2012 Wilhelm Heitmeyer - Studie zur Desintegration

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  • 7/31/2019 2012 Wilhelm Heitmeyer - Studie zur Desintegration

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    28.02.2012 8 Kommentare

    "Biologen verwenden fr Organismen, die zeitweise oderdauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen aufKosten anderer Lebewesen - ihrer Wirte - leben, bereinstimmend dieBezeichnung ,Parasiten'." (Bundesministerium fr Wirtschaft und Arbeit,2005, S. 10 )

    Obenstehendes Zitat aus der Sammlung von Herrn Heitmeyer stammt

    aus einer Broschre des Bundesministeriums fr Arbeit und Wirtschaft,unter der direkten Verantwortung des damaligen Bundesministers frArbeit und Wirtschaft, Wolfgang Clement. Sie erschien 2005 mit einemTitel im Strmerstil: "Vorrang fr die Anstndigen - Gegen Missbrauch,'Abzocke' und Selbstbedienung im Sozialstaat".

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    KONFLIKTFORSCHER WILHELM HEITMEYER

    Rette sich, wer kannDer Soziologe Wilhelm Heitmeyer arbeitet seit 1982 an den Themen

    Rechtsextremismus und sozialer Desintegration. Im Mrz wird er

    den Gttinger Friedenspreis erhalten. VON GABRIELE GOETTLE

    Leitet an der Uni Bielefeld das Institut fr interdisziplinre Konflikt- undGewaltforschung: Soziologe Wilhelm Heitmeyer.

    Bild: dpa

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    (BMWA 2005, S. 10.) Die Anzeigen gegen Clement wegenVolksverhetzung wurden von der Staatsanwaltschaft Berlin abgewiesen.Begrndung: Zur Volksverhetzung fehle es an einem Angriff auf dieMenschenwrde. Um solche Tendenzen geht es Herrn Heitmeyer auchin seiner Studie. Ich bitte ihn um eine Art Resmee.

    "Der Anfang des gesamten Projekts war eigentlich 1992, damals habeich in der Zeitschrift Das Argumenteinen Artikel geschrieben mit dem

    Titel: ,Wider den schwrmerischen Antirassismus'. Und damit bin ichnatrlich sehr in die Kritik geraten, grade auch von links.

    Ich habe dann den Aufsatz zurSeite gelegt und bin erst gegen2000 wieder drangegangen undhabe mir berlegt, wie bekommtman eigentlich gruppenbezogeneMenschenfeindlichkeit - wie ich es

    nenne - auf die Agenda? DasVergessen und Verdrngen, diegesellschaftliche Selbstentlastung,ist doch sehr ausgeprgt.

    Dann habe ich einen Antragformuliert und mirKooperationspartner gesucht,habe einen Antrag bei der

    WILHELM HEITMEYER

    ist Soziologe und Direktor des Institutsfr interdisziplinre Konflikt- undGewaltforschung an der UniversittBielefeld. Geboren inNettelstedt/Ostwestfalen, daselbst

    Schule und Abitur, danach Studium derErziehungswissenschaften undSoziologie. Promotion 1977,Habilitation 1988. Herr Heitmeyer hatzwischendurch auch als Facharbeiterin einer Druckerei und kurz als Lehreran einer "Brennpunkt-Schule"gearbeitet. Er ist Autor undHerausgeber zahlreicher Publikationenund beschftigt sich bereits seit 1982

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    Volkswagenstiftung gestellt aufFrdermittel. Und so ist dann -auch mit der Untersttzung derFreudenberg-Stiftung - so nach

    und nach dieses Zehnjahresprojektentstanden.

    GruppengezogeneMenschenfeindlichkeit

    Dadurch ist jetzt sozusagen einJahrzehnt ausgeleuchtet worden.Wir haben das Syndrom dergruppenbezogenen

    Menschenfeindlichkeit untersucht,in dessen Zentrum ja das, was wirdie die Ideologie derUngleichwertigkeit nennen, steht.Diese jhrliche Erhebung warnatrlich sehr anstrengend, und esist mir auch schwergefallen, dasganze Jahrzehnt auf einen Nennerzu bringen.

