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über.morgen www.uebermorgen.at | Jahr 3, Ausgabe 7 | Fr 7.10.2011 | Kostenlos Menschen defäkieren S. 10 Menschen imaginieren S. 16 Menschen revoltieren S. 12 #global revolution Eine Utopie S. 14 Was wurde aus BSE? Ein Rückblick S. 18 Nur Opium fürs Volk? Eine Revolution und ihre Kinder Seite 4-8 Dein Begleitheft zur Krise FOTO: OLLILY FOTO: MARK POPROCKI FOTO: ROB JONES

07/2011 - Nur Opium fürs Volk?

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Ob nach dem Arabischen Frühling der Sommer kommt, oder gleich der Winter folgt, beleuchten wir auf den Seiten 4-8. Teuerungsrevolte 1911 - als Wiens Straßen brannten. Ein historischer Rückblick mit hoher Aktualität auf Seite 12 und 13. #globalrevolution, von der Empörung zur Selbstermächtigung,Seite 14. Das und vieles mehr in der neuen über.morgen

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über.morgenwww.uebermorgen.at | Jahr 3, Ausgabe 7 | Fr 7.10.2011 | Kostenlos

Menschendefäkieren S. 10

Menschen imaginieren S. 16

Menschen revoltieren S. 12

#global revolution Eine Utopie S. 14

Was wurde aus BSE?Ein Rückblick S. 18

Nur Opium fürs Volk?

Eine Revolution und ihre KinderSeite 4-8

Dein Begleitheft zur Krise

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über.ich

„Richtige Bildung“ im IranDie iranische Regierung verbietet Menschen mit Verbindungen zu „falschen“ Familien, Religionen oder politischen Organisationen das Recht auf höhere Bildung. Mitglieder der Bahá'í - Organisation, der größten religiösen Minderheit im Iran, werden systematisch davon abgehalten, freie Universitäten zu besuchen. Englische StudentInnen haben CAN YOU SOLVE THIS? ins Leben gerufen, um Druck auszuüben und für Aufmerksam-keit zu sorgen.

Weitere Infos unter: http://can-you-solve-this.org/de

Sexismus und Fleisch„Keine halben Sachen, sondern ganze Tiere - Zur Konstruktion hegemonialer Männ-lichkeit durch Fleischkonsum“, ist am 22. Oktober Thema eines Vortrages im Amer-linghaus. Anschließend gibt´s spannende Workshops und vegane Snacks. Hingehen! (15 Uhr, Stiftgasse 8/Veranstaltungsraum, 1070 Wien)

Atheismus im Wordrap

JenseitsRezner: Von Gut und Böse.

PapstR: Gibt es mehr als einen.

SexApfalter: Schön.

ParlamentA und R: Der Parlamentarismus ist reformbedürftig.

SchuldA: Oft ein theologisches Konzept.

GewissenA: Ein spannendes Konstrukt.

BewusstseinA: Gibt’s sehr viele.

RevolutionA: Sollte unblutig verlaufen.

WilleA: Im Alltag etwas sehr wichti-ges. Aber (wie so vieles) ein Kon-strukt.

BrotA: Für viele ein Grundnahrungs-mittel, für manche der Leib Christi.

Mit Wilfried Apfalter und Alexander Rezner von der Atheistischen Religions-gesellschaft in Österreich.

EvolutionA: Halte ich für eine Tatsache.

DogmaA: Ein griechisches Wort und heißt Meinung.

OpiumR: Es enthält Alkaloide.A: Etwas, das manche Leute zu sich nehmen.

DollfußR: Tollwut.A: Tollwut oder Dollfuß?R: Dollfuß, da kann man eh Toll-wut darauf sagen...

TodA: Ist leider irreversibel. Das ist das Schreckliche und das ethisch Wichtige daran.

MoralA: Etwas, das nicht nur Men-schen entwickeln.

NächstenliebeA: Unter diesem Wortlaut traditi-onell ein christliches Konzept.

ÖsterreichA: Der Name unseres Staates in dem wir leben.

Matthias Hütter

über.kurz

Wie man uns unterstützen kann: Nutzen Sie die Möglichkeit durch ein Spendenabo die über.morgen Monat für Monat frei Haus geliefert zu be-kommen: http://abo.uebermorgen.at oder [email protected]: 20010926409 | BLZ: 14200 BIC: EASYATW1 IBAN: AT431420020010926409 Zweck: über.morgen Alle Einlagen gehen ausschießlich zu-gunsten des Vereins (Druckkosten).

spende?

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Die Beiträge in Zeitungen und TV-Sendern sind weniger geworden – Ägypten ist aus dem Blickfeld der Welt gerückt. Wir nehmen das zum Anlass, die aktuelle Situation im Land zu beleuchten.Neue Spielregeln aushandeln und demokra-tische Strukturen errichten braucht Zeit. Der Übergang von ei-nem Regime zu ei-ner demokratischen R e g i e r u n g s f o r m geht nicht von heute auf morgen. Der Fokus der Medien verengt sich aber zusehends auf Ge-walt, Aufstände und Unruhen. Der häufig gezogene Schluss aus der medialen Berichterstattung: Die Revolution sei gescheitert, das Land könne ohne starken Mann an der Spitze nicht überleben. Ein Bild der Revolution, wie es auch der Militärrat bemüht ist zu zeichnen.

Eine ähnliche Situation gab es bereits 1952. Nachdem Generäle König Faruk I. gestürzt hatten, errichteten sie einen revolutionären Kommandorat. Von einer Übergangsphase

war die Rede. Danach, so versprachen die Generäle, würde

es freie Parlaments- und Präsidentschaftswah-len geben, Parteien, ein Ende der Korruption und Abschaffung der Sondergerichte.

Das war 1952. Im März 2011 versprach der Militärrat dasselbe. Aber bis heute werden

Zivilisten vor Mili-tärgerichte gestellt. Zehntausende wa-ren es seit März. Die Ausnahmege-setze wurden nicht wie versprochen außer Kraft gesetzt, sondern in vollem Umfang wieder eingeführt.

„They cannot kill the revolution“, sagt Nehad Abolkomsan (Seite 6). Weniger hoffnungsvoll sieht Kristin Jankowski die Situation (Seite

7-8). Das Militär sei der bisherige Gewinner der Aufstände. Was bleibe sei die Hoffnung, dass die Revolution gegen die repressive Herrschaft des Militärs wieder auf-genommen werde.Wir berichten.

[red]

onalen Protestaktion teilzunehmen, indem ihr euch unserem Aufruf anschließt oder indem ihr eure eigenen Aufrufe für dieses Datum erlässt. Es ist der Augenblick gekommen, die Stimme zu erheben. Unsere Zukunft steht auf dem Spiel, und niemand kann der Kraft von Millionen von Menschen trotzen, wenn sie sich in gemeinsamer Absicht vereinen.“

Auch in Österreich wird es an diesem Tag Protestaktionen geben. Das Programm:12.00 Uhr: Heldenplatz. Beginn mit trommeln und singen. Sammlung!Redekreis, Speakers-Corner, spontane Darbie-tungen - Eigeninitiative ist gefragt! Es können auch AktivistInnen auf den Straßen zur Teil-

Die spanische Demokratiebewegung «Demo-cracia Real Ya!» (Echte Demokratie jetzt!) ruft zu einer internationalen Mobilisierung auf. Hier ein übersetzter Auszug aus dem Originalaufruf:„Am 15. Oktober werden wir Bürgerinnen und Bürger der ganzen Welt auf die Straße gehen, um unsere Empörung über den Verlust unse-rer Rechte zu zeigen – Rechte, die uns durch ein Bündnis zwischen großen Unternehmen und der politischen Klasse entzogen werden. Wir von der Bewegung «Democracia Real Ya!» laden euch ein, an dieser friedlichen internati-

D ie aktuelle Ausgabe der über.mor-gen steht im Zeichen der Revolution.

10Tausende gingen am 17. September 1911 auf Wiens Straßen, um gegen unleistbare Mieten, Fleisch- und Mehlpreise zu demons-trieren. Ein historischer Rückblick mit ho-her Aktualität auf den Seiten 12 und 13. Ob nach dem Arabischen Frühling der Sommer kommt, oder gleich der Winter folgt, be-leuchten wir auf den Seiten 4-8. Wie es nach der #globalrevolution weitergehen könnte, fragt Wolfgang Weber: Über den Schritt von der Empörung zur Selbstermächtigung auf Seite 14. Eine Woche am Alexanderplatz in Berlin: Ein Aktivist berichtet von Polizeischi-kanen, Aufbruchstimmung und der Forde-rung nach echter Demokratie: Seite 9.

Wir stellen uns vor, dass Menschen Göt-ter gemacht haben und nicht umgekehrt: Wilfried Apfalter und Alexander Rezner von der Atheistischen Religionsgesellschaft in Gespräch mit über.morgen, Seite 16 und 17. Auf den Seiten 10 und 11 reden wir übers Scheißen. Wir haben bei diesem totge-schwiegenen Thema dem Drang nachge-geben, darüber zu schreiben. Gebellt und gesudert wird wie immer auf Seite 19.

Viel Spaß mit der neuen über.morgen wünscht, die Redaktion.

[red]

Die totgesagte Revolution

über.ich

über.inhalt

Aufruf zu internationalen Protesten am 15. Oktober 2011

nahme anregen.15.00 Uhr: West-Bahnhof. Demonstration durch die Innenstadt. Aus dem 1. Bezirk kommend, gelangt der Demo-Zug schließlich wieder auf den Heldenplatz.19.00 Uhr: Große allgemeine Versammlung auf dem Heldenplatz.

Die visionäre Devise: „Der kleinste gemein-same Nenner aus den vielen Stimmen, die nach einer Umwälzung rufen, ist ein Schrei! All unsere Stimmen sollen sich zu einem Schrei verdichten: zum Geburts-Schrei der globalen Revolution!“

[red]

Impressum: Medieninhaber & Herausgeber: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Taubergasse 35/15, 1170 Wien. Homepage: www.uebermorgen.at; Redaktion: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Taubergasse 35/15, 1170 Wien; Redaktionelle Leitung: Markus Schauta, Matthias Hütter; Layout: axt, cg; Herstellerin: Druckerei Fiona, www.fiona.or.at; Herstellungs- und Erscheinungsort: Wien; Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach §44 Abs. 1 Urheberrechtsgesetz: © Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen.Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet.

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über.thema

Auf der Corniche von Benghazi verkaufen kleine Stände selbstgebrannte CDs mit un-terschiedlichsten Soundtracks zur Revolution. Neben eher traditionellen Musikstilen erfreuen sich dabei auch Rap und Hip- Hop großer Be-liebtheit.

