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Arbeit und Soziales 242 Anne Ames Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II

242 · edition 242. 1 Anne Ames Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II. 2. 3 Anne Ames Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II edition 242

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www.boeckler.de

ISBN 978-3-86593-135-1€ 23,00

242

In der explorativen Studie wurden 30 sanktionierte ALG II-Betroffene in intensiven problemzentrierten Interviews zu ihrer Lebenssituation, den Gründen für ihr sanktioniertes Verhalten, zu ihren Möglichkeiten der Bewältigung der Leistungskürzungen und zu den Auswirkungen der Sanktionen auf ihr nach-folgendes Verhalten befragt. Die Auswertung der Interviews macht deutlich, dass die vielfältigen Motive, die behindernden Lebensumstände und/oder die Kompetenzdefizite, die der Erfüllung be-stimmter behördlicher Anforderungen entgegen-stehen, sich nicht in Begriffen wie „Inaktivität“, mangelnde Eigenverantwortung oder mangelnde Arbeitsbereitschaft erfassen lassen.

Die Sanktionen haben in einigen Fällen schwer-wiegende negative Folgen für die Lebenslagen der Betroffenen. Häufiger als eine „aktivierende“ ist eine lähmende Wirkung auf das Verhalten der Sanktionierten erkennbar. In wenigen Fällen erhöhen Sanktionen die resignative Anpassungsbereitschaft an behördliche Erwartungen, die jedoch keine Hoffnungen auf verbesserte Arbeitsmarktchancen wecken.

Arbeit und Soziales

242

Anne Ames

Ursachen und Auswirkungen

von Sanktionen nach § 31 SGB II

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Anne Ames

Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II

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Anne Ames

Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen

nach § 31 SGB II

edition 242

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Ames, Anne, Sozialwissenschaftlerin M.A. und Diplompädagogin, arbeitet freiberuflich in der Sozialforschung. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Kinder- und Jugendhilfe, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.

© Copyright 2009 by Hans-Böckler-StiftungHans-Böckler-Straße 39, 40476 DüsseldorfProduktion: Setzkasten GmbH, DüsseldorfPrinted in Germany 2009ISBN: 978-3-86593-135-1Bestellnummer: 13242

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrages,der Rundfunksendung, der Fernsehausstrahlung,der fotomechanischen Wiedergabe, auch einzelner Teile.

5

Inhaltsverzeichnis

1 Sanktionen als wesentliches Element sich als modern verstehender Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik 91.1 Die Bestimmungen des Paragrafen 31 SGB II 111.2 Fragwürdige Begründung 121.3 Starke Streuung von Sanktionshäufigkeiten 141.4 Hohe Zahl erfolgreicher Widersprüche und Klagen gegen

Sanktionen 161.5 Unbekanntheit der Ursachen und Auswirkungen verfügter

Sanktionen 19

2 Fragestellung der Untersuchung und methodisches Vorgehen 232.1 Fragestellung 232.2 Problemzentrierte Interviews als gebotene Erhebungsmethode 242.3 Zugang zu den Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern 252.4 Durchführung der Interviews 262.5 Auswertung 26

3 Die Untersuchungsergebnisse 293.1 Die Interviewpartner und Interviewpartnerinnen 293.2 Fallskizzen 303.3 Sanktionsursachen 1253.3.1 Offizielle Sanktionsanlässe 1253.3.2 Die Komplexität von Sanktionsursachen 1263.3.3 Ansprüche an Arbeit und die eigene Rolle als Arbeitende/r 1283.3.4 Ablehnung bestimmter Implikationen der behördlichen

Definitionen der Klientenrolle 1313.3.5 Fehlende Motivation, die behördlichen Anforderungen

zu erfüllen 1343.3.6 Belastende und behindernde Lebensumstände 1373.3.7 Starke psychische Belastungen und Behinderungen der

Handlungsfähigkeit 1393.3.8 Gestörte Kommunikation zwischen Behörden und

Klient/-inn/-en als Sanktionsursache 143

6

3.3.9 Überforderung der SGB II-Träger und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Sanktionsursache 149

3.3.10 Resümee zu den Ursachen von Sanktionen 1533.4 Auswirkungen der Sanktionen 1553.4.1 Sanktionshöhe 1563.4.2 Bewältigung der Leistungskürzungen 1573.4.3 Auswirkungen der Einkommenseinbußen beziehungsweise

der Bewältigungsversuche auf die Lebenslagen der Betroffenen 1603.4.4 „Erzieherischer“ Effekt der Sanktionen 1623.4.5 Resümee zu den Auswirkungen von Sanktionen auf die

Lebenslage und die Verhaltensdispositionen der Sanktionierten 1673.4.6 Die Bestimmungen des § 31 SGB II als ständige Bedrohung

und Entmündigung aller ALG II-Beziehenden 169

4 Fazit 171

5 Literatur 173

6 Anhang 1796.1 § 31 SGB II im Wortlaut 1796.2 Interviewleitfaden 1816.3 Auswertungsraster 182

Über die Hans-Böckler-Stiftung 187

7

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabelle 1: Widersprüche und Klagen gegen Sanktionsbescheide und deren Ergebnisse 18

Tabelle 2: Altersgruppenzugehörigkeit und Ausbildungsabschluss der Interviewpartner/-innen zum Zeitpunkt der (ersten) Sanktion 29

Tabelle 3: Sanktionsanlässe 126Tabelle 4: Sanktionshöhen 156

Abbildung 1: Schema: Ursachen von Sanktionen 126

8

9

1 Sanktionen als wesentliches Element sich als modern verstehender Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik

Mit den Sozialgesetzbüchern Zweites und Drittes Buch, dem SGB II und dem SGB III, ist eine bestimmte Art der Arbeitsmarktpolitik, die von ihren Vertretern als „modern“ und als „aktivierend“ bezeichnet wird, in Gesetzesform gegossen. Das SGB II ist Artikel 1 des „Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, das SGB III wurde in seinem aktuellen Gehalt wesentlich durch die vorangegangenen Gesetze für „moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ geprägt. Aus den unzähligen Belegen für die Etikettierung dieser Politik als „ak-tivierend“ sei nur die Überschrift der ersten von fünf gesetzgeberischen Begrün-dungen für das SGB II zitiert. Sie lautet: „a) Schnelle und passgenaue Vermittlung in Arbeit, aktivierende Arbeitsmarktpolitik“1.

Aktivierende Arbeitsmarktpolitik ist der Versuch, einen Perspektivenwech-sel beim Blick auf die Ursachen von Arbeitslosigkeit, die „Verschiebung in der Gewichtung der Verantwortungszuschreibung von der Struktur zum Subjekt“2 durchzusetzen. Der Staat soll von der Erwartung entlastet werden, durch Beschäf-tigungspolitik regulierend auf die Funktionsbedingungen des Wirtschaftssystem einzuwirken, die Arbeitslosigkeit hervorbringen. „Im SGB II […] finden sich keine gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungsziele […]“.3 Stattdessen sollen die Lohnabhängigen „Eigenverantwortung“ übernehmen, indem sie ihre Lohnerwar-tungen4 und ihre sonstigen Erwartungen an Arbeit den scheinbar naturwüchsigen Bedingungen des Arbeitsmarktes anpassen, aktiv Arbeit suchen und ihre eigene Marktgängigkeit verbessern. Die Forderung nach Eigenverantwortung und Ak-tivität impliziert den Tadel gegenüber einem nicht näher bezifferten Anteil der Erwerbslosen, keine oder zu wenig Verantwortung für die Sicherung der eigenen Existenz zu übernehmen und nicht oder zu wenig aktiv zu sein. Eben in diesem im-pliziten Tadel dürfte auch die wesentliche politische Funktion der Forderung nach Eigenverantwortung und Aktivität liegen. Denn neue Möglichkeiten, tatsächlich Eigenverantwortung zu übernehmen und aktiv zu sein, wurden den Erwerbslosen,

1 BT-Drs. 15/1516, S. 44.2 Ludwig-Mayerhofer u.a. 2007, S. 30.3 Kühl 2008, S. 51.4 Knuth 2008, S. 203, Hielscher/Ochs 2009, S. 12.

