbiter ium behaupten~d de~ ~ der E:kenntnis in der Brfahrung, nicht weiter zerlegbarerSlDneseinhelten aDSledeln. Die Empirie wird mehr und mehr zum Hebelgegen die Fiihrungsrolle des Intellekts.26 Am eiuf l .u8reichsten Z U D i c b s t b e i s J : J i e J a w e i s vo n Lcmwdo, B ru no B aco n odcrLocke (vgl KONDYUS 1986, S.l28ff sowie S.327ff).'

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    Die - hier nu r angedeutete - Kritik des cartesianischen Theoriepro-gramms zeigt, d a B sich der Hauptstrom der Aufklii.rung im Grunde alseine Gegenbewegung zu Descartes beschreiben liBt, und kulminiertschlieBlich in ihrer Aufsplitterung in zwei sich auseinanderentwickelndeRichtungen: eine rationaIistisch-intellektualistisehe und eine empirisch-sensualistische linie. Beide Ricbtungen wuBten sich zunaehst allerdingsliber eine gemeinsame Gegnerschaft (die theologische Metaphysik) ver-eint und verfo1gten dasselbe iibergeordnete Ziel: die rationale Lebensfiih-rung freier, selbstbestimmter und miindiger Menscben, fUr die.AufkUirung stets auch ein Sich-aufldiren bedeutet, die Emanzipationaus der selbstverschuldeten Unmiindigkeit (Kant), wobei grundsitzlichniemand privi1egiert ist , sondem jeder der Oberzeugungskraft seinerArgumente beduf, die sich in einem ProzeB intersubjektiver Auseinan-dersetzung (Dialog, Diskurs) imIner erst zu bewihren haben. 'J:l

    Beides jedoch, die erkenntniskritische wie moralische Aufwertungsowohl der Natur als aueh der sinnlichen Wahrnehmung28, die stets beimKonkreten a ns et zt , um zum Abstrakten zu gelangen, hatte eine entschei-dende Bedeutung aueh und gerade fU r die Rezeption der vorhandenenReiseliteratur und einen prigenden EinfluB au f die Einstellungen undInteressenslagen der zeitgenOssischen Reisenden. bei denen nun ein expli-zit forscherisches Interesse gleichberechtigt neben das entdeckerische trat- eine Entwicklung, die ihrerseits auf Europa zuriickwirkte und von uner-horter kultur- undgeistesgeschiehtlicher Tragweite war.

    Die Reisebeschreibung triumphiert von dieser Zeit an als literarischesGeme, sie clientzum Rahmen fUr die verschiedensten Vorhaben: fU rgelehrte Abhandlungen, Museumskataloge, psychologisehe Studienoder retne Romane, - vor allem aber fU r die Anspinnung kulturkri-tischer Betrachtungen. (MOln..MANN 1984, S.40f)

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    B iDe g c w i s s e SondcrsteJbmg nahm dabei IsQ l l/ c New ton e m . i nd cm e r zwi sc he n be i-dcD PosiIioucn ZII vermi1tcln suc:htc. Eincrseits von d er G es et zm i8 ig ke it d cr u at nr -J i c : b e J l VorgiDp un d dcr MOgJi ch k ci t i hr cr ~ Durc:hdriDguI Ig t iber-zcugt, wa r er a n d c r c r s e i t . s e m cutscbiedcuet Piirsprcchcr fUr di e methodisc:he Vcr-sc:hm~ d c a jDtc~ S C I I I I i b l c u VGnIlOgcB ( V g L ctwa KUHN 1978;iuab. S.10 N " u : h t cr - mc thodi sc h cr - Zwe if e l un d streng log ischcsVorphcn gcwihrlcistct d8II8Chdi e ZlmrJlssjgtcit WId lljchtigkeit ciucr a1lgcmci-_ Ausuge, SOIldem empiriscbe, esper imCDtcl Io ~ Erst durch cine zu-rcicbcndo Zah l gcuau bCnhat:IUtcr E i u z c J c r s c : h o m t m & c u gclangt man behutsami a d u z i B r C D d zum ADgmneincu .Dicao a i m a I i c h c AmcirJu.n ..... des Erkmmcua ala cines Kouglomcratcs iDteIligiblcruud S C D S i b I c r Pihigkcit-;;~ c:ht dam it beroits imV or fe Jd c d er s pi tc r VO BKaDl eingeftlhrtcu ~ ~ t h c o r c t i s c h c r un d praktischcr Vcrmmft, aD dcr sichHepl daDn cmeut abarbei teu wi rd ('8l hierzu BOHLER 1985, S.48ff).

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    In dem MaBe, in welchem die Natur wie der Mensch den Nimbus dergot~ch~n Schopfung. einbUBten und einer selbstbewuBten Forschungzuginglicb worden, diente auch da s Reisen zunehmend dem Zweck derWissensvermehrung. Und ebenso wie die Empirie zum Hebel zunicbstgegen die alte Metaphysik, dann gegen den Intellekt wurde tritt nun auchdie Methode gegenliber dem Systemgedanken immer stirker in den Vor-dergrund. Die deskriptive, vom Besonderen ausgehende Beobachtung29verdrangt die deduktiv-normativistische Betrachtungsweise und betontdamit nicht nur die Vorliufigkeit jeder Erkenntnis, sondem bereitet denWeg zu der spater einsetzenden Historifizierung und Psychologisierungder nun diesseitigen Vemunft. 30In diesem geistigen Klima beginnt nun aber da s von den Reisenden,Entdeckem und Missionaren bereits zusammengetragene ethnographischeMaterial, eine uber das materielle VelWertungsinteresse und die Lust an

    ~otischen Kuriosa hinausgehende Rolle zu spielen und da s bislang sta-tische kulturelle Selbstverstindnis Europas entscheidend zu verunsichern.Mjiblmann (1984, S.40) spricht davon, daB die Nachrichten aus denfremden Lindem und von fremden Volkem und Rassen fU r die Europaerzu :inem _Sprengstoff werden sollten, der zu einer kritischen Besinnungdariiber fiihren muSte, ob denn nun der europaische Mensch und seineFormen der KuItur, der Gesellschaft und des Staates wirldich die beatenund einzig moglieben seien (ebd.). Die Entdeckung eines Au8erhalb, in~~ssen So~ das. Fremde und Ferne zunehmend als gleichwertig erscheint,fiihrt damn zu jener einschneidenden Verunsicherung. die es zivilisations-geschi~tlich - fiber den.ProzeS der Entzauberung und Rationalisierung _e~tmalig erlaubt, das eigene Weltbild zu problematisieren. Dieser histo-nsch folgenschwere Bruch bezeicbnet nicht nur die Geburtsstunde derKulturkritik, sondem auch die Geburtsstunde der S oz iologie. Erst dieErkenntnis der Mannigfaltigkeit und der Verlust des einen MaBstabs, d.h.erst die Einsicht in die eigene Relo t iv i t i i t , liBt die eigene Gesellschaftiiberhaupt zum Problem werden.

    29 D~. di e Un 17. Jabrhundcrt erkcmamistheoreti ' erstarkende Beo~-kei t Jedoch auc:h mit sy&tematisch uegaIiwn B cd iD gung cn w rb un d en i n d c m . s Icder S e hk r& ;ft . ~ fast auuchlicMcbcs ~ cinriumt, darauf hat ~ercFow:au/ t . hiDgeW1~ :d!eobachten heiSt also, sich damit z u b cs cb ci de n z u scheu;sy stcm atisch w cm gc Dm gc zu schen. Zu schell, w as Un ctwu kODfuscn Rcichtum.de r RCprisentarion sicb analysicrcn IiBt, von allen e rk amU w er de n und so eiucnNamen c rha l ten k a m a , den jcdcr v e r & t c h c u wi r d . .. (FOUCAULT 1 9 8 0 , 8.174f).VgI. zu dicscm ThcmCDk omp1 cx LBPBN IES 1 97 8 und STRAUSS lm.