    Ich habe mich dann auf diesenTerminus ,Das entsicherteJahrzehnt' fokussiert. Wir nennendafr Anhaltspunkte und wirunterscheiden zwischenSignalereignissen: der 11.September 2001 ist so ein

    Signalereignis, durch das eine Umstellung von ethnischen Kategorienwie Araber, Trken usf. auf eine religise Kategorie, nmlich Muslime,entstanden ist.

    Mit den ganzen deutlichen Folgen auch einer Islamfeindlichkeit als einElement dieses Syndroms. Es gibt eine Homogenisierung, es wird nichtmehr differenziert zwischen einem brutalen, politischen Islam und demganz alltglichen Verrichten von Glaubensdingen, Gebeten etc.

    Dann gibt es natrlich bei uns als Signalereignis die Situation von 2005,

    mit Sozialisation, Gewalt,Rechtsextremismus,gruppenbezogenerMenschenfeindlichkeit, sozialerDesintegration.

    1991/ 1992 hat er, als einer der erstenwissenschaftlichen Beobachtersozialer Zustnde, die rapideVerschrfung der Fremdenfeindlichkeitund ein sprunghaft zunehmendesVerstndnis fr rechtsradikaleTendenzen in diesem Zusammenhangthematisiert. (Mitverfasser"Internationales Handbuch frGewaltforschung", Kln 2002) Seit2002 arbeiteten er und eine stattlicheAnzahl sehr engagierter, meist jungerWissenschaftlerinnen undWissenschaftler an der ebenbeendeten Langzeitstudie "DeutscheZustnde" (die Bnde 1 bis 10erschienen im Suhrkamp Verlag). Esist die weltweit grte Studie berAusmae, Entwicklungen undUrsachen negativer Vorurteile.Am 10. Mrz 2012 wird ihm der

    Gttinger Friedenspreis verliehen. HerrHeitmeyer wurde 1945 geboren, istverheiratet und hat zwei Kinder. SeinVater fiel im Krieg, die Mutter warArbeiterin in einer Zigarrenfabrik,danach hat sie einenLebensmittelladen gefhrt. (taz)

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    mit der Einfhrung von Hartz IV. Das hatte zur Folge, dass neben denunteren sozialen Lagen pltzlich auch die mittleren sozialen Lagen unterDruck gerieten. Dass sich auch in die die Angst einfrste, sozusagen.Und daraus entstanden dann auch wieder bestimmte Abwertungsmuster.

    Das dritte Signalereignis war die Finanzkrise 2008, die bei uns nurindirekt eine grere Bevlkerungsgruppe traf, nmlich diejenigen, dieAktien im Spiel hatten. Die eigentlichen Folgen der Finanzkrise aberwaren die Wirtschaftskrise und die Arbeitsmarktkrise, mit den ganzenUnsicherheiten der zunehmend prekren Arbeitsverhltnisse.

    Die Angst des Mittelstands

    Und natrlich die Fiskalkrise, die sich besonders bei denen auswirkte,

    die von Transferleistungen leben mssen. Abstiegsngste plagten denMittelstand schon seit der Einfhrung von Hartz IV, und sie sind nach derFinanzkrise von 2008 noch strker geworden.

    Man muss aber sehen, dass es neben diesen Signalereignissen, derenKennzeichen ja ist, dass darber ffentlich debattiert wird, auch noch dieschleichenden Prozesse gibt. Dazu gehrt vor allem das, worber nichtoder kaum diskutiert wird, zum Beispiel Demokratieentleerung.

    Diesen Begriff habe ich 2001 entwickelt - also noch vor der Analyse vonColin Crouch ber ,Post-Democracy' von 2004 Ach, den kennen Sienicht Ein Englnder, seine These ist, dass die Demokratie zwar inihren Sulen erhalten bleibt, dass aber ihre innere Substanz sichverndert und schwindet.