10

die auch bisher schon eigenverantwortlich dachten und im Rahmen des Möglichen eigenverantwortlich handelten, nicht eröffnet. Es ging und geht um „symbolischen Politikgebrauch“5, um die Verankerung neuer Muster des Deutens von Arbeitslo-sigkeit und Arbeitslosen6. „Wird der Begriff der Eigenverantwortung so eindimen-sional eingesetzt […], transportiert er keine Ermöglichungsideen, sondern redu-ziert die Verantwortungsmöglichkeiten der BürgerInnen auf ihre Marktteilnahme und auf ihre Arbeitsverpflichtung. So wirkt die ‚neue‘ Arbeitsmarktpolitik denn auch nicht als Angebot, sondern als Zwang zur Eigenverantwortung, der durch erheblich erweiterte staatliche Kontroll- und individuelle Mitwirkungspflichten durchgesetzt wird – und mitnichten die propagierte Rücknahme staatlicher Steu-erung bewirkt.“7

Einen „Rückzug des Staates“ schlechthin bedeutet „aktivierende“ Arbeits-marktpolitik also keineswegs.8 Der „aktivierende“ Staat ist kein durchweg passiver Staat. Seinem Rückzug aus wirtschaftspolitischer Verantwortung für das quan-titative und qualitative Angebot an Arbeitsplätzen und seinem Rückzug aus der Verantwortung für die materielle Sicherung der Erwerbslosen steht seine Hinwen-dung zu deren Aktivierung gegenüber. Der aktivierende Staat überwacht intensiv die Arbeitssuchaktivitäten der Erwerbslosen und ihre Anpassungsbereitschaft an die Marktbedingungen. Überdies will der aktivierende Staat aktiv dafür sorgen, dass diejenigen Erwerbslosen, die trotz aller anpassungsbereiten Aktivitäten keine Erwerbsarbeit bekommen, zumindest ihre Erwerbsorientierung und ihre Beschäf-tigungsfähigkeit nicht verlieren oder – falls dies schon geschehen ist – wiederer-langen. Dem dient die Zuweisung der Erwerbslosen zu Trainingsmaßnahmen und Arbeitsgelegenheiten, die keine Erwerbstätigkeiten sind.

Einen Aspekt staatlichen Rückzugs bergen freilich auch diese staatlichen Akti-vitäten: In § 3 des SGB II ist festgelegt, dass die SGB II-Träger bei der Erbringung der aktivierenden Leistungen nicht nur „die Grundsätze von Wirtschaftlichkeit“, sondern von „Sparsamkeit“ zu beachten haben. Hierin drückt sich die Bereit-schaft des Staates aus, möglichst wenig über den volkswirtschaftlichen Ertrag zu verfügen.

Die Rolle des Staates in aktivierender Arbeitsmarktpolitik ist also – jeden-falls im Verhältnis zu den Adressaten der Aktivierung – keine reduzierte, sondern

5 Edelman 1976.6 Vgl. Ludwig-Mayerhofer u.a. 2007, S. 24 ff.7 Gronbach 2009, S. 45.8 Worauf auch Ludwig-Mayerhofer u.a. 2007, S. 15 hinweisen.

11

eher eine aktivere, nämlich eine erzieherische. Die Aktivität der Erwerbslosen, ihre Anpassungsbereitschaft, Bescheidenheit und Beschäftigungsfähigkeit muss kontrolliert und soll erforderlichenfalls hergestellt werden. Und wie alle Erzie-hungsanstrengungen, deren Ziele auf die Bedürfnisse der Zöglinge wenig Rück-sicht nehmen, auf Strafen und Strafandrohungen angewiesen sind, ist es auch die aktivierende Arbeitsmarktpolitik. So gehört auch § 31 SGB II zu den umfangs-reichsten Paragrafen des Gesetzes.

1.1 Die Bestimmungen des Paragrafen 31 SGB II

Das Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) enthält in § 31 umfangreiche Re-gelungen zu „Absenkung und Wegfall des Arbeitslosengeldes II“. Der Paragraf bestimmt, welche Weigerungen und Versäumnisse der Hilfebedürftigen in wel-chem Ausmaß zu Kürzungen oder zu Streichungen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und der Wohnung führen sollen. Die Sanktionen sollen eintreten, wenn Hilfebedürftige die in Eingliederungsvereinbarungen festgelegten Pflichten nicht erfüllen, wenn sie sich weigern, eine aus Sicht der Behörde zu-mutbare Erwerbsarbeit, Arbeitsgelegenheit nach § 16 Abs. 3 SGB II oder eine so genannte Eingliederungsmaßnahme anzutreten oder fortzuführen oder Anlass zu deren Abbruch geben, oder wenn sie von der Behörde anberaumte Termine nicht wahrnehmen. Im letzten Absatz des Paragrafen ist festgelegt, dass sanktionierte Hilfebedürftige auch keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII haben.

Die zahlreichen Einzelbestimmungen von § 31 SGB II zur Höhe der vorzuneh-menden Leistungskürzungen, die danach differenziert sind, ob es sich um Termin-versäumnisse oder andere Pflichtverletzungen handelt, ob es sich um erstmalige oder wiederholte Pflichtverletzungen handelt und ob die Hilfebedürftigen jünger als 25 Jahre sind oder nicht, lassen sich nicht kurz zusammenfassen. Deshalb fin-det sich im Anhang der Wortlaut des Paragrafen. Hier sei lediglich festgehalten, dass die vorgesehenen Leistungskürzungen zwischen zehn Prozent der maßgeb-lichen Regelleistung und der kompletten Streichung des Arbeitslosengeldes II einschließlich der Leistungen zur Sicherung der Wohnung betragen. Kürzung oder Wegfall der Leistung dauert für jede verfügte Sanktion in der Regel drei Monate. Unter 25-Jährigen wird bereits bei der ersten „Pflichtverletzung“, bei der es sich

12

nicht um ein Terminversäumnis handelt, die für sie maßgebliche Regelleistung ganz gestrichen.

§ 31 SGB II sieht also für Menschen, die ohnehin schon „zu wenig zum Leben“9 haben, weitere drastische Einbußen an Mitteln zur Existenzsicherung vor.

1.2 Fragwürdige Begründung

Offenbar geht der Gesetzgeber davon aus, dass die in § 31 SGB II angeführten sanktionsbegründenden Verhaltensweisen von Hilfebedürftigen Folge oder Aus-druck von deren fehlender Bereitschaft seien, „[…] alle Möglichkeiten zur Be-endigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit aus[zu]schöpfen“, wie es § 2 SGB II verlangt. Jedenfalls erschöpft sich die äußerst knappe Begründung zur Aufnahme des § 31 in das SGB II im Hinweis, dass die Sanktionsregelungen den in § 2 festgelegten Grundsatz des Forderns konkretisierten10.

