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2016-06-21 13-37-41 --- Projekt: transcript.anzeigen ... · Aus: Gerrit Vorjans Von der Torheit, wählerisch zu sterben Suizid in der deutschsprachigen Literatur um 1900 Juli 2016,

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2016-06-21 13-37-41 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0365432901708212|(S. 1- 2) VOR3393.p 432901708220

Aus:

Gerrit Vorjans

Von der Torheit, wählerisch zu sterbenSuizid in der deutschsprachigen Literatur um 1900

Juli 2016, 376 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3393-1

Das Phänomen der Selbsttötung literarischer Figuren ist so alt wie die abendländischeLiteratur selbst. In den zahlreichen Arbeiten zu diesem Thema ist eine wichtige Frageaber bisher unbeantwortet geblieben: Welche Funktionen und Bedeutungen haben dieSuizidarten?Am Beispiel der deutschsprachigen Literatur um 1900 erforscht Gerrit Vorjans syste-matisch die spezifisch-literarischen Funktionen und die kulturellen Semantiken ein-zelner Arten der Selbsttötung. Mit einem Ansatz, der erstmals narratologische Kon-zepte mit praxistheoretischen Ideen verbindet, gelangt die Studie zu Erkenntnissenüber das adelige Ehrverständnis, die Produktion von Frauenbildern und das bürgerli-che Krisenbewusstsein.

Gerrit Vorjans (Dr. phil.), geb. 1985, promovierte als Mitglied des Graduiertenkollegs»Selbst-Bildungen« im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der UniversitätOldenburg.

Weitere Informationen und Bestellung unter:www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3393-1