Schließlich hat die libysche Revolution nicht als Bürgerkrieg begonnen, sondern wie die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, als Jugendbewegung. Ein unter dem Pseudo-nym Ibn Thabit auftretender Hip Hop-Sänger

brachte es mit seinem Song ‚Die Frage‘, den er am 27. Jänner auf Youtube hochgeladen hatte, zu enormer Beliebtheit unter Libyens Jugend.

„Muammar, du hast nie den Leuten gedient, “ hieß es darin, „Muammar, gib besser auf und gestehe. Du kannst nicht entkommen. Unsere Rache wird dich ereilen. Wie ein Zug, der durch eine Wand fährt, werden wir Dich niederrei-ßen.“ Ibn Thabit hatte bereits seit 2008 regime-kritische Songs ins Internet gestellt und hatte damit einen wesentlichen Beitrag zur kulturel-len Herausforderung des Regimes geleistet. Der Musiker ist auch als Blogger im Internet aktiv, wobei er als einer der wenigen Internetaktivis-ten nicht nur auf Arabisch, sondern auch auf Tamazight bloggt, der Sprache der Berber, die unter Qaddhafis arabischem Nationalismus unterdrückt wurde und im Zuge der Revolu-tion ein Revival feiert.

Rap und Graffiti gegen IsolationAuch die in Benghazi beheimatete Band Guys Underground hatte mit einer Allegorie, in der sie einen tyrannischen Vater auftreten lässt, die Jugend der Hafenstadt auf den Aufstand gegen den Diktator vorbereitet. Die Hörer wussten nur zu gut, wer mit dem Tyrannen

gemeint war. Unter Qaddhafi hatte die sich im Untergrund entwickelnde Rapperszene keine Chance, im Fernsehen oder Radio aufzutreten. Jetzt sind die jungen Musiker, fast ausschließ-lich Burschen, Teil der Revolutionsbewegung.

Auch wenn sie dabei, wie die Hip Hopper von „AZ“, den Gihad gegen Qaddhafi besingen, verbindet diese Jugendlichen wenig mit den islamistischen Fraktionen in der heterogenen Rebellenarmee.

Benghazi ist eine liberale und weltoffene Hafenstadt geblieben. Graffitis zeugen nicht nur vom Hass auf den ehemaligen Diktator, sondern auch von der Begeisterung für Rap

Rap als Soundtrack zur RevolutionEin Streifzug durch die neue libysche Jugendkultur

Auf der Corniche von Benghazi verkaufen kleine Stände selbstgebrannte CDs mit unterschiedlichsten Soundtracks zur Revolution. Neben eher traditionel-

len Musikstilen erfreuen sich dabei auch Rap und Hip- Hop großer Beliebtheit.

Thomas Schmidinger

Foto: thoMAs schMidingerWie die Revolutionen in Tunesien und Ägypten hat auch jene in Libyen als Jugendbewegung begonnen.

„Muammar, du hast nie den Leuten gedient. Muammar,

gib besser auf und gestehe. Du kannst nicht entkommen.„Im Zuge der Militarisierung

der Revolution durch den Bürgerkrieg kam es auch zu einer Vermännlichung der Revolution.

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über.thema

und Hip- Hop. Die Jugendlichen wollten mit ihrer Rebellion nicht zuletzt aus der von Qad-dhafi verordneten Isolation ausbrechen. Die neuen Freiheiten gelten allerdings vorerst vor allem für die männliche Jugend. Ist die Hip Hop- und Rapper-Kultur auch in Europa und den USA stark männlich dominiert, so ist sie es hier ausschließlich. Hier feiern junge Män-ner nicht nur die Revolution, sondern auch ihre eigene Männlichkeit. Junge Frauen haben in dieser Szene als Akteurinnen wenig verloren.

Vermännlichte RevolutionImmerhin besingt Ibn Thabit die Frauen der

Revolution. In seinem Song ‚Frauen der Revolu-tion‘ feiert er die Rolle der Frauen nicht nur als Krankenschwestern und Mütter, sondern auch als Demonstrantinnen und Kämpferinnen.

In der sozialen Realität Libyens spielen Frauen heute vor allem als Gründerinnen von NGOs eine wichtige Rolle, wie Najla Elmang-oush erklärt, die selbst in Benghazi mit einer Reihe von NGOs zusammenarbeitet. Die junge Frau gehört zu einer Generation gut ausgebil-deter und selbstbewusster Frauen, die jetzt eine Chance sehen, sich gesellschaftlich ein-zubringen. Auch wenn dieses Engagement gesellschaftspolitisch relevant ist, so führt es aber nicht automatisch dazu, dass Frauen auch in politischen Gremien etwas zu sagen hätten.

Im Nationalen Übergangsrat (NTC) ist mit Salwa Fawzi El-Deghali nur eine einzige Frau namentlich bekannt. In ihren Zuständigkeits-bereich fallen Frauen und Justiz. Die Kämpfer an der Front sind ebenso männlich wie ihre Kommandanten. Im Zuge der Militarisierung der Revolution durch den Bürgerkrieg kam es somit automatisch auch zu einer Vermännli-chung der Revolution. Qaddhafis Anspruch, die Gleichberechtigung der Frauen voranzu-treiben, entsprach allerdings auch nicht der gesellschaftlichen Realität. Eine persönliche Leibgarde aus hübschen, jungen Frauen für den Revolutionsführer bringt noch keine gesell-schaftliche und politische Gleichberechtigung. Im Gegenteil: Frauen bildeten unter Qaddhafi den Aufputz, sie stellten Objekte seiner „Revo-lution“ dar, nicht ihre Subjekte.

Neue Freiheiten verteidigenOb dies mit der Revolution des Jahres 2011 an-ders sein wird, bleibt abzuwarten und wird auch von der Gesamtentwicklung Libyens abhängen. Ob der Bürgerkrieg mit der Nieder-lage Qaddhafis beendet ist oder sich an den

zahlreichen inneren Konflikten der Rebellen neu entzündet, wird dabei ebenso eine Rolle spielen, wie der zukünftige Einfluss islamisti-scher Gruppen unter den Rebellen.

Auch die neue Jugendkultur wird dabei möglicherweise ihre neuen Freiheiten zu ver-teidigen haben. Was derzeit im Dienste der Revolution geduldet wird, muss nicht notwen-digerweise nach dem Sturz Qaddhafis auf die Liebe der neuen Machthaber bauen können. Die Freiheit, dissidente Kunst veröffentlichen zu können, wird auch in Libyen immer neu erkämpft werden müssen. Der Zugang zum Internet, die Möglichkeit, Songs auf Youtube hochzuladen oder eigene Blogs zu verfassen, wird diesen Kampf um kulturelle Freiheiten allerdings erleichtern. So leicht werden sich die Jugendlichen ihre neuen Freiräume nicht mehr nehmen lassen.

Thomas Schmidinger ist Lektor am Institut für Politikwissenschaft und hielt sich im September 2011 zu einem kurzen Forschungsaufenthalt in Libyen auf.

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„Die Freiheit, dissidente Kunst veröffentlichen zu können,

wird auch in Libyen immer neu er-kämpft werden müssen.

über.rapAnspieltipps:Ibn Thabit – Looking for freedomwww. youtu.be/ELjLtCaPib8Ibn Thabit – Ms. Revolutionwww. youtu.be/ylrZ0JzjQr8Libyan youth rap for revolutionwww. youtu.be/nIObt5iq8aUEdaned – Libyan revolution rapwww.youtu.be/l4p9FWwtORI

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über.bildung

Der im April verhaftete Blogger Maikel Nabil Sanad schrieb: „Die Revolution hat es bisher nur geschafft, den Dikta-tor loszuwerden, aber nicht die Dikta-tur.“ Wird das Militär die Revolution beenden, noch bevor die Forderungen nach einem demokratischen Wandel durchgesetzt wurden?

Sie versuchen es, werden damit aber keinen Erfolg haben. Die Perspektiven der Revolutio-näre und des Militärrates sind grundsätzlich verschieden. Ich glaube, das Ziel des Militärrates war es, Gamal Mubarak loszuwerden. Von dieser Perspektive aus war die Revolution erfolgreich.Für das ägyptische Volk, das Veränderungen will, sieht die Sache natürlich anders aus. Es träumt von einem demokratischen Ägypten, wo die vorhandenen Ressourcen gerechter verteilt werden.

Ich spreche nicht nur von den 12 oder 14 Millionen, die auf die Straßen gegangen sind. Ich spreche von den 70 Millionen Ägyptern, die nicht betei-ligt waren und die begannen, sich für Politik zu interessieren. Vor dem 25. Jänner war niemand an Politik interessiert. Jetzt interessiert sich jeder für Politik. Und jeder hat hohe Erwartungen an die Revolution. Unabhängig davon, ob sie aktiv sind oder nicht. Sie erwarten sich ein besseres Leben. Unabhängig davon, wer ins Parlament kommt. Islamisten oder Säkulare, das spielt keine Rolle. Sie wollen Würde, ein besseres Leben, bessere Schulen, bessere Wohnungen und ausreichend zu essen. Das ist es, was sich jeder von der Revolution erwartet. Und natürlich Gerichtsverhandlungen gegen diejenigen, die Ägypten politisch und ökonomisch nachhaltig beschädigten.Auf Grund der unterschiedlichen Perspektiven handeln Militärrat und Regierung so langsam. Sie haben kein Interesse, umzusetzen, was das Volk fordert. Aber die Ägypter drängen darauf.

Ich glaube nicht, dass es dem Militärrat gelingen wird, die Revolution zu töten.

Die Parlamentswahlen sind für den 21. November geplant. Wer wird danach Ihrer Ansicht nach das Parlament do-minieren?Die Wahlen sollten nicht im November sein. Die neuen politischen Parteien hatten keine Zeit sich zu organisieren und Menschen zu mobilisieren. Davon werden die Muslimbrüder und ehemalige Politiker der NDP, die heute wieder aktiv sind und die Interessen der Oligarchen vertreten, profitieren. Dazu kommt, wenn es zuerst die Parlaments- und dann die Präsidentschaftswah-len gibt, dann bedeutet das, dass der Präsident unbeschränkte Macht haben wird, so wie es in der alten Verfassung festgelegt ist. Daher sollte zuallererst die Verfassung abgeändert werden.

Es ist zu befürchten, dass die alten Familien (Anm.: Oligarchen, die unter Mubarak ihren Einfluss über die NDP geltend machten) die Mehrheit im Parlament stellen werden. Die aber sind lediglich an Interessensvertretung interessiert. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Mubarak ist oder der Militärrat. Ich schätze, dass diese Leute etwa 60 Prozent des Parlaments ausmachen werden. Dazu kommen zwischen 20 und 25 Prozent Islamisten. Die restlichen Sitze werden unterschiedliche Parteien sich teilen. Das bedeutet, dass wir keine Demokratie haben werden. Die Wahlen müssen daher verschoben und politische Programme ausgearbeitet werden.