Die Begründung impliziert drei fragwürdige Annahmen:1. Hilfebedürftige, die sich so verhalten, wie es § 31 SGB II implizit fordert,

also alle behördlichen Anforderungen erfüllen, haben dadurch eine erkennbar größere Chance, ihre Hilfebedürftigkeit zu verringern oder zu beenden, als diejenigen, die sich nicht so verhalten.

2. Diejenigen, die sich in einer Weise verhalten, die als Sanktionstatbestand gilt, haben damit eine Möglichkeit nicht wahrgenommen, ihre Hilfebedürftigkeit zu verringern oder zu beenden.

3. Eine Sanktion bewirkt, dass Sanktionierte künftig die ihnen gebotenen Mög-lichkeiten wahrnehmen, ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden.

Die Fragwürdigkeit der drei Annahmen, von denen die erste quasi eine Vermu-tung zur „generalpräventiven“, die zweite und dritte Annahme Vermutungen zur „spezialpräventiven“ Wirkung sozialrechtlicher Sanktionen umreißen, sei kurz erläutert:

Zur ersten Annahme: Die Forschung zur Wirksamkeit der Vermittlungstätig-keit der SGB II-Träger11 und zur Wirksamkeit der auf Grundlage des SGB II ein-gesetzten arbeitsmarktpolitischen Instrumente12 liefert keine Hinweise darauf, dass

9 So der Titel einer Expertise des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zur Regelleistung nach dem SGB II. Martens 2006.

10 BT-Drs. 15/1516, S. 60.11 Siehe Bundesagentur für Arbeit 2008; Baethge-Kinsky, 2008, S. 9.12 Siehe Wolff, /Hohmeyer 2008; Jozwiak /Wolff 2007.

13

die Tätigkeit der SGB II-Träger und die eingesetzten Instrumente in erheblichem Ausmaß dazu beitrügen, die Hilfebedürftigkeit der Betroffenen zu verringern oder zu beenden. Wenn es Erwerbslosen gelingt, Erwerbsarbeit zu bekommen, resultiert dies überwiegend nicht daraus, dass Eigenbemühungen behördlich unterstützt worden wären oder gar von den Behörden hätten erzwungen werden müssen. Das gilt auch für die Bezieher und Bezieherinnen von Arbeitslosengeld II (ALG II). In den Fällen, in denen Beratung und/oder Vermittlung durch den SGB II-Träger oder die Teilnahme an Maßnahmen dazu geführt haben, dass ALG II-Beziehende Erwerbsarbeit gefunden oder sich ihre Arbeitsmarktchancen verbessert haben13, beruht solcher Erfolg kaum darauf, dass die Betroffenen unter Strafandrohung dazu bewegt werden mussten, die Beratung, die Vermittlung oder die Maßnahme in Anspruch zu nehmen. Viel plausibler ist die Annahme, dass Unterstützungsan-gebote dann am ehesten eine Erfolgschance bergen, wenn sie den Unterstützungs-wünschen der Adressaten entsprechen. Der überwiegende Anteil der Bezieher und Bezieherinnen von Arbeitslosengeld II wünscht sich – weitgehend vergeblich - wirksame Unterstützung bei der Verfolgung der ureigenen Erwerbsinteressen und muss keineswegs durch Sanktionsdrohungen dazu gebracht werden, solche Unter stützung in Anspruch zu nehmen.14

Zur zweiten Annahme: Die vorliegenden – allerdings der vertiefenden For-schung und Analyse bedürfenden – Befunde zu Sanktionsanlässen15 weisen da-rauf hin, dass nur ein geringer Anteil von Sanktionen deshalb erfolgt, weil die Sanktionierten sich auf für sie in Frage kommende offene Erwerbsarbeitsstellen nicht beworben oder ihnen tatsächlich angebotene Erwerbsarbeit nicht angenom-men oder nicht fortgeführt hätten. Ganz überwiegend werden Sanktionen deshalb verfügt, weil Termine zu Vorsprachen im Amt nicht wahrgenommen, Trainings-maßnahmen oder so genannte Arbeitsgelegenheiten abgelehnt oder abgebrochen wurden oder weil in Eingliederungsvereinbarungen festgelegte Pflichten nicht erfüllt wurden, weil also Anforderungen nicht erfüllt wurden, deren Erfüllung nach den vorliegenden Evaluationsergebnissen mit großer Wahrscheinlichkeit ohnehin nichts dazu beigetragen hätte, dass die Betroffenen ihre Hilfebedürftig-keit hätten verringern oder beenden können. In den Fällen, in denen Sanktionen infolge nicht erfolgter Bewerbungen verfügt werden, wäre genau zu prüfen, ob es sich dabei tatsächlich um Stellenangebote beziehungsweise Stellen handelt, die

13 Vgl. hierzu Bernhard u.a. 2008.14 Siehe Ames 2007, S. 46 ff., dies. 2008b, S. 80 ff.15 Siehe Statistik der Bundesagentur 2007, S. 19, Ames 2008b, S. 113 ff.

14

zu bekommen beziehungsweise zu behalten die Sanktionierten eine realistische Chance gehabt hätten.

Zur dritten Annahme: Es ist anzunehmen, dass auch hinter den Sanktions-bestimmungen des SGB II die neuzeitliche Straftheorie steht, dass Strafen eine spezialpräventive Wirkung haben, also zur „Besserung“ des Bestraften in dem Sinne führen, dass er das bestrafte Verhalten künftig unterlässt. Empirische For-schungen zu den Wirkungen sozialrechtlicher Sanktionen auf das Verhalten der Sanktionierten fehlen jedoch bislang fast völlig. Weder ist erforscht, ob und falls ja, unter welchen Umständen, Sanktionierte sich den Verhaltenserwartungen der strafenden Instanzen anpassen, noch liegen systematisch gewonnene Kenntnisse darüber vor, ob und in welchen Fällen sozialrechtliche Sanktionen Verhaltenswei-sen hervorrufen, die nicht zu einer Verringerung, sondern zu einer Verstärkung der Hilfebedürftigkeit führen. Eine solche Fragestellung setzt freilich voraus, dass man den im SGB II verwendeten Begriff von Hilfebedürftigkeit, der hier auf die Angewiesenheit von Leistungen nach diesem Gesetz verengt ist, überwindet und den Blick dafür öffnet, dass es sehr viel grundlegendere Hilfebedürftigkeiten be-ziehungsweise Hilflosigkeiten gibt, als die, Sozialleistungen in Anspruch nehmen zu müssen.

1.3 Starke Streuung von Sanktionshäufigkeiten

Nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit waren im Februar 2009 bundes-weit 122 467 erwerbsfähige Hilfebedürftige im Sinne des SGB II mindestens einer Sanktion nach § 31 SGB II unterworfen. Das entspricht einer bundesdurchschnitt-lichen Sanktionsquote von 2,5 Prozent der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen. In Ostdeutschland betrug die Quote 2,3 Prozent, in Westdeutschland 2,6 Prozent.

Hinter den Durchschnittszahlen steht eine starke Streuung zwischen den Krei-sen. Sie reichte im Februar 2009 von 0,6 Prozent im Kreis Eichsfeld in Thüringen und 0,8 Prozent im Main-Taunus-Kreis in Hessen bis 5,9 Prozent in der Stadt Augsburg in Bayern und 6,2 Prozent im Kreis Sigmaringen in Baden-Württem-berg.16 Dabei weisen die kreisbezogenen Quoten im Zeitverlauf eine hohe Kon-stanz auf.

16 Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2009.