© 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Danksagung | 9

1. Über bohrende Spitzen und zagende Figuren (Einleitung) | 11

2. Forschungsstand | 21

2.1 Der Suizid als Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung | 21

2.2 Der Suizid als Gegenstand der kultur- und

geschichtswissenschaftlichen

Forschung | 26

3. Theorie und Methode | 33

3.1 Literaturtheoretische Grundlagen | 33

3.2 Die Verdopplung der Analyseoptik | 42

3.3 Praxistheorien und Subjektivierung | 52

3.4 Grundlagen, Erkenntnispotenzial und Reichweite einer praxistheoretischen

Perspektive auf Literatur | 64

4. Ehrenmänner? Pistolen- und Giftsuizid bei Männern | 73

4.1 Eine Frage der guten Haltung: Fontanes Schach von Wuthenow | 73

4.2 Der General ohne Zukunft – Ferdinand von Saars Vae victis! | 90

4.3 Der lebensmüde Adelssohn – Theodor Fontanes Stine | 103

4.4 Ehre verloren, alles verloren? Schnitzlers Lieutenant Gustl | 125

4.5 Bis zur Kopflosigkeit – Wedekinds Frühlings Erwachen | 144

4.6 Der Topos vom heroischen Suizid (Zwischenfazit) | 167

5. Ophelias Brüder: Männlicher Wassersuizid | 171

5.1 »Lieber der Müggelsee«: Die Krise der bürgerlichen Männlichkeit in

Hauptmanns Einsame Menschen | 171

5.2 Der dekadente Asket im bürgerlichen Gewand: Thomas Manns Der kleine

Herr Friedemann | 190

5.3 Der tödliche Ehrgeiz der Erzieher: Hermann Hesses Unterm Rad | 213

5.4 Die Umkehrung der Vorzeichen: Die Bezugnahme auf das Phänomen des

männlichen Wassersuizids in Franz Kafkas Das Urteil | 233

5.5 »Ins Wasser gesprungen – in den Tod gegangen«: Krisenerzählung des

Bürgertums (Zwischenfazit) | 249

6. Schöne Frauenleichen? Suizide weiblicher Figuren | 253

6.1 Das bürgerliche »Bildungswerk« und seine Grenzen: Kellers Regine | 253

6.2 Zwischen Sexualisierung und Pathologisierung: Fontanes Cécile | 268

6.3 Die Virginia im schlesischen Sodom: Gerhart Hauptmanns

Vor Sonnenaufgang | 292

6.4 »Aussterben ist vornehm«: Dekadenz und Ästhetik in Keyserlings

Harmonie | 312

6.5 Schöne Frauenleichen und hässliche Tode. Zur Disparität weiblicher

Suiziddarstellungen (Zwischenfazit) | 331

7. Eine Funktionstypologie literarischer Suizidarten (Schluss) | 335

Siglenverzeichnis | 339

Literaturverzeichnis | 341

Primärliteratur | 341

Sekundärliteratur | 342

Anhang | 371

1. Über bohrende Spitzen und zagende

Figuren (Einleitung)

»Was ist törichter, als wählerisch zu sterben?« Diese rhetorische Frage formu-

lierte der römische Philosoph und Dramatiker Seneca in dem heute gemeinhin

als Brief über den Selbstmord apostrophierten Ausschnitt aus den Epistulae mo-

rales ad Lucilium (Seneca 1984, 15). In dieser kurzen Schrift argumentiert der

kategorische Suizidbefürworter Seneca, es sei belanglos, auf welche Weise man

sich den Tod gebe. Anders als im Leben sei der Mensch bei seinem Sterben nur

sich selbst Rechenschaft schuldig. Deshalb sei es unvernünftig, sich bei der

Wahl der Suizidmethode über die Reaktionen der Nachwelt zu bekümmern und

zu denken: »Jemand wird sagen, ich hätte zu wenig tapfer gehandelt, zu wenig

überlegt, jemand, gegeben hätte es irgendeine beherztere Todesart.« (ebd., 11)

Ob man bei der Selbsttötung den großen Vorbildern wie Cato nacheifere, ob man

sich ersteche, erhänge oder vergifte, habe dementsprechend nicht die geringste

Bedeutung. Was für Seneca zählt, ist allein die Entschlossenheit zum Suizid und

nicht die Art und Weise desselben. Dementsprechend deutlich fällt das den Brief

beschließende Plädoyer aus: »Du sollst selbstverständlich sterben, wie du kannst,

und was immer sich bietet, dir Gewalt anzutun, sollst du nutzen.« (ebd., 19) Die

affirmative und fast glorifizierende Haltung zur Selbsttötung, die im Brief über

den Selbstmord zum Ausdruck kommt, mag möglicherweise Befremden oder gar

Empörung auslösen. Unabhängig von der bis in die Antike zurückreichenden

Diskussion über die moralische Legitimität des Suizids verweisen Senecas Aus-

führungen aber auf ein kulturelles Phänomen, mit dem sich die hier vorliegende

Arbeit aus literaturwissenschaftlicher Perspektive eingehender befassen wird: Es

geht um die Art und Weise der Selbsttötung. Wenn Seneca in seinem Brief unter

Rekurs auf verschiedene skurrile Beispiele1 derart nachdrücklich für die Belang-

1 Lobend erwähnt Seneca insbesondere die Suizide verschiedener Sklaven, die sich

entschlossen den Tod gaben, indem sie sich ein Holzstück in die Kehle rammten

12 │ VON DER TORHEIT, WÄHLERISCH ZU STERBEN

losigkeit der Todesart argumentiert, so deshalb, weil diese im zeitgenössischen

Verständnis offenkundig nicht als belanglos galt. Denn wäre die Trivialität der

Suizidmethode im antiken Rom eine Selbstverständlichkeit gewesen, so bedürfte

dieser Sachverhalt keiner derart ausführlichen Erörterung. Es scheint also ganz

so, als habe es bereits zu Lebzeiten Senecas durchaus Stimmen gegeben, die die

Art und Weise des Suizids für bedeutsam hielten.2

Mehr als 1700 Jahre nach dem Brief über den Selbstmord vollendete Fried-

rich Schiller sein erstes Drama Die Räuber. Im letzten Akt des Schauspiels wird

eine Selbsttötung dargestellt, die zwar vielleicht nicht den bekanntesten Suizid

der deutschsprachigen Literatur markiert, aber möglicherweise einen der rätsel-

haftesten. Eingeschlossen im brennenden Schloss und bedrängt von den

Häschern seines Bruders, sieht Franz von Moor, den Degen bereits in der Hand,

keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen:

