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2014-05-17 Philippe Legrain (ehemaligen Berater der EU-Kommission) im taz-Interview zu seinem Buch "European Spring. Why Our Economics and Politics are in a Mess – and How to Put Them Right". Als Ökonom hat er sich nicht ernst genommen gefühlt. Wieso sollen Staaten sparen, wenn das Problem gar nicht ihre Haushaltsführung, sondern die Finanzmärkte sind, wundert er sich noch heute.
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taz: Herr Legrain, bis Ende 2013 haben Sie als
Wirtschaftsberater von EU-Kommissionspräsident Barroso
gearbeitet. Nun greifen Sie die Kommission wegen der
Austeritätspolitik an. Warum?
Philippe Legrain: Lassen Sie mich festhalten, dass mich Barroso
persönlich ausgesucht hat. Er war unzufrieden mit seinem letzten
Wirtschaftsberater, der die Krise nicht hatte kommen sehen. Als ich
Ende 2010 in der EU-Kommission ankam, hatte man dort keine
Ahnung, wie man mit einer Finanz- und Schuldenkrise umgehen
Ex-Kommissionsberater über Eurokrise
„Die Wut wird sich entladen“Philippe Legrain beriet EU-Kommissionspräsident Barroso zum Beginn der Krise. Die Kommission
hatte keine Ahnung und folgte Merkel blind, sagt er heute.
Bild: dpaSie sagt, wo es in der EU lang geht: Merkel von oben.
sollte.
Was war Ihre erste Empfehlung?
Ich habe der Kommission gesagt, dass es vor allem um eine
Bankenkrise ging und dass die Lage in Griechenland eher die
Ausnahme war. Meiner Meinung nach liegt der Schlüssel zur Lösung
der Krise in einer Restrukturierung des europäischen Bankensystems.
Was Griechenland betrifft, so empfahl ich eine Abschreibung der
Schulden und ein Investitionsprogramm.
Wie hat Barroso reagiert? Er
ist Ihrem Rat nicht gefolgt.
Ich möchte lieber über Politik als
über Personen sprechen.
Dann zurück zur
Ausgangsfrage: Was haben
Sie gegen Austeritätspolitik?
Ich habe nichts gegen eine solide
Finanzpolitik. Aber wenn das
wahre Problem im Bankensektor
liegt, muss man sich damit beschäftigen, nicht mit den Symptomen.
Stattdessen haben die Politiker aus der griechischen Krise den
falschen Schluss gezogen, dass die Eurozone als Ganzes ein
Schuldenproblem hat. Während sie den Bankensektor außer Acht
ließen, stürzten sie sich in eine kollektive Austerität. Das hat eine
derart tiefe Rezession ausgelöst, dass die öffentlichen Finanzen noch
schlechter dastanden. Und es hat Panik ausgelöst. Denn die
Investoren fragten sich nun, wer das nächste Griechenland sein
würde. Als die Panik die Eurozone zu zerreißen drohte, forderten die
Politiker noch mehr Austerität.
Mit welchen Folgen?
In Griechenland ist das Nationaleinkommen um ein Viertel
geschrumpft. Kinder durchwühlen Mülleimer auf der Suche nach
Essen, den Krankenhäusern gehen die Medikamente aus. In Spanien
ist mehr als jeder Vierte arbeitslos und Selbstmord inzwischen die
erste Todesursache. Überrascht es da, dass junge Europäer seit
Anzeige
Beginn der Krise noch weniger
Kinder in die Welt setzen und
dass alle vier Minuten jemand
aus Portugal auswandert?
Wer ist schuld? Die
Kommission war ja nicht
allein, auch Deutschland hat
auf Austerität bestanden.
Die Kommission sollte eigentlich
das gemeinsame europäische
Interesse vertreten. Doch
während dieser Krise hat sie sich
dafür entschieden, sich an
Deutschland auszurichten. Damit
verhinderte sie, dass sich
Widerstand entwickelte. Deshalb
dauerte es bis Juni 2012, bis die
Staats- und Regierungschefs
Italiens, Spaniens und
Frankreichs – ein Liberaler, ein
Konservativer und ein Sozialist –
die Bankenunion auf den Weg
brachten.
Aber Bundesfinanzminister
Schäuble würde Ihnen
entgegnen, dass Deutschland
mit dieser Linie auch ganz gut
fährt.
Ich glaube nicht, dass das stimmt. Die
deutsche Wirtschaft leidet unter Mangel
an Investitionen, die Infrastruktur
zerfällt, die Universitäten sind
unterfinanziert. Das
Produktivitätswachstum ist noch
niedriger als in Griechenland. Das ist
nicht nachhaltig. Zusammen mit dem
Schrumpfen der Bevölkerung wird es in
die Stagnation führen.
IM INTERVIEW:
PHILIPPELEGRAIN
40, hat einen französischen Vater,
eine estnische Mutter und ist
Brite. Der Ökonom und Publizist
leitete von 2011 bis 2014 das
Beratungsteam von EU-
Kommissionspräsident Barroso.
Soeben ist sein Buch „European
Statt zu sparen, sollte Deutschland
Investitionen fördern?
Ja, und das muss gar nicht zulasten der
öffentlichen Haushalte gehen. Der
Privatsektor könnte auch etwas tun, wenn der Dienstleistungssektor
liberalisiert wird, oder durch höhere Löhne. Stattdessen verfolgt
Deutschland das falsche Ziel: den Anteil der Löhne zu minimieren –
und das auf europäischem Level, im Namen der
Wettbewerbsfähigkeit! Das ist so falsch. Wir haben gerade
außergewöhnlich niedrige Zinsen. Der Nutzen kreditfinanzierter
Investitionen würde die Kosten weit übersteigen. Deutschland und die
anderen Länder der Eurozone sollten jetzt investieren!
Wenn sich die Kommission Deutschland unterordnet, heißt das
dann auch, dass wir leben in einem „deutschen Europa“ leben?
Wir leben mit Sicherheit in einer deutschen Eurozone. Deutschland
wollte eine zentralisierte Kontrolle der nationalen Budgets – sie wurde
geschaffen. Deutschland wollte keine echte Bankenunion – wir haben
sie nicht bekommen. Als 2007 die Bankenkrise ausbrach, war das
erste Opfer die deutsche IKB. Sie wurde von der Regierung
herausgehauen. 2013 hatten wir immer noch Pleitebanken in der EU,
während die USA die Bankenkrise längst hinter sich hatten. Nach
sieben Jahren ist das Problem in Europa immer noch nicht gelöst, und
das wird die Überwindung der Krise weiter behindern.
Glauben Sie nicht an eine kräftige Erholung?
Nein. Wir hatten eine unnötig lange und harte Rezession, die
schlimmste seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Nun
erleben wir den schwächsten Aufschwung aller Zeiten. Die Gefahr
einer langen Stagnation nach dem Muster Japans ist real.
Glauben Sie, dass die Europawahlen den dringend benötigten
Wechsel bringen können?
Ich befürchte, dass sich die Wut in einem Votum für die Extreme
entladen wird. Dies kann von den Mainstreampolitikern jedoch ganz
leicht zurückgewiesen und neutralisiert werden. Dabei müssten sie
eigentlich Alternativen zur gescheiterten Politik anbieten. Um Europa
zu retten, müssen wir es verändern.
Soeben ist sein Buch „European
Spring. Why Our Economics and
Politics are in a Mess – and How
to Put Them Right“ erschienen.