    Ii

    Die sich im etbnologiscben Material dokumentierende MannigfaltigkeitlaBt sich nun nicht mehr in einer ein f U r allemal verbindlichen Hierarchieverorten, al s deren einziger Bewertnngsma&tab die jeweilige Beziehungzu dem einen, al1michtigen Erli>sergott gilt, sondem wird erstmals zueinem konkreten Problem, das die Frage nach Gemeinsamkeiten undWesen des Menschengeschlechts in einem vollig neuen Licht erscheinenUiBt.Der dem aufgekUirten Geist einzig akzeptable Bezugspunkt ist janur mehr die Natur bzw. die Naturhaftigkeit des Menschen, seine zufilligesowohl biologische als auch soziale Verwurzelung in einer konkreten,jeweils unterschiedlichen Umwelt: Mensch a ls Natur und Natur a lsMilieu des naturhaften Menschen werden zusammengedacht. Theereti-scher und historischer Ausgangspunkt der Kulturantbropologie wird somitder um die eigene Existenz in einer bestimmten Umwelt kampfendeMensch (KONDYUS 1986, S.136). Die sich darin artikulierende, fU r dieZeit der AufIdirung konstitutive und fU r die Entwic1dung des ethnogra-phischen Blicks wie fU r die gesamten Humanwissenschaften folgenreicheRelativismus-Idee31 lieB ein Spannungsfeld von Kritik und Affirmation,von Primitivismus und konservativer Gegenreaktion entstehen, da s trotsaller innovativen Schubkraft weitgehend selbstbezogen blieb. So enthillltzwar das spezifisch aufklirerische Programm. des in dieser Hinsichtsymptomatischen Exotismus die Perspektiviti t der Erkenntnis und dieRelativitit aIler Werte, belidt da s Fremdkulturelle aber zumeist mit einerbloL\ strategischen Funktion. Was iiber die fremden Volker gesagt wird,bleiben nicht nur Zuschreibungen au f dem Hintergrund der eigenen Welt,sondem wird direkt und absichtsvoll au f diese bezogen. Die Entdeckung

    31 Der Willcicht crstc K1assiker des Rclativismus-GcdankcDs und e m e r dc r cinfluB-rcichsten wcgbercitcr der AufJdinmg war Mu : M l de MOII tGigM, der bcreits E D . d Gde s 16. JahrJumderts da s s~ zur bcdeutcDden KonVCDtionwerdcnde Bild vomOuten WiJdeD philoaophisch 6Dorto . In acinem ber i i hmteu , nuch heute viclzitier-ten Essay Des CannibaJep wi rd die cigcDc kuIturcIlc Position und d ie a uf ihrgriiDdende VorciDgcnonuneDh crstmaJs koDscqucnt in Fragc gcstellt . OeDD daBwi r die aadc rcn V6Ikcr ala Wilde odcr Barb a rcn b czc idIDM, Jicgt aIlein daran, .daBcin jcdcr das B81barei ncnnt, was seiner eigcnen Gcwohnhcit D i c h t cutsprichl;s c : b c i n l : cs d oc h , d a B w ir iibor keincn andercn Pri lfstcin der Wahrhcit unci der Ver-I l I ID f t verfilgcn ala da s Beispiel und VorbiJd dcr Mcinuagcn und Gcbriuche de sLaDdcs, in dem. w ir lcbcn. Dolt hcnsdlt &tcts die vol1kODlm~ RcligiOD, die !O~.kmmnCDC S t a a ts o r dnu ng , die vo l lkommcnc und UDi ibcrt re fDicho Gcpflogenhcit ma 1 I I : D Dinpn.. Sic abcr s in d W dd e s o wi c w ir di e Friichte wild IICIIJlCD, die ~ Natursc:Ibat unci nach ihrcm gcwolmtcn Gug hcrvorgebracht hat , wo w ir d o c : h in Wahrlicit c&jenigcn wi ld ncnnen so lh cn. die w ir du rch un sc rc E i ng ri ff c wrfiJsc:ht und dergemeiucn Ordnung abspcDstjg g c m a c: ht h a b cD (MONl'AlGNE zitiert nach KOHL1981, 8 .2 2 ). D ami t w a r Mcmt ai gn e s ie be r eiDer c l c r crstcn, der de n ziviJisatorischenFortsc:britt ala c m c A r t ~tc deutctc.

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    fremder Kulturen genU unvermittelt zur Selbstentdeckung Europas:Selbstfindung oder gar Selbsiliiuterung im Exotischen. 32Eine solche qualitativ neue Justierung des ethnographisehen Bllcks laBt

    sich exemplarisch an zwei der geistesgescbichtIich bedeutendsten, dariiberhinaus unter nahezu identischen soziaJhistorischen Bedingungen entstan-denen, Reiseberichten veranschaulichen: den etwa um 1700verfaBten und1703 erschienenen Nouveaux Voyages ' dans l~bique Septentrionale desaus der franzosischen Armee desertierten KoloniaIoffiziers Lou i s -Armondd e L a h on ta n. sowie den 1724veroffentIichten Moeu r s de s Sauvages a m e n -q u . a i n s c om par ee s au x m o e u r . s d e s p T f! mi er s t em p s des franzOsischen Jesui-tenpaters Jos eph-Francou Lajitau, der im Rahmen der Ethnologic-geschiehte inzwischen aI s Begriinder der vergleiehenden ethnologischenMethode33 und als wichtigster Vorliufer der modernen Feldforschunggehandelt wird (vgI.Mil l ILMANN 1984,S.44ft).A ls Louis-Armand de Lahontan naeh etwa zehnjiihriger Dienstzeit a lsKolonialoffizier in Kanada aus der franzosischen Armee desertierte, floh

    er nieht nur das Militir, sondem in gewisser Weise auch die eigene Kultur.Sein langjihriger AufenthaIt in den kanadischen Wildem, wihrend dessener die Lebensweise der dortigen Indianerstimme kennen und schitzensowie deren Sprachen zu behemchen lemte, batte ibn letztlieh der eige-nen Gesellschaft entfremdet, ibn zum FremdeIl im Sinne Simmels(1968) oder zum. marginal man imSinne Parks (1928) gemacht. Vergli-chen mit den Reisenden vor ibm, die ebenfaIls bereits Momente kultureI-ler, identitatsbedrohender Verunsicherung durchIitten haben magen34,war Lahontan nun jedoch einer der ersten, wenn nieht sogar der ersteeuropaische Reisende, der den aus der kulturellen Doppelbindung desEthnographen resultierenden und heute zu einem bevorzugten Gegen-stand ethnologischer Selbstreflexion gewordenen ldentititskonflikt niehtnux bewuBt verspnrt, sondem aueh thematisiert hat a 1 s zentraler Ver-fremdungseffekt und organisierendes Prinzip bildet er den geheimenAngelpunkt seines Werkes (KOHL 1981, S.65). Den sinnfilJigsten und

