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FOTO: © PHILIPP ROHNER 2. Ausgabe / Juni 2006 Fr. 5.00 / 3.20 www.2021-zeitschrift.com 2021 ZEITSCHRIFT FÜR GESELLSCHAFTSFRAGEN Operation Zukunft Warum die Gesellschaft krank ist Das Prinzip der Heilkunde Wie der Mensch gesund wird Der Weg des Mystikers Der zeitlose Erfahrungsweg der Religionen Charlton Heston: Waffennarr oder Mahner für die Freiheit? Ein Plädoyer für Denk- und Redefreiheit vor Studenten in Harvard

2021 2.Ausgabe (Jun. 06)

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Charlton Heston: Waffennarr oder Mahner für die Freiheit? Wie der Mensch gesund wird Der zeitlose Erfahrungsweg der Religionen Warum die Gesellschaft krank ist Ein Plädoyer für Denk- und Redefreiheit vor Studenten in Harvard 2. Ausgabe / Juni 2006 Fr. 5.00 / 3.20 www.2021-zeitschrift.com FOTO: © PHILIPP ROHNER

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2. Ausgabe / Juni 2006Fr. 5.00 / 3.20 www.2021-zeitschrift.com2021Z E I T S C H R I F T F Ü R G E S E L L S C H A F T S F R A G E N

Operation ZukunftWarum die Gesellschaft krank ist

Das Prinzip der HeilkundeWie der Mensch gesund wird

Der Weg des MystikersDer zeitlose Erfahrungsweg der Religionen

Charlton Heston: Waffennarr oder Mahner für die Freiheit?Ein Plädoyer für Denk- und Redefreiheit vor Studenten in Harvard

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Liebe Leserinnen, liebe Leser

Was bedeutet 2021? Wir befinden uns in der Übergangsphase vom 20. ins 21. Jahr-

hundert, das heisst vom zweiten ins dritte Jahrtausend. Betrachten wir vergangene

Epochen, sind solche Zeitenwenden oft mit grundlegenden Veränderungen verbun-

den. Auch jetzt deuten neue wissenschaftliche Erkenntnisse und, damit verbunden,

ein sich abzeichnender Wandel des Welt- und Menschenbildes auf eine epochale

Wende. Eine Reorganisation der Gesellschaft scheint unumgänglich.

Um solche gesellschaftlichen Veränderungen in grösserem Zusammenhang zu sehen

und zu verstehen, beginnen wir in der nächsten Ausgabe mit einem Blick in die Ge-

schichte. In der Kolumne «Zeitenwende» wird der Frage nachgegangen, was in ver-

gangenen Jahrhunderten solche Umbruch-Zeiten kennzeichnete.

In dieser Ausgabe können Sie Beiträge zu folgenden Themen lesen: Ein Artikel zum

Gesundheitswesen der Industriestaaten führt den Anstieg von Krankheiten und die

explodierenden Gesundheitskosten auf die materialistische Grundstruktur der Ge-

sellschaft zurück. Als Alternative zur modernen Konzeption des Gesundheitswesens

beschreibt Stefan Schlumpf das Prinzip eines beinahe vergessenen Heilwesens.

Ein Beitrag über den Erfahrungsweg der Mystiker zeigt, wie Religion gelebt und ver-

standen werden kann, wenn transzendente Sphären mitberücksichtigt werden.

Zum Abschluss dieser Ausgabe drucken wir eine Rede von Charlton Heston. Obgleich

der umstrittene Schauspieler nicht in die von uns vertretene philosophische Ausrich-

tung passt, sollte seine Rede, die er vor Studenten in Harvard gehalten hat, diskutiert

werden. Er kritisiert darin die mangelhafte Denk- und Redefreiheit an US-Amerika-

nischen Universitäten. Ein Thema, das an den Artikel «Medienfreiheit und Kapitalis-

mus» der ersten Ausgabe anknüpft.

Die Redaktion

EDITORIAL

Ihr Spezialist für Maler- und Tapezierarbeiten, Farbtechniken und dekorative Wandgestaltung höchster Qualität

Anthony’s GmbHVordere Grundstr. 5, 8135 Langnau a.A.079 733 79 91 / [email protected]

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IMPRESSUM

Nr. 2/2006Erscheint ca. 8-12 x pro Jahr

Anzeigen und Information2021 c/o Hannes Kriesi

Rotwandstrasse 68 8004 Zürich

[email protected]

[email protected]

Redaktion/AutorenAndreas Pfister: [email protected]

Dominik Reif: [email protected] Kriesi: [email protected]

Maurus Federspiel: [email protected] Zweifel: [email protected]

Stefan Schlumpf: Gupfe 1, 8427 FreiensteinSusanna Kriesi

Grafisches Konzept und Gestaltungr4c.network/red, Stefan Schafer: [email protected]

FotografiePhilipp Rohner: [email protected]

Jahresabo85.- / Jahr (Bestellung siehe letzte Seite)

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06 Das Gesundheitswesen der IndustriestaatenDie Gesellschaftsstruktur der Industriestaaten ist die Ursache, dass die Menschen zunehmend krank werden. Die krank machende Gesell-schaftsstruktur gründet auf einer materialistischen Weltanschauung, die den Menschen auf seine physische Beschaffenheit reduziert. Das Seelische, Geistige und Schicksalhafte wird ausgeschlossen. Der Mensch wird krank, weil er in eine Gesellschaftsform hineingezwängt wird, die seiner Veranlagung nicht entspricht.

10 Über die HeilkundeZu Beginn des 16. Jahrhunderts fand durch die Arbeiten von Paracelsus eine beinahe vergessene Heilkunde neue Beachtung. Sie basiert auf der Erkenntnis, dass jeder Mensch aus der Vierheit von Schicksal, Bewusst-sein, Seele und Körper veranlagt ist. Krankheit ist eine Erscheinung des verneinten Schicksals, um über das Erleben der Krankheit einen Zugang zum abgelehnten Schicksal zu ermöglichen.

16 Colt beim Tamilen«Bin Laden, der ausgebuffte Wüstenfuchs! Ob es ihn tatsächlich gibt?»

18 Der Weg des MystikersFür den Mystiker kann Religion nur auf der Basis eines mehrdimensio-nalen Weltbildes gelebt werden, welches seelisch-geistige Bewusstseins-ebenen einschliesst, weil erst der Weg durch diese Sphären die entschei-denden Erkenntnisse für die Verbundenheit mit Gott bringt.

22 Monatsgespräch mit Philipp SchochWie der Olympiasieger wirklich ist.

24 Charlton Hestons Rede vor Studenten in Harvard«Chuck, wie kannst du es wagen, zu sagen, was du denkst!»Heston kritisiert in dieser Rede die Angepasstheit und Konformität der intellektuellen Elite des modernen Amerika, die sich manipulieren lässt und ihre Autorität bereitwillig gegen Streicheleinheiten vom Establish-ment eintauscht.

29 Leserbriefe

31 Vorschau / Abonnement

INHALT

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D ie krank machende Gesellschafts-struktur gründet auf einer rational-materialen Weltanschauung. Das

moderne Weltbild ist durch einen 2500 Jahre dauernden Rationalisierungspro-zess geprägt, der Welt und Mensch zu-nehmend auf ihre methodisch erfassbare Beschaffenheit reduziert hat. Während im «alten» Weltbild die Existenz transzen-denter Sphären selbstverständlich war, werden diese in der materialistischen Sicht ausgeschlossen. Die Folge dieses Wandels des Weltbildes ist eine Reduktion der Wirklichkeit auf das sinnlich Wahr-nehmbare. Auch der Mensch wird auf seine physische Beschaffenheit reduziert.

Der einzelne Mensch wird krank, weil er in ein System hineingezwängt ist, das sei-ner Veranlagung nicht ent-spricht.

Durch diese Entwicklung entstand das heutige Gesellschaftssystem, welches strukturell ausschliesslich auf die Befrie-digung materieller Bedürfnisse und Inter-essen ausgerichtet ist. Die Ökonomie, je-ner gesellschaftliche Teilbereich, der dazu da wäre, die materiellen Grundbedürf-nisse zu decken, diktiert von nun an das Leben in allen gesellschaftlichen Berei-chen. Der heutige Mensch ist durch die-se Entwicklung zum Wirtschaftssubjekt degradiert. Die individuelle Veranlagung

des Menschen, das Seelische, Geistige und Schicksalhafte, wird systemisch aus-

Der Mensch und seine Krankheit werden auf das Körperliche reduziert; behan-delt werden die Symptome anstatt die Ursachen der Krankheit.

geschlossen. Der einzelne Mensch wird krank, weil er in ein System hineinge-zwängt ist, das seiner Veranlagung nicht entspricht.

Die Folgen des Rationalisierungspro-zesses sehen wir auch in der modernen Medizin, die auf der materialistischen Weltanschauung basiert. Der Mensch und seine Krankheit werden auf das Kör-perliche reduziert; behandelt werden die Symptome anstatt die Ursachen der Krankheit. Die auftretenden Symptome werden durch chemische und operative Eingriffe unterdrückt oder ausgeschaltet. In der Medizin spricht man von Bekämp-fen, Ausmerzen und Eliminieren, was an Krieg erinnert, aber sicher nicht an Hei-lung. Dass es das Phänomen der Symp-tomverschiebung gibt, wonach ein aus-geschaltetes Symptom an anderer Stelle und in anderer Form wieder auftaucht, weil die Krankheit nicht geheilt wurde, entzieht sich weitgehend der Kenntnis der Schulmedizin, weil sie diese Zusam-

menhänge ausschliesst. Würde sie ihr Vor-gehen überprüfen, wäre beispielsweise bekannt, dass die vielfache Verabreichung von Antibiotika zu Diabetes führt. In der Heilkunde sind ganze Symptomketten be-kannt, wie unterdrückte Krankheiten sich verschieben, doch wird dieses Wissen von offizieller Seite bewusst verneint, weil es die gesamte Konzeption der Schulmedi-zin aus den Angeln heben würde.