15

In einer Studie von Kai-Uwe Müller und Frank Oschmiansky17, Wissen-schaftszentrum Berlin, wurden die für 2000 bis 2004 vorliegenden Statistikdaten der Bundesagentur für Arbeit sowie Interviews mit Agenturmitarbeiterinnen und Agenturmitarbeitern danach ausgewertet, ob und wie sich die Sanktionsprak-tiken der Arbeitsagenturen nach Inkrafttreten von Hartz I, also im Rechtskreis des SGB III, verändert haben. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich Sanktionen in Form von Sperrzeiten infolge der neuen gesetzlichen Regelungen zwar durchschnittlich deutlich erhöht haben, dies jedoch nicht darauf beruht, dass alle Arbeitsagenturen ihre Sanktionspraxis verschärften. Vielmehr hätten sich die Unterschiede in den relativen Sanktionshäufigkeiten der Agenturen vergrößert18. Die Unterschiede variierten mit der regionalen Arbeitsmarktlage, mit der Zahl von Erwerbslosen, für die ein Vermittler oder eine Vermittlerin zuständig ist, sowie mit den – von den genannten Variablen unabhängigen – Sanktionspolitiken der Agenturen. „Im Zeitraum 2000 bis 2004 erklären die regionalen Arbeitsmarkt- und Strukturvariablen für Westdeutschland nur begrenzt die Variation der Sperr-zeitenquoten [...] Im Umkehrschluss ist etwa die Hälfte der Variation auf die Unterschiede in der regionalen Sanktionspolitik und weitere nicht beobachtete Faktoren zurückzuführen.“ 19

Vergleichbare Analysen der Unterschiede zwischen den Sanktionshäufigkeiten der SGB II-Träger stehen noch aus. Angemerkt sei zudem, dass eine positive Kor-relation zwischen guten Arbeitsmarktdaten und Sanktionsquoten nichts darüber sagt, worauf die Korrelation gründet.

Hinter den unterschiedlichen Sanktionsquoten der Kreise beziehungsweise SGB II-Träger stehen weitere große Unterschiede zwischen den Sanktionsquoten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter20 der Träger21, die sich in den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit nicht abbilden. Diese Differenzen zwischen den Sank-tionsquoten resultieren aus dem relativ großen Handlungsspielraum, den die für die Verfügung von Sanktionen zuständigen „persönlichen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner“ in manchen Aspekten ihres Umgangs mit den Bezieher

17 Müller/Oschmiansky 2006.18 Mebd., S. 27 ff.19 Müller /Oschmiansky 2006, S. 20.20 Die männlichen und weiblichen Formen wurden in diesem Text meist beide genannt. Wo aus Sicht

der Redaktion die Lesefreundlichkeit abnahm, haben wir das generische Maskulinum verwendet. Grundsätzlich ist aber immer sowohl die männliche als auch die weibliche Form gemeint. [An-merkung der Redaktion].

21 Ames 2008a, S. 162.

16

und Bezieherinnen von Arbeitslosengeld II haben. Während der Förder-Spielraum ziemlich eng ist22, verfügen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter innerhalb der Grenzen der „Sanktionspolitik“ ihrer jeweiligen Arbeitgeber durchaus über Frei-räume, das Fordern zu gestalten. Sie können festlegen, welche Verpflichtungen zu „Eigenbemühungen“ sie ihren Klienten in „Eingliederungsvereinbarungen“ auferlegen. Sie haben die Freiheit, Argumente ihrer Klienten gegen die Zuweisung zu Maßnahmen und Arbeitsgelegenheiten zu berücksichtigen oder nicht anzuer-kennen. Es liegt an ihnen, welche Gründe für Mitwirkungsversäumnisse der Kli-enten sie als wichtige anerkennen und welche nicht.23 Hinter diesen exemplarisch genannten Handlungsspielräumen steht umfassender die Freiheit, die Interessen, Wünsche, Probleme und Ressourcen, also die die Klienten als Subjekt, ernst zu nehmen oder zu ignorieren, wobei die Weise, in der solche Freiheit genutzt wird, im Wesentlichen von der – äußerst unterschiedlichen – beruflichen Kompetenz24 der persönlichen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner abhängt. In einem von staatlicher Macht geprägten Handlungsrahmen das untergeordnete Gegenü-ber als vollwertige Person zu verstehen und zu behandeln, setzt Kenntnisse und Fähigkeiten voraus, über die die als persönliche Ansprechpartner und Ansprech-partnerinnen beschäftigten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von SGB II-Trägern in sehr unterschiedlichem Maß verfügen.

1.4 Hohe Zahl erfolgreicher Widersprüche und Klagen gegen Sanktionen

Die stichtagsbezogene Sanktionsstatistik der Bundesagentur gibt zwar Auskunft darüber, wie viele Sanktionen von Hilfebedürftigen faktisch zu ertragen und zu bewältigen sind, weil nach § 39 SGB II Widersprüche gegen Sanktionsbescheide keine aufschiebende Wirkung haben, aber die Statistik sagt nicht, wie viele der verhängten Sanktionen dem geltenden Recht entsprechen. Der Anteil der Sankti-onen, die auch im Sinne des SGB II und übergreifender sozialrechtlicher Bestim-mungen nicht rechtmäßig sind, ist zwar unbekannt, aber offenbar beträchtlich. Unbekannt ist dieser Anteil deswegen, weil davon auszugehen ist, dass gegen

22 Vgl. Ames 2008, S. 84.23 Vgl. Ames 2008a S. 126 ff. Dazu, dass die Behördenmitarbeiter zwar viele Vorgaben beachten

müssen, hierdurch ihr konkretes Handeln jedoch nicht völlig determiniert ist, siehe auch Behrend 2007.

24 Ames 2008a, S. 10 ff.

17

einen – nicht zu beziffernden – Teil unrechtmäßig verfügter Sanktionen von den Betroffenen weder Widerspruch eingelegt noch geklagt wird.

Dass der Anteil der gegen geltendes Recht verstoßenden Sanktionen beträcht-lich und zudem zwischen 2006 und 2008 beträchtlich gestiegen ist, ist aus den hohen Erfolgsraten von Widersprüchen und Klagen zu schließen. Hierüber gab die Bundesregierung in ihren Antworten auf zwei diesbezügliche Anfragen von Abgeordneten Auskunft.25 Die über beide Antworten verstreuten Angaben der Bundesregierung zur Anzahl von Widersprüchen und Klagen gegen Sanktions-bescheide sowie zu den Ergebnissen der Widersprüche und Klagen sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt und dort an zwei gekennzeichneten Stellen durch Angaben des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle26 ergänzt. Die Anga-ben der Bundesregierung beziehen sich auf Widersprüche und Klagen gegen Sank-tionsbescheide von SGB II-Trägern, die als Arbeitsgemeinschaften von Agenturen für Arbeit und Kommunen (ARGEn) organisiert sind, oder von Arbeitsagenturen, die das SGB II in den hier relevanten Bestimmungen getrennt von den Kommunen umsetzen. Daten aus den 69 Kommunen, die das Gesetz in Eigenregie umsetzen, sind in den Angaben also nicht enthalten.27

25 BT-Drs. 16/8284 und BT-Drs 16/13577.26 Institut für Wirtschaftsforschung Halle 2009, S. 4.27 BT-Drs. 16/8284, S. 2.

18

Tabelle 1: Widersprüche und Klagen gegen Sanktionsbescheide und deren Ergebnisse

2006 2007 2008Anzahl Sanktionsbe-scheide

keine Angabe

806.000 789.000

Widersprüche gegen Sanktionsbescheide

absolut 45.415 64.857 ca. 78.900 1)

in Prozent aller Sankti-onsbescheide

keine Angabe gefunden

8,05% 10 % 3)