    Wie ich sagte, das sind schleichende Prozesse, sie fhren dazu, dassbestimmte Vertrauensmuster sich auflsen. Das fhrt dann auch leichtzu Einstellungsmustern wie Rechtspopulismus. Es fhrt dazu, dass

    Menschen sich aus dem System ausklinken und gar nicht mehrerreichbar sind, und das ist fr eine Gesellschaft gefhrlich.

    Diesen Rechtspopulismus, den messen wir mit vier Indikatoren: Alsletztes dazugekommen ist die Islamfeindlichkeit, dannFremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, autoritre Aggression. (Siehedazu auch Adornos "F-Skala" zur autoritren Persnlichkeit. Anm. G. G.)Dieser schleichende Prozess wird meines Erachtens zu wenigthematisiert. Ein zweiter schleichender Prozess bezieht sich auf das,

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    was wir Anomie nennen, eine Art von Orientierungslosigkeit.

    Stereotypen und Vorurteile

    Man wei als Brger eigentlich gar nicht mehr, wo man steht. Und

    daraus entwickelt sich die Einstellung, dass man sich - surrogathaft -festen Boden unter den Fen besorgt. Dazu gehren auch Stereotypenund Vorurteile, mit denen man die Welt neu fr sich ordnen kann, obwohlsie natrlich gar nicht zu ordnen ist, weil sich die Gesellschaft relativrichtungslos entwickelt.

    Und ein dritter schleichender Prozess, ber den nun berhaupt nichtffentlich gesprochen wird, ist die konomisierung des Sozialen. RichardSennett, ein amerikanischer Soziologe, hat sich damit beschftigt. Bei

    dieser konomisierung des Sozialen, da dringen Kategorien, die aus derkonomie kommen, wie Effizienz, Verwertbarkeit und Ntzlichkeit, in diesozialen Verhltnisse ein.

    Und zwar in Institutionen, die berhaupt nicht danach beschaffen seindrften: in die Familien, in soziale Gruppen, auch in Schulen etc. Wirhaben seit einigen Jahren diese Einstellungsmuster untersucht undsehen, dass bestimmte Gruppen immer mehr in die Abwertunghineingeraten.

    Das sind diejenigen, die diesen Kriterien ,nicht gengen', also niedrigqualifizierte Zuwanderer, Langzeitarbeitslose, Behinderte undObdachlose. Und diese konomistischen Einstellungen sind natrlichbefeuert durch die Debatte um den Neoliberalismus.

    Man muss vielleicht noch sagen, dass diese Abwertungsmuster engzusammenhngen damit, wie sich unsere Befragten auf einer sozialenStufenleiter rein subjektiv zuordnen konnten: Unten. Mitte. Oben. Die, die

    sich oben einstuften, weisen ganz enge Zusammenhnge auf zu diesenAbwertungen, zur Missachtung und Diskriminierung von denen "daunten".

    Sloterdijk und der 'kleptomanische Staat'

    Und eine andere Entwicklung gibt es, die hat uns dann doch sehr irritiert,dass es nmlich gerade bei denjenigen, die tatschlich zu denBesserverdienenden zhlen, einen bemerkenswerten Anstieg in denAbwertungen gegeben hat, seit der Krise. Seit 2008, ja. Wie das

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    weitergehen wird, das knnen wir nicht sagen, weil wir ja jetzt mit denErhebungen aufhren, aber man muss sehr genau darauf achten.

    Und vor allem auch, weil ja Teile der Eliten diese Einstellungsmuster

    auch noch befrdern und befeuern, weil sie die Themen setzen.Beispielsweise, wenn Sloterdijk von einem ,kleptomanischen Staat'spricht und zurck will zur ,Gnade der gebenden Hand', dann nimmt erdenen, die von Transferleistungen leben mssen, ihre Wrde. Ebensomacht es Sarrazin mit groem Erfolg, bei dem noch das ,Juden-Gen' unddie Islamfeindlichkeit dazukommen.

    Das ,Juden-Gen' musste er zurcknehmen. Beim Antisemitismus wurdeja ein Tabu ausgesprochen, das in der ffentlichkeit gilt, aber bei den

    anderen Diskriminierungen wurde es nicht ausgesprochen. Interessantist seine Leserschaft. Sie meint, wenn die das alles schon so offensagen, dann kann ich mir das auch erlauben.