Folgende Fakten stellen das Gesund-heitswesen grundsätzlich in Frage: «Mehr Tote durch Ärztepfusch als im Strassen-verkehr», titelte die Süddeutsche Zeitung vom 04.04.2005. So hatten Forscher des amerikanischen «Institute of Medicine» herausgefunden, dass allein in den USA jährlich bis zu 98 000 Menschen an Feh-lern bei ihrem Krankenhausaufenthalt sterben. «Wir müssen davon ausgehen, dass die Situation hier ähnlich ist», sagt

Während mehrmonatigen Ärztestreiks in Israel und Kolumbien ist die Sterberate um bis zu dreissig Prozent gesunken.

der Präsident der Chirurgischen Gesell-schaft Deutschlands. Der Allgemeine Pa-tienten-Verband Deutschland schätzt die Zahl der Medizintoten auf 25 000 pro Jahr, die Opfer von «Kunstfehlern» und von

Das Gesundheitswesen der IndustriestaatenDie Menschen werden immer kränker, die Kosten für das Gesundheitswesen steigen. Über die Gründe wird heftig debattiert. Ausser Acht gelassen wird in der Diskussion das entscheidende Argument: «Ob ein Mensch gesund ist oder nicht, hängt in erster Linie von der Struktur der Gesellschaft ab», war bereits Erich Fromm überzeugt. Die Gesellschaftsstruktur der Industriestaaten ist die Ursache, dass die Menschen zunehmend krank werden. Von Hannes Kriesi und Stefan Schlumpf

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Fehlmedikationen werden. Diese Zahl liegt höher als die Zahl der Verkehrstoten. Studien aus England und Australien erga-ben, dass zwischen 12 und 16 Prozent aller Klinikpatienten bei der Behandlung «ein unerwünschtes Ereignis» widerfährt.

Ärzte, Krankenkassen und besonders die Pharmain-dustrie profitieren finanziell von den Krankheiten der Menschen und heizen die Kostenspirale an - ein Teu-felskreis.

Vierzehn Prozent der Spitalinsassen in der Schweiz gehen mit einer Infektion nach Hause. Während mehrmonatigen Ärztestreiks in Israel und Kolumbien ist die Sterberate um bis zu dreissig Prozent gesunken. Professor Ivan Illich kommt in seinem Buch «Nemesis of Medicine» zum Schluss, dass unser Gesundheits-wesen inzwischen zur grössten Gefahr für unsere Gesundheit geworden ist und Professor Thure von Uexküll schätzt, dass die Hälfte aller Krankheiten in den ent-wickelten Ländern überhaupt durch Ärzte verursacht werden.

Diese Fakten zeigen, dass das Gesund-heitssystem morbid ist. Ursache ist, wie bereits erwähnt, die rational-materiale Maxime der Medizin sowie die strukturelle Verflechtung von Gesundheitswesen und Wirtschaft. Auf der ökonomischen Ebene drückt sich der Materialismus im Prinzip der Kapitalakkumulation aus. Ob bewusst oder unbewusst folgen Ärzte, Pharmain-dustrie und Krankenkassen dieser end-losen Anhäufung von Geld und Gütern. Es geht um Kapitalgewinne. Krankheit und Heilung werden ökonomisiert und in-dustrialisiert. Ärzte, Krankenkassen und besonders die Pharmaindustrie profitie-ren finanziell von den Krankheiten der Menschen und heizen die Kostenspirale an – ein Teufelskreis. Roche, Bayer oder Novartis machen Milliardengewinne. Ärzte, die zu viel verrechnen oder unnö-tige Medikamente verschreiben, gehören zum Alltag.

Die zunehmenden Erkrankungen, die steigenden Kosten und der Gewinn-zwang der Industrie haben ein gefähr-liches Potential erreicht: Einzelnen und ganzen Unternehmen droht der Kon-kurs. Viele Menschen können die Kran-kenkassenprämien nicht mehr bezahlen. Von sieben Millionen Versicherten in der Schweiz waren 2002 bereits 450 000 von einer Leistungssperre betroffen, schätzt Jean-Bernard Cichocki, Sprecher der Be-rufsgenossenschaft der Schweizer Apo-theker/innen. Wenn man bedenkt, dass die Kassen erst nach erfolgter Betreibung eine Leistungssperre verhängen dürfen, ist das eine hohe Zahl. 2002 waren bei den Schweizer Krankenkassen Mahnungen über 300 Millionen Franken offen. Auch in Amerika sieht die Entwicklung düster aus: Ein Sechstel der US-Amerikanischen Bevölkerung ist nicht versichert. Für Fir-men wie General Motors (GM) wird die Gesundheitsversorgung, die sie nicht nur ihren Beschäftigten, sondern auch ihren Pensionierten vertraglich zugesichert hat, allmählich zum Existenzproblem. Die Ge-sundheitskosten belaufen sich bei GM auf nicht weniger als 1500 $ pro verkauftes Fahrzeug, wie die NZZ vom 1.4.2006 be-richtete. Das System scheint sich selber ad absurdum zu führen.

Die zunehmenden Erkran-kungen, die steigenden Kos-ten und der Gewinnzwang der Industrie haben ein ge-fährliches Potential erreicht: Einzelnen und ganzen Unter-nehmen droht der Konkurs.

Weitere Entwicklungen sind zu be-denken: Ist es verantwortbar, durch den Patentschutz gewisse Staaten und Unter-nehmen daran zu hindern, Generika her-zustellen, wenn diese unter Umständen lebensnotwendig sind? Sind Leistungs-sperren durch die Krankenkassen mora-lisch vertretbar? Kann ein Arzt darüber entscheiden, wer gesund ist und arbeiten kann? Wer übernimmt die Verantwortung für Leben und Gesundheit der Menschen – der Staat oder der Einzelne?

Solche Fragen dürften in einer «ge-sunden» Gesellschaft nicht zur Debatte stehen. Die Weigerung von Krankenkas-sen, HIV-Positiven die Kosten für Me-dikamente zu begleichen, oder das in gewissen Fällen über den Patentschutz verhängte Verbot, Generika herzustellen, ist der Ökonomisierung der Gesellschaft zuzuschreiben. Es ist auch unzulässig, im Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit überhaupt Einfluss auf einzelne Personen zu nehmen, wenn dies von den Betroffenen nicht gewünscht wird, weil (seelische) Eigenständigkeit und Selbst-verantwortung die Basis der Gesundheit ist. Heute ist diese Eigenständigkeit nicht mehr gewährleistet. Der Einzelne kann vom Staat und von den Krankenkassen

Die degenerativen Erschei-nungen des Gesundheits-wesens wurzeln in einer rational-materialen Gesell-schaftsstruktur.

bevormundet werden. Beispiele von Ein-griffen in die Privatsphäre Betroffener sind u. a. das Krankenkassen-Obligato-rium, oder der mögliche «Zwang», sich einer bestimmten Operation zu unterzie-hen oder die medikamentösen Behand-lungskosten selbst zu bezahlen.

Zusammenfassend kann gesagt wer-den: Die degenerativen Erscheinungen des Gesundheitswesens wurzeln in ei-ner rational-materialen Gesellschafts-struktur. Dies lässt den Menschen krank werden; das Vernachlässigen des Seeli-schen und Geistigen, der ökonomische Leistungsdruck, künstlich erzeugte Be-dürfnisse und eine Gesellschaft mit einer Medizin, die auf einem eindimensional materialistischen Fundament aufgebaut sind. Eine Veränderung kann nur ein-treten, wenn die Probleme des heutigen Gesundheitswesens in Verbindung mit der Gesellschaftsstruktur analysiert und schonungslos diskutiert werden.

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In den Jahren 2001-2005 sind die Krankenversicherungsprämien in der Schweiz jährlich zwischen 9.2% und 13.9% ge-stiegen. Gleichzeitig sind Franchisen und Zuzahlungen in vielen Fällen heraufgesetzt worden. Die Gesundheitskosten betrugen in der Schweiz im Jahr 2003 ca. 50 Milliarden Franken. Dies entspricht 11,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes. In Deutschland waren es im selben Jahr ca. 240 Milliarden Euro oder 11.1% des BIP. An der Spitze stehen die USA mit Gesundheitskosten in der Höhe von ca. 1800 Milliarden US-Dollar oder 16% des BIP. Im Gesundheitswesen der Schweiz sind über 400 000 Mitarbeiter/innen beschäftigt. In Deutschland arbeiten über 4 Millionen Menschen (11 Prozent aller Beschäftigten) im Gesundheitswesen.

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Die vergessene HeilkundeZu Beginn des 16. Jahrhunderts fand durch die Arbeiten von Theophrastus Paracelsus eine beinahe vergessene Heilkunde neue Beachtung, die noch heute ihre Gültigkeit haben könnte, wäre sie nicht in mannigfaltiger Weise unterlaufen worden. Sie basierte auf der Erkenntnis, dass jeder Mensch aus der Vierheit von Schicksal, Bewusstsein, Seele und Körper veranlagt ist, wie es bereits Aristoteles formuliert hatte. Von Stefan Schlumpf

E ntsprechend diesem Menschenbild besteht die Freiheit des Menschen darin, Schicksal und Veranlagung

anzunehmen oder abzulehnen. Die Nicht-annahme des Schicksals ist es, die zum körperlichen Krankheitsgeschehen führt. Anders ausgedrückt: Jede Krankheit ist eine Erscheinung des verneinten Schick-sals. Das Erleben der Krankheit ermöglicht einen Zugang zum abgelehnten Schicksal.

Jede Krankheit ist eine Er-scheinung des verneinten Schicksals. Das Erleben der Krankheit ermöglicht einen Zugang zum abgelehnten Schicksal.

In der Heilkunde nehmen folgende fünf Urprinzipien ihre hierarchische Stellung ein: Es sind dies die Sprache, die Religion, die Astrologie, die Homöopathie und die Alchimie; in ihrer Kombination steht eine Heilkunde zur Verfügung, um Krankheiten der Menschen heilen zu können.