    3233 Siebe h icr .m DAMMANN 1987.

    A!I 'dcm bIoS ill~ und zumcist SMliationaJjstiscben Verglcich dc r McbnabJ.scmcr V~ Wll'd bei Lafitau du r c :f Ic k ti cr t m c t h o d is c b o Verfabrea e i D e rw c c b s c I s e i t i I c D Erhclhmg (siebe weiler unten).Dies I iB t s i c : h a n de r i u n e rc n A m b i v a Ic a z de r e i u c r s e i t s ~Iangeod-~~ a b w eh n m cl - p c r h o m sz i e rm ad e a MomCDto dc r frihca B c ri ch to _ ho i-IipiciswelSC dcacn des Kolumbus ( & i c h e o bc u. ) - a b J c s c n . . -

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    gleichsam literarisch konsequentesten Ausdruck find~t di,eser V~~~e~-dungseffekt in dem - noch heute popular-en- dritten ;ell seiner dreibandi-gen Reisebeschreibung, den D ia lo gu e s c u ri eu x e nt re l 'A u te u r e t u n S au v ag ede bon sens qu i a voyage,Mit di Kunstform des fiktivenDialoges zwischeneinern leicht bornierten,bI les~~ sinnbedUrftigerenZivilisiertenund einern lebensldugen,gera.~ezua er um , be" ndete Lahontan eine breite und noch heute hochsli:::~~~~~l~~e;:=~Traftion, die bereits im 18 , Jahrhundert zu ein:r ;lut vonkulturkritischenTraktaten, trockenen,Lehrst~cken und ch~~te~.. ~e~s~:-;d fiihrte Da B Lahontan daruber hinaus (m den ersten ei en an ,R:ilie r~er Beschreibungenliefert, die,von dem hohen Grad seiner v = :th I ? 'd indianischen Lebensweise zeugen und den Brgebnissentrau ell nul er m .......... 1981 S 661) dasneuerer Forschungen weitgehend entsprechen (KOHL " . .betrifft etwaHinweisezu toternistischenInstitutionen, zurn Scharnamsrnus:zurmutterrechtlichen Erbfolge bei d~n!rok~en und Huronen u.a.m. wurdebisher(z.B,von BITTERLI 1976) zumeist ignonert,Die in den Dialogues aufgenommenen undo~ach dem P~~ip ei~er ra-dikalen Vertauschung der Perspektiven orgamsierten Gesprache zw_tschendem europaischen Reisenden und dem Huronen-Hauptling .Ada:-zo, d~r, its das ibm fremde Europa bereist hat, enthalten die bis dahinsemersel d . ,.' chenwohl scharfste Kritk an Religion und Staatswesen es z~l~genoss~ .Europa. Diese in Form eines Tribunals vorgetragene Kritik, wonn. dieHuronen a 1 s Vertreter eines geradezu idealen Staates auftreten - emesStaatswesens, das auf dem jedem einzelnen angebore,nen Naru.r:ec?tberuht, welches weder Eigentum noch Justiz ~ennt ~nd indem F~elh~lt,Gleichheit und Gerechtigkeit (

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    turelle Konversion36 DaB damit letztlich auch Lahontans Reisebeschrei-bungen immer im europ8.ischen Diskurs der AufJdarung befangen bleiben,laBt sich schwerlich verkennen. Und dennoch sind die idealisierenden~ttribute, die er den Waldindianem Nordamerikas zuschreibt, von ginz-lich anderer Qualiw als diejenigen der seinerzeit berei ts beliebtenBonsauvage-Literatur, insofem er sie erstmals im konkreten Leben derWilden verankerte und mit einer Reihe von etbnographischen Beobach-tungen belegte, deren Authentizitit auBer Frage steht.37

    Mit der Darstellung der kulturlaitischen Kontrastfigur des guten Wil-~en,.deren Formierung die fremdkulturelle Realitit nieht selbstbezogen19n~nert, sondem ~uf ihr autbaut, betritt man bereits ein einigermaBensolides, etbnographisch gesichertes Fundament. Zugleich wurde mit dieserKontrastfigur der Keim fUr die anthropologisch fruchtbare Erkenntnisgelegt, daB man in diesen WildeIl die historischen Stufen der Mensch-~eitse~twicldung ge~ahr werden kann. 80 sind die No u ve a ux V o y ag es dan.sl ' Ame r iq ue Sep t en tr t onal e erster Ausdruck einer nun selbstreflexiv gewen-deten Ethnologie: der etbnographische Blick riehtet sich auf das mit Ei-genevid~nz ausgestattete Fremde, um das Eigene besser sehen zukOnnen. Ein solcher gedoppelter Beobaehtungsproze8 sowie das

    36d~ ~ !lDd zwar ein jcdes seineD F ih igke il en en tsp rechend, ZIlID a U g e _memcn Glik;Jt beitraacn k6nJleD,. ( LAHON l'AN 1 70 3, zitiert nacb: K OH L 1 98 1,S .7 5 f) . V v ). . h i cma a u C b Bl'lTERU 1976 , S . 42Of f. Pa ig e m~ Rat u nc i ~ Hurone l. - aP JlC ll ie rtAdar io des Ofteren: Denn ichsebe deutl i cl l , ~ UDtenchied z w i s c : h c n deiacr un d meiueT Lap bcsteht. IchbinHerr ~ memcn Kmper, kau v6B ig t ib e r mi ch s c l b s t vcrfiigcD, tuc, was mir ge-fiIIt, bm . dc r crate un d de r letzte mciDesV oJkes, f i irchte memanden und bin eiDzigund aIJe.in YOm GroBcn Geist a b h i u a i 8 i wobingegcn du dam VCI'dammt bist, mit~ ~d Seele v on deinem gro8cn IIiuptJjq abhiDgig zu ac in ; ( _ ) du ha st n ic h t dieFre ihe it , das zu tun, was dir gcfiUt; du i b r c h t e s t dich VOl' Riubem, f a J s c b c n Zeugca,~euchelmOrdcru u.s.w.; du bist \'OIl uuJhJigen P er so nc n a b~ die aufgnmdihrer Ste1lUDg tiber dir stehcn. Ist das ridWg oder fa isch? Liegt das nicbt ldar auf derf ! and ,~ kana es D i c : b t em jecier s e h e n ? NUD,m em J ieber Bruder du s ie bs t wohl~-~H Ich rec:bt babe, und dennoch b i s t du lieber em fnnu&is~ 8k1ave al a ciaucac;,. mODel. ( LAHONTAN 1 70 3, zitiert nada: KOHL 1981, 8.74).~ Kohl (1981, S.'72) untcr B em gn ahmc a uf den anerkanDten Indianer-Forsc:hererner M O U e r .De n gc~chen H~unkt jener z i v i l i s a t i O D&k r i t i s c h e n Form derctbnologiscben Betra~ obne Zweifel die kulturkritischen Sc:briftenJ~-JfII:tI!"S ~etIU8. Indcm Rou ss ea u a uf einen Naturzustand rekurriert, der inSI~ b er ei ts ~ ~o rmen .des gcsel Jsch . ft J icheu Umgaogs C D t h I J t , wird seiDe Philoso-P~ zu r SozialphiIosophie ( zu Rousseau al a c l e m . BegriIDder de r Ethnologic siebeRitter, ! I . H . (1970) Claude L6vi-StraWlSaJs Leaer RousseaU&, ill: LepcDies , W . unciH.H. Ritter (Hg.) , O r te d es W ' d d e a D C D k e D s . Zur Anthropol~ von C l a u d e Uvi-Stra~.F~1IIkfurt 1 9 7 O , 8.113-159; z ur N ih c \'OIl ADthropoiogic und GeselIschafts-thcorie ho i Rousseau, siebe LEPENIES 1mS.109II).

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    dahinterstehende Erkenntnisinteresse markieren den Beginn eines quali-tativen Umschwungs im Sinne einer Verwissenschaftlichung des Reisens.