    Und diese Leserschaft, die kommt ja nicht aus den unteren Soziallagen,sondern das ist so diese, ich nenne es: ,rohe Brgerlichkeit'. Nicht zuverwechseln mit Brgertum, das ist eine vollkommen andere Kategorie.Dieser rohen Brgerlichkeit mssen wir unsere Aufmerksamkeit widmen.Es ist eine Brgerlichkeit, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen

    an den Mastben der kapitalistischen Ntzlichkeit, der Verwertbarkeitund Effizienz orientiert.

    Damit leugnet sie die Gleichwertigkeit von Menschen, macht ihrepsychische und physische Integritt antastbar und fhrt zugleich einenKlassenkampf von oben. Sie ist sozusagen der Transmissionsriemengegen diejenigen, die als Ausgegrenzte definiert werden.

    Rassismus

    Eine weitere berraschung bei den Einstellungsmustern haben wir inBezug auf die Geschlechterfrage erlebt. Dass nmlich - und das ist einstabiles Ergebnis - bei Fremdenfeindlichkeit und Rassismus Frauenhhere Werte haben als Mnner. Es ist ein unliebsames Ergebnis, undwir dachten bei der ersten Erhebung immer noch, hoffentlich haben wirda keinen Fehler begangen. Aber es hat sich stets wiederholt.

    Und auch bei der Altersfrage, da gibt es einen wirklich sensiblen Punkt,dass wir es sozusagen mit einem ,schiefen U' zu tun haben, ber das

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    Altersspektrum. Zwar sind bei den Jungen solche Abwertungen schonsehr vorhanden, aber bei den lteren, bei meiner Altersklasse ber 60,da liegen die Abwertungen von schwachen Klassen noch deutlich hher!

    Das war berraschend. Aber die Gesellschaft reagiert ja erst dann, wennsich diese Ideologien von Ungleichwertigkeit mit Gewalt verbinden, unddie ben natrlich die Jungen aus. Die jungen Mnner vor allem.Whrend sich um die Einstellungsmuster der Alten, die sie hinter ihrenprivaten Gardinen pflegen, im Freundeskreis oder in den Vereinen usw.,kein Mensch kmmert.

    Dabei sind es ja gerade sie, die an der Reproduktion dieserEinstellungsmuster immer wieder beteiligt sind, als Grovter und

    Gromtter. So gesehen, ist es natrlich ein struktureller Fehler, mit denInterventionsprogrammen immer nur auf die Jugendlichen zu schielen.

    Man muss immer wieder sehen und sehr genau beachten, dass dieseEinstellungsmuster einen gesellschaftlichen Vorrat bereitstellen, an demdann auch rechtsextreme Gruppen andocken knnen. Und es ist jaauffallend, dass selbst die, die sich an den rechtsextremen politischenRndern bewegen, nicht auerhalb der Gesellschaft, sondern mitten inihr leben, mit einem oft ganz kleinbrgerlichen Lebensentwurf.

    Gesellschaftlicher Ton hat sich massiv verndert

    Insofern ist es ja auch eine vllige Fehleinschtzung, wenn jetzt,anlsslich des Nationalsozialistischen Untergrunds, eine Abtrennungerfolgt. Sozusagen: Dort sind die Verbrecher - was sie zweifellos sind -,und ansonsten gibt es eine weitgehend intakte humane Gesellschaft.Das ist auch so eine gesellschaftliche Selbsttuschung, die man starkkritisieren muss.

    Was wir ber die Jahre hinweg ganz deutlich feststellen knnen, ist,dass sich der gesellschaftliche Ton massiv verndert hat. Ich habe Ihnenja schon ein paar Beispiele gegeben. Diese Form von Rohheit, mit derwir es heute zu tun haben, gab es in den 90er Jahren noch nicht.