»Sind das ihre hellen Triller? Hör ich euch zischen, ihr Nattern des Abgrunds? – Sie drin-

gen herauf – Belagern die Türe – warum zag ich so vor dieser bohrenden Spitze? – die Tü-

re kracht – stürzt – unentrinnbar! – Ha! So erbarm du dich meiner! er reißt seine goldene

Hutschnur ab, und erdrosselt sich.« (Schiller 1943, 126)

Eigenartig an dieser Darstellung ist nicht etwa der plausibel aus dem vorange-

henden dramatischen Geschehen resultierende Suizid als solcher. Merkwürdig

erscheint vielmehr das Schwanken der Figur in Bezug auf die Art und Weise ih-

rer Selbsttötung.3 Wenn der Protagonist den Degen aus der Hand legt, um sich

zu erdrosseln, so schildert das Drama damit ein Verhalten, das man in Senecas

Worten als die ›Torheit, wählerisch zu sterben‹ bezeichnen könnte. Sogleich lie-

ße sich mit Blick auf diese Passage aus den Räubern fragen: Macht es denn ei-

nen Unterschied, ob sich Franz von Moor erhängt oder erdrosselt? Ganz offen-

oder ihren Kopf zwischen die Räder eines fahrenden Wagens hielten. Mit Blick auf

diese Beispiele gelangt der Philosoph zu der Schlussfolgerung: »Nicht wird ein Ein-

fall zum Tode fehlen, wem nicht fehlt der Mut.« (Seneca 1984, 17)

2 Tatsächlich hat die historische und kulturwissenschaftliche Suizidforschung längst

herausgearbeitet, dass die Suizidmethoden in der Antike unterschiedlich beurteilt

wurden. Manche Todesarten wie der Schnitt in die Venen galten als besonders wür-

devoll, andere, wie das Erhängen oder das Vergiften, wurden entschieden abgelehnt.

Vgl. hierzu exemplarisch Mischler 2000, 39-43 und van Hoof 2005, 26.

3 So bemerkte jüngst Thomas Boyken über diese Stelle aus den Räubern: »Diese

Handlung scheint befremdlich […] Warum zieht Franz den langsamen Tod durch

Erdrosseln dem schnellen Tod durch den Degen vor?« (Boyken 2014, 116f.)

1. ÜBER BOHRENDE SPITZEN UND ZAGENDE FIGUREN (EINLEITUNG) │ 13

sichtlich tut es das, denn wäre die Todesart belanglos, so müsste die Entschei-

dung zwischen Degen und Hutschnur nicht im Text thematisiert werden. Schil-

lers Drama lenkt indirekt sogar noch die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf

den Aspekt der Suizidmethode, indem es die Beantwortung einer explizit aufge-

worfenen und keinesfalls rhetorischen Frage dem Leser überantwortet: Warum

zagt Franz von Moor vor der bohrenden Spitze?