Seit der Revolution sind viele Stimmen laut geworden, die ihre Rechte einfor-dern. Vieles wurde aber nicht umge-setzt, wie schätzen Sie die Situation ein? Die Leute fordern höhere Löhne, Wohnungen und Essen. Weil die aktuelle Regierung sehr langsam arbeitet, haben sie die Schnauze voll.

Dabei könnten viele Dinge einfach und rasch erledigt werden.Z.B. die Forderungen der Nubier: Die Menschen fordern ja kein unabhängiges Nubien. Sie wollen lediglich Land an den Ufern des Nasser-Stausees. Das ist ihr Recht. Damals wurden sie enteignet, weil das Stauseeprojekt für Ägypten so wichtig war (siehe Infobox). Aber dafür soll ihnen neues Land von derselben Qualität wie ihr altes gegeben werden. Das alte Regime erfüllte ihre Rechte nicht, weil es korrupt war. Sie haben dieses Land für ihre eigenen Geschäfte genutzt, haben sich dadurch bereichert. Aber nun, nach der Revolution, sollte es klar sein: Die Rechte der Menschen müssen erfüllt werden.

Das ägyptische Volk hat seine Macht entdeckt. Das hat der Militärrat nicht begriffen. Das ist das wichtigste, das in dieser Revolution errungen wurde: Selbstvertrauen und Verlust der Angst. Das ägyptische Volk hat nun keine Angst mehr.

Danke für das Gespräch.

Der Militärrat wird die Revolution nicht töten!

Nehad Abolkomsan ist Vorsitzende des Ägyptischen Zentrums für Frauenrechte (ECWR). Über.morgen hat sie im ECWR-Büro in Kairo getroffen, um mit ihr

über das Militär, die Wahlen und die Nubier zu sprechen.

Markus Schauta

Ein Interview mit Nehad Abolkomsan

über.nubienGamal Abdel Nasser ließ in den 60-er Jah-

ren den Assuan Hochdamm errichten, um das Wasser des Nil zu stauen. Der Stausee erstreckt sich heute südlich von Aswan bis Wadi Halfa im Sudan: 500 km lang, zwi-schen 5 und 35 km breit. Auf der überflute-ten Landfläche lag das Siedlungsgebiet der Nubier. Die Menschen wurden damals ent-eignet und umgesiedelt. 45 nubische Dörfer und eine Million Dattelpalmen versanken im Wasser des Stausees. Die Kompensati-onszahlungen waren niedrig, das neue Sied-lungsgebiet lag weitab vom Nil. Die Nubier fordern, dass ihnen Siedlungsland an den Ufern des Nassersees zugesprochen wird.

Foto: nehAd AbolKoMsAn

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über.thema

Die Antwort scheint eindeutig: Es ist das ägyptische Militär, das das Land bereits seit 1952 regiert. Am 11. Februar 2011, dem Tag des Rücktritts von Hosni Mubarak, war die Eu-phorie groß. Feuerwerke waren zu sehen, Ju-belschreie waren fast überall in den Straßen Kairos zu hören. Auf dem Tahrir-Platz wurde bis in die Morgenstunden gefeiert. „Freiheit, Freiheit“ und „Demokratie, Demokratie“ riefen die Ägypter lachend.

Der zerplatzte TraumDoch die Euphorie verwandelte sich in Nüch-ternheit und Besorgnis. Die Herrschaftsstruk-turen haben sich nicht geändert. Von einer Revolution kann kaum gesprochen werden. Schrittweise hat sich das ägyptische Militär in das politische Rampenlicht zurückgedrängt. Zuerst ganz unauffällig. Nun ganz offenbar. Nachdem Hosni Mubarak von der Bildfläche verschwunden war, wurde die Macht an den Militärrat überreicht. Den Vorsitz hat Feld-marschall Mohammed Hussein Tantawi. Als die ersten Panzer am 28. Januar 2011 in den Strassen Ägyptens auftauchten, wurden sie

bejubelt. Es wurde neben jungen Soldaten in beiger Uniform posiert und es wurden Fotos geschossen. Grinsend. Und stolz auf die Ar-

mee, die die Demonstranten schützen sollte. Das Militär hielt sich zuerst zurück, griff nicht ein, als Protestierende auf dem Tahrir-Platz von angeheuerten Banden mit Stöcken und Steinen brutal angegriffen wurden.

Maikel Nabil hungert für sein VolkMaikel Nabil, ein 25-jähriger ägyptischer Blog-ger, zählte zu den Ersten, die ihre Befürchtun-gen öffentlich machten. In einem Artikel auf seiner Internetseite beschrieb er, dass die Armee gegen die Forderungen der Demonst-ranten sei. Dass das Militär willkürliche Fest-nahmen vollzieht und vor Folter nicht zurück-schreckt. Maikel Nabil befindet sich seit dem 11. April 2011 im Gefängnis. Sein Verbrechen: Er

habe die Armee beleidigt. Der junge Ägypter befindet sich derzeit im Hungerstreik, er will seine Medikamente nicht einnehmen. „Lieber will ich sterben, als im Gefängnis zu sein“, soll er gesagt haben. Sein jüngerer Bruder Mark und eine Gruppe von engen Freunden enga-gieren sich fast rund um die Uhr für Maikel Nabil. Er zählt zu den rund 12.000 Ägyptern, die nach den Protesten vom 25. Januar 2011 vor Militärgerichte gestellt wurden. Das sind düstere Schicksale, die sich die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz nicht gewünscht hatten.

Gesucht: Freiheit und DemokratieVon „Freiheit“ und „Demokratie“ ist in Ägyp-

ten noch lange nicht viel zu sehen. Seit dem 11. September 2011 wurde offiziell wieder der Ausnahmezustand ausgerufen. Und das, weil Demonstranten vor der israelischen Botschaft protestierten und in der Nacht das Gebäude stürmten. Die Polizei griff nicht ein, um die

israelische Botschaft zu beschützen. Dem Notstandsgesetz wurden prompt neue Para-graphen zugefügt. Nun steht es auch unter Strafe, Falschmeldungen zu verbreiten. Was nun falsch und richtig ist, scheint im Auge der Autoritäten zu liegen. Menschenrechtsaktivis-ten und Journalisten kritisieren das Notstands-gesetz stark. Schließlich zählt die Abschaffung des Notstandes zu den Kernforderungen der Demonstranten vom 25. Januar 2011. Der Aus-nahmezustand soll wahrscheinlich bis Mitte 2012 anhalten. Das heißt rund 1,5 Jahre nach den Massenprotesten könnte der Notstand in Ägypten abgeschafft werden.

Würden Wahlen etwas ändern?Ende 2011 oder Anfang 2012 sollen wahrschein-lich die Präsidentschaftswahlen stattfinden. Ein genaues Datum wurde noch nicht genannt. Erst vor einigen Tagen veröffentlichte der Mi-

Foto: MArKus schAutA

Mehr als sieben Monate ist es nun her, dass Hosni Mubarak zurückgetreten ist. Zahlreiche Medien sehen den Sturz des ehemaligen Präsidenten als

Resultat der 18-tägigen Proteste an. Doch je mehr Zeit vergeht, desto häufiger stellt sich die Frage: „Wer ist bis jetzt der Gewinner des Aufstandes?“

Kristin Jankowski

„Die Herrschaftsstrukturen haben sich nicht geändert.

Von einer Revolution kann kaum gesprochen werden.

„Bei vielen, vor allem jun-gen und liberalen Ägyptern,

herrscht die Angst vor den konser-vativen Salafisten und der Muslim-bruderschaft.

„Maikel Nabil befindet sich seit dem 11. April 2011 im

Gefängnis. Sein Verbrechen: Er habe die Armee beleidigt.

Der Tahrir-Platz am 8.9.2011

In Ägypten nichts Neues

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über.thema

9.9.2011: Auf der ersten Demo seit Ende des Ra-madan versammelten sich 30.000 Menschen am Midan Tahrir. Unter anderem forderten sie vom Militärrat, eine Unter- und Obergrenze für Löhne festzulegen.

Frisst Israelhass Revolution?

litärrat die Termine für die Parlamentswahl. Am 28. November 2011 soll es losgehen und sich bis zum 3. Januar 2012 hinziehen. Unter den neu auf die politische Bühne Getretenen, haben sich bisher keine starken Parteien bilden können. Zudem scheint auch keiner der Präsi-dentschaftskandidaten die Herzen der Ägyp-ter gewonnen zu haben. Bei vielen, vor allem jungen und liberalen Ägyptern, herrscht die Angst vor den konservativen Salafisten und der Muslimbruderschaft. Und bei anderen regt sich die Befürchtung, dass das Militär seine Macht,

die es seit 1952 inne hat, nicht abgeben wird. So erregte ein Auftritt von Mohamed Tantawi vor einigen Tagen in der Innenstadt Kairos Aufsehen, als dieser Hände schüttelnd durch

die Straßen ging. Dabei hatte er seine Uniform abgelegt und einen schwarzen Anzug getragen.

Die online Ausgabe der Zeitung „The Atlantic“ stellte diesbezüglich folgende Frage: „Wird Feldmarschall Tantawi der nächste Präsident von Ägypten?“ Eine Frage, die sich die Ägypter in den nächsten Monaten wahrscheinlich noch öfter stellen werden.Falls es nicht doch noch zu einer Revolution kommen sollte.

Kristin Jankowski arbeitet am Goethe Institut in Kairo, wo sie den Blog transit betreut.http://blog.goethe.de/transit/

„Wird Feldmarschall Tantawi der nächste Präsident von Ägypten?

K o m m e n t a r

P remier Recep Tayyib Erdogan wurde im September bei seinem Besuch in Kairo be-

jubelt. Der große Applaus, den man dem türki-schen Premier entgegenbrachte, galt vor allem seiner Haltung Israel gegenüber. Dass er in der Türkei von Journalistenorganisationen mit Vor-würfen über Zensur und Unterdrückung der Medien konfrontiert ist, scheint dabei nicht von Interesse. Umso verwunderlicher für ein Land, dessen Pressefreiheit durch das vom Militärrat in Kraft gesetzte Ausnahmegesetz bedroht ist.

Israelgegner finden sich in Ägypten quer durch alle politischen Lager. Dabei geht es aber nicht allein um außenpolitische Fragen. Selt-same Verschwörungstheorien über ein Weltju-dentum sind genauso im Umlauf, wie religiös gefärbte, antijüdische Propaganda.

Das Regime Mubarak bewahrte den Frieden mit Israel, die USA haben sich mit hohen Zu-wendungen revanchiert. Gleichzeitig verbrei-teten jedoch Zeitungen, TV-Sender, Verlage und politische wie religiöse Autoritäten ein von der Realität entkoppeltes Bild von den Juden bzw. Israel.