Das oberste Prinzip ist die Sprache, die dazu dient, das Schicksalhafte an-zusprechen. Das Gespräch über den Zusammenhang von Lebenssituation und Krankheit ist immer der wichtigste Teil eines Bewusstwerdungsprozesses. Es erschliesst sich dadurch ein anderer Zugang zur Krankheit. Viele Erfahrungen zeigen, dass Krankheiten bereits durch präzises Beschreiben, ohne Einsatz von Arzneimitteln, geheilt wurden, mit ein-

setzender Wirkung unmittelbar nach dem Ansprechen und beginnender Linderung der Symptome, weil die Bewusstwerdung der Ursache die Heilung in die Wege leitet. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob dem Patienten die Ursache des Leidens bewusst ist, oder ob er lediglich weiss, dass das Knie schmerzt, weil es entzün-det ist.

Ebenso wichtig wie die Sprache ist das religiöse Verständnis des Prinzips Krank-heit, da ein entscheidender Schritt eines Heilweges in der Hinnahme der Krankheit besteht, d.h. im Akzeptieren des schick-salhaften Anteils. Heilung ist ein religiöses Prinzip. Religion hat in diesem Zusam-menhang nichts mit Glauben oder Kon-fessionszugehörigkeit zu tun, sondern ist im ursprünglichen Sinn als Anschauung und Rückverbindung zu verstehen. Um das Prinzip Krankheit zu erfassen, braucht es die religiöse Ergebenheit, die Welt so zu

In der Heilkunde nehmen folgende fünf Urprinzipien ihre hierarchische Stellung ein: Es sind dies die Spra-che, die Religion, die Astro-logie, die Homöopathie und die Alchimie.

belassen, wie sie ist, weil Krankheit sonst zum reinen Leidensvorgang verkommt, fern jeden Bewusstseins. Krankheiten sind Teil des Lebens, um das Leben des Einzelnen zu vervollständigen.

Im praktischen Umgang mit Krank-heitsgeschehen ist die Astrologie das Mit-tel der Diagnose und Beschreibung der

Ebenso wichtig wie die Sprache ist das religiöse Verständnis des Prinzips Krankheit, da ein entscheidender Schritt eines Heilweges in der Hinnahme der Krankheit besteht.

zeitqualitativen Zusammenhänge, um über die objektivierende Beschreibung des Krankheitsgeschehens eine Klärung der lebenshistorischen Situation einzu-leiten. Die Lehre der Astrologie hält Bild-beschreibungen bereit, um Krankheit als Teil des eigenen Daseins zu erkennen. Sie verbindet die vier Urgründe des Lebens – Schicksal, Bewusstsein, Seele, Körper – mit der Beschreibung der Zeitqualität, so dass die Verbindung zwischen Krankheit und Dasein einsichtig wird. Die Astrolo-gie, speziell die «Münchner Rhythmen-lehre», stellt die Erfahrungen der Prinzi-pienübereinstimmung von Zeitqualität, Krankheit und den entsprechenden Arz-neimitteln zur Verfügung. Zudem ist über die Astrologie eine mögliche Anfälligkeit für Krankheitsgeschehen und Störungen von Geburt an festzustellen.

Zur Behandlung der Krankheit kann auf die Erfahrungen der Homöopathie und der Alchimie zurückgegriffen wer-

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den. In der Alchimie werden bei der Arz-neimittelherstellung die Wirkungsprin-zipien aus der Mineral-, Metall-, Tier- und Pflanzenwelt an einen materiellen Träger gebunden. Das geistige Prinzip der Heil-substanz wird dabei vom ursprünglichen Körper gelöst und mit dem neuen Träger (Zucker, Alkohol) in Verbindung gebracht. Durch Verdünnung und Potenzierung die-ser Heilsubstanz entstehen die homöo- pathischen Arzneimittel. Dem kranken Körper wird jenes geistige Prinzip homöo-pathisch verabreicht, welches im Sinn des Krankheitsbildes als fehlend erkannt wird. Durch die Einnahme dieses Arzneimittels wird das Symptom der Krankheit aus der Körperlichkeit herausgelöst.

Diese Wirkungsebene nach dem ho-möopathischen Grundsatz des «Similege-setzes» von Paracelsus (similia similibus currantur – Ähnliches heilt Entspre-chendes) ist im Verständnis des natur-

Um das Prinzip Krankheit zu erfassen, braucht es die religiöse Ergebenheit, die Welt so zu belassen, wie sie ist, weil Krankheit sonst zum reinen Leidensvorgang ver-kommt, fern jeden Bewusst-seins.

wissenschaftlichen Weltbildes nicht nachvollziehbar, da die Wirkung vor-dergründig nicht im materiellen Körper stattfindet, aber in ihren Auswirkungen nachweisbar ist.

Neben dem Hauptsymptom im Körper müssen auch die bewirkenden Anteile ei-ner Krankheit homöopathisch behandelt werden, weil es sonst zur Symptomver-schiebung kommt. Ein Rückenleiden, das die körperliche Entsprechung für seeli-sche Uneigenständigkeit und Gebeugt-heit ist, kann nur geheilt werden, wenn die seelische Unterdrückungssituation ebenfalls geklärt wird. Bleibt der Kranke in der lebenshistorischen Situation der Uneigenständigkeit, wird das Rückenlei-den seine Fortsetzung finden.

Neben dem Hauptsymptom im Körper müssen auch die bewirkenden Anteile einer Krankheit homöopathisch behandelt werden, weil es sonst zur Symptomverschie-bung kommt.

Diesbezüglich hat jede Krankheit ihre lebenshistorischen Entsprechungen, so dass über die Beschreibung der einzel-nen Krankheitsbilder ein bewusster Be-zug zum jeweiligen Krankheitsgeschehen hergestellt werden kann.

Ein Blick in die Geschichte zeigt die entscheidende Weichenstellung für die allmähliche Verdrängung des Heilprin-zips. Der Beginn des Untergangs der Heilkunde ist zeitlich im 12. Jahrhundert während der Zeit des Universalienstreites auszumachen. Dabei ging es um die Fra-ge, ob das Leben schicksalhaftes Gesche-hen sei, oder ob es geleitet und bestimmt wird durch Lehren der römischen Kirche, nach denen sich der Mensch auszurichten hat. In dieser Auseinandersetzung behielt die Kirche die Oberhand; der Glaube an die Schicksalhaftigkeit des Lebens wurde verdrängt, u.a. weil die katholische Kirche sowohl die kirchliche wie die politische Macht beanspruchte und mit ihren Ge-setzen und Dogmen über Leben und Tod der Gläubigen herrschte. Mit der Inqui-

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sition setzte sie ihren Machtanspruch durch: Andersdenkende fielen ihr zum Opfer, wozu auch die in der Heilkunde Tätigen zu zählen sind. Gerade die Ver-treter der Heilkunde, deren Prinzip auf dem Schicksalhaften beruht, waren dem

herrschenden Terror gegen das Natur-gegebene ausgesetzt. Jeder Heilkundler musste damit rechnen, als Ketzer hin-gerichtet zu werden, da seine Ansichten den offiziellen Glaubenssätzen diametral entgegenstanden.

Weil sich aus diesen Gründen inner-halb der mitteleuropäischen Kultur die einheimische Heilkunde nicht weiterent-wickeln konnte, fusste sie nach wie vor auf dem Heilverfahren der späten Grie-chen (Galenus – Vier-Säfte-Lehre), das aus der «spätgriechischen Frühmecha-nistik» stammt. Krankheit wurde bereits hier als methodisch erfassbarer Vorgang verstanden, der auf die Körperlichkeit be-schränkt ist. Hauptexponent der spätgrie-chischen Medizin war Hippokrates, der als eigentlicher Begründer der modernen Schulmedizin gilt.

Spätgriechische Philosophen hat-ten besonders in der Renaissance einen starken Einfluss auf die europäische Ge-sellschaft. Ihre methodisch geprägten An-sichten wurden als philosophische Basis des neuen Weltbildes herbeigezogen. Dies wirkte sich auch auf die Entwick-lung der Heilkunde aus. Seit der Renais-sance und unter dem Einfluss der späten Griechen sind die Kenntnisse der frühen Griechen in Alchimie und Homöopathie kaum mehr berücksichtigt. Einzig die Astrologie verbreitete sich nach der Re-naissance vorübergehend in Europa. Sie wurde lange Zeit als Primärwissenschaft angesehen und verfügte über universitäre Lehrstühle.

Der Arzt und Philosoph Paracelsus (1493-1541) stellte in dieser gesamteu-ropäischen Entwicklung eine Ausnahme dar, indem er sich auf das alte Prinzip der Heilkunde besann. Mit der Wiederauf-nahme der Urprinzipien Astrologie und

Alchimie brachte er die Homöopathie ins öffentliche Bewusstsein.

Der endgültige Untergang der Heil-kunde war mit der Reformation und dem Beginn der Frühmechanistik im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts erreicht, wo Astrologie und Alchimie durch das zuneh-mend auf die materielle Erscheinungs-welt ausgerichtete Denken der Wissen-schaft aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurden. Aus der Astrologie ging die Astronomie hervor und die Alchimie entwickelte sich zur experimentellen Che-mie. Die Beschreibung der Zeitqualität in der Astrologie und ihre Bildbeschrei-bungen sowie das Prinzip der Gestaltträ-ger der Erscheinungsformen in der Alchi-mie wurden ersetzt durch die Erforschung des Weltraums in der Astronomie und die ausschliesslich stoffliche Nutzung in der Chemie. Später wurde mit Hahnemann auch die Homöopathie dem naturwis-senschaftlichen Denken angeglichen. Mit der klassischen Homöopathie entstand eine Methode, die nach dem Muster der Symptombekämpfung funktioniert. Die Bildbeschreibungen und die religiösen Aspekte von Krankheitsgeschehen sind seit Jahrhunderten unbeachtet; über die lange Zeitspanne der Verdrängung sind nur noch wenige Vertreter zu finden, die über das alte Wissen verfügen.