Es ist nun an dieser Stelle nicht mein Ansinnen, das suizidale Verhalten von

Schillers Figur zu interpretieren.4 Der Rekurs auf die Räuber dient mir vielmehr

als besonders prägnantes Beispiel für ein literarisches Phänomen, über das Peter

von Matt einst pointiert bemerkte: »An der Frage: wie bringe ich meinen Helden

um? schleppen sich die Autoren oft länger und mühsamer als an den großen

Ideen, um die sich die Germanisten dann wieder fast alleine kümmern.« (von

Matt 1994, 15) Worauf von Matt hinweist und was sich an den Räubern zeigt ist,

dass literarische Texte – bzw. die Autoren, die sie verfassen – offenkundig

durchaus wählerisch sind, was den Tod ihrer Figuren anbelangt. Dabei liegt

grundsätzlich jedem literarisch dargestellten Suizid eine Auswahl zu Grunde,

denn jeder Entschluss für eine bestimmte Art der Selbsttötung ist zugleich eine

Entscheidung gegen alle anderen, außerdem noch denkbaren Möglichkeiten des

Ablebens. Die Besonderheit an den Räubern besteht dementsprechend also ge-

naugenommen nicht in dem Verwerfen der einen Todesart zugunsten einer ande-

ren. Bemerkenswert ist vielmehr, dass diese in der Regel implizite Auswahl in

Schillers Drama explizit thematisiert und dem Rezipienten als Entscheidung der

handelnden Figur präsentiert wird. Unabhängig davon aber, ob diese Auswahl

im Text als Teil der Handlung zur Darstellung gebracht wird oder nicht, scheint

Senecas eingangs zitiertes Diktum zumindest für die Literatur wahrlich nicht zu

gelten: Augenscheinlich ist es weder beliebig noch belanglos, auf welche Weise

sich einer in einem epischen oder dramatischen Werk das Leben nimmt. Im Ge-

genteil: Folgt man Peter von Matt in der Überlegung, es existiere so etwas wie

eine »Semantik der Todesszene« (von Matt 1994, 12), so müsste man vielmehr

annehmen, dass sich auch oder sogar gerade die Art und Weise des Suizids be-

sonders dafür eignet, als Bedeutungsträger zu fungieren.

Auf dieser Grundannahme fußt die hier vorliegende Arbeit. Wenn man nun

davon ausgeht, die Suizidart einer Figur sei von Bedeutung, so ergibt sich daraus

eine Frage, die für die nachfolgende Untersuchung forschungsleitend ist und die

das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit markiert: Welche Funktionen und Bedeu-

tungen sind mit den verschiedenen Suizidarten in literarischen Texten verknüpft?

4 Eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Deutungen der Todesart Franz von

Moors findet sich wiederum bei Boyken 2014, 116-118.

14 │ VON DER TORHEIT, WÄHLERISCH ZU STERBEN

Bei der Bearbeitung dieser Frage werde ich möglicherweise auch zu Erkenntnis-

sen über die mit verschiedenen Todesarten verbundenen kulturellen Vorstellun-

gen gelangen. Gleichwohl aber wäre dies nur ein – zweifelsohne positiver – Ne-

beneffekt. Das vorrangige Ziel besteht hingegen darin, das spezifisch-literarische

Potenzial unterschiedlicher Suizidarten zu erforschen. Denn bisher markierte die

umfassende Auseinandersetzung mit der Frage, welche Funktion das Ableben

einer Figur innerhalb des »Zeichenkomplex[es] der Todesszene« (ebd.) erfüllen

kann, innerhalb der germanistischen Forschung ein Desiderat.5

Nach dieser allgemeinen Einführung in das Thema und die Fragestellung

dieser Arbeit scheinen mir einige weitere Punkte klärungsbedürftig. Grundsätz-

lich kommt man bei der Auseinandersetzung mit einem komplexen Phänomen

wie der Selbsttötung nicht umhin, früher oder später zu definieren, wovon man

eigentlich spricht, wenn man den Begriff Suizid gebraucht. Im Folgenden be-

zeichne ich im Anschluss an Ursula Baumann als Suizid eine Handlung, »welche

die ausführende Person mit der Absicht der tödlichen Selbstverletzung unter-

nimmt und diese als Folge ihrer Handlung in einem absehbaren Zeitraum unmit-

telbar nach Beginn der Handlungsausführung für wahrscheinlich hält«

(Baumann 2001, 3). Dezidiert ausgeschlossen sind diesem Verständnis nach da-

mit unter anderem alle Formen einer rein symbolischen Selbsttötung. Was die

Bezeichnungen angeht, so werden die Termini Selbsttötung und Suizid synonym

gebraucht. Nicht sprechen werde ich hingegen von ›Selbstmord‹ und ›Freitod‹,

denn diese beiden Begriffe verweisen auf unversöhnliche Positionen innerhalb

der moralisch und ethisch hoch aufgeladenen Debatte über die Legitimität der

Selbsttötung, an welcher ich mit meiner Arbeit nicht partizipieren werde.