    Es hat ja auch die ganzen Probleme der gesellschaftlichen Integrationoder Desintegration so noch nicht gegeben. Sie ist ein ganz zentralesThema unserer Studie. Wir arbeiten mit dieser Theorie der sozialenDesintegration, die wir entwickelt haben, um herauszufinden, was fr

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    Menschen bedrohlich wird und wie sie darauf reagieren.

    Desintegration und Integration reservieren wir in unserem Konzeptnatrlich nicht fr die Zugewanderten, sondern das gilt ebenso fr Teile

    der Mehrheitsgesellschaft. Die sind ja auch nicht integriert, wenn manein bestimmtes Integrationskonzept zugrunde legt, nmlich den Zugangzu den Funktionssystemen wie Arbeit, Bildung etc. und der darausentspringenden sozialen Anerkennung - was fr uns ein sehr wichtigerPunkt ist.

    Und wir stellen die Frage nach der politischen Partizipation; Kann ich andiesen wichtigen Kernnormen, wie Gerechtigkeit, Solidaritt undFairness - kann ich da eigentlich mitdiskutieren? Habe ich da berhaupt

    eine eigene Stimme? Und wenn ich die nicht habe, dann scheine ichauch keinen Anspruch darauf zu haben und bin lediglich ein Brgerzweiter oder dritter Klasse. Also ich bin politisch vllig einflusslos, odereben auch meine Gruppe.

    Negative Erfahrung gegen Schwcheren gelenkt

    Hier setzt dann wieder ein Abwertungsverhalten ein, denn es ist ja nichtso, dass man sich nun zusammentut und gegen die herrschendenGruppen vorgeht, sondern die negative Erfahrung wird umgelenkt und

    gegen die noch Schwcheren in der Gesellschaft gekehrt.

    Auch, um sich von denen abzusetzen und sich zugleich aufzuwerten. Esist zynisch, aber jede Gesellschaft braucht genau dazu ihreRandgruppen, denn mit solchen Randgruppen wird Politik gemacht, mansignalisiert der Mehrheit: Passt auf, dass ihr da nicht hineinrutscht!Insofern werden Randgruppen auch immer wieder neu ,kreiert'."

    Ich mchte an dieser Stelle das Thema auch auf die bringen, die die

    Grundlagen dafr schaffen und geschaffen haben, mit Hartz IV,Zeitarbeit und dergleichen. Die Leute sind systematisch runtergestuftworden von den "Manehmern" durch eine Vielzahl von "Manahmen",auch rhetorisch runtergedrckt, auf ein erkennbar minderwertigesNiveau.

    Die Umbenennung der Arbeitslosen (das Wort bezeichnete noch denVerlust) in Hartz-IV-"Empfnger", die pltzlich etwas empfangen, woraufsie zuvor einen Anspruch hatten, die von "Leistungen" leben, ohne etwas

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    dafr zu tun, die hatte System.

    Herr Heitmeyer nickt und sagt energisch: "Ja, das hat System. Es gibteindeutige Zusammenhnge zwischen der Forderung an die sozial

    Schwachen, ihre kritische Lebenssituation selbst zu bewltigen, undihrer Abwertung. Sehr deutlich zeigt das ja auch diese Broschre vomBundesarbeitsministerium, aus der ich Ihnen das ,Parasiten'-Zitatgenannt habe.

    Rohe Brgerlichkeit

    So etwas steht in einer offiziellen Broschre eines Ministeriums. Infam,das fasst man nicht! Und diese Broschre ist durch sehr viele Hndegegangen, durch smtliche Redaktionen, und es gab nur ganz

    vereinzelte Reaktionen. Das sind natrlich solche Denkmuster, diegehren direkt zu dieser rohen Brgerlichkeit, von der ich gesprochenhabe.

    Und auch zu den Spaltungsversuchen. Und wer sind die direkten undindirekten Akteure dieser Spaltungsbewegung? Es sind dieintellektuellen Diskursagenten und Wissenschaftler, insbesondere derwirtschaftswissenschaftlichen und politischen Eliten. Das muss einemschon Sorgen machen. Und das kam eben nicht pltzlich, sondern

    teilweise schleichend, in Begleitung der neoliberalen Diskurse.