Als Gegengewicht zur modernen Medi-zin hat die Heilkunde einige Ergänzungen anzubieten: Es geht um das Heilprinzip,

Der endgültige Untergang der Heilkunde war mit der Reformation und dem Beginn der Frühmechanistik im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts erreicht, wo Astrologie und Alchimie durch das zunehmend auf die materielle Erscheinungswelt ausgerichtete Denken der Wissenschaft aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurden.

bezogen auf den Einzelnen als eigen-ständiges Subjekt. Krankheit ist ein in-dividuelles Geschehen. Ein identisches Grippevirus, das bei verschiedenen Leu-ten nachgewiesen wird, kann durchaus unterschiedliche Ursachen haben, weil jeder seine persönliche Grippe und den individuellen lebenshistorischen Zugang zum Krankheitsbild hat. Es kommt des-halb vor, dass für Kranke mit gleichen Symptomen unterschiedliche Arzneimit-tel angewendet werden.

Das Grippegeschehen kann verglichen werden mit dem Larvenstadium einer noch nicht geborenen Erlebniswelt, die wie der Schmetterling aus der Larve aus-schlüpfen wird. Die Grippe sorgt für das Ausschlüpfen, indem der Kranke aus dem öffentlichen Verkehr gezogen ist; in der Abgeschiedenheit kann sich die Wand-lung vollziehen. Werden zum Beispiel durch eine vorsorgliche Impfung und medikamentöse Überbrückung Wachs-tumsprozesse unterbunden, wird die Entwicklung des Einzelnen verhindert. Grippeimpfungen und schulmedizinische Grippebehandlungen sind deshalb grund-sätzlich in Frage zu stellen. Auch wird dadurch die Immunabwehr geschwächt.

Mit der klassischen Homöo-pathie entstand eine Metho-de, die nach dem Muster der Symptombekämpfung funkti-oniert.

Besonders bei Kinderkrankheiten ist gut zu beobachten, dass nach durchstande-ner und unüberbrückter Krankheit ein riesiger Entwicklungsschub erfolgt. In diesem Sinn ist jede Krankheit in einen grösseren Zusammenhang zu stellen.

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Heute habe ich Kurt zum Abendessen eingeladen. Normalerweise gehen wir ins Copi

oder ins Volkshaus – ich glaube, Kurt will das so. Aber heute lade ich Kurt in mein

zweites Wohnzimmer ein: den tamilischen Imbiss bei mir um die Ecke. Das ist ein

richtiger Familienbetrieb. Der Vater sitzt an der Kasse. Die Mutter kocht und kann kein

Wort Deutsch. Der Sohn, ein Hip-Hopper, guckt indische Musikvideos, und die Tochter,

gertenschlank mit dunklen Augen, könnte in einem davon mittanzen.

Zufrieden trinkt Kurt sein Bier, während wir auf das Essen warten. Was er wohl gerade

denkt, der alte Journalisten-Bär? Ich habe mir ein paar Fragen überlegt, denn eine

«Audienz» bei Kurt muss man ausnützen. «Bush», fange ich an, «ist wohl überfordert

vom schlechten Wetter?» Kurt macht nur eine wegwerfende Handbewegung. Die ras-

sistische US-Kriegsgurgel scheint ihn nicht zu interessieren. Ich wechsle das Sujet:

«Bin Laden, der ausgebuffte Wüstenfuchs! Ob es ihn tatsächlich gibt?». Aus Kurts Bart

brummt es bedrohlich. Ich muss aufpassen, dass ich ihn nicht verärgere. Da klingelt

auch schon die Mikrowelle, und Lela, das Mädchen, bringt uns das Essen.

Ich versuche es mit allen Krisenherden: Afrika, China, Nahost, doch Kurt ist jetzt am

Essen. Beim Kaffee setze ich unser Gespräch fort: «Die Bilateralen sind doch der richtige

Weg, oder?» Kurt sieht mich kritisch an und verlangt die Rechnung. «Personenfreizü-

gigkeit und so», helfe ich ihm auf die Sprünge. «Bin dagegen», schmettert mich sein

Verdikt nieder. «Deine so genannte Freizügigkeit, die in Wirklichkeit die Ausbeutung

ausländischer Arbeitskräfte bedeutet, resultiert aus der Verschwörung von Wirtschaft

und Macht und führt zur Konsolidierung der kapitalistischen Raubtier-Mentalität».

Dann bezahlt Kurt und geht. Ich bleibe noch eine Weile bei der tamilischen Familie

sitzen. Lela räumt die Teller ab. Wenn Kurt Recht hat, wird auch sie ausgebeutet. Beim

Bezahlen gebe ich ihr ein Extra-Trinkgeld.

KOLUMNE

COLT BEIM TAMILEN

Von Andreas Pfister und Philippe Zweifel

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D as heutige theologische Verständnis von Religion ist stark vom materia-listischen Weltbild der modernen

Naturwissenschaften geprägt. Die Le-bensentstehung und -entwicklung wird darin rein materialistisch begründet. Gott und Mensch werden dabei tenden-ziell auf das sinnlich Wahrnehmbare und wissenschaftlich Beweisbare reduziert. Viele Exponenten der Landeskirchen vertreten solch ein säkularisiertes Religi-onsverständnis. Diese Art Religion basiert auf dem rational Erlernten der modernen historisch-kritisch ausgerichteten Theo-logie und wird wie andere Schulfächer weitgehend über Bücher, d.h. den In-tellekt, vermittelt. Praktische Erfahrung zählt nicht viel.

Eine weitere Gruppe mit einem ma-terialistischen Verständnis sind die so-genannten Biblizisten, welche die Bibel wörtlich auslegen. Für sie ist die Bibel «Gottes Wort», das wörtlich zu verstehen und zu leben ist. Eine symbolische Inter-pretation der Bibel wird ausgeschlossen.

Ein grundlegendes Problem der wört-lichen Interpretation der Bibel liegt in de-ren Entstehungsweise. Der Inhalt der Bi-bel wurde über mehr als ein Jahrtausend von verschiedenen Personen zusammen-getragen und vielfach übersetzt, zuerst aus dem Hebräischen und Griechischen, dann ins Lateinische, später von Luther ins Deutsche. Der Umstand, dass jede

Übersetzung Interpretation nicht nur der Worte, sondern Übertragung von einem Kulturraum in andere Sprach- und Le-bensräume bedeutet, weist darauf hin, dass das geschriebene Wort der Bibel sorgfältig interpretiert werden muss.

«Esoterische» Gruppierungen bilden eine weitere Dimension. Diese sind oft auf die Praktizierung «spiritueller» Er-fahrungen ausgerichtet und verzeichnen

einen enormen Zuwachs, weil sie von der Praxisferne der modernen Religion profitieren. Fragwürdig sind esoterische Aktivitäten dann, wenn kompensato-risches Konsumieren von Spiritualität im Zentrum steht. In einem ursprünglichen Verständnis waren Religion und Esote-rik in der Zielsetzung identisch, indem es darum ging, den eigenen Lebensweg zu gehen und das Leben nach den «Ge-setzen» Gottes auszurichten. Betrachtet man jedoch die schwärmerische Popu-lär-Esoterik, wie sie heute ihren Platz in

der Öffentlichkeit einnimmt, besteht der Verdacht, dass es sich um den Gegenpol des durchrationalisierten Bildungsbür-gertums handelt.

Diese drei Beispiele deuten an: Das religiöse Angebot ist gross und wider-sprüchlich. Ein Grundproblem dieser unterschiedlichen Auffassungen liegt im modernen Weltbild. In diesem ist die Wirklichkeit auf das sinnlich Wahrnehm-

bare reduziert. Der moderne Mensch ist durch einen 2500 Jahre dauernden Ratio-nalisierungsprozess geprägt. Rationalisie-rung meint die zunehmende Negierung von transzendenten Sphären, was zu einem radikal diesseitigen Weltbild führt, in dem die Wirklichkeit auf das sinnlich Wahrnehmbare und wissenschaftlich Beweisbare reduziert ist und auch der Ursprung des Lebens in der Materie ge-sehen wird. Religion kann aber mit einer säkularisierten Weltanschauung – hier liegt der Kern der Problematik – nicht

Das Religionsverständnis des MystikersReligionen prägen das Antlitz der Welt. Es gibt in der Geschichte der Menschheit kaum etwas mit mehr Tiefenwirkung als religiöse Überzeugungen. Die moderne Gesellschaft ist bis in den letzten Zipfel von Kräften, Normen, Bräuchen und Gewohnheiten durchdrungen, die zumindest eine religiöse Wurzel haben. So basiert beispielsweise das Völkerrecht auf den Geboten der christlichen Bibel, und der Kapitalismus, das globale Wirtschaftssystem, konnte nur durch Christentum und Protestantismus in der heutigen Form entstehen. Von Hannes Kriesi

GESELLSCHAFT

Das heutige theologische Verständnis von Religion ist stark vom materialistischen Weltbild der modernen Naturwissenschaften geprägt. Die Lebensentstehung und -entwicklung wird darin rein materialistisch begründet. Gott und Mensch werden dabei tendenziell auf das sinnlich Wahrnehmbare und wissenschaftlich Beweisbare reduziert.

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verstanden und erklärt werden. Warum auch bräuchte der Mensch aus radikal materialistischer Sicht Religion?

Der Weg des Mystikers

Bis zu einem gewissen Punkt ist Religio- sität intellektuell begreifbar, wenn vom Begriff Pantheismus (Gottes Verbunden-heit mit allem, was ist) ausgegangen wird. Ein solcher Welt- und Gottesbegriff ist in vielen Kulturen und Philosophien zu fin-den. Gott ist in diesem Verständnis eine metaphysische Grösse, die untrennbar mit jedem noch so kleinen Teil des Kos-mos verbunden ist. Es gibt nur einen Kos-mos. Alles, was existiert, ist demnach ein

Teil Gottes. Gott ist der Eine, das Ganze. Aus diesem Grund sagen Mystiker, in ihm leben, weben und bewegen wir uns und haben unser Sein. Wir können nicht aus-serhalb des Weltganzen leben. Wir kön-nen den Kosmos und damit – in diesem Verständnis – Gott nicht verlassen. «Wo-hin ihr euch auch wendet, dort ist Gottes Antlitz», sagt der Mystiker. Wir Menschen sind ein Teil des Ganzen, ein Teil Gottes. Dies zu erkennen, diese Verbindung zum Ganzen wieder herzustellen, ist der erste Schritt des religiösen Weges. Der Begriff Religion kann vom lateinischen «reli-gare» (binden, wieder verbinden) oder

Gott ist in diesem Verständ-nis eine metaphysische Grösse, die untrennbar mit jedem noch so kleinen Teil des Kosmos verbunden ist.