Ein weiterer Aspekt betrifft die zeitliche Eingrenzung der vorliegenden Stu-

die. Bei einem komplexen Phänomen wie der Suiziddarstellung, welches sich in

zahlreichen literarischen Texten findet, ist es meines Erachtens schon aus rein

pragmatischen Gründen sinnvoll, den Untersuchungszeitraum einzuschränken.

Daher werde ich mich in dieser Arbeit ausschließlich mit literarischen Werken

5 Grundsätzlich wäre die Analyse dieser Frage auch für solche literarischen Todesfäl-

le aufschlussreich, die nicht auf eine Selbsttötung zurückzuführen sind. Eine Fokus-

sierung auf das Phänomen des Suizids bietet aber zwei Vorteile: Erstens ermöglicht

es diese Einschränkung, die ansonsten unbeherrschbare Disparität unterschiedlicher

Todesarten auf eine vergleichsweise überschaubare Zahl von Möglichkeiten zu re-

duzieren. Zweitens ist die Selbsttötung auch deshalb besonders interessant, weil sie

im Gegensatz zu anderen Todesarten im Text niemals als kontingent, sondern im-

mer als willentliche Entscheidung der Figur erscheint, womit der Suizid den Bereich

existenzieller Fragen, wie zum Beispiel nach der Freiheit des Subjekts, berührt.

1. ÜBER BOHRENDE SPITZEN UND ZAGENDE FIGUREN (EINLEITUNG) │ 15

befassen, die zwischen ca. 1880 und 1914 veröffentlicht wurden. Für die Fokus-

sierung auf diesen Zeitabschnitt, die ich im Anschluss an Ursula Baumann vor-

nehme (vgl. ebd. 10), sprechen zwei Argumente. Erstens wurde der Diskurs über

die Selbsttötung, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts nachgelassen hatte, in die-

ser Phase wieder besonders intensiv geführt. »Mit enormen zeitdiagnostischem

Potenzial aufgeladen w[urde] der Suizid in dieser Zeit zu einem Gravitations-

zentrum weltanschaulicher und politischer Kontroversen.« (Baumann 2001, 10)

Die Intensivierung dieses Diskurses zeigt sich auch an den epischen und drama-

tischen Texten dieser Epoche, in denen sich zahlreiche Figuren das Leben neh-

men. Zweitens bietet sich diese Phase auch deshalb für eine Untersuchung an,

weil um 1900 bestimmte Formen der Selbsttötung wie die Selbstertränkung

männlicher Protagonisten virulent wurden, welche vorher zumindest in der

deutschsprachigen Literatur praktisch keinerlei Tradition besaßen. Gerade aber

solche Verschiebungen der Darstellungskonventionen sind für eine Analyse der

literarischen Suizidarten besonders vielversprechend. Eingegrenzt wird der Um-

fang der vorliegenden Untersuchung schließlich auch durch die Beschränkung

auf die Gattungen der Dramatik und der Epik. Was die obenstehende Definition

des Suizids als eine Handlung im soziologischen Sinne impliziert, ist eine Ge-

schehnisfolge, deren Minimalstruktur darin besteht, dass ein zunächst lebendiges

Subjekt ein tödliches Mittel auf sich selbst anwendet und infolgedessen stirbt.

Die literarische Darstellung einer solchen Geschehnisfolge setzt wiederum das

Vorhandensein einer Handlung im literaturtheoretischen Sinn voraus.6 Diese ist

zwar konstitutives Element der Dramatik und Epik, sie fehlt aber in vielen For-

men der Lyrik, weshalb diese Gattung nicht berücksichtigt wird.