    Damit stehen wi r inder Tat an der Schwelle zur modemen Ethnologie,die fUr die meisten Wissenschaftshistoriker freilich erst mit Joseph-Fran-cois Lafitau ihren Ausgang nimmt. Werk und Wirken des JesuitenpatersLafitau kOnnen dabei zunichst und vor allem durchaus a 1 s Reaktion gegendie rel igionskrit ischen Attacken Lahontans verstanden werden - eineReaktion a1lerdings, die sich von der dogmatischen Tradition seiner kleri-kalen Vorliufer deutlich abhob. MiBliebige etbnographische Beschreibun-gen wurden nun nieht mehr nur als Hirngespinste diffamiert, sondem mitwissenscbaftlichen Mitteln und durch empirisches Tatsachenmaterial zuwidedegen versucht. Auch die Beziehung zur urspriinglich sozialkritischenKontrastf igur des bon sauvage inderte sich zusehends39: der GuteWilde wurde nicht mehr schlicht als Barbae konterkariert, sondem sei-nes sozialkritischen Stachels beraubt und damit fUr ein apologetischesAnliegen ebenso (mi8-) brauchbar wie zur Zivil isat ionskrit ik. Wenn esniimlieh zu zeigen galt, da B die Religion, da B die Verehrung eineshOchsten Wesens gleichsam zur anthropologischen Grundausstattung derMenschheit gehOrt4 O , da B also Wirklichkeine Nation, sie sei auch noch sowild, ohne Religion und ohne gewisse Sitten angetroffen werde (LAFI-TAU 1724, zitiert nach K OH L 1981, 8.79), so wa r man gut beraten, aufvoreilige Identititsbehauptungen zu verzichten und die Eingeborenen inein giinstiges - und, wie sich zeigen soUte,realistischeres - licht zu setzeu.Waren die Untersuchungen Lafitaus wabrend seiner fiinfjahrigen Mis-sionarstitigkeit bei den Irokesen also durchaus auf ein bestimmtes, vorab39 E.inc Dicht zu unterschitzende Rol le spielt hierbei sicher lich das im 18 . Jabrhundert- insbesondere t ibe r d i e Sch r if ten vo n La s C as as - a J lmi hl ic h e Bekann twe rden de rspanischea Greueltaten in de r cNeUCl l Welt.

    Unci dies pIt es in dc r Ta t zu zc igea, woUteman der ReligioDsIaitik der Aufklirungmit ihrea cigcDen Mitteln de n W'md a us de n Segeln n ehme n: Do nn e in er d er s ta rk -stcn B ew c ia c v on dc r Notwcndigkcit un d W 'l rk lic hk ei t e ~ R eli gi oa , welche wirihnen entgegen setzcn k6nneD, be st eh e t i n dc r alIgemeinen Ubereios t immung allerV61k cr i n An se lm ug der ErkcDntnia cines hflch&ten Wesens und desse1ben Vereh-nmg (...). Dieser Beweisgnmd wilrde a b e r binwcg fa I I eu , WCIID. e s a n dean sc in sol lt e ,da 8 Slch e iDc M~ versclriedeDer Nationen findc, die dergestalt vi~ ~~wor-d en, d a 8 sic auch n ic h t den ~ Begriff \'OIl c in igcr Got the i t and e iuge t iihrt enObIiegenbeiten einer schulctigcD Verehruug d e r s e l b e n UDte r sith bitten; dellD.also-fort scheint der Gottes1eugncr Recht z u h ab ea , WCIID. er dergestalt schIie8e~ We~beinahe e i n e gaDZe Welt vo n Volkem aDZU t re f fea , di e keine Religion haben; so 1 Stdiejenige Religion, die sich ho i anderen Nationen f indet, nichts anderes aJs emWerkd e a D I C I L S C b l i c : b e n W ' J t z e s < r u b n c i em K1ms tg r if f d e r Geset7geber ( . . .) , weJchesolcheerfunden h a b e n , um die V durch die Furdlt, al a cine Mutter des Aberglaubens,inOrdmmg zu balten.. ( LAF ITAU, ll ti er t n ac h KOHL 198 1, 8 .7 9) .

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    festgelegtes Ziel bin ausgerichtet41, so zwangen ibn seine klassische Bil-dung und die an Popularitat und intellektuellem Gewicht gewinnendenArgum~te. der ~ef zu einem differenzierten Forschu~atz,de~sciJ!ieSlic:hErgeb~ zutage forderte, die sein theologisebes Anliegenbel weitem transzendierten. Seiner Absic:ht, die Irokesen weder aJs gott-l?Se Barbaren noc:h aJs in sich ruhende und keiner religiiisen wie staat-liche~ Ordnung bedUrftige bon sauv&ges daIZustellen, entsprac:h ein me-thodisches Vorgehen, das sich an der systematischen Suebe nach Geme in-

    s~~e n und e:inem quellenkritischen Umgang mit der existierendenRe15eliteratur onentieren muBte. Statt sieb auf die Unmittelbarkeit desersten Eindrucks zu verlassen und auf die vermeintlichen Ku ri os a z u kon-zen~e~en, um sie unvermittelt und effektvoll mit den eigenen Sitten undlDstitutionen zu konfrontieren, bediente er sich eines auf dem Prinzip derwechselseit igen ErhelJung beruhenden, systematiseben Vergleichs:

    Ieh begniige mich nicht allein damit, den Charakter der Wilden ken-nenzulemen, und mich von ihren Gewohnheiten und ihren Gebriu-chen zu ~tenichten; ich babe mich vielmehr bemiiht, in diesenGewohnhelten und Gebriuchen die Spuren des entferntesten Alter-tums zu suc:hen; ic:hhabe mit Sorgfalt diejenigen iltesten Schriftste11ergelesen, die von den Sitten, Gesetzen unc i Briucben der ihnen eini-germa8en bekannten Volker handelten; zwischen den Sitten der einenunc i de~ anderen babe ich Vergleic:he angestellt; und ich gebe Zb, da B,!enn die alten Schriftsteller mir einiges I1c:htgegeben, einige gUlclc:liebe "Mutma8ung~n in ~ehung der Wdden zu wagen, mil dieGebrauebe der Wilden ewges I1c:htgaben, um einige Dinge leiebterzu verstehen und zu erkUiren, die die Alten in ihren Schriften anfiih-ren, (LAFITAU 1724, zitiert nach KOHL 1981,S.90)

    D~ Neuartige dieses komparativen Vorgehens war nun nieht der Ver-gleich als solcher, sondem sein nach beiden Seiten bin offener Charakter~as heiSt, allein die Bereitschaft, aueb die Antike jedeIZeit in ein neu~Licht zu setzen und nicht nur aJ s eine statisc:he Vergleichsgrundlage zube~achten, von der au s jede Einzelheit der exotischen Volkerschaft innaIVe: Ko~etb~it beurteilt wird, machte es iiberhaupt erst miiglic:h,geWlSSCOZloIOgisc:h-ethnographischeTypen ( M O m . . . M A N N 1984, S.44)zu erfass~n. Denn im Gegensatz zu den meisten seiner Vorgfinger lieB siebLafitau rucht von den exotischen Phanomenen blenden; seine zie1strebige4 1 N iml ic :h .d e n N a chw ei s z u c rb ri ug c n fOr cine YOn Gott gcgcbcnc, biufig ~U D d erst JDl Christcntum wieder zu sich seIbst kommcndc U r rc l ig i on .