«religere» (sorgsam beachten) abgeleitet werden. Religion ist also zunächst das

Mittel, die Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu seinem Ursprung, zum Kosmos, zu Gott zu ergründen. Erkennt man diese Verbundenheit intellektuell oder intuitiv, gilt es in einem weiteren Schritt, den Weg ins Unbekannte und Unbeschreibbare zu wagen.

Das theoretische Verständnis für die Wiederverbindung zum Göttlichen im Sinne des Mystikers geht von folgender Voraussetzung aus: Der Kosmos besteht physikalisch betrachtet aus Schwin-gungen aller Art. Neben jenen Schwin-gungen, die eine so tiefe Frequenz haben, dass sie als materielle Manifestationen sichtbar sind, gibt es Frequenzen wie

zum Beispiel Elektrizität oder Radiowel-len, welche höher schwingen und nur mit technischen Hilfsmitteln nachgewiesen werden können. Ebenso existieren Welten wie Gedanken, Empfindungen oder Be-wusstseinsebenen als Schwingungen un-terschiedlicher Frequenzen, welche über die Sinne nicht direkt wahrnehmbar und auch nicht unmittelbar messbar sind, und trotzdem existieren sie.

Ein Beispiel: Jeder menschlichen Handlung geht die Idee voraus. Die Kons-truktion des Klaviers war nur möglich, indem die Idee für das Instrument vor Augen stand. Moderne säkularisierte Wis-senschaft und Theologie sträuben sich, die Existenz eines solchen Geschehens in Form von Gedanken oder seelisch-geisti-gen Erfahrungen als gleichwertig zur ma-teriellen Realität anzuerkennen, weil sie naturwissenschaftlich nicht mess- und beweisbar sind.

Religion kann aber nur erlebt und ge-lebt werden, wenn die Existenz solcher transzendenten, nicht messbaren Sphä-

ren mitberücksichtigt wird, denn die Wiederverbindung mit dem Selbst ist ein geistiges Prinzip, und es führt über Be-wusstseinsebenen, die wissenschaftlich nicht messbar sind.

Der innere Erfahrungsweg der Religionen, die Wieder-verbindung mit sich selber, besteht im Prinzip der Mystik.

Der Mensch muss sich bewusst wer-den, wer er ist. Der innere Erfahrungsweg der Religionen, die Wiederverbindung mit sich selber, besteht im Prinzip der Mystik. Der Begriff Mystik lässt sich vom Lateinischen mysticus (geheimnisvoll, geheim) bzw. dem griechischen Wort myein (Augen und Lippen schliessen) ableiten. Mystische Erfahrungen sind geheimnisvoll und verborgen, weil un-seren Sinnen im Wachzustand andere Bewusstseinsschichten nicht zugänglich sind und mit dem Intellekt, d.h. mit dem rationalen Denken, nicht verwertet wer-den können. Das Seelisch-Geistige wird

Die Einsicht des Eingebun-denseins in einen grösseren Zusammenhang ist es, die (Selbst-)Erkenntnis ermög-licht und den eigenen Le-bensweg anzeigen kann, den einzuschlagen das Ziel des Mystikers ist.

als Gegenpol zum Intellekt betrachtet. Wie wir Menschen mit dem Verstand die höchsten rationalen Gipfel erklimmen, so tauchen wir mit dessen Ausschaltung in die tiefsten seelisch-geistigen Dimen-sionen, die mit Worten nicht mehr be-schreibbar sind. Konzentrationsformen ermöglichen im Wachbewusstsein einen Eintritt in die tieferen Schichten. Dort, wo Aussenwelt und subjektive Empfin-dungen ihre Kraft verlieren, ist ein Kon-takt mit sich selber, ist eine Wiederver-bindung möglich.

Religion kann aber nur erlebt und gelebt werden, wenn die Existenz solcher transzendenten, nicht messbaren Sphären mitberücksichtigt wird, denn die Wiederverbindung mit dem Selbst ist ein geistiges Prinzip, und es führt über Bewusstseinsebenen, die wissenschaftlich nicht messbar sind.

Mystiker gelangen durch medita-tive Übungen in andere Bewusstseins-schichten und erfahren die Verbunden-heit mit dem Kosmos. Die Einsicht des Eingebundenseins in einen grösseren Zu-sammenhang ist es, die (Selbst-)Erkennt-nis ermöglicht und den eigenen Lebens-weg anzeigen kann, den einzuschlagen das Ziel des Mystikers ist.

Religion kann gemäss diesem Ver-ständnis nur auf der Basis eines mehr-dimensionalen Weltbildes verstanden

werden, welches neben der materiellen Realität andere Dimensionen anerkennt, denn der Weg des Mystikers geht durch

seelisch-geistige Bewusstseinsebenen, durch die (materielle) «Leere», durch das Unbeschreibbare.

Neben den Erfahrungen von Mys-tikern aller Kulturen gibt es zahlreiche Forschungsresultate von angesehenen Wissenschaftlern wie beispielsweise Paul Dirac, Rupert Sheldrake, Harold Saxton Burr, John C. Eccles oder Leonard Suss-kind, welche das Bild einer mehrdimen-sionalen Wirklichkeit bestätigen. Auch die eingangs erwähnten unterschiedlichen

Strömungen wären auf der Basis dieses Weltbildes zu vereinen. So wie sich die verschiedenen Richtungen im Laufe der

Liest man die Bibel oder auch Mythen, Märchen und Legenden aus einer seelisch-geistigen Perspektive, ergibt sich ein tieferes Verständnis von Welt und Mensch, das nicht auf die sicht- und methodisch erfassbare Realität reduziert werden kann.

Das Ende des Kapitalismus zeichnet sich ab. Wo liegen in unserer Gesellschaft Potentiale, auf deren Basis eine neue Ordnung entstehen könnte?

Rationalisierung des Weltbildes ausein-ander entwickelt haben, könnten auf der Grundlage einer mehrdimensionalen Weltanschauung viele theoretische Dif-ferenzen beseitigt werden.

Liest man die Bibel oder auch My-then, Märchen und Legenden aus einer seelisch-geistigen Perspektive, ergibt sich ein tieferes Verständnis von Welt und Mensch, das nicht auf die sicht- und methodisch erfassbare Realität reduziert werden kann. Verständnis und Begriff-lichkeit für diese Weltanschauung sind jedoch, wie oben dargelegt, wegrationali-siert worden. Religion bleibt aber für den gesunden Menschen unabdingbar, weil erst die Rückverbindung zum mensch-lichen Kern Selbsterkenntnis und Glück(?) ermöglicht.

Dieser Artikel basiert auf einem Kapitel der Ab-handlung «Demokratie und Mystik»: Struktur eines neuen Gesellschaftsmodells, Lit Verlag, DE, www.lit-verlag.de.

MONATSGESPRÄCH

AP: Herr Schoch, oder soll ich sagen Philipp, um weniger förmlich zu wirken, was besser ankommt bei euch Snow-boardern, dieses Gespräch findet nicht statt, was ich per-sönlich bedaure, dir aber kaum auffallen dürfte. Vielleicht bist du sogar froh um ein wenig Ruhe nach dem ganzen Rummel. Philipp, mit deinem Erfolg hast du alle Fragen aus der Welt geräumt. Die Antwort steht für alle Zeiten in den Turiner Schnee gemeisselt. Was kann man einen Olym-piasieger ernsthaft fragen, frage ich dich.

PS: Dein Job!

AP: Ok. Du gehörst zu den Sportlern, die Unglaubliches leisten, aber keinen ganzen Satz rausbringen?

PS: Genau.

AP: Das ist die Fischinger Bergruhe, die aus dir spricht. Du ruhst unerhört in dir selbst, und diese Ruhe strahlst du aus, Philipp. Mit dieser Ruhe fährst du an deine Wettkämp-fe und dann bricht das Tier aus dir hervor, und das Tier und die Fischinger Ruhe, das sind die Geheimnisse deines Erfolgs!

PS: Danke!

AP: Als Olympiasieger, als Identifikationsfigur der Nation, als Vorbild der Jugend hast du bestimmt ein griffiges State-ment gegen Drogen, Alkohol und Übergewicht. Ein Appell für mehr Sport und Bewegung, für Nachwuchsförderung, für den Weltfrieden.

PS: Nehmt keine Drogen. Snowboardet.

AP: Danke, Philipp! Wir brauchen positive Leitfiguren! Du bist eine solche, du bist der Stolz nicht nur des Züri-Oberlands, du zeigst den verdammten Österreichern, wer Herr der Alpen ist, wer sie noch fahren kann, die Höger! Das saugt man ja mit der Muttermilch ein in Fischingen. Bestimmt konntest du boarden, bevor du laufen konntest!

PS: Nein, das schon nicht.

AP: Willst du mein Klischee des genialen Berglers ruinie-ren? Übrigens: Ich sah deine Mutter. Vielleicht war sie es. Die Läden waren zu, Sechseläuten, ich musste ins Shopville ausweichen. Hast du gewusst, dass das Marinello eine uner-hörte Auswahl von lokalem Käse hat? Die Verkäuferin, eine ältere Bauernfrau mit Dauerwellen und dicken Fingern mit Hornhaut zeigte mir den Fischinger Brie. Das Fisch- ingertal produziert nicht nur Olympialsieger, sondern auch weltberühmten Käse. Vielleicht war die Frau deine Mutter, Philipp, jedenfalls erinnerte sie mich an meine. Sie verkauft im Shopville Käse, am heiterhellen Tag bei künstlichem Licht. Ich dache an dich, wie du in der Sonne snowboardest, und mir war weh ums Herz. In was für einer Welt leben wir! Von Bauernjunge zu Bauernjunge, Philipp: Seid ihr Spitzen-sportler nicht die Einzigen, die den Draht zu Mutter Natur noch nicht verloren haben?