Anzahl der erledigten Widersprüche gegen Sanktionsbescheide

37.814 64.203 74.842 1)

Anteil Widersprüche, denen vollständig stattgegeben wurde

absolut 11.873 22.491 27.991in Prozent aller erle-digten Widersprüche

31,40% 35,03% 37,40%

Anteil Widersprüche, denen teilweise statt-gegeben wurde

absolut 1.007 1.839 3.059in Prozent aller erle-digten Widersprüche

2,66% 2,86% 4,09%

Klagen gegen Sankti-onsbescheide

absolut 3129 5744 ca. 7 890 1)

in Prozent aller Sank-tions-bescheide

keine Angabe gefunden

0,71% 1,00% 3)

Anzahl erledigter Klagen

1.223 3.005 5.717 1)

beklagte Sanktions-bescheide, die nach Klageeinreichung von der Behörde zurückge-nommen wurden

absolut 442 1130 2906in Prozent aller erle-digten Klagen

36,14% 37,60% 50,83%

Klagen, die gericht lich vollständig zu Gunsten der Kläger entschieden wurden

absolut 58 152 748in Prozent aller erle-digten Klagen

4,74% 5,06% 13,08%

Klagen, die gericht lich teilweise zu Gunsten der Kläger entschieden wurden

absolut 11 49 79in Prozent aller erle-digten Klagen

0,90% 1,63% 1,38%

Summe erfolgreicher Klagen gegen Sankti-onsbescheide

absolut 511 1331 3733in Prozent aller erle-digten Klagen

41,78% 44,29% 2) 65,30%

1) eigene Berechnungen aufgrund der vorhandenen Angaben.2) die Bundesregierung gibt für diesen Anteil sogar 51 Prozent an, was aber mit ihren Angaben zur abso-

luten Zahl der in 2007 erledigten und für die Kläger erfolgreichen Klagen nicht übereinstimmt.3) Angaben des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle.

19

In 41 Prozent der Fälle, in denen die Behörden in 2008 Widersprüche gegen Sanktionsbescheide bearbeitet haben, wurde also anerkannt, dass die Sanktionen – ganz überwiegend vollständig – zu Unrecht verfügt worden waren. In 2008 erledigte Klagen gegen Sanktionsbescheide führten nach Angaben der Bundesre-gierung gar zu 65 Prozent zum Erfolg der Kläger und Klägerinnen.

Hinweise darauf, dass Sanktionen häufig die Folge einer wenig sorgfältigen und zuverlässigen Arbeitsweise der sanktionierenden Behörden und daraus fol-genden Informationsverlusten sind, geben die von der Berliner Kampagne gegen Hartz IV durchgeführten und ausgewerteten Interviews mit zehn Sanktionsbe-troffenen.28

Die hohe und steigende Zahl von Sanktionen nach § 31 SGB II, die offenbar nicht einmal geltenden Rechtsnormen genügen, macht die Frage nach den Ursa-chen von Sanktionen umso dringlicher.

1.5 Unbekanntheit der Ursachen und Auswirkungen verfügter Sanktionen

Im Sanktionsbericht der Bundesagentur für Arbeit29 werden auf der Basis von Daten für Oktober 2006 die damals bestehenden Sanktionen nach Altersgruppen-zugehörigkeit, Geschlecht und Staatsangehörigkeit der Sanktionierten, nach Typen der Bedarfsgemeinschaft, der sie angehören, nach Bundesländern und Kreisen, sowie nach den Anlasskategorien im Sinne des § 31 SGB II unterschieden. Aussa-gekräftige weitere Differenzierungen fehlen in der Unterscheidung von Sanktionen nach Sanktionsanlässen. So ist zum Beispiel bei der Anlasskategorie „Verletzung von Pflichten des Eingliederungsvertrages“ nicht angegeben, welche in Einglie-derungsvereinbarungen festgelegte Verpflichtungen nicht erfüllt wurden.30

Um die Angabe von Sanktions“gründen“ handelt es sich – anders als im Sanktionsbericht wiederholt formuliert – bei der Zuordnung von Sanktionen zu gesetzlich vorgeschriebenen Sanktionsanlässen ohnehin nicht. Die Statistik gibt weder Auskunft über die je konkreten Erwartungen, die sanktionierte ALG II-Beziehende nicht erfüllt haben, noch über die Umstände, die dazu führten, dass sie es nicht getan haben.

28 Berliner Kampagne gegen Hartz IV 2008, S. 27 ff.29 Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2007.30 Siehe Ames 2008b, S. 114 f.; BT-Drs 16/13577, S. 3.

20

In einer am Wissenschaftszentrum Berlin von Kai-Uwe Müller erarbeiteten Studie31 wurden die vorliegenden Daten zu 2001 und 2002 im Rechtskreis des SGB III verfügten Sanktionen gegenüber Beziehern und Bezieherinnen bezie-hungsweise Antragsstellern und Antragstellerinnen von Arbeitslosengeld hinsicht-lich Informationen über die erklärenden Variablen personengruppenspezifisch und regional unterschiedlicher Sanktionshäufigkeiten analysiert. Müller fand he-raus, dass nicht nur unter 25-Jährige, sondern auch gering qualifizierte Personen überdurchschnittlich häufig sanktioniert wurden und dass eine vorangegangene Sanktion bei sonst gleichen persönlichen Merkmalen die Wahrscheinlichkeit einer (weiteren) Sanktion erhöht. „This was interpreted as an indication that unob-served behavioral characteristics […] may influence the individual’s sanction probability.”32 Hier liegt einer von mehreren Ansätzen auch für die Aufklärung von Sanktionsursachen im Rechtskreis des SGB II: nämlich in der Frage, ob sich sanktionierte von nicht-sanktionierten Personen zu einem nennenswerten Anteil hinsichtlich situationsunspezifischer Verhaltensdispositionen unterscheiden und, falls ja, um welche Dispositionen es sich dabei handelt. Der Befund, dass eine Sanktion die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Sanktion erhöht, verweist in eine weitere, ebenso wichtige Untersuchungsperspektive, ob nämlich einmal sankti-onierte Leistungsbezieher und Leistungsbeziehrinnen in den Fokus der behörd-lichen Aufmerksamkeit für potenzielle „Pflichtverletzer und Pflichtverletzerinnen“ geraten.

Ebenso wenig erforscht wie die Ursachen von sozialrechtlichen Sanktionen sind die konkreten Auswirkungen der mit Sanktionen verfügten Einbußen der Existenzsicherung auf die Lebenslage der Sanktionierten und deren Bewältigungs-handeln. Aufschlüsse hierzu, die die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung vermutlich ergänzen und erweitern werden, sind von einem Forschungsprojekt zu erwarten, das derzeit im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung durch-geführt wird.33 In diesem Projekt sollen neben der Auswertung von Prozessdaten der Bundesagentur und der Durchführung und Auswertung von Interviews mit Fachkräften der SGB II-Träger auch Interviews mit unter 25-jährigen sanktio-nierten ALG II-Bezieher und -Bezieherinnen zu ihrer Sicht der Ursachen und Auswirkungen der Sanktionen geführt werden. Das Projekt soll bis zum Jahres-ende 2009 abgeschlossen sein.