    SUcbenach Gemeinsamkeiten auch und gerade in den empirisch differen-ten Erscheinungsformen muSte sich den an der OberfUiche aufreibendenBlick, da s bloSe gegenstandsbezogene Hinblicken verbieten, dessen sichdie meisten Reiseschriftsteller nach Meinung lafitaus bis dahin schuldiggemac:hthatten. 42

    Die bei Lafitau damit erstmals explizit anklingende Methodenkritik43,die sich positiv gewendet in eine Metbodologie des Fremdverstehensumformulieren 1i8t44. macht ibn zu einem der bedeutendsten VorUiuferder modemen Feldforschung. Dies gilt umso mehr, als er bei der konkre-ten Umsetzung seiner methodischen Prinzipien zu Einsichten in diesoziale, politisehe und wirtschaftliche Organisation der kanadisehenIndjanerstimme gelangte. die noc:h heute zum theoretischen wie termi-nologischen Grundbestand der Ethnologie geheren, Dureb seinen Ver-gleich bestimmter Praktiken, ZeremoDien und Verwandtschaftslinien derKariben, Irokesen und Huronen mit denen der Hellenen und Rome~ ent-deckte er schlie8lich den invielen Gesellschaften iu8erst wichtigen Uber-gangsritus der inititIJion sowie das erst liber ein Jahrhundert spiter vonMorgan und Bachofen in seiner Bedeutung erkannte MUlten-echt (vgl.42 Inseiner 1724 C I Sc lI ic n cn c n S cb ri ft u ahm L a fi ta u d ami t prakt isch di e O b c r z c u g u u g

    dca imsclbca Jahr gcborcncn K lI nt ~ dc r lmapp 60 Jahre spitcr m seiner J(ii..tile fig m n e n YM I IU I f t (1980. S .4 O , B 4 ) schreiben wird: cErfahnmg gjbt ~i h rcn Urtcilon wahro odo r strcngc, s on de m n ur a ng en om mc nc u nd k om pa ra ti1 e~ - und dam i t das bloB induktiw Sammcla und Bcscbrciben aI s UDZU-J i D & I i c b c Erkcnnhlismcthodc b lo&tcDt (vgl. h ic rz u a u ch T ei l4 ).43 E a crmaDgcIt dcm ADsehcn nach an n i c : b t s , die Vctglcichung m em hellcs Licht .zusctzcn; ftDD nu r diejcnigcn. die v on d en S it tc n dcr Wddcn geschricbcn, sclbJgCctwu wcitc r auagcdchnct . und die, wclc :bc sich untcr ihncn aufgchal tcn, in de nGrund dc r RcIigiousbriucb mchr Ei ns ic b t ~ und nicbt bloB bci dcr i uBentcnSchaJc stchen P . h J i e b en wircn. Dcnn cdcr c rs te B li ck ist trOgcrisc:h. Man muBsich Dicht sogIcic:h in die ausfilhrlic:ho BcscbreibUDg dc r S it tc n u n d G ebr iu c: ho cinesLandca .. m la...... vo n dcm man noch biDe aufgemichncten Nac:bric:btcD hat; zumalweDD. ma n die Sprachc D i c : h t vc rs tebt . So fchl to v ic lcn Rciscnden, abet auch Mi s -sioaarcn, di e v i c i J l c i c h t grlJDd1cgcadste Voraussetzung fOr em V cr st in dD is f rcmd crKuIturcn. Dcnn celie Ursache dc r gro8cn Schwicrigkcitcn>, we1chc sic cbcim Erler-BCD dc r Sprac:ho dcr Wddcn gcfuDdcn, wa r d ic sc , d a B si c in dicscm pWJkt in ebenclem Irrtum schwcbtcn, ala dcrjcnigc wa r worin sic aich hiDsichillch w cr S ittc nbefandcD. Sic woJItcn die Wilden nach ~ Sittcn und Gcbriuchcn bcurtcilcn:cia sic DU D abet nicbts vo n d c r P o li z ei , d i e untcr UD S e iDgc fi ih r ct , n o ch von de r RcI i -gioD unci wdt1i cheu Reg icnmgafonn ctwIII antrafcn; so g l aub tcn sic, d aB s ic ohncReIigiou, o 1 m e Gcse tze imd o 1 m e eiDigc Bchcmchugsart lcbtcn. ( LA Fl TAU 1 72 4.zitiert u ac h K OH L 1 98 1. 8.87f) .

    44 Positiv umformuBmt redct cr cinem VerStehendcP, e.infiihlendem. Zugang in di eL e b o D s - un d VorstcIl~ dc r &emden Gcscllscbaft das Wort, fOr d en s ow oblprofundc Sprachk""""'iMe ala auch c t i c &eIbst:krit isc: E i D s i c : I d : in die J r u 1 t u r c I J e ,IOZiale un d aubjcbM Gepristhcit des von V o r-U rt ci Ic n w rs tcD tc n c igcncn BJiclcslmabctingbar sind.

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    M O l n . M . A N N 1984 ,S .4 4 ). Du rch s e in zugl eiC llm t en s iv e s und behu ts amesVo rg eh en , d ur ch s ei ne zw ar k on se qu en te , a be r s el bs tk ri ti sc h g eb ro ch en eHinwendung zur Emp ir ie g ela ng e s Lafitau dariiber hinaus, sic h vo n d er~

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    einem ~tsachlich wissenschaftlichen Interesse an fremden Kulturen spre-~en. Dleser le~e Umschwung schlie13lichsoUte sich erst vollziehen, alsdie g_r0.8en Reisenden des spiten 18 . Jahrhunderts das sogenannteZwelte Entdeckungszeitalter einleiteten.~ieses zweite, insbesondere von England und Frankreich dominierteZeitalter der maritimen Entdeckungsfabrten stand ganz im Zeichen der

    Suche nach dem sagenhaften Siidkontinent, der terra australis: entspre-chend ve~1agene sich der Schwerpunkt der Reisen in den siidp~chenRaum. Ole wohl bedeutendsten Entdecker jener Epoche, die zugleich dieerste Etappe pla.nmaaig durchgefiibrter wissenschaftlicher Forschungsrei-sen darsteUt, waren L o u i s A n to i n e de BOugainvi l le (1729-1811) und Jame sCook (1728 -1779 ) .

    2.1.3. Von der Entdeclamgsreise zur Forschungsexpedition~otivation ~d Organisation der Reisen, die bald ganz im Dienste einesWlSSenschaftlichen Erkenntnisstrebens stehen sollten, wandelten sich nungrundlegend. Wenn auch insbesondere Bougainvilles Reisebericht dafiirve~antwo~ch zu Machen ist, da8 die glnckselige Insel Tahiti in der~ltgenoSSlSC?en Rezeption zum irdischen Paradies par excellence avan-cierte, .das ~ild v?m guten Wilden damit stifker denn je wiederbelebtund die Diskussionen iiber Natur und Zivilisation weiter angeheiztwurden48, so ist Bougainville zugleich der erste Seefabrer, der ein For-schungsteam verschiedener Fachgelehner an Bord seiner beiden Schiffe~ ~vgl. B~ 1976, S.34) . Standen dabei zunichst fast aus-schlieJllich geographische und botanische Untersuchungen im Vorder-g rund, so wurde nun auch der Ruf nach systematiscb erhobenen und exak-ten Informationen nber fremde Volker, Rassen und Kulturen imm.er l au -ter, Bereits ~?u;;seau beklagte. beispieIsweise, da B die Erforschung desMenschen striflich vemachUissigt werde und daB das Reisen BUr denSeeleuten, Kaufleuten, Soldaten und Missionaren iiber1assen bleibe, vondenen ma n wohl kaum erwarten konne, da8 sie gute Beobachter stellen(~OUSS~U 1976, S.127f). Erginzend forderte er d a ra u fh in - mit pole-IB1SchemBlick auf den Wissenszuwachs imBereich der Naturwissenscbaf-ten -,auf Reisen nicht immer bloJl Steine und Pflanzen zu studieren,48 ~aB ~ ClDCutc KonjUDktur de r Idee d e s Edlen Wildcn, auf di e bier Dicbt~ ~ w e rd e n s o U , wei! si c strukturell dem Auf'kommcn diescr Ideei Ime I t , ~ msammenfilJt mit der Formienmg des europiischcn Widentan-d e s gegca di e SJdavcrci, ist durcbaus D i c b t zufillig.

    sondem einmal Menschen und Sitten, um nach so vielen Jahrhunderten,die gebraucht wurden, um das Haus zu messen und zu betraehten , end-licb auch dessen Einwohner kennenzulemen (ebd.).