PS: Wischt sich eine Träne aus den Augenwinkeln.

AP: Was hat deine Mutter eigentlich gesagt, als du Olympia-sieger wurdest?

PS: Potz tuusig!

AP: Mein Grossvater sagte jeweils: Sapperlott! Aber das war geflucht. Wie flucht ihr im Fischingertal? Stärneföifi? Hei-tere Fahne? Himuheilanddonner?

PS: Hueregopfertamisiechnonemal!

AP: Philipp Schoch, Danke für dieses Gespräch!

Potz tuusig!Andreas Pfister unterhielt sich mit Philipp Schoch, Olympiasieger

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Charlton Heston: Rede in HarvardCharlton Heston ist umstritten. Den einen gilt er als unbestechlicher Mahner für die Freiheit. Im öffentlichen Blickfeld wird er, besonders seit Michael Moores erfolgreichem Dokumentarfilm «Bowling For Columbine», als bigotter Polterer präsentiert. Die Medien bezeichnen ihn unter anderem als «senilen alten Verrückten mit Hirnschaden», wie er selber in seiner Rede vom 16. März 1999 an der juristischen Fakultät in Harvard sagt.

In dieser nachfolgend abgedruckten Rede spricht er einige scharfe Worte zur Lage der Denk- und Redefreiheit und zur Autorität des Staates. Ideen, freies Denken und Sprechen werden, so Heston, unter dem rasant wachsenden Druck der Political Correctness beschnitten und verraten. Obgleich Heston nicht auf Ursprung und Struktur der Probleme eingeht, erkennt er die Angepasstheit und Konformität der intellektuellen Elite des modernen Amerika, die sich manipulieren lässt und ihre Autorität bereitwillig gegen Streicheleinheiten vom Establishment eintauscht.

Heston zeigt sich in seiner Rede nicht als reaktionärer Waffennarr, sondern weist sich als umsichtiger, aufrichtig um das Wohlergehen seines Landes besorgter Mann aus, der seine Funktion als Präsident der National Rifle Association (NRA) in einen grösseren Zusammenhang eingefügt sieht: Ist es vernünftig, dass der Staat über ein Gewaltmonopol verfügt? Ist dieser Staat wirklich soviel vertrauenswürdiger als der einzelne Bürger?

Von Dominik Reif

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A ls Fünfjähriger erklärte mein Sohn seiner Kindergartenklasse, was sein Vater beruflich macht. «Mein Dad-

dy», sagte er, «spielt andere Leute.»

Es sind eine ganze Menge gewesen. Propheten aus dem Alten und dem Neu-en Testament, ein paar christliche Heili-ge, Generäle aus verschiedenen Nationen und unterschiedlichen Jahrhunderten, mehrere Könige, drei amerikanische Präsidenten, ein französischer Kardinal und zwei Genies, darunter Michelangelo. Wenn Ihre Decke einen frischen Anstrich braucht, dann tue ich mein Bestes. Es scheinen in meiner Person also ziemlich viele Typen versammelt zu sein. Ich weiss nie genau, welcher reden darf. Nun, gera-de jetzt bin ich es selbst.

Als ich über unsere Begegnung heu-te Abend nachdachte, da verfolgte mich diese eine Idee: Wenn mein Erschaffer mich mit der Gabe ausgestattet hat, Sie mit den Herzen jener grossen Männer zu verbinden, dann möchte ich genau diese Gabe jetzt benützen, um Sie mit Ihrem Sinn für Freiheit zu verbinden, mit Ihrer Denkfreiheit, mit Ihrem Kompass dafür, was Recht ist.

Als Abraham Lincoln das Denkmal bei Gettysburg einweihte, da sagte er über Amerika: «Wir befinden uns zur Zeit in einem grossen Bürgerkrieg, bei welchem getestet wird, ob diese Nation oder irgend eine Nation von vergleichbarer Art über-dauern kann.»

Dieselben Worte sind heute wieder an-gebracht. Ich glaube, dass wir uns auch

heute wieder in einem grossen Bürger-krieg befinden, einem Kulturkrieg, der sich anschickt, Ihr Geburtsrecht zu rau-ben – Ihr Geburtsrecht, denken und sagen zu dürfen, was in Ihren Herzen wohnt. Ich habe Angst, dass Sie dem pulsierenden Lebenssaft der Freiheit in Ihrem Innern nicht mehr trauen, jenem Zeug, dank welchem dieses Land aus einem Zustand der Wildnis jenes Wunder wurde, das es heute ist.

Ich werde weiter ausholen. Ungefähr vor einem Jahr wurde ich Präsident der National Rifle Association, die das Recht schützen will, Waffen besitzen und tragen zu dürfen. Ich habe mich beworben, ich wurde gewählt, und jetzt diene ich. Und zwar diene ich als bewegliches Ziel für die Medien, die mich alles Erdenkliche geru-fen haben von «lächerlich» über «Tölpel» bis zu einem «senilen alten Verrückten mit Hirnschaden». Ich weiss schon, ich bin ziemlich alt, aber ich bin doch um Himmels Willen nicht senil!

«Chuck, wie kannst du es wagen, zu sagen, was du denkst!»

Während ich im Visier all jener stand, die die Freiheiten des Zweiten Amend-ments¹ torpedieren, wurde mir klar, dass Feuerwaffen nicht die einzige Frage sind. Nein, es geht um viel, viel mehr.

Ich habe angefangen zu begreifen, dass ein Kulturkrieg tobt über unserem Land, in welchem gewissen Gedanken

wie auch der Redefreiheit selbst Regeln auferlegt werden.

Ein Beispiel. Ich habe mit Martin Lu-ther King für die Bürgerrechte demons-triert – und zwar 1963, lange bevor es Hollywood plötzlich modisch fand. Aber als ich letztes Jahr vor einem Publikum sagte, dass der Stolz darauf, weiss zu sein, genauso angemessen sei wie der Stolz da-rauf, schwarz zu sein oder rot zu sein oder der Stolz darauf, irgend etwas zu sein, da nannte man mich einen Rassisten.

Ich habe mein ganzes Leben lang mit ausserordentlich begabten Homosexu-ellen gearbeitet. Aber als ich vor einem Publikum sagte, dass Schwulenrechte auch nicht weiter gehen sollten als die Rechte von dir und mir, da nannte man mich homophob.

Ich habe im zweiten Weltkrieg gegen die Achsenmächte gekämpft. Aber als ich in einer Rede eine Analogie zog zwischen dem Aussondern von Juden und dem Aussondern von unschuldigen Waffen-besitzern, dann nannte man mich einen Antisemiten.

Jeder, der mich kennt, weiss, dass ich nie eine Faust gegen mein Land erheben würde. Aber als ich ein Publikum dazu aufforderte, sich gegen diese kulturelle Verfolgung zur Wehr zu setzen, da verg-lich man mich mit Timothy McVeigh².

Was die Zeitschrift «Time» und meine Freunde und Kollegen eigentlich meinen ist: «Chuck, wie kannst du es wagen zu

Die Redaktion will mit dem Abdruck dieser Rede keinesfalls ein Plädoyer für die Freigabe von Waffen verbunden wissen. Aber Hestons Anmerkungen zur Erstickung der Freiheit sind durch ihre Klarheit und Ausdrucksstärke lesenswert und sind durchaus auch auf europäische Verhältnisse übertragbar – wo ein vergleichbarer Mahnruf noch aussteht.

Einführung und Übersetzung: Maurus Federspiel

¹ Das «Zweite Amendment», ein Zusatz zur amerikanischen Verfassung, steht für das Recht, Waffen besitzen und tragen zu dürfen. ² Der nach offizieller Lesart Alleintäter des Bombenanschlags auf die Post von Oklahoma City.

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sagen, was du denkst! Du benützt eine Ausdrucksweise, die sich für die Öffent-lichkeit nicht eignet!»

Aber ich sorge mich nicht. Denn wenn die Amerikaner an die Political Correct-ness glauben würden, dann wären wir noch immer die Boys von King George – Untertanen der Britischen Krone.

Was hat das alles zu bedeu-ten? Es bedeutet, dass man uns nicht mehr nur befiehlt, was wir zu denken hätten, sondern auch, was wir zu sagen haben.

In seinem Buch «The End of Sanity» schreibt Martin Gross, dass «offenkundig irrationales Benehmen sich in fast jedem Bereich menschlicher Anstrengung rasant als Norm etabliert. Es scheinen uns aus allen möglichen Richtungen neue Ge-bräuche aufgedrängt zu werden, neue Regeln, neue anti-intellektuelle Theorien. Aber im Innern ist unsere Nation zutiefst aufgewühlt. Die Amerikaner wissen, dass etwas Namenloses das Land unterminiert und unseren Verstand aufweicht, wo es darum geht, Wahrheit von Unwahrheit zu sondern, richtig von falsch. Und es gefällt ihnen nicht.»

Ich möchte ein paar Beispiele vorlesen. Am Antioch College in Ohio müssen junge Männer, die mit einer Mitschülerin intim werden, für jeden Abschnitt des Vorgangs eine mündliche Erlaubnis einholen – an-gefangen beim Küssen über Streicheln bis zum Koitus – und zwar jeweils klar ausge-sprochen gemäss den Universitätsricht-linien.

Trotz des Todes mehrerer Patienten, die von Zahnärzten angesteckt wurden, wel-che ihre AIDS-Erkrankung verschwiegen hatten, hat der verantwortliche Staatsbe-auftragte in New Jersey verkündet, dass Angehörige des Gesundheitswesens, die HIV-positiv sind, ihren Patienten nicht zu sagen brauchen, dass sie infiziert sind.