Damit ist nicht die Kritik an der Politik Isra-els gemeint. Sondern eine oftmals rassistische antijüdische Propaganda zu der die Leugnung des Holocaust ebenso zählt, wie Studien des verstorbenen Sheikhs der al-Azhar Universi-tät, Muhammad al-Tantawi, der den fiktionalen Text „Die Protokolle der Weisen von Zion“ als Quelle zur Geschichte des Judentums heran-gezogen hat.

Scheinbar allzuleicht lassen sich in Ägypten mit antiisraelischen Reden Stimmen gewinnen und Menschen mobilisieren. Es war kein Zufall, dass in den letzten Tagen Mubaraks regimena-

hes Fernsehen ausländische Journalisten als jüdische Spione „entlarvte“.

Im April wurde der Blogger Maikal Nabil Sanad verhaftet. Er kritisierte nicht nur den Militärrat, sondern sprach sich auf seinem Blog auch für das Existenzrecht Israels aus. Ein Grund, für die mangelnde Solidarität die ihm in Ägypten auch von Seiten der Militärkritiker und Befürworter eines demokratischen Wan-dels entgegengebracht wird.

Es bleibt zu hoffen, dass sich Anti-Israel-Propaganda nicht zu sehr in den Vordergrund drängt und dadurch von den zahlreichen Prob-lemen, die es in Ägypten zu lösen gilt, ablenkt. Bei Erdogans Angriff auf die Pressefreiheit und Maikal Sanads Verhaftung scheint das bereits geschehen zu sein.

Markus Schauta

Foto: MArKus schAutA

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gast.beitrag

20. August 2011. Eine lose Vernetzung von Akti-vistInnen entscheidet sich dazu, die Umstände, die unser tägliches Leben beeinflussen, nicht mehr länger hinzunehmen. Ein Protestcamp nach spanischem Vorbild ist der Traum, den sie haben. Es geht nicht darum, konkret etwas zu fordern, denn sie alle wissen: Es gibt viele Probleme. Jedoch gilt auch: Für jedes Problem gibt es eine Lösung, wenn man beginnt, sie zu suchen.

Jeder gibt das, was er kannDen Menschen vom Alexanderplatz ging und geht es darum, gemeinsam über eben diese Lö-sungen zu sprechen. Samstag, gegen 22 Uhr, werden die ersten Zelte aufgebaut, nachdem eine spontane Demonstration angemeldet wurde. Bereits beim Aufbau des Camps wird eine Sache schnell klar: Die Menschen, die sich hier versammelt haben, interessieren sich für das, was sie gemeinsam haben und nicht für die wenigen Dinge, die sie unterscheiden. Ein 3x3 Meter großer Pavillon, zwei Banner und acht Zelte sowie knapp 30 Leute, die dazu bereit sind, einen Aufruf für eine bessere Zukunft zu machen. So beginnt das Protestcamp in Berlin. Große Veränderungen liegen weltweit in der Luft und die „Acampadistas“ sind sich dessen bewusst. Sie reden über ihre Vergangenheit, das System in dem sie leben und immer wieder kommt ihnen die Erkenntnis, wie wichtig es ist, dass wir alle mitbestimmen können, welchen

Weg die Menschheit in Zukunft einschlägt. Die erste Asamblea findet statt und immer mehr Menschen schließen sich der wachsen-den Schar auf dem Alexanderplatz an. Jeder möchte etwas beitragen, bringt sich mit Ideen ein. Kreativität und Aufbruchstimmung liegt in der Luft. Es läuft ein wenig nach dem Motto "Jeder gibt das, was er kann, und Freiheit ist all das, was keinem anderen schadet".

PolizeischikaneDie Stimmung wird immer besser und neue Freundschaften entstehen. Später an diesem Abend taucht das erste Mal die Polizei auf und versucht die Camper vom Platz zu vertreiben. Hier wird zum ersten Mal klar, dass diese lose Ansammlung von Menschen sehr wohl weiß, auf was sie sich da eingelassen hat. Anstatt sich vertreiben zu lassen, versuchen die Camper der Polizei klar zu machen, dass es sich bei diesen Zelten um Symbole einer internationalen Be-wegung handelt und man nicht dazu bereit ist, sich die Rechte auf Meinungsfreiheit, Wahl der Protestmittel und das Versammlungsrecht ab-erkennen zu lassen.

Die Polizei versuchte fortan alles, um die Ba-sisdemokraten vom Alexanderplatz zu vertrei-ben. Sitzen, schlafen oder auch nur kurz Aus-ruhen wurden vom Staat kurzerhand verboten und durch die Beamten vor Ort verhindert. Al-les, was sie mit ihren Methoden erreichten, war jedoch, dass sie bei den Aktivisten den Willen,

ein Zeichen zu setzen, immer weiter stärkten.Die Polizei weckte diejenigen am Platz, die

vor Erschöpfung einfach einschliefen, benutze Lichthupe und Sirene, um das Camp zu terro-risieren und erteilte Platzverweise für all jene, die die Bewegung unterstützen wollten. Das führte dazu, dass man einfach etwas enger zusammenrückte, mehr Kaffee zu sich nahm und gemeinsam mit etwas musikalischer Be-gleitung durch eine Akustikgitarre die Über-griffe so lange aushielt, bis die Sonne wieder schien. Denn sobald die ersten Berliner auf dem Weg zur Arbeit über den Alexanderplatz liefen, traute sich keiner der Polizisten mehr, weiter-hin die Camper zu attackieren.

Die Empörung bleibtEine Woche lang hielten die Menschen unter diesen Bedingungen aus, bis dann am Freitag die Obrigkeit entschied, das Camp endgültig aufzulösen. Doch die Empörung bleibt und ist seitdem im ganzen Land sogar noch gewach-sen. Für uns Camper gilt: Es war eine Woche voller Leben, in der so viele Menschen so viel von sich Preis gegeben hatten und eine Sache immer klarer wurde: Wir sind nicht gegen das System, das System ist gegen uns. Mit jeder Menge Optimismus, Kreativität und natürlich Empörung fordert Berlin seit dem 20. August echte Demokratie! Wir fordern echte Demokra-tie, und werden sie weiter fordern.

Das Acampada von BerlinErlebnisbericht eines AktivistenE in Ableger der spanischen Protestbewegung in der deutschen Hauptstadt

musste sich, trotz großem Veränderungswillen, der eigenen Müdigkeit und den Schikanen der Polizei beugen. Doch der Widerstand lebt weiter.

Die BesetzerInnen

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Alexanderplatz, Berlin

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„Reden wir über´s Scheißen!“, heißt es manch-mal in erlesenster, von heiterer Bierseligkeit begleiteter, lockerer und entspannter Freun-desrunde. „Diese männlichen Befindlich-keitsergüsse, gekoppelt an Alkoholexzesse!“, würde die Schriftstellerin Barbara Frischmuth hier höchst empört einwerfen, um das Thema gleich im Keim zu ersticken, die Finger auf der Tastatur am besten gleich vor Scham erstarren und den rechten kleinen Finger hurtig-gedückt in Richtung Backspace-Taste huschen zu lassen.

Entleibungsprozesse: Opfer der SchamNix da. Denn genau das ist es nicht. Im Ge-genteil: Die Defäkation oder Exkretion gehört genauso wie die gelegentlich unvermeidbare Vomitation, die eindringliche Sekretion, die äu-ßerst hilfreiche Respiration und nicht zu ver-gessen, die tapfere Eradikation zur erlauchten Familie der unerlässlichen Ausscheidungsvor-gänge. Kein Wunder also, dass man den Drang spürt, sich über die diversen Erlebnisse und Er-fahrungen auszutauschen. Ist ja kein Kinderfa-schingsgschnas das Ganze. Es geht ja auch um den quasi aufdringlichsten aller dieser Entlei-bungsprozesse. Warum macht mann es dann nur in vertrauensvoller, männlicher Runde? Ganz einfach: Weil er sich schämt. Darüber spricht mann mit Frauen nicht. Freud würde sich freuen, hörte er das, denn da hat wohl das Triebhormonungetüm wieder ein Tabu aus ei-nem, die Reproduktionstätigkeit gefährdenden Thema gemacht. Oder hat es nur das kulturelle Tabu aufgegriffen und es im Balzritualvorgang unter No-Go eingespeichert? Das Huhn oder das Ei? Oder rein männliche Homophobie – es geht ja schließlich um das werte Hinterteil und

wenn da was rauskommen kann, dann könnte mann das ja falsch verstehen, denn da kann ja auch was rein, aber um Gottes Willen, vielleicht wird mann dann verdächtigt, ergo Themen-wechsel oder besser gar nicht etc. etc... Viel-leicht sprechen Frauen andauernd über ihre Exkretionserlebnisse und finden nichts dabei. Wer weiß, wer weiß. Nur nicht ansprechen...

Memento mori täglichWenn ich mich schon stundenlang über die neueste Spaghetti-Kreation con Rucola e Po-modori austauschen kann, dann sollte mensch das auch über die sonderliche Erscheinungs-form, in welcher diese seinen Körper wieder in Richtung Nirvana verlässt. Denn von der KoSt zum KOT ist es nicht weit, und das nicht nur schriftlich. 9-12 Meter und die Metamorphose ist perfekt. Memento mori täglich. Ist es das? Wir wollen nicht ans Nirvana denken und mei-den die uns turnusmäßig ereilende Metapher des Unausweichlichen aus purer Angst davor, auch noch im zwischenmenschlichen Bereich zur Beschäftigung damit genötigt zu werden, wo wir dies eh schon alleine aushalten müs-sen, und das auch noch täglich? Wer weiß das schon...

Shittalk als karitative LebenshilfeEines ist auf jeden Fall klar: Es ist Zeit für ei-nen Paradigmenwechsel. Memento cacare! So wie man sich auch über nette oder gruselige Restaurants austauscht, kann, soll, ja muss der somaphile Mensch dies auch über jene Orte tun, die er gemeinhin die stillen nennt, jene, wo auch der Kaiser alleine hingegangen ist. Dies ist ein Plädoyer für klassischen Shittalk als karita-

tive Lebenshilfe, ein Entwicklungshilfeangebot im vernachlässigten Feld der Klokultur. Es geht ja immerhin um eine mindestens 5000 Jahre alte Kulturtechnik. Verklemmte Skeptiker kön-nen sich diesbezüglich ruhig per E-Mail an Jack Sims aus Singapur und seine World Toilet Orga-nisation (WTO) wenden [worldtoilet.org/wto].