    Die an intellektueller Brisanz z_unebmenden Debatten tiber Ursprungund Wesen des Menschen, tiber Beschaffenheit und Implikationen derrassischen Unterschiede zwischen den Volkem oder tiber die Beziehungenzwischen Natur und Kultur, Leib und Seele, Physischem und Moralischemfiihrten schlieJllich zur Formierung und anschlieJlender Institutionalisie-rung einer Wissenschaft vom Menschen49, der es nach Informationendiirstete, die ahnlich systematisch und kompetent - sprich: von hierfiir aus-gebildeten Beobachtem - erhoben werden sollten, wie es in anderen Dis-ziplinen mit unzweifelhaftem Erfolg bereitsgang und gabe war. Das Rei-sensollte mitbin zur streng wissenschaftlichen Expedition, zu einer Metho-de t u c h und gerade der empirischen Kulturforschung ausgebaut werden.

    Deutlichster Ausdruck dieses Strebens nach wissenschaftlicher Seriosi-tat und gesichener Erkenntnis sowie die wichtigste Btappe der angezeig-ten Entwicklung war die Ausarbeitung der sogenannten Instructions deVoyage (vgL MORAVIA 1977, S.126). Diese Instructions, die sowohleine Liste der zu sammelnden Daten als auch die Methoden, derer mansich bei der Datenaufnahme bedienen soUte, enthielten, bezeichnen mei-nes Erachtens den faktiscben Beginn der Ethnologie al s wissenschaftlicher

    4 9 V gl. b ie rz u d ie S tu die iiber d ie E nt st eh un g c le r An th ro po lo gi e im Frankreich derAufIdinmg von S e rp i o M o r rM a (1977). Darin skirziert und analysiert der Autor dasbier ou r grab 1IIDI1IiSCDC pbilO6OPhisc:hc unci ku1turc11c Klima, in d em s ic h diescrVCIWisseDsc:haf tchungsp r0ze.6 vol lzog unci scblieBlich in d er G ri in d un g e nt sp rc -chcnder Gcsell schaf ten , insbesondere de r von L ou is -F r an co is I rm J fr e t entworfCDCllcS0ci6t6 de s Ob s c rv a t cu r s de l 'h o ll lD l C s ei D en institutiona1is Au s d ru c :: k f a n d.Zu den cObscrvatcurs. geMrten DCben den bedeutendsten Philosophcn und Na-turforschem ihrer Zeit uicht zulctzt auch G~phen und Ent de ck er , w ie derbereits g en an nt e B ouga in vi ll e. AuBe r a uf Mo raV18. sci bier n ac h a uf e in en A uf sa tzvo n Odo Marquard (1982) vcrwieseu, d er d ie E ta bl ie ru Dg d er A nt hr op ol og ie - bierim. pbilosophisch umfassenden S iD ne - in einer erst neuzeit1ich mOg1ichgewordCDCllDo~kehr ve rwurzc l t: cdu rch di e Abk eh r d er P hi lo so ph ic e in er se it s v on der' tr adi ti oneDen S chu lmet aphys ik ' , ande r er s ei ts vo n der 'ma themati schen Naturwis -senscbaft',.. Diese Doppelabkehr entapricht einer faJrtjschen ..W en de z ur Lebeu-welt (MARQUARD 1982, S.124f). Als da s wohl klassisc:hc Zeugn is d i ese r I eb eus -wcldichen Ausri~ gilt Kants 1798erschienene Anthro~e in pragmarischerHinsicht, worin er di e philO6OphischcAnthropologic a 1s eme . .WeltkeDDtnis deli-Dic rt , em der m an n ic ht dun:hs metaphysisc:h rciDC D en ke n - d ie r ea li ti ts lo sc T o-talitit der Vcrs ta nde swe lt - cund Dicht durcbs naturwisseusc:baf t lich ' exakte Experi-ment - die t o ta l it it s1ose RcaJ iW ' der S inDc nw ek - ckommt, sondem allein durch( _) ' gcwOJmJkhc Erfahnmg' unci AuswertuDg gewisscr 'Quellen' und 'Hilfsmitteldc r AIIthropologic', w o z u uicht zuletzt cdas Re is en s owi e das L e se n d er R ei se be -scbr e ib ungeD gehO r t (MARQUARD 1 98 2, S.126f).

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    Disziplin. 50 In diesen Leitfaden samt ihren begleitenden Erlauterungenerreicht der etbnographische Blick eine methodologische Reflexionsstufeund methodische Stringenz, die bereits iuBerst modem anmuten. Die indieser Hinsicht wohl bedeutendsten Instructions stammen von c.F. deVolney und Joseph-Marie D ege rand o - beide Mitglieder der Societe de sObservateurs de t'nomme.Constantin-Francois de Volney (1757-1820) entwickeite eine komplexe undmodern anmutende Feldforschungskonzeption, die auf einer streng empirisch-analytischen Methodologie beruht, welche das Auge und den Blick al sErkenntnismittel zwar favorisiert (vgl. MORAVIA 1977 , S . I28 ff ) , zugleich aberdas Moment der Teilnahme, die Notwendigkeit eigener Erfahrung hervorhebt,aus der heraus die geforderte Distanz erst fruchtbar gemacht werden k an n: W illman tatsachlich etwas tiber fremde Lebensformen erfahren, mi isse man mitden Menschen, die man griindlich untersuchen will, verbunden sein; man muBsich in ihre Situation hineinversetzen, so daB man spuren kann, welche Kriifteauf sie wirken und welche Gemii tsbewegungen daraus entstehen; man muB inihrem Lande leben, we Sprache lernen, ihre Branche ausiiben; oft fehIt es denReisenden an diesen Voraussetzungen; wenn sie sie erfii ll t haben, mussen sienoch die in der Sache selbst liegenden Schwierigkeiten ilberwinden; und diesesind zahlreich, denn man muB nicht nur die Vorurtei le bekimpfen, auf die manstoBt, man muS auch die besiegen, die man mit sich bringt; denn das Herz istparteiisch, die Gewohnheit machtig, die Tatsachen sind verfanglich und die Tau-schung ist bequem (VOLNEY, zltiert nach MORAVIA 1977 , S .137 ). Teffenderund pragnanter liBt sich die schwierige Aufgabe der Feldforschung kaumbeschreiben! -,DaB insbesondere Degerando (1772-1842) bei den meisten Fachhistori-kern, wenn uberhaupt, nur beiUiufig Erwabnung findet , i st einigermaBenerstaunlich. Seine im Jahre 1800 veroffentlichten Considerations sur lesdiverses methodes a suivre dans l 'o bs et va uo d es p e up le s s au va ge s (deutscheFassung im Anbang zu MORAVIA 1977) enthalten ein Feidforschungs-programm, das dem eigentlichen Methodenmanifest der modemenEthnologie - Mal inowskis Einleitung zu den Argonauts of the WesternPacif ic aus dem Jahre 1922(!) - durchaus an die Seite zu stellen lst, Zwarhat Degerando seIber meines Wissens nie den Versuch untemommen,sein ungemein prazises und erstaunl ich klarsich tiges Programm in die Tat