An der William-and-Mary-Universität versuchten Studenten den Namen des

Schulteams «The Tribe» («Der Stamm») zu ändern, weil dieser angeblich die ört-lichen Indianer beleidige – worauf sie her-ausfanden, dass den Häuptlingen in Virgi-nia dieser Name eigentlich gut gefällt.

In New York werden Kinder, die kein Wort Spanisch sprechen, in zweisprachige Klassen gesteckt, um Lesen und Schrei-ben und Rechnen auf Spanisch zu lernen, bloss weil ihre Nachnamen Lateinameri-kanisch klingen.

In der Universität von Pennsylvania, einem Staat, in dem Tausende vor Gettys-burg gestorben sind, während sie gegen die Sklaverei kämpften, hat der Rektor of-fiziell getrennte Schlafräume einrichten lassen, damit schwarze Studenten unter sich bleiben können.

Ja, ich weiss... Das ist heute verboten. Dr. King sagte «Neger». Jimmy Baldwyn und die meisten von uns auf dem Million Man March sagten «schwarz». Aber das kommt jetzt nicht mehr in Frage. In mei-nen Ohren klingen Identitäten mit Bin-destrichen trotzdem seltsam, besonders «Native-American», eingeborener Ameri-kaner. Um Himmels Willen, ich bin doch selbst ein eingeborener Amerikaner! Und ich bin zufällig auch ein Blutsbruder der

Miniconjou Sioux. Und mein Enkel ist ein eingeborener Amerikaner der dreizehn-ten Generation!

Ein letztes Beispiel. In einem Gespräch über Budgetfragen mit Kollegen benützte David Howard, der Vorstand eines Für-sprecherbüros in Washington DC, das Wort «niggardly». Nun heisst «niggardly» nichts anderes als geizig oder kleinlich.

Aber innert Tagen wurde Howard gezwun-gen, sich öffentlich zu entschuldigen und zurückzutreten.

Wie der Kolumnist Tony Snow schrieb: «David Howard wurde gefeuert, weil eini-ge Leute in öffentlichem Dienst Schwach-köpfe sind, die (a) die Bedeutung des Wortes «niggardly» nicht kannten, (b) nicht wussten, wie sie ein Wörterbuch zu benutzen haben, um die Bedeutung herauszufinden, und (c) tatsächlich ver-langten, dass er sich für ihre Ignoranz zu entschuldigen habe.»

Seien wir ehrlich. Wer hier glaubt, dass Ihre Professoren sagen dürfen, was Sie wirk-lich glauben?

Was hat das alles zu bedeuten? Es be-deutet, dass man uns nicht mehr nur be-fiehlt, was wir zu denken hätten, sondern auch, was wir zu sagen haben – also kann es nicht mehr lange dauern, bis uns be-fohlen wird, was wir zu tun haben.

Bevor Sie jetzt aber behaupten, Cham-pions des freien Denkens zu sein, sagen Sie mir eins: Wieso hatte die Political Cor-

rectness ihren Ursprung an den Universi-täten Amerikas? Und warum erdulden Sie sie einfach? Warum unterwerfen Sie sich ihrer Gewalt – Sie, die Sie doch angeblich über Ideen debattieren?

Seien wir ehrlich. Wer hier glaubt, dass Ihre Professoren sagen dürfen, was Sie wirklich glauben? Es jagt mir eine mör-derische Angst ein, und Ihnen sollte es

Sie hier sind die Besten und die Klügsten. Sie hier in der fruchtbaren Wiege der akademischen Welt Amerikas, hier im Lustschloss des Lernens am Charles River, Sie sind die Crème. Aber ich unterstelle Ihnen und Ihren Gegenstücken überall im Land, dass Sie die sozialkonformste und politisch stummste Generation sind seit den Zeiten von Concord Bridge!

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auch Angst einjagen, dass der Aberglaube der Political Correctness in den Hallen der Vernunft das Zepter hält!

Sie hier sind die Besten und die Klügs-ten. Sie hier in der fruchtbaren Wiege der akademischen Welt Amerikas, hier im Lustschloss des Lernens am Charles River, Sie sind die Crème. Aber ich unterstelle Ihnen und Ihren Gegenstücken überall im Land, dass Sie die sozialkonformste und politisch stummste Generation sind seit den Zeiten von Concord Bridge!

So lange Sie die Vorgaben der Political Correctness akzeptieren und sie einhal-ten, sind Sie – nach den Massstäben Ihrer Grossväter – Feiglinge!

Hier ist noch ein Beispiel. Gerade jetzt wird an mehr als einer grossen Universi-tät Forschern, die sich mit dem Zweiten Amendment beschäftigen, befohlen, über

ihre Forschungsergebnisse zu schweigen, wenn sie ihre Jobs behalten möchten. Warum? Weil ihre Forschungsergebnisse die laufenden Prozesse der Grossstadt-bürgermeister unterminieren würden, die von Waffenfabrikanten hunderte von Millionen Dollar erpressen wollen³.

Wir verweigern einem gesell-schaftlichen Protokoll den Gehorsam, das die persön-liche Freiheit erstickt und brandmarkt!

Es ist mir egal, was Sie von Waffen den-ken. Aber wenn Sie das nicht schockiert, dann bin ich schockiert über Sie. Wer hütet denn das Rohmaterial von freien Ideen, wenn nicht Sie? Wer verteidigt die Kernwerte der Wissenschaft, wenn Sie, die

angeblichen Soldaten des freien Denkens und der freien Rede, Ihre Waffen niederle-gen und betteln: «Bitte nicht schiessen!»

Wenn Sie von Rasse reden, sind Sie deswegen noch kein Rassist! Wenn Sie Unterschiede zwischen den Geschlech-tern sehen, sind Sie deswegen noch kein Sexist! Wenn Sie kritisch über eine Glau-bensrichtung denken, sind Sie deswegen noch nicht antireligiös! Wenn Sie Homo-sexualität akzeptieren, aber sie nicht ge-rade hochfeiern, sind Sie deswegen noch nicht homophob!

Lassen Sie nicht zu, dass Amerikas Universitäten weiterhin als Brutstätten dienen für diese grassierende Epidemie einer neuen Hexenjagd à la McCarthy!

Aber was können Sie tun? Wie kann man eine solch alldurchdringende gesell-schaftliche Unterwerfung überwinden?

³ Die Waffenfabrikanten seien schuld an der Kriminalität in den Städten, so die Anklage.

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Die Antwort steht offen da. Ich habe Sie vor 36 Jahren erfahren, auf den Stufen des Lincoln Memorials in Washington DC, wo ich mit Dr. Martin Luther King und zweihunderttausend weiteren Menschen stand.

Sie verweigern einfach den Gehorsam! Friedlich, ja. Respektvoll, natürlich. Ge-waltlos, auf jeden Fall. Aber wenn man uns befiehlt, wie wir zu denken hätten,

was wir sagen müssen oder wie wir uns benehmen sollen, dann weigern wir uns. Wir verweigern einem gesellschaftlichen Protokoll den Gehorsam, das die persön-liche Freiheit erstickt und brandmarkt!

Ich habe die ehrfurchterregende Kraft des Ungehorsams von Dr. King gelernt, der sie von Gandhi und Thoreau und Jesus gelernt hat und von jedem andern gros-sen Mann, der die Menschen im Recht angeführt hat gegen die Menschen der Macht.

Ungehorsam ist in unsern Genen! Wir fühlen doch eine angeborene Verwandt-schaft mit jenem Geist des Ungehorsams, der Tee in den Hafen von Boston warf, der Thoreau ins Gefängnis gehen liess, der sich weigerte, im hinteren Teil des Busses zu sitzen, der gegen einen Krieg in Viet-nam protestierte.

Und im selben Geist bitte ich Sie dar-um, dieser kulturellen Correctness abzu-schwören, indem Sie der Gaunerautorität, den sozialen Richtlinien, jenen drücken-den Gesetzen, die die persönliche Freiheit schwächen, den Gehorsam verweigern.

Aber seien Sie vorsichtig. Es tut weh. Ungehorsam verlangt, dass man sich einem Risiko aussetzt. Dr. King stand auf vielen Balkonen.

Sie müssen willens sein, erniedrigt zu werden. Sie müssen willens sein, die mo-dernen Gegenstücke von Polizeihunden in Montgomery und von Wasserkanonen in Selma zu erdulden.

Sie müssen willens sein, Unannehm-lichkeit auf sich zu nehmen. Ich beschwe-re mich nicht, aber meine eigenen Jahr-zehnte von gesellschaftlichem Aktivismus haben auch von mir einen Preis einge-

fordert. Ich will dazu eine Geschichte erzählen.

Vor ein paar Jahren hörte ich von einem Rapper namens Ice-T, der eine CD mit dem Titel «Cop Killer» verkaufte, auf welcher das Überfallen und Ermorden von Polizisten zelebriert wurde. Sie wurde vertrieben von keiner andern Firma als Time/Warner, dem grössten Unterhal-tungsriesen der Welt.

Die Polizei im Land war ausser sich vor Wut. Zu Recht – mindestens ein Po-lizist war ermordet worden. Aber Time/Warner hat sich in einer Hinhaltetaktik geübt, weil die CD für sie einen Goldesel darstellte, und die Medien gingen alle auf Zehenspitzen an der Sache vorbei, weil der Rapper schwarz war. Ich vernahm, dass Time/Warner in Beverly Hills eine Aktionärsversammlung abhielt. Damals besass ich ein paar Anteilscheine, also beschloss ich teilzunehmen.

Was ich dort tat, tat ich gegen den Ratschlag von Familie und Kollegen. Ich bat um die Bühne. Vor einem totenstil-len Raum mit tausend durchschnittlichen amerikanischen Aktionären tat ich nichts anderes, als einfach den ganzen Text von «Cop Killer» vorzulesen – jedes einzel-ne bösartige, vulgäre und instruierende Wort.