Augen zu und durchNicht, dass ich mich etwa um die Erörterung des Kernthemas herumdrücken will... In me-dias res: Für den äußerst kritischen und ganz und gar nicht unwahrscheinlichen Fall, dass einer von euch sich schon morgen, spätestens aber übermorgen auf dieser (siehe Foto) Toi-lette wiederfinden sollte: schnell wieder raus! Oder: Augen zu und durch, Licht gibt´s näm-lich sowieso keines. Das heimelige Örtchen befindet sich übrigens auf einem Boot. Most likely leidet der Befreiung Suchende unter sintflutartigem Durchfall. Die Kohletabletten werden meist auch schon ausgegangen sein. Das Boot tuckert auf einem Fluss. Der braune Strom kloakelt durch den Dschungel. In diesem Fall durch jenen von Laos. Auf der mindestens 10-stündigen Fahrt wird einem das Vergnügen nicht erspart bleiben: Geld-zurück-Garantie. Aber keine Sorge, als Entschädigung gibt´s die Wassertonne anstatt der Klopapiermachérolle. Und einen hippen Plastikschöpfer gleich dazu. Der Bonus: Das Wasser ist schon Braun. Feine Sache. Viel Spaß!

Uwe studiert Germanistik und ist ein großer Bewunderer des Dramatikers Werner Schwab.

über.reden

Ein toter Winkel im PorträtWir reden drüber

Schwimmendes Dschungelklo in SüdostasienFoto: uwe

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G a s t k o m m e n t a r

E in Tag an der eigenen Uni kann großartig sein. Ausgeschlafen aufgewacht, noch kurz

im Bett gekuschelt. Raus aus den Federn, sich selbst geputzt und angezogen. Ein Frühstücks-brot mit ein paar Stücken Gurke (oder Apfel, Nektarine, Tomate oder was ihr wollt - Haupt-sache frisch!). Den Kaffee mit auf den Weg zum und durch den Campus, der hier (Ich berichte aus England) frisch und grün stahlt in der frü-hen Sonne. Die Laubbäume verlieren bunte Blätter, der Herbst ist noch warm. Die großen Gebäude wollen, dass man in ihnen Unwissen verliert. Und ich will das auch.

Den Scheckkartenausweis gezückt und rein in die Bib (Hallward Library an der University of Nottingham). Im Erdgeschoss zu den freien Computern, alles ist neu und comfortable hier. Da studieren viele locker vor sich hin, essen Vi-negar-Chips und Sandwiches zwischendurch.

Ich beginne, so nach 3 Seiten scheint sich der Kaffee zu melden. Ja, ich habe gelernt, darüber nicht zu sprechen, aber: Das mit dem Morgen-kaffee ist nicht nach dem Trinken erledigt. Da muss man schon dann noch wohin.

Und da gibt es ganz klar zwei Qualitäten von Orten. Die guten, an denen man einfach kann,

weil die Kabinen geschlossen und einigerma-ßen geräuschdämpfend sind. Die schlechten, die oben und unten offen sind, sind hier. (Der Trick: Wissen, zu welcher Zeit wahrscheinlich keiner kommt und dann locker kommen las-sen.)

Ann-Katrin aus Düsseldorf studiert derzeit in Nottingham und leidet wie 3 Millionen andere Deutsche unter Paruresis.

Es tagt der Sonne Morgenstrahl

über.reden

G a s t k o m m e n t a r

Manchmal ist es einfach ein Krampf. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es drückt

und schiebt in den hintersten Bereichen der Darmgegend. Leichte Lüftchen suchen sich schon den Weg aus dem Schließmuskel. Schweißtropfen machen sich auf der Stirn breit und man versucht mit aller Kraft alles drinnen zu behalten. Aber nirgends ist etwas in der Nähe, um einem Erleichterung zu ver-schaffen. Die Erlösung lässt einfach auf sich warten. Doch dann erreicht man ihn. Strahlend schön. Weiß. Ein Deckel aus weißem Kunststoff. Freundlich mit seinem Spülkasten gurgelnd erwartet er einen. Der Porzellan-Gott. Der Freund aller. Ohne ihn wäre das Leben halb so schön. Einfach mal die Hose runterlassen und ausspannen. Alle Sorgen fallen lassen. Hach. Nichts geht über einen guten Stuhlgang...

Und wenn ich es genauer betrachte, ist die Zeit am Töpfchen, quasi die Scheißzeit, eine durchaus wichtige. Eine Studie hat dies kürzlich

bewiesen: In Österreich wird die Verweilzeit auf der Schüssel nämlich als Entspannung oder guter Augenblick zum Nachdenken wahrge-nommen. Gut die Hälfte der Österreicher liest ganz gern am Töpfchen und ganze sieben Pro-zent empfinden ihre täglichen Sitzungen als inspirierend. Und ich mag diesen Gedanken! Wenn ich nämlich meine Porzellanzeit absitze und mir der Gedanke kommt, dass um 1490 ein Herr Kolumbus so herumgedrückt hat und ihm plötzlich die Idee kam nach Amerika zu segeln, hat das sicherlich einen Sinn gehabt. Oder nicht ganz 400 Jahre später Maria Theresia ihrem Leibarzt und Berater vom Nachttopf zugeru-fen hat, er solle doch mal ein Konzept für die Schulpflicht ausarbeiten, dann empfinde ich die Sitzung auch als nicht mehr ganz so nutzlos.

Ach ja, wenn dies damals schon die Bauern gewusst hätten! Denn Knechte hatten jedes Jahr ihre Scheißtage an denen sie die hinter der Herzchentür verbrachte Zeit wieder ein-arbeiten mussten. Unbezahlt natürlich. Oft ist das Endergebnis dann doch nur ein sinnloser Gedanke. Eine geistige, durch Flatulenzen un-

termalte Kakophonie. Und jetzt ist sicher auch nicht schwer zu erraten, wo mir die Idee zu die-sem Text gekommen ist…

Franz ist Historiker und publizierte 2006 im dtv den kulturhistorischen Klassiker "Die kurze Geschichte des Klopapiers".

Klogedanken und Flatulenzen

Alles andere als still war das Örtchen im alten Rom.

Steril und kalt: das westliche Standardklo

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Wien, 1911. Seit über einem Jahr stiegen die Fleischpreise ins Unermessliche. Der Mehl-preis hatte sich verdoppelt. Massenzuwande-rung verschärfte die Wohnungsnot, die Mieten explodierten. Allein in den letzten zehn Jah-ren zogen 350.000 Menschen neu nach Wien. Erst in den 1870er-Jahren überschritt Wien die Ein-Millionen-Einwohner-Grenze. Bis 1910 ver-doppelte sie sich auf 2,08 Millionen. Wien war damit – in etwa gleichauf mit Berlin – die dritt-

größte Stadt Europas (hinter London und Paris) und die siebtgrößte der Welt – ebenso eine der am dichtesten bewohnten. Die Zugewanderten waren überwiegend einfache Arbeitssuchende, die durch die Industrialisierung von den bäu-erlichen Regionen rund um die Hauptstadt der Monarchie nach Wien gelockt wurden. Der (fast ausschließlich private) Wohnbau konnte (und wollte) mit dieser Bevölkerungsexplosion nicht mithalten.

Gentrifizierung anno 1900Neue Stadtteile, wie etwa Neulerchenfeld, wur-den am Reißbrett entworfen und außerhalb des Linienwalls (heute: Gürtel) errichtet. Erst zu jener Zeit, um die Jahrhundertwende, wur-

den die „Inneren Bezirke“ (Neubau, Josefstadt etc.) auf Kosten der alteingesessenen Arbeiter-, Handwerker- und Kleinunternehmer-Familien zu jenen „bürgerlichen „Hochburgen, die sie im kollektiven Bewusstsein der WienerInnen ver-meintlich „schon immer“ waren. Wien erlebte seine erste große Gentrifizierungs-Welle.

Das Elend der teuren und dicht bewohnten Massenbehausungen war so groß, dass sogar die Betten im Tag-/Nacht-Rhythmus geteilt wurden (so genannte „BettgeherInnen“).

Dieses Umfeld war es, das den Sozialdemo-kraten zu jenem kometenhaften Aufstieg ver-half, der nach dem Ersten Weltkrieg zum „Roten Wien“ mit all seinen Errungenschaften führte. Dieser Weg war bis zum Ende des Ersten Welt-kriegs (das Wahlrecht war noch eingeschränkt, die Mandatsverteilung im Reichsrat entspre-chend) nicht einfach. Immer wieder sah sich die Partei, die die Wut der Bevölkerung in ge-ordnete Bahnen lenken wollte, mit spontanen Aufständen und Streiks konfrontiert. Die So-zialdemokraten betrachteten die Unruhen als Bedrohung mit denen sie nichts zu tun haben wollten. So auch am 17. September 1911.

Eskalation zwischen Rathaus und Palais EpsteinRund 30 Abgeordnete der SPÖ wetterten ab 11 Uhr gegen die Ignoranz der Regierung ge-genüber der horrenden Inflation. Etwa 36.000 (laut Polizei) bis 100.000 (SPÖ) Menschen, die in einer Sterndemo aus den Bezirken zum Rathausplatz zogen, lauschten ihnen. Unter-brochen wurden die Beiträge, so „Die Neue Zeitung“, immer wieder durch Rufe wie „Hoch

Portugal! Hoch die Revolution! Englisch spre-chen! Generalstreik! Passive Resistenz!“ – die sich offensichtlich (u.a.) auf die Aufstände in Portugal 1910 bezogen, wo der König ermordet und die Republik ausgerufen wurde. Transpa-rente mit „revolutionären Aufschriften“ und Fahnen wurden um die Statuen am Rathaus-platz gebunden. Als die SPÖ die Kundgebung für beendet erklärte, blieben viele am Platz und skandierten weiter gegen das Rathaus. Auf ein „unbegründetes“ Gerücht hin, dass aus dem Rathaus mit Steinen geworfen wurde, entstand ein Steinhagel gegen das Rathaus, das weitge-hend entglast wurde – erste einschreitende Polizisten wurden ebenfalls attackiert, unter anderem mit Bierkrügerln, Sesseln und Fäs-sern eines nahe gelegenen Gasthauses. Auch

Böller und Feuerwerkskörper wurden bereits verwendet.

Die derart eskalierende Lage veranlasste die Einsatzleitung, Militär „mit blanker Waffe“ (Säbeln) gegen die Menge vorgehen zu lassen. Hierzu wurden eine Division Dragoner, Ulanen und Husaren (allesamt Kavallerie) sowie un-garische und bosnische Infanterie eingesetzt. Der Einsatz nicht ortsansässiger Einheiten zur Bekämpfung von Aufständen war in der Mo-narchie „bewährte“ Praxis. Die zehntausende Menschen starke Menge wurde nun Richtung Bellaria (beim Volkstheater) abgedrängt, wo ein neues Gerücht die Runde machte: Aus dem Palais Epstein (damals Sitz des Verwal-tungsgerichtshofes) seien zwei Schüsse auf die Menge abgegeben worden. Also griff man

Teuerungsrevolte 1911Als Wien brannte

Foto: FlicKr, tAo_zhyn

über.politik

Am Sonntag, den 17. September 1911, versammelten sich nach Aufruf durch die SozialdemokratInnen bis zu 100.000 Menschen am Rathausplatz. Sie

demonstrierten gegen stark gestiegene Mieten, Mehl- und Fleischpreise. Nach Kundgebungsende eskalierte die Lage.