    50 S o is t es s ic h er k e in Zufall, d aB a uc h d ie B eg ri ff e Et hn og ra ph ie u nd Va lk er -k un de ( ge pr ii gt v on A .L . S ch la zc r im Jahre 1m) sow ie E thno log ic ( e rs tma l igv er we nd et - s ei e s v on J oh an n E rn st F ab ri , s ci e s v on A lC lW ld re Cfsar C ha va nn es im J ah re 1 78 7) im l et zt en D ri tt el d es 1 8 . J a h rh u nd er ts erstmals a1 s Bezeichnungene in es S pe zi al bc re ic hs d er An th ro po lo g ie V e rw cndung l in d en (vgl. h ie nu S TAGL1981, S . I25) .

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    I wnzusetzen51, doch lesen sich seine Ausfiibrungen" wie die knappe, abersystematische Bestandsannahme der Vorausssetzungen, der Aufgabenund der Probleme interkultureller Forschung; sie wiirden auch heutigenMethodenvorlesungen durchaus noch zu r Ebre gereichen.

    Nachdem Degerando zu Beginn seiner ldeinen Schrift das Gegen-standsgebiet und das leitende Erkenntnisinteresse52 jener neuenWissenschaft vom Mensehen umreiBt , rechtfertigt er d ie dieser Wissen-schaf t a1lein angemessene Methode. Will man namlieh den konkretenMenschen in seiner Gesamtheit (holistischer Ansatz) erforschen, den Men-schen also, me er sich in den un s umgebenden Individuen zeigt, und derstets gleichzeit ig von tausend verschiedenen Umsti inden, von der Erzie-bung, dem Klima, den politischen Einrichtungen, den Sitten, den einge-biirgerten Meinungen, den Auswirkungen der Nachahmung, dem EinfluBder kiinstliChen Bedii rfnisse, die er sicb gesehaffen hat , verandert werde(DEGERANDo 1977, S.220), so miissen diese Umstiinde - als Wir-kungszusammenbinge und Ursachenketten - zunachst einmal positividentifiziert und da s heiSt, richtig beobacbtet werden, um sie sodann zuanalysieren und zu vergleichen . Dem an Jahren nocb jungfriul ichen Jahr-hundert damit um Jahrzehnte voraus, verkiindet Degerando gar das Bndeder tradition ellen Philosophie53, die von jahrbundertelanger, vergebli-cher Beschiiftigung mit hinfii.ll igen Theorien erschopft, endlich den Wegder Beobachtung eingeschlagen babe (ebd. , S.220): Denn nur

    der Geist der Beobachtung nimmt einen sicheren Gang; er sammeltdie Tatsachen, um sie zu vergle ichen und vergleicht sie, um sie besserzu kennen. Die Naturwissenschaften sind gewissermaBen nichtsanderes a1s eine Reihe von Vergle ichen. Da jede einzelne Erscheinunggewohnlich das Ergebnis mehrerer zusammenwirkender Ursachen ist,

    51 Seine Erwigungen weodcn sich vie1mehr an Kapitin Baud in ( . .. ), der imBegri ff i s t,zu se ine r En tdcckung& rc is c a u C z u b r c c h c l V O (wdchc di e E rf or sc h un g Au st ra li cn s ~Ziel halte, R .D .) , un d an die verschicdenen ibn b cgl e it enden Ob servat eur s ;. SICwend e n s ic h auch an den Btlrgcr Levaillant, del zum dritten Ma l ins lDnere Afrikasreisen wi l l (DEGERANDo tm, S.219). 1m Gegensatz dazu h a tt e V o ln e y di e neueWJSSOD&chaftOm MCJISchen,. ancb tataichlich in praktisc:he Forschung umgese t z tunci eiDcn Bericht iiber seine v ie rj ih ri ge R e is e d u rc h Agypt en unci Syrien vorgelegt ,de r den k1assiscben Monog ra ph ie n s pi te re r F ac h ko ry ph ie n kaum n a ch st eh t ( vg l.hierzu MORAVIA WrI, S.133ff und S.189ff). "E I i st e rs ta un li ch , h ei St e s bereits im eraten Satz des genannten Textes, daB es ine incm Ze it a1t e r des E go is mu s s o v ie l M il he kostet, d en Mens ch en zu ubcrzeugen,da B e s am a ll erwi ch ti gs te n i st , s ic b s ei bs tz u. e rf or sc h cn> o (DEGERANDO 1m,S.219).D ie Z ei t def S ys tc me i st v or be i , h ei St e s be i i hm l ak on is ch b er ei ts 31 J ah re v ordem Tod HegeJ s .

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    ,., ware sie fU r un s ein tiefes Geheimnis, falls wir sie gesondert betrachte-ten; wenn wir sie aber mit abnlichen Erscheinungen vergleichen,erhellen diese sich gegenseitig.S4 Die besondere Wirkung jeder Ursa-che zeigt sich einzeln und unabhangig von den anderen, und darausergeben sich die allgemeinen Gesetze. Nur wenn man analysien,beobachtet man wirklich; in der Philosophie analysien man aufgrundvon Vergleichen, wie man es in der Chemie aufgrund des Spiels derAffinitiiten tut. (Ebd.)Den Sinn und die Wirksamkeit dieser noch recht allgemeinen methodolo-gischen Hinweise demonstriert Degerando in der FoIge imRahmen einerKritik an den Mangeln bisheriger Beobachtung, die sich wie folgtzusammenfassen lassen: Da die frilheren Reisenden imIner in Bewegungwaren, statt ruhig an einem Ort zu bleiben (DEGERANDO ebd, S.222),sich also nur kurz bei den Gegenstiinden ihrer Aufmerksamkeit aufbiel-ten (ebd.,S.223), muBten ihre Beobachtungen notwendig fragmentarisch,ungenau und unvollstiindig bleiben. So haben sie uns bald diese, bald jeneImpression mitgeteilt, die ihre Sinne in Erstaunen versetzte (ebd.), undihre einzelnen, oberflichlichen Eindriicke vorschnell fU r das Gauzegenommen, ohne hinreichend begriffen zu haben, daB es eine naUir-liche Verkettung gibt, die fU r die Richtigkeit der einzelnen Tatsachennotwendig Ist (ebd, S.223). Anstatt lehrreiche Berichte zu liefem,haben sie somit lediglich Formen besehrieben, einige Wirkungen fest-:gehalten und kaum eine Ursache angegeben (ebd.). Dariiber hinaushaben sich diese ohnehin ungeniigenden Beobaehtnngen hiufig nochdeshalb als unglaubwfudig oder g a r falsch erwiesen, weil die Reisendensich entweder allzu leichtgIaubig auf die EIzih1ungen und Zeugnisse vonWilden (ebd.) verlieBen, oder aber durch ihren Mangel an Unpartei-lichkeit, die durch ihre eigenen Ansichten bedingten Vorurteile, die Inter-essen ihrer EigenUebe und schlieBlich durch gerubJsmiiBige Abwehr(ebd., S.224) zu falschen SchluBfolgerungen verleitet worden sind:

    Beispielsweise ist nichts verbreiteter, als die Sitten der Wilden naehihrer Ubereinstimmung mit unseren Sitten zu beurteilen, die jedochsehr wenig mit ihnen gemeinsam baben. So schreiben sie ihnen aufGrund ihrer Handlungen nur deshalb gewisse Ansichten und gewisseBediirfnisse zu, weil sie bei uns gewohnlich von diesen Bediirfnissenund diesen Ansichten hervorgerufen werden. Sie lassen den Wildenaufunsere Weise denken. (Ebd., S.224)

    54 Hie r r ef ormu Ji er t D e g6 raDdo das bercits v on L a6 ta u angewandtc Prinzip derWCChseJseitigenErheHtmg (sichc obcn).