«I GOT MY 12 GAUGE SAWED OFF I GOT MY HEADLIGHTS TURNED OFF I‘M ABOUT TO BUST SOME SHOTS OFF I‘M ABOUT TO DUST SOME COPS OFF...»

«Hab meine Kaliber-12-Knarre abgesägt Hab die Scheinwerfer abgeschaltet Ich werde ein paar Schüsse abfeuern Ich werde ein paar Bullen wegpusten...»

Es wird noch schlimmer, viel schlim-mer. Ich werde hier den Rest nicht vorle-sen. Aber glauben Sie mir, der Raum war ein einziger See von schockierten, ein-gefrorenen, erbleichten Gesichtern. Die Manager von Time/Warner wanden sich auf ihren Stühlen und starrten auf ihre Schuhe. Sie hassten mich dafür.

Dann las ich eine weitere Kanonade vor, ein weiterer kranker Text voll rassisti-schem Schmutz, in dem Ice-T sich in Fan-tasien ergeht darüber, wie er die beiden 12-jährigen Nichten von Al und Tipper Gore vergewaltigt.

«SHE PUSHED HER BUTT AGAINST MY ....»

«Sie stiess ihr Hinterteil gegen meinen...»

Aber ich werde das Ihnen hier nicht antun. Ich darf nur sagen, dass ich den Raum in geisterhafter Stille verliess. Als ich die Texte der draussen wartenden Presse vorlas, sagte einer: «Das können wir nicht abdrucken.» – «Ich weiss», sagte ich, «aber Time/Warner verkauft es.»

Zwei Monate später lösten Time/Warner Ice-T‘s Vertrag auf. Ich werde nie wieder ein Filmangebot kriegen von den Warner Brothers, noch werde ich von der Zeitschrift «Time» je wieder eine anstän-dige Kritik erhalten. Aber Ungehorsam bedeutet, dass man handeln muss, nicht bloss reden.

Wenn ein Räuber sein alterndes Op-fer verklagt dafür, dass sie sich vertei-digt hat, dann überschwemmen Sie die Telefonzentrale des Staatsanwaltes mit Anrufen!

Und im selben Geist bitte ich Sie darum, dieser kulturellen Correctness abzuschwören, indem Sie der Gaunerautorität, den sozialen Richtlinien, jenen drückenden Gesetzen, die die persönliche Freiheit schwächen, den Gehorsam verweigern.

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Wenn Ihre Universität genötigt wird, die Massstäbe so zu senken, dass 80% der Studenten cum laude graduieren, dann besetzen Sie die Räume des Verwaltungs-rates!

Wenn ein achtjähriger Junge auf dem Spielplatz ein Mädchen auf die Wange küsst und vor Gericht gezerrt wird wegen sexueller Belästigung, dann marschieren Sie vor dieser Schule auf und blockieren Sie ihre Türen!

Wenn jemand, den Sie gewählt haben, von der Macht verführt wird und Sie be-trügt, dann sammeln Sie Unterschriften gegen ihn, vertreiben Sie ihn, jagen Sie ihn fort!

Wenn auf dem Titel der Zeitschrift «Time» die Y2K-Neurotiker4 als Christen, die ein Kreuz hochhalten, dargestellt wer-den, so wie sie das letzten Monat getan haben, dann boykottieren Sie die Zeit-schrift und die Produkte, für die darin geworben wird!

Auf dass diese Nation lange überdau-ern möge, dränge ich Sie, in den heiligen Fussspuren jener Akte des Ungehorsams nachzufolgen, die Exile aufhoben, Reli-gionen gründeten, Tyrannen besiegten und ja, durch die Hände eines leiden-schaftlichen Mobs und ein paar grossen Männern und durch Gottes Gnade dieses Land errichteten.

Ich glaube, wenn Dr. King hier wäre, dann würde er mir beipflichten.

Danke.

4 Mit dem Ausdruck «Y2K-Neurotiker» meint Heston die Opfer der Panikmache um den zur Jahr-tausendwende befürchteten Kollaps.

LESERBRIEFE

Guten Tag,

habe kürzlich Eure erste Nummer gelesen – finde ich super, dass es eine Zeitschrift mit dieser Ausrichtung gibt.

Wolfgang Haas, Herrliberg

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit Befremden nehme ich die neue «Zeitschrift für Gesell-schaftsfragen» auf. Steht doch nichts Anderes im Raume, wie Kreationismus und intelligent design - ohne diese expressis verbis zu nennen - als vermeintlich geistreiche, wissenschaft-liche Alternative zu den Naturwissenschaften und dem an-geblich darauf fussenden Kapitalismus an den diffamierten, bewusst- und glaubenslosen Menschen zu bringen sind. Bil-lig, die fünf Franken nicht wert. Oder sitze ich einer Illusion auf? Dann lasse ich mich gerne, aber mit offenen Karten, eines Besseren belehren.

Mit freundlichen Grüssen Anton Distler, Laupen

Sehr geehrte Herren,

ich bin nicht sicher, ob Ihre Zeitschrift das freie Denken wirk-lich fördert oder doch eher einschränkt. Indem Sie z.B. alles umgehen, was für die Evolutionstheorie spricht, stehen Sie den Kreationisten der USA nahe, die ihrerseits wohl wieder die Inquisition herbeiwünschen würden. Die schöpferische Intelligenz, die Sie hinter der Natur sehen wollen, ist ja noch viel merkwürdiger, unerklärlicher und unwahrscheinlicher als die vorherrschende Theorie. Ausserdem wäre diese Intelligenz ge-wissen ausgestorbenen oder lebenden Tierformen nach fürch-terlicher, unmenschlicher und grausamer, als es die Christen wahrhaben wollen. Und dass in westlichen Demokratien das freie Denken systematisch unterdrückt würde, ist eine funda-mentalistische Behauptung. Dass es zu diesem Denken allzu wenig kommt, ist der Unzulänglichkeit der (wirklich von einer überragenden Intelligenz geschaffenen?) Menschen zuzuschrei-ben. Die Lücke, die Sie mit Ihrer Zeitschrift füllen möchten, sehe ich also nicht klar.

Trotzdem mit freundlichem Gruss Hansulrich Hörler, Zürich

Zum Artikel «Wie solid ist das Fundament unserer Gesellschaft»

Sehr geehrter Herr Kriesi,

dem Darwinismus geht es gar nicht um Evolutions-Theo-rie, sondern um Reduktions-Theorie (oder «Rückführungs» – Theorie): das Forschungsthema Evolution wird gekoppelt an die Reduktion des Menschen ins Tierreich, an die Reduk-tion des Menschen auf das Tier. Für den Darwinisten hat der Mensch sich gar nicht aus dem Tierreich entwickelt, sondern der Mensch ist (seinem «Wesen», seiner «Essenz» nach) (noch) ein Tier. Ein umgekehrter Essenzialismus! «Une métaphysique à rebours»! Anders gesagt: Der Darwinist ist ein Pseudo-Evo-lutionist, er ist nur scheinbar ein Evolutionist. Er tut nur so, als ob er die Evolution zum Menschen erklärt (und versteht). Damit verbrüdert sich der Darwinist mit den bekannten So-phisten – Sensualisten – Materialisten – Nominalisten – Beha-viouristen, die wir aus Philosophie und Psychologie kennen. Der Mensch als simples Epiphänomen der Natur, als Tier, das Menschliche ist nur «Lack der Zivilisation», Schaum und Traum der Natur. Der Darwinismus strebt also nicht nach Wirklichem, sondern er strebt (hegelianisch) nach der Strin-genz und Ganzheit seiner abstrakten Theorie: er abstrahiert von dem, was er zu erklären behauptet. Er leugnet (negiert) das, was er zu erfassen behauptet. Und in diesem Geist sucht und findet er Fossilien, die seine Theorie «dokumentieren» sollen. Alles Andere (z. B. das Auftauchen der vielen Sprachen und komplexen Kulturen (siehe George Steiner «After Babel») wird zum beiläufigen accidens erklärt. Er ist also erfüllt von einem masslosen Zweck-Optimismus, das heisst Theorie-Op-timismus, der ihn seine Theorie a priori für wahr und für «bare Münze» halten lässt (rational = real). So sieht er seine Theorie bestätigt, ohne zu merken, dass er die Brille trägt, die seine Theorie bestätigt. In Anlehnung an die bekannte «self-fulfilling prophecy» kann man, im Falle des Darwinismus, von einer «self-fulfilling theory» sprechen.

Anders gesagt: Der Darwinismus erliegt einer simplification abusive. Er ist verliebt in diese Simplizität. Um der Einfachheit willen ignoriert und übersieht er die Komplexität. Leiden-schaftlich nimmt er den Teil für das Ganze, das Kleid für den Leib, den Büstenhalter für den Busen. Natürlich gilt dies nicht nur für den Darwinismus. Doch dies ist ein weites Feld.

Robert Sinner, Zürich

Zum Artikel «Medienfreiheit und Kapitalismus»

Geehrter Herr Schlumpf,

mit Interesse habe ich Ihren Artikel gelesen und Tendenzen bestätigt bekommen, die in meiner Wahrnehmung auch da sind. Das Gefühl, dass Medien in erster Linie eine Inszenie-rung für ihre Rezipienten aus wirtschaftlichen Gründen pro-duzieren, lässt mich mit skepischer Neugier die Medienwelt verfolgen.Ihre Ansatz für einen freiheitlichen Lebensentwurf («Freiheit ist nur in einem Gefüge von schicksalshaft...»)klingt gut. Wenn Sie diesen konkreter ausformulieren könnten, (z. B. in einer folgenden Ausgabe) würde ich mich freuen!Wie würde Ihrer Ansicht nach eine schicksalshaft, geistig und seelisch eigenständige Gesellschaft aussehen?

Ihr Projekt finde ich sehr gut - weiter so!

Rita Lechner, Binzen

LESERBRIEFE

30 2021Z E I T S C H R I F T F Ü R G E S E L L S C H A F T S F R A G E N

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Kolumne Zeitenwende: 476 AD

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Im nächsten Heft:

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