Nick Wolfinger

„Das Elend der teuren unddicht bewohnten Massen-

behausungen war so groß, dass sogar die Betten im Tag-/Nacht-Rhythmus geteilt wurden.

„Es kam zu einem Tumult, es fielen Schüsse – und eine

erneute Salve streckte schließlich 40 Menschen verletzt zu Boden.

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abermals zu Steinen und Stöcken um unter lauten „Pfui“-Rufen auch dieses Gebäude zu entglasen. Nun kannte der Zorn der Masse keine Grenzen mehr: Schaufenster in der Mu-seumstraße, Burggasse, Lerchenfelder Straße wurden demoliert, Laternen zerstört, mehrere

Straßenbahnwägen entglast (zum Entsetzen der noch darin sitzenden Passagiere), einer sogar umgeworfen (letztendlich wurden 70 Wägen beschädigt oder zerstört, einer brannte vollständig aus). Bierfässer wurden als Barrika-den auf die Straßen gerollt, die Menge jedoch immer weiter nach Ottakring abgedrängt.

Vorstadt-AufstandGegen Abend waren immer noch tausende Menschen auf den Straßen Ottakrings, insbe-sondere Neulerchenfelds. In der Thaliastraße wurden alle Straßenlaternen zerstört, aus den Fenstern wurden Bügeleisen und ande-rer Hausrat auf die durchreitenden Soldaten geschmissen. Als die Infanterie zur nahe am Gürtel gebauten Barrikade anrückte, von der aus Burschen und Männer jene Steine schmis-sen, die ihnen die Frauen zutrugen, kam es zum ersten schweren Gefecht auf Ottakringer Boden. Die Soldaten erhielten das Kommando „Feuer“, die Menge wich zunächst zurück, doch wurde bei den „blind“ abgegebenen Schüssen niemand verletzt – woraufhin die Menschen auf die Soldaten zustürmten um ihnen die Waffen zu entreißen. Es kam zu einem Tumult,

es fielen Schüsse – und eine erneute Salve streckte schließlich 40 Menschen verletzt zu Boden. In der Folge zog sich die Menge bis zum Hofferplatz zurück, ohne auch nur eine einzige Fensterscheibe (in „ihrem“ Viertel) zu zerstö-ren. Dort wurden neue Barrikaden gebaut, das Schulgebäude entglast und im Anschluss von „100 Burschen“ gestürmt und ausgeräumt, während vor dem Platz neue Barrikaden gegen die anrückende Militärmacht errichtet wurden.

Als nach einer geglückten Gefangenenbe-freiung in der Panikengasse gegen 3:30 Uhr der allgemeine Schussbefehl erteilt und der Ausnahmezustand verhängt wurde, konnte der Aufstand allmählich eingedämmt wer-den. Ottakring war militärisch besetzt. In Eil-verfahren wurden hunderte Verhaftete zu ab-schreckend hohen, „schweren Kerker“-Strafen verurteilt, darunter höchstwahrscheinlich auch

Unbeteiligte. Einer erhängte sich wenige Tage später in seiner Zelle, es war der vierte Tote der Aufstände.

Wien 1911 – London 2011Die Bilanz des Ottakringer Aufstands: offiziell

149 Verletzte (die Dunkelziffer dürfte weit dar-über liegen, da aus Angst vor Verhaftungen die Krankenhäuser gemieden wurden), vier Tote, rund 500 Verhaftungen und 283 Eil-Verurtei-lungen zu "schwerem Kerker". Nicht nur die unmittelbare Verurteilung zu harten Strafen (zwecks Abschreckung) sondern auch der hohe Anteil von Jugendlichen, hinter deren Rücken das „Lumpenproletariat“ Geschäfte plünderte, lassen Parallelen zu den London Riots 2011 au-genscheinlich werden. Nach Jahrzehnten stei-genden Wohlstands und sozialer Sicherheit für eine breite Masse geht die Entwicklung in Europa seit den 1990er-Jahren wieder in die entgegengesetzte Richtung.

Am 17. September 2011, zum 100. Jahrestag der Teuerungsrevolte, gab es einen Rundgang zu den Schauplätzen der Krawalle samt szenischer Lesung von Texten aus der Arbeiter-Zeitung um auf Parallelen zur Gegenwart aufmerk-sam zu machen. Rund 150 Personen aller Al-tersgruppen beteiligten sich dabei. Am Abend gab es ein Straßenfest mit Volxküche, Lesung, Diskussionsrunde und Konzerten am Hoffer-platz, unter regem Andrang von Kindern und Jugendlichen aus dem Quartier, das damals wie heute von ArbeiterInnen (und einfachen Angestellten) geprägt ist - bloß sind es heute statt tschechischer türkische Familiennamen, die auf den Türschildern stehen.Wer sich mehr für das Thema interessiert fin-det Infos und Links auf: http://17september.noblogs.org

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„In Eilverfahren wurden hunderte Verhaftete zu

abschreckend hohen, „schweren Kerker“-Strafen verurteilt

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über.denken

Machen wir die Bestandsaufnahme und schauen wir uns in Europa und in Nordamerika um. Es kann kein Zufall sein, dass „die westliche Welt“ mit ihrer Marktwirtschaft und ihrer „Demokratie“ in der Krise ist. Der Götze Geld verliert an Glaubwürdigkeit und im selben Ausmaß verlangen die BürgerInnen ihr Recht auf Mitbestimmung. Aber mensch verlangt ja nur was mensch nicht hat. Also müssen wir davon ausgehen, dass wir derzeit kein Recht auf Mitbestimmung haben und die Werkzeuge, die uns die Demokratie in die Hand gibt, untauglich sind. Wahlkampf ist Brainwashing, jeder weiß das und trotzdem spielen wir mit. Gleichzeitig werden ziviler Ungehorsam, Demonstrationen und kreative Aktionen immer öfter diskreditiert und kriminalisiert.

Staatsfeind InternetIn ganz Europa in jedem einzelnen Land wer-den nationale Gesetze gegen den Terrorismus beschlossen. Der größte Staatsfeind aber, das Internet und die Social Networks sind nicht so leicht zu beherrschen. Zwar gibt es Vorratsda-tenspeicherung, Bundestrojaner und sicher noch vieles, von dem wir gar nicht wissen, dass es existiert, aber beherrschen können sie das Internet nicht. Das macht PolitikerInnen und

„der Wirtschaft“ Angst. Mündige BürgerInnen, die mitbestimmen wollen. Oder gar mündige BürgerInnen, die tatsächlich mitbestimmen? Aber wie soll das erreicht werden? Die Bewe-gung „echte Demokratie“ ist eine wunderbare Möglichkeit, Lösungen zu finden und die Masse an kreativen, entschlossenen, Menschen, die überall auf die Straße gehen und zeigen, dass „wir“ besser in der Lage sind, Lösungen zu fin-den, als Parteien. Auf der Straße sind wir aber leicht angreifbar, wir brauchen ein durch Ge-setze legitimiertes Vehikel, um an die Schalt-stellen des/der Staaten/s zu kommen.

Fake-DemokratieIn dieser unserer „repräsentativen Demokratie“ sind es also Parteien, die gewählt werden, die MandatarInnen aufstellen, welche wiederum dann im Parlament Gesetze beschließen. Ei-gentlich nur die ChefInnen der Parteien; denn

alle anderen fügen sich dem Klubzwang. Der Kreis ist also sehr klein und wird nur durch die InteressenvertreterInnen erweitert. Die Lob-byistInnen der Wirtschaft setzen sich bekann-terweise immer besser durch als die Gewerk-schaften und das erscheint doch etwas seltsam, wenn wir wissen, wieviele Menschen hinter den jeweiligen InteressensvertreterInnen ste-hen. Da müssten doch die ArbeitnehmerInnen-vertreterInnen wesentlich besser abschneiden, aber wir wissen, dass das nicht der Fall ist, also läuft etwas schief. Deshalb fordern die Men-schen echte Demokratie, weil die repräsenta-tive Demokratie gar keine Demokratie ist und nur vorgibt, eine zu sein.

Es gibt eine legale, völlig unangreifbare Möglichkeit, den RepräsentantInnen dieser Fake-Demokratie zu zeigen, dass wir sie nicht mehr ernst nehmen. Viele tun das und bald werden sie die Mehrheit sein. Es sind die NichtwählerInnen. Es ist ein starkes Zeichen, es ist ein taugliches Mittel, die Botschaft kommt auch beim Empfänger an. Aber sind sie davon beeindruckt? Bleiben die Sitze im Parlament leer? Nein!

Von der Empörung zur SelbstermächtigungWenn aber diese nicht abgegebenen Stimmen doch abgegeben werden, nicht einer Partei,

sondern einer Bewegung, die das Ziel hat, je-den Menschen im Land dazu in die Lage zu ver-setzen, selbst mitzubestimmen, Parteien und BerufspolitikerInnen abzuschaffen und der echten Demokratie zum Durchbruch zu ver-helfen; und wenn alle WählerInnen auch Teil dieser Bewegung sind, dann sind WählerInnen und Gewählte ident, haben sich selbst gewählt und den ersten Schritt von der Empörung zur Selbstermächtigung geschafft.Bis zu den nächsten Wahlen ist genug Zeit, um herauszufinden, wie so eine Bewegung beschaf-fen sein muss, unter welchen Voraussetzungen jemand ein Mandat annehmen kann, für wie lange, und wie die Machtakkumulation bei

einzelnen Personen verhindert werden kann.Von Anfang an muss jede/r an den Plena teilnehmen und sich zu Wort melden können. Niemand muss - aber jede/r kann wenn, er/sie will. Diese Partizipation sollte idealerweise auch via Internet, also virtuell, möglich sein.

Wolfgang Weber

#globalrevolution - was dann? Eine Utopie

„Es kann kein Zufall sein, dass „die westliche Welt“

mit ihrer Marktwirtschaft und ih-rer „Demokratie“ in der Krise ist.

„Wahlkampf ist Brainwa-shing, jeder weiß das und

trotzdem spielen wir mit.

„Deshalb fordern die Men-schen echte Demokratie,

weil die repräsentative Demokra-tie gar keine Demokratie ist und nur vorgibt, eine zu sein.

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Die junge Generation rebelliert

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über.denken

Entgegen anderslautenden Vorausmeldungen wurde die bedarfsorientierte Mindestsicherung am 1. September 2010 nicht in ganz Österreich eingeführt.

Der soziale „Meilenstein“ war von Anfang an von einer boshaften Neiddebatte und Vorurteilen begleitet.

Peter Gach

Unter diesen Umständen kann ein Meilenstein eigentlich nur zum Stolperstein für all die Men-schen werden, die auf die Mindestsicherung angewiesen sind. Entweder als letztes soziales Netz, weil sie sonst überhaupt kein Einkommen hätten. Oder als ergänzende Transferleistung, wenn das Arbeitslosengeld oder das Einkom-men aus der Erwerbstätigkeit viel zu gering ist.