Zusammengenommen umfasst das Untersuchungskorpus der vorliegenden

Arbeit 13 Werke der deutschsprachigen Literatur, die zwischen 1880 und 1914

erschienen sind. Um die einzelnen Analysen untereinander besser ordnen und

zueinander in Bezug setzen zu können, werden diese in drei größere Abschnitte

gegliedert (Kapitel 4-6). Die Einteilung dieser Abschnitte orientiert sich sowohl

an dem Kriterium der Todesart, als auch am Geschlecht der suizidalen Figur. Die

Berücksichtigung der letztgenannten Kategorie beruht auf der Annahme von

»Geschlechtsdifferenzen in der Methodenwahl« (Stengel 1969, 27), welche in-

nerhalb der historisch-kulturwissenschaftlichen, soziologischen und medizi-

nischen Selbsttötungsforschung einen Gemeinplatz markiert.7 In der vorliegen-

6 Vgl. dazu den Lexikon-Artikel Handlung im Metzler 1990, 188 sowie die literatur-

theoretischen Ausführungen zur Geschehensdarstellungen in Kapitel 3.1.1 dieser

Arbeit.

7 Vgl. hierzu ferner Haenel 1989, 30-32 und Baumann 2001, 252-257.

16 │ VON DER TORHEIT, WÄHLERISCH ZU STERBEN

den Arbeit wird diese Kategorie allerdings zunächst eher heuristisch zur Ord-

nung des Korpus verwendet. Tatsächlich ist in dieser Untersuchung erst noch zu

prüfen, ob auch bei literarischen Suiziden geschlechtsspezifische Präferenzen in

der Methodenwahl existieren. Wenn nun aus den über 50 epischen und drama-

tischen Suizid-Texten der Literatur um 19008 lediglich 13 Werke genauer unter-

sucht werden, so handelt es sich notwendigerweise nur um einen kleineren Teil

der literarischen Selbsttötungsdarstellung dieser Zeit. Naturgemäß enthält die

Auswahl der zu analysierenden Werke ein subjektives Moment, weil die Zu-

sammenstellung des Textkorpus unumgänglich dem Verfasser dieser Arbeit ob-

liegt und nicht an eine objektive Instanz delegiert werden kann.9 Deshalb werde

ich meine einleitenden Ausführungen damit beschließen, die Gründe, aus denen

ich die einzelnen Texte und Analyseabschnitte ausgesucht habe, offenzulegen.

Der erste Analyseabschnitt orientiert sich in erster Linie an der um 1900 lite-

rarisch weit verbreiteten Selbsttötung männlicher Figuren durch Schusswaffen.

Den Auftakt bildet die Untersuchung von Theodor Fontanes Erzählung Schach

von Wuthenow (1882). Generell besetzt Fontane im Korpus dieser Arbeit eine

exponierte Stellung, weil er nicht nur zu den wichtigsten deutschsprachigen Ro-

manciers des ausgehenden 19. Jahrhunderts zählte, sondern mit den mindestens

sieben in seinem Oeuvre enthaltenen Suiziden auch eine wichtige Rolle bei der

zeitgenössisch-literarischen Gestaltung der Selbsttötung in der Epik spielte. Von

seinen drei Texten, in denen sich ein männlicher Protagonist erschießt, ist

Schach der wohl wichtigste und bekannteste, weshalb dieses Werk für die Ana-

lyse ausgewählt wird. Anknüpfend an die preußische Perspektive Fontanes rückt

danach mit Ferdinand von Saars Erzählung Vae Victis! (1883) die Darstellung

des Pistolensuizids bei einem der bedeutendsten österreichischen Epiker dieser

Zeit in den Fokus. Im daran anschließenden Kapitel zu Stine (1889) gerät vo-

rübergehend eine andere Todesart in den Blick. Die Ergebnisse der ersten beiden

Analysen werden als Gegenprobe mit der Analyse eines weiteren Fontane-

Textes konfrontiert, in welchem sich der aus einem ähnlichen Milieu stammende

Protagonist den Tod gerade nicht durch die Pistole, sondern mithilfe von Gift

gibt. Das vierte Kapitel dieses Abschnitts widmet sich mit Lieutenant Gustl

(1901) einem der bekanntesten Texte Arthur Schnitzlers. Obwohl der Protago-

nist am Ende darauf verzichtet, sich zu erschießen, ist die Novelle für die litera-