31 Müller 2007.32 Müller 2007, S. 16.33 www.iab.de/138/section.aspx/Projektdetails/k080627f04.

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Wie im Kapitel 1.2 bereits angesprochen, ist bislang auch weitgehend uner-forscht, ob Sanktionen nach § 31 SGB II das Verhalten der Sanktionierten beein-flussen und, wenn ja, in welcher Weise. Julia Schneider, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, hat die Wirkungen von Sanktionen auf die Lohnerwartungen sanktionierter ALG II-Bezieher und Bezieherinnen untersucht. Sie ist zu dem Er-gebnis gekommen, dass sanktionierte ALG II-Bezieherinnen und -Bezieher weder infolge von Sanktionen ihre Lohnansprüche reduzieren und deswegen leichter Erwerbsarbeit finden34, noch Sanktionen die Wahrscheinlichkeit künftiger Be-schäftigung35 erhöhen36.

34 Schneider 2008, S. 41.35 In der Studie operationalisiert als Beschäftigung zum Befragungszeitpunkt.36 Schneider 2008, S. 42.

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2 Fragestellung der Untersuchung und methodisches Vorgehen

2.1 Fragestellung

Die Untersuchung will zur Beantwortung der Fragen beitragen, wie es zu Sank-tionen nach § 31 SGB II kommt und welche Auswirkungen diese Sanktionen für die konkret Betroffenen haben.

Um zu erforschen, wie es zu Sanktionen kommt, ist zu erkunden, ob die Betroffenen wussten, welches Verhalten von ihnen erwartet wird,wenn sie es wussten, vor welche situationsspezifisch konkreten Anforderungen sie sich gestellt sahen,was sie daran hinderte, die Anforderungen zu erfüllen,welche Chancen sie wahrgenommen haben, ihr Erleben der konkreten Anfor-derungen und ihre entgegenstehenden Motive oder sonstigen Hinderungsgrün-de in der Kommunikation mit den Behördenmitarbeiter, die zu Anforderungen und Sanktionen ermächtigt sind, mitzuteilen und zu vertreten.

Die Frage nach den Auswirkungen von Sanktionen für die Betroffenen umfasst die Fragen,

ob und gegebenenfalls welche Möglichkeiten die Sanktionierten haben, die Minderung oder den Wegfall des Transfereinkommens zu kompensieren,wer sie hierbei in welcher Weise unterstützt,auf welche alternativen Einkommen oder andere Mittel der Existenzsicherung Sanktionierte möglicherweise zurückgreifen,welche Ausgaben die Sanktionierten infolge der Minderung oder des Wegfalls ihres Einkommens nicht tätigen,welche Konsequenzen dies für ihre sozialen Beziehungen, für die Sicherung ihrer Wohnung, für die Versorgung mit Wasser, Wärme und Strom und für die Sicherung ihrer Gesundheit hat,ob und gegebenenfalls in welcher Weise die Sanktionen die Verhaltensdis-positionen der Betroffenen über die Bewältigung der Einkommenseinbuße hinaus beein flussen.

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2.2 Problemzentrierte Interviews als gebotene Erhebungs- methode

Im Zentrum der Untersuchung standen dreißig leitfadengestützte problemzen-trierte Interviews37 mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen im Sinne des SGB II, die von einer Sanktion oder mehreren Sanktionen nach § 31 SGB II betroffen waren. Im Anhang findet sich der Interviewleitfaden.

Die Erhebungsmethode war durch die Fragestellung der Untersuchung ge-boten. Über ihre Motive und ihr Situationserleben können Menschen nur selbst Auskunft geben. Und dies fällt zudem in der Regel keineswegs leicht. Man braucht hierzu Herausforderung und gleichzeitig Freiraum, sich an die eigenen Gefühle heranzutasten und nach treffenden Worten dafür zu suchen, also aus den Gefühlen Gedanken werden zu lassen. Die offene, weitgehend an alltägliche Gesprächssi-tuationen angeglichene Interviewform, bietet diese Herausforderung und diesen Freiraum.

Die Methode des weitgehend offenen Interviews war auch deshalb geboten, weil, wie in Kapitel 1.5 erörtert, die Frage nach dem subjektiven Erleben behörd-licher Anforderungen und nach den Ursachen von Verhaltensweisen, die nach den Bestimmungen des SGB II sanktioniert werden, ebenso wie die Frage nach den Auswirkungen der Sanktionen auf die Lebenslage und die Verhaltensdispositi-onen der Betroffenen bislang weitgehend unerforscht ist. Es standen also keine Forschungsergebnisse zur Verfügung, die die Konstruktion eines standardisierten Erhebungsinstrumentes hätten anleiten können.

Die Entscheidung für qualitative Interviews impliziert in der Regel den Ver-zicht auf den Anspruch, statistisch repräsentative Ergebnisse vorzulegen. Selbst wenn es mit größeren finanziellen und daraus folgenden zeitlichen und/oder personellen Projektressourcen möglich gewesen wäre, eine größere Zahl Sankti-onsbetroffener zu interviewen, wäre es dennoch nicht möglich gewesen, eine in wahrscheinlichkeitstheoretischer Sicht ausreichend große Zufallsstichprobe zu gewinnen.

Ziel qualitativer Sozialforschung ist bekanntermaßen nicht, Aussagen zur Häufigkeit des Auftretens bestimmter von den Forschenden als belangvoll defi-nierter Phänomene zu treffen, sondern – wie Siegfried Lamnek formuliert – zu „Existenzaussagen“ 38 zu kommen. Es geht also beispielsweise darum, festzustel-

37 Witzel 1982, S. 66-120.38 Lamnek ³ 1995, S. 92.

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len, ob sanktionierte ALG II-Beziehende Gründe für ihr sanktioniertes Verhalten haben und wenn ja, welcher Art diese Gründe sind. Ziel ist die Strukturierung und Typisierung39 der Befunde und einen Beitrag zu leisten zu empirisch gestützter Theoriebildung. Mit der Formulierung „einen Beitrag zu leisten“ ist bereits darauf hingewiesen, dass kein einzelnes Forschungsprojekt beanspruchen kann, allein theoriestützend zu sein. Jede Forschung bedarf der Infragestellung, Fortführung, Ergänzung und Vertiefung durch weitere Forschungen.

2.3 Zugang zu den Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern

Der Zugang zu den Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern wurde über diverse Beratungsstellen und andere Einrichtungen, die Kontakt zu Erwerbslo-sen haben, gefunden. Aus Zeit- und Kostengründen wurden überwiegend Sank-tionsbetroffene, die in Baden-Württemberg leben, als Interviewpartnerinnen und Interviewpartner gesucht, was sich weitgehend auch realisieren ließ. Nur zwei Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartner leben nicht in Baden-Württemberg, sondern in angrenzenden bayerischen Landkreisen.

Im Einzelnen wurde der Zugang zu den Interviewpartnerinnen und Intervie-wpartnern auf folgende Weise ermöglicht: Acht Personen meldeten sich nach ent-sprechenden Aufrufen im Internetauftritt des Sozial- und Erwerbslosenhilfevereins Tacheles e.V. in Wuppertal. Jeweils drei Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpart-ner wurden über Beschäftigungsträger gewonnen, bei denen die Betreffenden einen Ein-Euro-Job zum Interviewzeitpunkt ausübten oder vorher ausgeübt hatten. Fünf beziehungsweise vier Interviewpartner wurden über verschiedene Einrich-tungen der Wohnungslosenhilfe erreicht, deren Klienten die Betreffenden zum Interviewzeitpunkt waren beziehungsweise zuvor gewesen sind. Sechs Interview-partnerinnen bzw. Interviewpartner wurden über andere Sozialberatungsstellen erreicht. Ein Interviewpartner wurde über seine Lebensgefährtin gewonnen, die ihrerseits über ihren ehemaligen Beschäftigungsträger erreicht wurde.