Zahnloses VerschlechterungsverbotKurz nach Einführung der Wiener Mindestsi-cherung kam es zu einem ersten Aufschrei von MitarbeiterInnen von NGOs und Vereinen der Obdachlosen- und Wohnungslosenhilfe. Wer eine Nacht in einem Notquartier verbringen wollte, musste vier Euro dafür bezahlen. Eine Nacht in einem Notquartier kann beim besten Willen nicht als Wohnen bezeichnet werden; der Aufenthalt ist zeitlich befristet, von Privat-späre kann keine Rede sein.

Nicht verschwiegen werden darf, dass es seit Einführung der Mindestsicherung auch einige Verbesserungen gegenüber der frühe-ren Sozialhilfe gibt. So sind jetzt alle Mindest-sicherungsbezieher krankenversichert und haben eine eigene eCard. Außerdem wird ein so genanntes Schonvermögen in der Höhe von ca. 3.700 Euro zuerkannt, das nicht veräussert werden muss, damit der Anspruch auf die Mindestsicherung gewährt wird. Irgendwie sang- und klanglos untergegangen ist das Ver-schlechterungsverbot. Dieses sollte verhindern, dass Mindestsicherungsbezieher weniger Geld erhalten als bei der früheren Sozialhilfe. Auch der Verzicht auf Regresszahlungen (Verwandte konnten zur Rückzahlung ungerechtfertigt er-haltener Sozialhilfe herangezogen werden) ist nicht in allen Bundesländern gewährleistet. Ein

ganz großer Nachteil für Mindestsicherungsbe-zieher in den Bundesländern ist die 12-malige an Stelle der 14-maligen Auszahlung pro Jahr, war in Zeiten der Sozialhilfe doch Wien das einzige Bundesland in Österreich, wo die So-zialhilfe nur 12 Mal pro Jahr ausbezahlt wurde.

Meilenstein oder Stolperstein?Zu den angeblichen Verbesserungen der Min-destsicherung zählen jetzt Beträge, die in der Mindestsicherung inkludiert sind. Dazu gehö-ren Sonderzahlungen, die früher bei Notfällen beantragt werden konnten, wie etwa Geld für Kleider und Hausrat. Dafür bekommt man jetzt Bezugsscheine für die Ausgabe von gebrauch-

ten Kleidern aus Kleiderlagern der Caritas, der Volkshilfe oder dem Wiener Hilfswerk.

Mietrückstände, die früher von den Sozial-ämtern oft zur Gänze übernommen wurden, werden jetzt nicht mehr so ohne weiteres ge-nehmigt und immer mit dem Hinweis, dass die Miete in der Mindestsicherung inkludiert ist. Früher gab es in allen Bundesländern die Mög-lichkeit, eine so genannte Richtsatzüberschrei-

tung zu beantragen, wenn jemand eine beson-dere Diät benötigte, weil er z.B. Diabetiker war. Auch solche Kosten, die meist eine zusätzliche finanzielle Belastung der Betroffenen darstel-len, sind jetzt angeblich in der Mindestsiche-rung inkludiert. Was schlicht und ergreifend eine Ungleichbehandlung von Gesunden und Kranken bedeutet.

Armut trotz MindestsicherungJedes Jahr werden in den Ländern der EU In-formationen über die Lebensbedingungen der Privathaushalte erhoben. EU-SILC (Community Statistics on Income and Living Conditions) dient zur Berechnung des jährlichen Durch-schnitteinkommens. Die Armutsgrenze wird jeweils aus der Differenz des Medianein-kommens von 60% des Durchschnitteinkom-mens errechnet. Für 2005 war das ein Betrag von 734 Euro. Diese Zahl, die wohl nicht ganz zufällig identisch ist mit der Ausgleichszulage bei den Mindestpensionen, wurde 2010 - im Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung - für die Höhe der bedarfsorientierten Mindestsicherung heran-gezogen. Im Jahr 2008 lag die Armutsgrenze bereits bei 951 Euro, womit gesagt werden kann, dass die Mindestsicherung in einer Höhe ausbezahlt wird, die weit unterhalb der aktu-ellen Armutsgrenze liegt.

Peter Gach ist Langzeitarbeitsloser in Wien. Auf seinem Blog „Ka Hack’n für’n Gach“ be-richtet er aus der Sicht eines Betroffenen über eine zunehmend prekäre Arbeits- und Alltagswelt.

Ein Jahr Mindestsicherung in Österreich

Ka Hack’n für’n Gach

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über.denken

Wie lange gibt es eure Religions- gesellschaft schon?

Apfalter: Vom Bundesgesetz über die Rechtsper-sönlichkeit religiöser Bekenntnisgemeinschaften [BGBl. I Nr. 19/1998, Anm.] habe ich nach 1998 erfahren. Und dann ist die Idee gewachsen...

Ist eure Gesellschaft momentan als Ver-ein organisiert?A: Sie ist nicht als Verein angemeldet, sie ist ein rechtliches Nullum. Ein informeller Zusammen-schluss, weil wir gleich die Stufe einer "staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemein-schaft" erreichen wollen. Wenn wir einen Verein gründeten, dann dürfte das nur ein Verein zur Förderung sozialer und kultureller Aktivitäten dieser Gruppe sein, aber nicht ein religiöser.

Warum aber begründen bekennende Atheisten eine religiöse Bekenntnisge-meinschaft?A: Aus Gründen der Gleichberechtigung. Das Religionsrecht, das derzeit in Österreich gilt, sieht eben vor, dass Religionsgemeinschaften eine bestimmte Art von rechtlicher Stellung haben. Wir als jemand, der auch ein religiöses Bekenntnis hat, wollen auch gleichberechtigt werden auf der rechtlichen Ebene. Das heißt nicht unbedingt, dass wir auch diese [kirchli-chen, Anm.] Privilegien genießen wollen. Ich bin herzlich froh, wenn diese Sonderstellung entprivilegiert wird und zu einer Normalstel-lung, wie zum Beispiel nach dem Vereinsrecht, umgeändert wird.

Ist also folgender Schluss richtig: Weil ihr davon ausgeht, dass die kirchlichen Privilegien in naher Zukunft nicht ab-geschafft, und somit die Interessen von Gläubigen nicht anerkannter Richtun-gen auch weiterhin nicht berücksich-

tigt werden, habt ihr euch entschieden, eine Interessensvertretung für Leute, die AtheistInnen sind, zu gründen...

A: Eine religiöse Interessensvertretung für in Österreich wohnende Menschen, die unsere Art von Glaubensvorstellung und unsere Art von Atheismus teilen.

Rezner: Wobei wir uns auf eine - meiner Mei-nung nach - Minimalvariante einigen konnten, die wahrscheinlich die meisten AtheistInnen unterschreiben würden.

Wie schaut diese Minimalvariante aus?A: Kurz gesagt stellen wir uns vor, dass Menschen Götter gemacht haben und alle diese Götter als von Menschen gemachte Götter existieren und nicht umgekehrt. Und wir wollen, dass das auch als religiöses Bekenntnis anerkannt wird in Österreich.

Und die zentrale Doppelfrage, die sehr viele Religionen beschäftigt, nämlich „Woher komme ich und wohin gehe ich?“, wie ordnet ihr diese ein?A: Da habe ich als Biologe und als Philosoph genügend andere Bereiche, die mir sehr sinn-stiftende Antworten bieten, mit denen ich selber auch forschen kann. Da brauche ich nicht die Religion. Auch Werte muss ich nicht aus der Religion ableiten.

Der Name eurer Religionsgesellschaft klingt wie ein klassisches Oxymoron. Wie lassen sich Atheismus und Religion verbinden?

R: Atheismus ist nur das Gegenteil von Theismus, aber nicht das Gegenteil von Religion.

A: Ich halte unseren Atheismus für ein religiöses Bekenntnis. Es ist eine religiöse Frage in welcher Weise Gottheiten existieren und wirksam sind und Kontakt haben mit Menschen oder sonst irgendwas tun.

R: Und zwar ist bei einem Mythos zum Beispiel auch immer die Stellung des Menschen in der Welt gefragt. Wir sagen, dass Gottheiten nicht Menschen erschaffen haben und den Rest der Welt, sondern wir glauben, dass Menschen in ihren jeweiligen Kulturen ihre jeweiligen Gott-heiten erschaffen haben. Und diese existieren, und zwar als Kulturprodukte. Wenn man ins Kino geht, sagt man, man geht IN einen Film. Man schaut so gespannt zu, dass man sogar vergisst, dass neben einem andere ZuschauerInnen sind, weil das so präsent ist. Als Filmfiguren existieren diese Figuren, die dort vorkommen.

A: Es wäre lächerlich zu leugnen, dass es so viele Gottheiten, wie halt bekannt sind, gibt – in den Vorstellungen der Menschen. Als Inhalt in Bildern, als Figuren in irgendwelchen Erzählungsplots. Und die haben halt auch Effekte, diese Vorstel-lungen. Manche Menschen widmen ihr ganzes Leben und auch das vorgestellte Leben nach ihrem Leben diesen Kommunikationen mit den Gottheiten.

Was ist für euch Religion?A: Da gibt es sehr viele Zugänge. Zum Beispiel, den Ansatz, dass Religion auch dadurch geför-dert wird, dass Menschen und auch andere

Das KultURPRODUKT Gott

„Es wäre lächerlich zu leug-nen, dass es so viele Gotthei-

ten, wie halt bekannt sind, gibt – in den Vorstellungen der Menschen.

Alexander Rezner und Wilfried Apfalter von der Atheistischen Religionsgesellschaft in Österreich über Tiger, Kino und Tollwut.

Von Matthias Hütter

Foto: MAtthiAs hütter

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Lebewesen so etwas wie einen life detector im Gehirn haben, der bei religiösen Menschen leichter anzuspringen scheint, auch wenn nie-mand da ist. Das kann man sich so vorstellen: Das ist ein Mechanismus im Gehirn, der hilft, einem festzustellen, ob man belauert wird, ob hinter einem jemand ist, den man nicht sieht. Das kann überlebensförderlich sein.

R: Solche Dinge werden auch gefördert, wenn Menschen Muster erkennen, auch in Dingen, die nicht systematisch sind. Sie erkennen im-mer wieder etwas Bestimmtes und glauben: Dahinter steht ein System – aber es ist nur Zufall. Ein Beispiel: Die ersten Leute, die den Tiger gesehen haben und weggelaufen sind und schnell genug waren, haben es überlebt. Beim nächsten Mal, als es wieder geraschelt hat, sind vielleicht wieder manche gelaufen und manche haben vielleicht gesagt: „Naja, wir haben noch nicht genügend Samples, um zu wissen, ob da immer beim Rascheln der Tiger kommt“, und sind vielleicht gefressen worden und haben sich einfach nicht weiter vermehrt...