rische Funktionsweise dieser im Text praktisch durchgängig thematisierten Sui-

8 Vgl. hierzu die tabellarische Übersicht im Anhang.

9 Ein Problem, vor dem im Grunde auch alle motivgeschichtliche Arbeiten stehen, bei

denen der Gegenstand nicht durch irgendein objektives Kriterium wie das Oeuvre

eines Autoren oder dergleichen beschränkt wird.

1. ÜBER BOHRENDE SPITZEN UND ZAGENDE FIGUREN (EINLEITUNG) │ 17

zidart ungemein aufschlussreich. Der Abschnitt zur Selbsterschießung männli-

cher Protagonisten wird durch die Analyse von Frühlings Erwachen (1891) be-

schlossen. Wedekinds bekanntestes Drama bietet sich für eine Untersuchung un-

ter anderem deshalb an, weil die Selbsterschießung hier nicht nur besonders mar-

tialisch dargestellt wird, sondern auch mit dem zeitgenössisch prominenten Phä-

nomen des Schülersuizids verknüpft ist.

Der zweite Analyseabschnitt behandelt mit dem Wassersuizid männlicher

Protagonisten ein Phänomen, das an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zum ers-

ten Mal deutlich in der deutschsprachigen Literatur zu beobachten ist.10 Das Er-

trinken im Wasser war in der abendländischen Kulturgeschichte stets ein weib-

lich konnotierter Tod, der sich im Übrigen wohl erst vergleichsweise spät, näm-

lich mit Shakespeares Hamlet und namentlich durch dessen Figur Ophelia, als

gängige Selbsttötungsmethode in der europäischen Literatur vollends etabliert

hat.11 Bis dato traditionslos, finden ab etwa 1890 in den Texten von einigen der

bekanntesten Autoren dieser Zeit etliche männliche Figuren den Tod in Seen,

Flüssen und Bächen. Ins Drama eingeführt wird dieses Phänomen von Gerhart

Hauptmann, dessen untersuchtes Stück Einsame Menschen (1891) das erste von

drei Schauspielen Hauptmanns ist, in denen sich eine männliche Figur ertränkt.

Im Anschluss an die Analyse von Einsame Menschen richtet sich die Aufmerk-

10 Die Selbstertränkung einer männlichen Figur klingt bereits in K.P. Moritz Anton

Reiser (1785/86) zum ersten Mal an, allerdings bleibt es in diesem Roman bei ei-

nem erfolglosen Suizidversuch.

11 Soweit ich sehen kann, markiert die Selbstertränkung weiblicher Figuren auch in

der antiken Literatur eine Rarität: Mir ist mit dem etwa von Vergil oder Ovid über-

lieferten Hero- und Leander-Stoff lediglich ein Fall bekannt, in dem sich eine weib-

liche Protagonistin ertränkt. Die geringe Bedeutung dieser Todesart für die antike

Literatur wird durch Anton van Hoofs Untersuchung bestätigt. Dieser hat über 1200

Zeugnisse, darunter viele literarische Texte, über die Selbsttötung in der Antike ge-

sammelt und unter anderem unter dem Gesichtspunkt der Suizidart ausgewertet.

Demnach ist die mit Abstand häufigste Todesursache mit 36% der Suizid durch

Waffen, gefolgt von knapp 17% durch Erhängen. Die Selbstertränkung taucht in

seiner Aufstellung als eigene Kategorie nicht mal auf und kann daher maximal 3%

der untersuchten Fälle ausmachen. Vgl. van Hoof 2005, 25. Ähnlich sieht es für die

Literatur im Mittelalter aus, in welcher der Suizid insgesamt ohnehin eine »Aus-

nahme, eine nahezu tabuisierte Randerscheinung« (Knapp 1979, 85) darstellte.