    Aber das ist nur die eine Seite, auf der anderen Seite - es laufen damehrere Sachen zusammen - haben wir es ber die Zeit hinweg auchmit einer Kontrollverschiebung zu tun. Es gibt nmlich einenKontrollgewinn des autoritren Kapitalismus.

    Und dem entspricht ein Kontrollverlust der nationalstaatlichen Politik.Und daraus resultieren dann natrlich auch diese Formen der

    Demokratieentleerung. Die konomisierung des Sozialen. Sicher, es gibtnatrlich auch hausgemachte Dinge, wie schon gesagt, aber auf deranderen Seite gibt es diesen rabiaten Wettbewerb, bei dem nicht mehrFirmen miteinander konkurrieren, sondern ganze Lnder.

    Auch im Hinblick auf die Standorte von Firmen. Und das macht noch maleinen deutlichen Unterschied in der Frage der Vernderung von Politik.Und bei all dem muss man eben aufpassen, dass die soziale Spaltung,die soziale Ungleichheit, die wir inzwischen erreicht haben, sich nicht

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    noch weiter entwickeln. Teil des Problems ist, dass die nationale Politikkeinerlei Interesse daran zeigt.

    Due Ungleichheit zersetzt die Gesellschaft

    Im internationalen Vergleich ist deutlich zu sehen: Je grer dieEinkommensungleichheit, die einseitige Verteilung des Reichtums, umsogrer sind die sozialen Probleme. Wir Deutschen haben ja, laut OECD,die grten Zuwachsraten in der ungleichen Verteilung.

    Der entscheidende Punkt ist dabei ja, dass die Ungleichheit dieGesellschaft regelrecht zersetzt, dass der Prozess sich einschleicht underst mal relativ unbemerkt verluft, weil sich eben keine protestierendenKollektive mehr bilden knnen und weil auch keiner mehr zuhrt. Weil

    vielfach das Motto lautet: Rette sich, wer kann. Dadurch ist das Leben inbestimmten sozialen Gruppen auch permanent angstdurchsetzt undvertzt.

    Und das macht diese Ungleichheiten schon ziemlich gefhrlich. Und esgibt etwas sehr Wichtiges, was ich bei smtlichen Vortrgen deutlichmache - man muss sich hten vor Normalisierung. Was in den 90erJahren nicht denkbar war, ist heute ganz normal. Und was normalgeworden ist, lsst sich nur noch schwer problematisieren.

    Zurck zur Studie. Es gibt in unseren Untersuchungen Ergebnisse zuden drei Kernnormen, die eine Gesellschaft auch zusammenhalten:Solidaritt, Gerechtigkeit, Fairness im Umgang miteinander.Gerechtigkeit ist die Frage von Verteilung. Mit welchenGerechtigkeitsvorstellungen operiert man? Da gibt es jaunterschiedliche: Leistungsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit undBedrfnisgerechtigkeit.

    Bedrfnisgerechtigkeit heit, wer kann sich nicht selber helfen und wiekann man seinen Bedrfnissen gerecht werden. Und unsereUntersuchungen zeigen, dass ein groer Anteil sagt: In diesenKrisenzeiten knnen die Schwachen nicht mehr mit Solidaritt rechnen.

    Nutzlose und Ineffiziente

    Oder eine ziemlich hohe Anzahl sagt: Das Postulat der Gerechtigkeitlsst sich in diesen Krisenzeiten nicht mehr realisieren. Und diejenigen,die in Lohn und Brot stehen, die pldieren natrlich besonders stark fr

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    Leistungsgerechtigkeit, weil sie sich selbst als Leistungstrger sehen. Alldie anderen sind gewissermaen Abhngige. Sind Nutzlose undIneffiziente.