Und wie sieht, im Hinblick auf die ge-plante staatliche Anerkennung, der rechtliche Religionsbegriff aus?A: Es gibt keine positivrechtliche Definition, was Religion ist. Es gibt nur eine Lehrmeinung unter den Rechtsprofessoren und in der Judikatur. Allgemein wird davon ausgegangen, dass eine Religion einen Mythos, ein Ethos und einen Ritus umfasst.

Euer Ritus?A: Bei uns gibt es einige Vorschriften, die das Verhalten der Mitglieder, vor allem der Mitglieder des Präsidiums, gestalten. Wenn ein Mitglied neu aufgenommen wird, muss es zum Beispiel die Statuten durchlesen.

Das Ethos?

A: Die Mitglieder sollen sich, wenn sie in ihrer Eigenschaft als Mitglieder agieren, an die Statuen halten.

Der Mythos?A: Ist unsere Religionslehre. Weil das eindeutig eine nicht in jedem Einzelfall wissenschaftlich nachweisbare Behauptung ist, sondern eine Begründungsgeschichte und ein Mythos im Endeffekt.

Um überhaupt um staatliche Anerken-nung als religiöse Bekenntnisgemein-schaft ansuchen zu können, benötigt ihr mindestens 300 Mitglieder. Aktu-eller Stand: 99 [2.10.2011, Anm.]...A: Sogenannte Anhänger...

Laut Volkszählung von 2001 sind 23,9% der Österreicher konfessionslos [inkl. „ohne Angabe“, Anm.]. Seid ihr mit der Mitgliederentwicklung zufrieden?A: Ich war sehr optimistisch am Beginn. Opti-mistischer, als sich jetzt die Entwicklung darge-stellt hat. Ich bin immer noch sehr optimistisch, dass wir das Ziel erreichen, es wird nur etwas länger dauern.

Woran könnte diese Entwicklung lie-gen?A: Daran, dass wir nicht sehr offensiv in den Medien präsent sind. Aus finanziellen Gründen...

R: Und es ist wahrscheinlich leichter, irgendwo auszutreten, als irgendwo beizutreten.

Wieviel Potential hat der Atheismus in Österreich?A: Nach der europäischen Wertestudie 2008 sind ungefähr 4% der Wohnbevölkerung bekennende Atheistinnen und Atheisten.

Wie realistisch ist der zweite und finale Schritt: Jener zur anerkannten Kirche und Religionsgesellschaft?A: Den ersten Schritt [zur staatlich aner-kannten religiösen Bekenntnisgemeinschaft, Anm.], den halte ich für sehr realistisch.

R: Nach heutigem Recht ist es so: Wenn man den Fuß in der Tür hat und als staatlich an-erkannte Bekenntnisgemeinschaft existiert, muss man nur noch wachsen und lange genug existieren, dann bekommt man automatisch den zweiten Status.

Seit 2009 gibt es in Österreich einen Zentralrat der Konfessionsfreien. Ko-operiert Ihr mit diesem?A: Wir wurden angefragt, ob wir die nicht auch als Gründungsorganisation unterstützen wollen. Das hat für uns den gewissen Charakter eines Widerspruchs. Wenn wir eine konfessionelle Anerkennung finden wollen, können wir nicht gleichzeitig im Zentralrat der Konfessionsfreien mitarbeiten.

R: Die Problematik, die ich mit diesen Konfessi-onslosen sehe ist, dass sie kein Mandat haben Konfessionslose zu vertreten. Weil da kann man keine Mitgliedschaft als Person beantragen, sondern nur als Verein, bzw. als Gruppierung.

A: Der Anspruch des Zentralrats ist aber, alle diese 23% der Wohnbevölkerung, die konfessi-onsfrei sind, zu vertreten. Es ist ein allgemeines Legitimationsproblem.

R: Und es stellt sich die Frage, ob diese Leute alle von denen vertreten werden wollen. Bei uns dagegen kann man eindeutig sagen: Diese Mitglieder vertreten wir.

Danke für das Gespräch!

Wilfried Apfalter, Lehrbeauftragter am In-stitut für Philosophie an der Uni Wien, und Alexander Rezner, angehender Kindergar-tenpädagoge, sind die Gründer der Atheis-tischen Religionsgesellschaft in Österreich. www.atheistische-religionsgesellschaft.at

über.denken

„Wir glauben, dass Menschen in ihren jeweiligen Kulturen

ihre jeweiligen Gottheiten erschaf-fen haben.

„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir die 300 haben.

Fotos: MAtthiAs hütter

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vor.gestern

Was war das doch gleich?

BSE, die „bovine spongiforme Encephalo-pathie“, auch Rinderwahn genannt, ist eine schwammartige Erkrankung des Gehirns bei Rindern. Fehlgeformte Prionen, also Eiweiße, verursachen vermutlich die Krankheit, in dem sie den benachbarten Zellen ihre Form aufzwingen und so die Infektion der Gehirn-zellen verbreiten.

Die Gehirnzellen sterben schließlich ab, und es entsteht die typische schwammartige Ge-hirnerweichung.

Wie die Seuche zu einer werden konnte, weiß immer noch keiner so genau. Vermutet wird aber, dass sich die schadhaften Prionen im Tier-mehl verbargen, das aus (teilweise infizierten) Tierkadavern hergestellt wurde.

Menschen sind angeblich insofern betroffen, dass sie mit einer Variante der tödlich verlau-fenden Creutzfeldt-Jakob-Krankheit infiziert werden, wenn sie kontaminiertes Fleisch essen. Bewiesen ist diese These zwar nicht eindeu-tig, mangels einer besseren Erklärung für das plötzliche Auftreten dieser neuen Variante der

Krankheit, wird in der Wissenschaft aber davon ausgegangen.

Zahlen, Daten, FaktenBSE hat eine lange Geschichte, schon 1984 trat der erste Fall von BSE in Großbritannien auf, die Spitze erreichte die Seuche dort 1993.

Ebenfalls stark betroffen waren Irland, die Schweiz und Frankreich. Nach Deutschland kam die Seuche erst relativ spät, im Jahr 2000 wurde der erste originär deutsche BSE-Fall entdeckt.

Ein Jahr darauf wurde die Massenvernich-tung von 400.000 Rindern angeordnet – EU-weit 1,6 bis zwei Millionen – allerdings aus wirtschaftlichen Gründen, um den beinahe zusammengebrochenen Rindfleischmarkt zu entlasten.

BSE heuteDie BSE-Fälle sind in der gesamten Europäi-schen Union zurückgegangen, Maßnahmen, unter anderen die genauere Etikettierung bezüglich des Herkunftsortes des Fleisches, die Einführung des BIO-Siegels und des BSE-

Der Wahn und die gemahlenen Tierkadaver: BSE - Ein Rückblick

über.reste

Unser Zahlenrätsel

Taumelnde Rinder, Massenschlachtungen und plötzlich 2,4 Millionen Vegeta-rier in Deutschland – das war die BSE-Krise im Jahr 2001. Heute ist das Thema

BSE völlig aus den Medien verschwunden, keinen interessiert mehr, was vor zehn Jahren für reißerische Schlagzeilen und Panik in der Bevölkerung sorgte. Aber was ist geworden aus der Seuche? Ein Rückblick.

Franka Fuchs

Schnelltests, sowie strengere Richtlinien für Futtermittel scheinen gegriffen zu haben.

In Deutschland wurde 2010 erstmals kein Fall mehr festgestellt, in Großbritannien ist die Zahl auf sieben gesunken.

Zwar hat die Forschung noch viele offene Fragen zu klären, dennoch kann vorerst mal gesagt werden: BSE ist wohl tatsächlich von vor.gestern.

Unser LieblingsplatzDiesmal weniger ein wirklich geographisch festna-gelbarer Ort: der Wurstsalon. Wir wissen nicht wo. Keiner weiß das. Gut, die OrganisatorInnen hoffent-lich schon... „Secret Location. Guestlist Only.“ - das Schöne: Jeder kann sich selbst einladen, ganz ein-fach unter wurstsalon.at. Und für die Vegetarie-rInnen, VeganerInnen und FruktarierInnen unter euch: Keine Bange! Es handelt sich hierbei nicht um einen herumziehenden Fleischermarkt mit Schwerpunkt auf gefüllten Darmhäuten, oder gar um eine Fortbildungsstätte für kreative Tierverwertung, sondern um eine obskure Location mit guter Musik (ok, über diesen Punkt streiten sich die Bloggergeister, also sagen wir lieber: mit Musik) und allem drum herum. Also: Es ist Zeit, sich einzuladen! Die Party will es so.

Foto: FlicKr, FliKr

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über.reste

D e r mensch-

liche Körper besteht bis zu

75 % aus Wasser. Empfohlene Trink-

menge pro Tag: 2-3 Li-ter Minimum. Ein Flüssig-

keitsverlust von nur 2 % kann bereits zu beträchtlichen Ein-

schränkungen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit führen.

Kurzum: Jeder weiß, Trinken ist wichtig. Nicht so die Universität Wien - im großen Le-

sesaal der Universitätsbibliothek ist das Trinken verboten. Der Grund ist noch absurder als das Ver-

bot selbst: „Aus Lärmgründen“. Klar, laut knirschend eine Wasserflasche aufzudrehen, gluckernd zu trinken,

und mit einem dumpfen „Klonk“ die Flasche wieder auf den Holztisch zu stellen, würde die Nachbarn sicher sehr erzürnen.

Was die Universität Wien dagegen nicht als störend empfindet, ist die ein fürchterlich nerviges Sirren verursachende Klimaanlage, die

den Saal auf gefühlte zehn Grad herunterkühlt – und das bis Mitte oder Ende Oktober... oder so. Genaueres weiß da leider keiner, der Spaß wird

nämlich zentral geregelt. Da kriegt man doch wieder das Gefühl, die Uni Wien möchte es ihren Studierenden so schwer machen, wie´s nur irgendwie geht.S u

d e r e c k:

Wa s s e r m

a ng e l

[arr]

Heute ein Hinweis in allgemeiner Sache: Du hast manchmal das Gefühl, als würde dich jemand von hinten penetrieren, aber es ist niemand da? Du hörst seltsame Stimmen, die aus deinem eigenen Mund kommen? Wenn du kleine Hunde, spielende Kinder oder ein Kreuz siehst, beginnen deine Augen rot zu leuchten und du speist grüne, ätzende Erbsensuppe? Dann hast du dir den Beelzebub eingefangen. Melde dich einfach bei deiner nächsten Kirche oder unter der Nummer 666-TEUFEL-KOMM-RAUS-69

Eure über.morgen-Tierredaktion

der Woche

Achtung Satirerl!

Anze

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·

It takes about

384trees to makethe toIlet paperthat one manuses wIthIn hIslIfetImesave a twIgcut thIs page!