Die Struktur des Samples hinsichtlich Alter, Familiensituation und Ausbil-dung der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wird in Kapitel 3.1 dar-gestellt.

39 Vgl. Lamnek ³1995, S. 118.

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2.4 Durchführung der Interviews

Die Interviews wurden zwischen Ende Februar und Anfang Mai 2009 durch-geführt. Acht Interviews fanden bei den Interviewpartnerinnen Interviewpartner zu Hause statt. Zwanzig Interviews fanden in den Räumen von Beschäftigungs-trägern, Beratungsstellen oder Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe statt. Ein Interview wurde in einem Park, ein anderes in einer Klinik durchgeführt.

Die Interviews dauerten zwischen 45 und 120 Minuten. Ihr Verlauf entwi-ckelte sich nach ein oder zwei erzählstimulierenden Eingangsfragen im Wech-selspiel zwischen den spontanen Mitteilungen der Gesprächspartnerinnen und gesprächspartner und meinen gleichermaßen hierauf bezogenen und am Leitfaden orientierten Nachfragen.40

2.5 Auswertung

Alle Gespräche wurden elektronisch aufgezeichnet und transkribiert. Im Zuge der Transkription wurde das ganz überwiegend mundartlich Gesprochene in der Regel ins Schriftsprachliche übertragen. Nur ausnahmsweise wurde eine bestimmte mundartliche Redewendung beigehalten, wenn mit der Übertragung ins Schrift-deutsche eine Bedeutungsverschiebung verbunden gewesen wäre, die der zu ver-mutenden Aussageintention des Gesprächspartners bzw. der Gesprächspartnerin nicht entsprochen hätte. Nonverbale Gesprächselemente wie Lachen, Stöhnen, Stottern oder längere Pausen wurden nur dann in den Transkripten vermerkt, wenn ein bedeutungsvoller Zusammenhang dieser Elemente mit dem Gesprächsinhalt oder mit als typisch zu vermutenden Mitteilungsproblemen des Gesprächspartners bzw. der Gesprächspartnerin erkennbar war.

Erst im Anschluss an die Transkription sämtlicher Interviews, nachdem ich also einen Überblick über sämtliche Gesprächsinhalte hatte, wurde das Auswer-tungsraster (siehe Anhang) in seiner endgültigen Form erstellt. Die Interview-transkripte wurden im nächsten Schritt Abschnitt für Abschnitt den Themen des Auswertungsrasters zugeordnet. Wobei mit „Abschnitt“ hier jeder Textteil gemeint ist, mit dem der oder die Interviewpartner/-in eine bestimmte Information gege-

40 Vgl. Lamnek ³1995, S. 113.

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ben hat. Das kann ein kurzer Einschub in einem Satz, das können auch mehrere aufeinander folgende Sätze sein.

Danach wurden die Kernaussagen zu den jeweiligen Themen neben den Text-abschnitten in Kurzform vermerkt. In einem weiteren Schritt wurden die Inter- viewtranskripte „auseinander genommen“, indem die zu einem Thema gehö-renden, zunächst über das Interview zerstreuten Aussagen zusammengestellt wurden. So wurde für jeden Gesprächspartner bzw. jede Gesprächspartnerin auf einen Blick erkennbar, welche Aussagen sie oder er zur eigenen Lebensgeschichte, zur aktuellen Lebenssituation, zur beruflichen Motivation, zur allgemeinen Moti-vation usw. gemacht hatte. Auf dieser Grundlage wurden die zusammenfassenden Inhaltsanalysen41 der einzelnen Interviews in Form der in Kapitel 3.2 wiederge-gebenen Fallskizzen erstellt sowie die strukturierende42 und generalisierende43 Analyse der Gesamtheit der Fälle erarbeitet.

41 Vgl. Mayring 102008, S. 59 ff.; ähnlich bei Lamnek ³ 1995, S. 108 f.42 Vgl. Mayring 102008, S. 89 ff.43 Vgl. Lamnek ³1995, S. 109.

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3 Die Untersuchungsergebnisse

3.1 Die Interviewpartner und Interviewpartnerinnen

Ich habe 22 Männer und acht Frauen interviewt. Der Anteil der Männer beträgt also 73 Prozent, der Anteil der Frauen 27 Prozent. Nach der Statistik der Bun-desagentur für Arbeit waren die im Dezember 2008 mindestens einer Sanktion unterworfenen „erwerbsfähigen Hilfebedürftigen“ in Baden-Württemberg zu 67 Prozent Männer und zu 33 Prozent Frauen.44

17 Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartner lebten, als sie sanktioniert wurden, allein; fünf lebten in so genannter eheähnlicher Gemeinschaft, zwei lebten mit ihrer Ehepartnerin zusammen, fünf lebten in einer Einrichtung für wohnsitz-lose junge Männer, eine Interviewpartnerin lebte bei ihrer Mutter.

Die vier jüngsten Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartner waren im Sank-tionszeitraum 19 Jahre alt, die älteste war im Sanktionszeitraum 58 Jahre alt.

Die folgende Tabelle zeigt, welcher Altersgruppe die Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartner angehörten, als sie – zum ersten Mal – sanktioniert wurden, und welche Ausbildung sie als letzte abgeschlossen haben.

Tabelle 2: Altersgruppenzugehörigkeit und Ausbildungsabschluss der Interviewpartner/-innen zum Zeitpunkt der (ersten) Sanktion

letzte abgeschlossene Ausbildung

Altersgruppen15-24 25-34 35-44 45-54 55-64 Summe

kein Abschluss 9 2 1 12handwerkliche Anlernaus-bildung

1 1 2

kaufmännische Lehre 1 2 1 4handwerkliche Lehre 1 1 5 7Fachschulausbildung 1 1 2Qualifizierung zum Meister 1 1Hochschulausbildung 2 2Summe 10 2 5 10 3 30

44 Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Sanktionen, Dezember 2008.

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3.2 Fallskizzen

Die folgenden 28 Fallskizzen haben die Funktion, den Blick auf die Besonderheit und Komplexität jedes Einzelfalls zu lenken und zu verdeutlichen, dass Verhal-tensdispositionen von Menschen sich einerseits immer im lebensgeschichtlichen Zusammenhang entwickelt haben und weiterentwickeln, andererseits tatsächliches Verhalten immer situationsspezifisch ist, also davon abhängt, welche Verhaltens-möglichkeiten in konkreten Lebenssituationen offenstehen und welche Bela-stungen und Behinderungen die Situationen auferlegen. Die Fallskizzen sollen auch dazu dienen, die verallgemeinernden Schlüsse zu den Ursachen und Auswir-kungen von Sanktionen, die ich daraus ziehe, nachvollziehbar zu machen.

Die Fallskizzen fokussieren die zentralen Aussagen der Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartner zu ihrer Lebensgeschichte, zu ihren Erfahrungen mit- und Wünschen an Erwerbsarbeit, zu ihren Erfahrungen mit den für sie zuständigen SGB II-Trägern, zu ihrem Erleben der Situation, in der sie – bewusst oder unbe-wusst – gegen Erwartungen der SGB II-Träger verstoßen haben und dafür sanktio-niert wurden, und zu den Auswirkungen der Sanktionen auf ihre Lebenslage. Wenn es mir zur Vermittlung einer realitätsgerechten Vorstellung von einem Gesprächs-partner bzw. einer Gesprächspartnerin förderlich erschien, habe ich an wenigen Stellen in den Fallskizzen auch meine Eindrücke von Lebenssituationen und/oder Kompetenzen wiedergegeben, die sich aus dem Interviewtext nicht erschließen.