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    Der bedauerlichste Fehler zahlreicher, selbst sehr gelehrter Reisendersei es schlieBlich gewesen, da B sie es versiumten, die Sprache der wildenVolker vollstindig kennenzulemen, und uns entspreehend nachlassignber sie unterrichtet haben (ebd., S.225):

    Ihre sparlichen Auskiinfte sind in erster Linie weder ~enau nochrichtig, sei es, weil sie uns nieht liber die Methode untemehten, nachwelcher sie die Wilden befragt baben, sei es, well sie sich oft ka~bemiihen, die Fragen sinnvoll zu stellen. Die demonstrativen und dienaUirlichen Zeichen, die sie benutzt haben, um die Wilden nach demNamen der Gegenstiinde zu Iragen, lieBen oft selber vers~edeneDeutungen zu; wir konnen nicht wissen, ob diese Zeichen fU r die Me~-schen, an die sie gerichtet waren, da s Gleiche bedeuteten, und ob siefolglich ~e Fragen richtig beantworteten. (DEGERANDO ebd.)Aus dieseritiBerst hellsichtigen Mingelliste, die in nuee bereits all jeneProbleme nennt, die die Ethnologie bis heute beschifd.gen, leitetDegerando dann auch entsprechend umsichtige methodologisehe Konse-quenzen ab: Will man nber die bloBe Beschreibung kontingenter ~d vonzahlreichen Faktoren und Fehlerquellen abhangiger Ei n drUc k e hinausge-hen, so mull man sich letztlich der eigenen Angste, Vorurteile und Denk-kategorien entledigen; Wi l l man die Wilden also wirklich kennenler-nen, muB man zunichst gewissennaBen einer von ihnen werdeD (ebd.S.226). Dies IWnne aber nur gelingen, wenn man sich entsprechend langebei dem fremden Yolk a u f h i l t s 5 und dessen Sprache zu beherrschenlem~; denn Wiediirften wir uns einbilden, ein Yolk wirklich zu beob-55 Die Notwenc6gkei t c ines langen U~e rs uclmn~zej tr aum.es e rg ib t sich ~cht ~etztau s der Erkcnntnis, d a J 3 b es on de rs d ie c rs te P ha se der Fc1dfor sch tmg CInecmmen tkritiac:hc i sL N ic hl n ur gilt cs, die cigencD, a bw chr en d cn Augs te a bz ub au e n (vgl.D EGERANoO 1 97 7, 8 . 22 4) , die d a s s chocbr ti gc E r lc bui s d e r F remdhe it h e rvo rg c :: -rufen hat. a uc h muD man, cum.de l l Char ak te r e in e s Vo1ke s angcmcss cn zu beur te i-lC IP, d icaem Volk Z U D i c l 1 s t e iDmal Zeit l as se n (n . ), d amit s ei ne anfiDgIichen Go -fiihle der VerwwsderuDg, der Fureht unci der UIII 'Uhe vcrb1asscn kOl lneJ l, ehe mansich cbum mi t gew6lm li chen BcziehUDgCll z wi sc he n d en M itg lic de m d er G em ein -s cba f t wmaU l m a c: bt (cbd., 8.22S). Mit w a c : h c m Bcwu8 ts c in be scb rc lb t Dcg6r andobier in ADsitzen c ine kritiac:hc Situation, di e UDtcr c l e m Terminus cKultursc:hocb

    erst in UDSCrCID. JahrhWldert wieder aJs gnmdlcgende& P robl em d i s ku ti c rt wurde.56 Zu ihnlichcn Erkcnntnissen ka m bereits der Afrikafo rschc r Thomas Wmtc rb o tt om

    inden lH luazigcr Jahren des 18. JabrhUlldcrts . Au ch Wmtc rb ot tom b ct ODt e~c Not-wt ! -Dd igkc it liDprcr Aufenthaltc im StudicDgcbict B O W i e gutcr 8prac :bkenntmsse undmac:btc darOber h iDaus au f di e FragwDrdigkeit v on I nf on na ti on cn a us z we it er H an daulmcrbam: S c I b s t Dolmctscbcm Iwm man D i c : h t bliDdUn~ VcrtraUCDschcnkcl1,scbre ib t WlIItc rbot tom crst aunl ich problcmbewu8t, WCiI sic dazu ncigen , Antwor-ten so zu fi rben, d a B s ic d cr ErwartuDg ihres Berm cntgcgcukommCIP (zitiert uaebB lT I'E lU l1 97 6, 8 31 1) . Er sprach cJam j t cin Problem lUI, das I IOChboUle virulentisl.

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    achten, das wir nicht verstehen57 und mit dem wir uns nieht unterhaltenkonnen? (ebd., S.226).DaB mit dem zitierten Verstehens tatsichlich die vermittelt-reflexiveEbene des Sinnverstehens gemeint ist, wird an anderer Stelle in aIler .DeutIichkeit betont:Die Forschungsreisenden werden es nieht mehr bei .der einfaehenBeschrefbung der verschiedenen Konventionen bewenden lassen'sie werden soweit als moglich versuehen, ein VersUindnis des ihne~zugeschrlebenen Sinns, der von ihnen erzeugten Wirkungen und fUrihren Ursprung zu erlangen. (Ebd., S.231)

    Bevor ma n also fiber fremde Volker zu urtellen beliebt, miisse ma n sievemehen; bevor ma n Hypothesen bildet, eine groBe Zabl von Tatsachenzusammentragen (ebd, S.224). Dabei diirfe die Abfolge der Untersu-chungsschritte keincswegs arbitrir sein, sondem miisse vom Einfachenzum Komplexen fortschreiten und sieh grundsitzlich an der vorgefun-denen Wirklichkeit, am Gegenstand orientieren, der schlie.Bliehnieht inseine verschiedenen Teile zerlegt, sondem in seiner nattirlichen Verket-tung (ebd, S.223) aufgezeigt werden sollte:

    Man muS zuerst die Wirkungen untersuehen, bevor man auf dieUrsachen zuriickgeht; manMuS zuerst die einzelnen Menschen beob-achten, bevor man die Nation beurteilen kann; man muS zuerst diehaus1iehen Verhiltnisse der Familien kennen, bevor man die politi-schen Verhiltnisse der Gesellschaft untersucht (Ebd.)

    Entsprechend dieser methodologisehen Anweisung nennt Deg6rando imletzten und umfangreichsten Teil seiner Instructions ein an Beispielenerlautertes, komplexes und organiseh zusammenhingendes Verzeichnisder zu sammelnden Daten. Dieser eigentIiche, mit konkreten Empfehlun-gen fiir die Expeditionsteilnehmer versehene Fragenkatalog geht dabeisystematisch vom Bestand der bereits vorhandenen Kenntnisse aus58 for-dert dabei stets eine fiber die Feststellung des blo.Ben Angenscheins57 H