    Es geht auch darum, zu betrachten, was mit der Armut passiert, auch mitder Altersarmut, die immer grer wird. Auch die unter den Migranten.Insofern ist auch hier die Frage der Verhrtung ein wichtiger Punkt." Ichmchte kurz auch Bezeichnungen einfhren, die Herr Heitmeyer inseinen Texten gewhlt hat, die mir angenehm auffielen, weil sieirgendwie zartfhlend sind und unabgenutzt. Begriffe wie: entsicherteund entkultivierte Brgerlichkeit, Vereisung des sozialen Klimas, kalteKalkulation gegenber den "Nutzlosen", Renaturalisierung derUngleichheit.

    Er ruspert sich und sagt: "Das hat einfach damit zu tun, wie sich Elitenuern, also Leute, die den Zugang haben zu den Medien, dieVervielfltiger sind von bestimmten Dingen. Und wie das dann einsickertin die ,rohe Brgerlichkeit' kann man ja sehen. Es gibt eine groeGleichgltigkeit gegenber den Folgen.

    Es gibt so eine Art semantischen Klassenkampf von oben gegen ,die daunten'. Renaturalisierung meint, dass biologische Kriterien benutzt

    werden, dass man sprachlich damit Gruppen markiert, die dann nie mehrda rauskommen, weil sie bestimmte Kennzeichen tragen. Das kann dieHautfarbe betreffen, aber auch die Religion oder die Obdachlosigkeit.

    Und man will ,Suberung' oder zumindest Aus- und Abgrenzung.Rassismus und die Abwertung von Obdachlosen sind zum Beispiel von2010 auf 2011 signifikant angestiegen. Ein ebenfalls ansteigender Trendlsst sich aktuell bei der Fremdenfeindlichkeit und bei der Abwertung vonBehinderten beobachten. Und 35,4 Prozent der Befragten stimmten

    2011 der Aussage zu: ,Bettelnde Obdachlose sollten aus denFugngerzonen entfernt werden'.

    Spaltung der Gesellschaft

    40,1 Prozent besttigen: ,Ich htte Probleme damit, wenn sich Sinti undRoma in meiner Gegend aufhalten'. Und 44,2 Prozent sind sich sicher:,Sinti und Roma neigen zur Kriminalitt. Also, ich fasse am Schluss nochmal der Verstndlichkeit halber zusammen: Die laufenden Prozesse derUmverteilung und ihre gesellschaftliche Zerstrungskraft nehmen stetig

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    zu und fhren zu einer immer grer werdenden Spaltung derGesellschaft.

    Die oberen Einkommensgruppen nehmen diese Spaltung nur begrenzt

    wahr, sie sind im Gegenteil der Meinung, dass sie zu wenig vomWachstum profitieren. Sie sind rasch bereit, die Hilfe und Solidaritt frschwache Gruppen aufzukndigen. Sie werten zunehmend strker ab.Die Studie macht deutlich, es existiert eine geballte Wucht rabiater Elitenund die Transmission sozialer Klte durch eine rohe Brgerlichkeit, diesich selbst in der Opferrolle sieht und deshalb immer neue Abwertungengegen schwache Gruppen in Szene setzt.

    Und die Studie zeigt, wie stark Menschen aufgrund von ethnischen,

    kulturellen oder religisen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, desGeschlechts, einer krperlichen Einschrnkung oder aus sozialenGrnden mit solchen Mentalitten konfrontiert und ihnen machtlosausgeliefert sind. Die Opfergruppen sind mittlerweile wehrlos und nichtmobilisierungsfhig.

    Insgesamt ist eine konomische Durchdringung sozialer Verhltnisseempirisch belegbar. Sie geht Hand in Hand mit einem Anstieg vongruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Seit 2008 haben sich die

    krisenhaften Entwicklungen zeitlich massiv verdichtet.

    Entsicherung, Richtungslosigkeitund Instabilitt sind zur neuen

    Normalitt geworden, die Nervositt scheint ber alle sozialen Gruppenhinweg zu steigen. Wir erleben, wie sich ein neuer Standard etabliert:,volatility', so die New York Times. Eine explosive Situation alsDauerzustand. Aus all dem resultiert vor allem eines: Die gewaltfrmigeDesintegration ist auch in dieser Gesellschaft nicht unwahrscheinlich."

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