Kurzum: Auch wenn dies hier nicht ausführlich belegt werden kann, so spricht vie-

les dafür, dass der Suizid durch Ertrinken erst mit Shakespeare wirklich in der euro-

päischen Literaturgeschichte verankert wurde.

18 │ VON DER TORHEIT, WÄHLERISCH ZU STERBEN

samkeit auf drei Prosastücke. Thomas Manns Der kleine Herr Friedemann

(1897), Hermann Hesses Unterm Rad (1903) und Franz Kafkas Das Urteil

(1913) sind zunächst bereits schon deshalb relevant, weil sie allesamt den litera-

rischen Durchbruch ihrer Verfasser bedeuten und zugleich jeweils den einzigen

Wassersuizid im Werk der Autoren markieren. Vor allem aber ermöglicht es der

Vergleich dieser Texte, die relativ gleichmäßig über den Untersuchungszeitraum

verteilt erschienen sind, etwaige Konstanten und Veränderungen in der Bedeu-

tung des männlichen Wassersuizids aufzuzeigen.

Am Beginn des letzten Analyseabschnitts, der sich mit den Selbsttötungsar-

ten weiblicher Figuren befasst, steht Gottfried Kellers Regine (1881). Mit dieser

Novelle wird auch der Text eines Schweizer Autors als Teil der deutschsprachi-

gen Literatur berücksichtigt. Regine ist im Rahmen dieser Arbeit vor allem des-

halb relevant, weil in dem Text mit dem Erhängen eine Suizidart aufgegriffen

wird, die eine sehr lange literarische Tradition12 hat und zudem außerliterarisch

zu den gängigsten Formen der Selbsttötung gehört. Im Anschluss daran betrachte

ich mit Cécile (1886) ein weiteres Werk Theodor Fontanes. Da sich auch hier –

ähnlich wie schon in Stine – die Hauptfigur mit Toxinen das Leben nimmt, er-

möglicht es die Betrachtung dieses Romans auch, nach Gemeinsamkeiten und

Unterschieden in der Gestaltung von männlichem und weiblichem Giftsuizid bei

Fontane zu fragen. Die vorletzte Analyse befasst sich mit dem Schauspiel Vor

Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann, der für die dramatische Gestaltung des

Suizids um 1900 einer der wichtigsten Autoren war. Mit dem Erstechen gerät

hier eine Selbsttötungsmethode in den Blick, welche insbesondere auf dem

Theater eine sehr lange Tradition aufweist. Den Abschluss der Analysen mar-

kiert die Auseinandersetzung mit der Novelle Harmonie (1905) von Georg von

Keyserling, der in meinem Korpus die deutschsprachigen Autoren aus dem Bal-

tikum repräsentiert. Am Beispiel dieses Textes untersuche ich, wie das Motiv

des weiblichen Todes im Wasser in der Literatur um 1900 aufgegriffen wurde.

Bevor ich zur Untersuchung des nun in seiner Zusammenstellung erläuterten

Textkorpus übergehe, werde ich allerdings zunächst noch einen Überblick über

den Forschungsstand geben (Kapitel 2) und meinen theoretisch-methodischen

Zugang (Kapitel 3) erläutern. Beginnen möchte ich meinen Streifzug durch das

unerforschte Gebiet der literarischen Suizidarten allerdings mit den Worten Jo-

hann Wolfgang von Goethes, welche meiner Untersuchung als Motto dienen

mögen: »So will ich die Betrachtungen nicht verbergen, die ich über die ver-

12 Diese Art der Selbsttötung findet sich mit dem Suizid Iokastes bereits in Sophokles

Tragödie König Ödipus.

1. ÜBER BOHRENDE SPITZEN UND ZAGENDE FIGUREN (EINLEITUNG) │ 19

schiedenen Todesarten, die man wählen könnte, wohlbedächtig angestellt.«

(Goethe 1986, 635)