Die Aussagen enthalten explizit und implizit viele Hinweise auf die individu-ellen Motivlagen, Handlungskom petenzen und Kompetenzdefizite, die in den fol-genden verallgemeinernden und typisierenden Berichtskapiteln mit den Motiven, Handlungskompetenzen oder auch Gleichgültigkeiten zu konfrontieren sind, die zur Erfüllung der behördlichen Anforderungen notwendig gewesen wären.

Entsprechend dem mit den Forschungsfragen formulierten Erkenntnisinteresse der Untersuchung beansprucht die Wiedergabe der Aussagen der Interviewpartne-rinnen bzw. der Interviewpartnernicht, „objektive“ Schilderung von „Sachverhal-ten“ zu sein. Vielmehr geht es um je subjektive Rekonstruktionen und Deutungen von Wirklichkeit, mit denen die Erzählenden auch nach Selbstbestätigung und Selbstverteidigung streben.45 Denn es sind diese Deutungen, an denen sich das Handeln der Akteure orientiert. Dies gilt für das Handeln meiner Gesprächspart-nerinnen und Partner ebenso wie für das Handeln von Behördenmitarbeiter, auch

45 Bahrdt 1987, S. 83.

31

wenn die handlungsleitenden Deutungen der letzteren viel stärker von politisch erzeugten und politischen Strategien entsprechenden Deutungsmustern46 geprägt sind.

Zudem spricht nichts dafür, dass das Bedürfnis der Interviewpartner und In-terviewpartnerinnen nach positiver Selbstdarstellung ihr Bedürfnis nach wahrhaf-tiger und wahrheitsgetreuer Darstellung von Erlebnissen und Intentionen domi-niert hätte. Die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner wussten, dass ich sie weder belohnen noch bestrafen kann, und die allermeisten haben die Freiheit, im Habermas‘schen Sinne verständigungsorientiert kommunizieren zu können, nicht strategisch kommunizieren zu müssen, durchaus genützt.

Die weitgehend chronologische Ordnung der Fallskizzen entspricht keines-wegs der Struktur und dem Verlauf der Interviews, in denen ich mich weitgehend auf die „Einfälle“, Assoziationsketten und Relevanzsysteme der Gesprächspartner und Gesprächpartnerinnen eingelassen habe.

Insgesamt habe ich dreißig Interviews mit sanktionsbetroffenen Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II geführt. In zwei Fällen habe ich auf die Erstellung von Fallskizzen verzichtet. Im Fall von Herrn Y. handelte es sich le-diglich um eine 10-prozentige Leistungskürzung infolge eines Terminversäum-nisses. Dieser Sanktion maß der Betroffene selbst, im Unterschied zum Ausbleiben beruflicher Förderung, keinerlei Bedeutung zu. Im Fall von Herrn X. ging es um eine bereits 2005 erfolgte Sanktion wegen der Weigerung, an Ort und Stelle eine Eingliederungs vereinbarung zu unterzeichnen. Diese Sanktion war von der zuständigen ARGE zurückgenommen worden, nachdem das angerufene Sozial-gericht im Eilverfahren einstweilen angeordnet hatte, dass die Leistung vorerst nur um zwanzig Prozent gekürzt werden dürfe. Diese Anordnung interpretierte die ARGE offenbar als Hinweis darauf, dass sie im Hauptsacheverfahren mit großer Wahrscheinlichkeit unterliegen würde.

Alle kursiv geschriebenen Zitate in den Fallskizzen sind den jeweiligen Interviewtran skripten entnommen. Die den Interviewpartnerinnen und Inter-viewpartnern zugeordneten Buchstaben sind nicht die Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen.

46 Vgl. Lemke 2000.

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Frau A.: Ich hab ja schon Angst vor meinem Briefkasten.Frau A. war 52 Jahre alt, geschieden, lebte „schon lange“ allein. Die beiden erwachsenen Töchter waren nach abgeschlossener Ausbildung ebenfalls auf Ar-beitsuche.

Frau A. hatte Bürogehilfin gelernt. Bei ihrem letzten Arbeitgeber war sie sie-ben Jahre lang als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Sie vertrat dort die Stelle einer Mitarbeiterin, die im Erziehungsurlaub war und an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, nachdem das dritte Kind zwei Jahre alt geworden war.

Zum Interviewzeitpunkt war Frau A. seit vier Jahren erwerbslos und seit etwas mehr als zwei Jahren auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen. Frau A. hatte eine Putzstelle, mit der sie monatlich etwa 100 Euro dazu verdiente. Da-rauf war sie dringend angewiesen, weil sie monatlich 70 Euro ihrer Wohnkosten selbst bestreiten musste. Die Behörde fand Frau A.s 71 m² große Wohnung, deren Warmmiete 423 Euro betrug, unangemessen. Dass ihre Suche nach einer „ange-messenen“ Wohnung vergeblich war, verhinderte die Leistungskürzung nicht. Es gehört zu den kränkendsten Erfahrungen, die Frau A. als ALG II-Bezieherin ge-macht hatte, dass der Richter, der über ihre Klage gegen die Nicht-Übernahme der tatsächlichen Wohnkosten entschieden hatte, ihr eine Anzeige vorhielt, in der eine 18 m²-Wohnung zum angemessenen Mietpreis angeboten wurde. „Mit 51 Jahren soll ich in ein 18-Quadratmeter-Zimmer ziehen.“ Der Richter hatte die Klage, bei der sich Frau A. nicht anwaltschaftlich vertreten ließ, abgewiesen.

Frau A. litt nicht nur sehr unter ihrer Arbeitslosigkeit; sie kämpfte auch nach wie vor gegen die Resignation, auch wenn sie wusste, dass sie in ihrem „Alter und nach vier Jahren daheim“ kaum noch Chancen hatte. Sie schaute jeden Tag im Internet nach Stellenangeboten, und sie schrieb Bewerbungen. Das Jobcenter half ihr nicht, die Hoffnung zu bewahren. Von der Behörde hatte Frau A. bislang keine Stellenangebote bekommen, und ihr wiederholt vorgetragener Wunsch nach fachlicher Fortbildung war abgelehnt worden: „Die Kurse, die ich ja brauche oder brauchen würde fürs Büro, zum Beispiel SAP, Buchhaltung, da kriegt man nix. [...] Die sagen, das bringt nix, wenn ich einen Kurs jetzt mit Buchhaltung zum Beispiel hab, dann würde ich trotzdem nicht eingestellt, die (Arbeitgeber) nähmen dann lieber erfahrenere Leute.“ Dagegen stellte Frau A. bei der Lektü-re von Stellenanzeigen fest: „Buchhaltung, SAP wird fast überall verlangt, und ich mein, wenn man SAP, wenn man da Grundkenntnisse hat, und ich bin ja am Computer sowieso, da lern ich schnell, dann kommt man wenigstens rein. Aber ohne irgendeine Ahnung, also da hat man ja gar keine Chance. Und das verstehn

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die irgendwie in dem Jobcenter nicht. Ich sag da jetzt auch gar nichts mehr. Ich hab da so viel mit denen geredet drüber, es hat keinen Wert. Mir langt es schon, wenn ich einen Termin hab, da ist mir schon ganz schlecht immer vorher, oder ich hab einen Hass.“

Während die fachliche Qualifizierung abgelehnt wurde, bekam Frau A. im Frühjahr 2008 im Lauf eines Gesprächs von ihrem Arbeitsberater einen Flyer mit Informationen zu einer Maßnahme: „Das war halt auch Word, Excel und Bewerbertraining, wie man sich auch schminkt zum Vorstellungsgespräch und so weiter.“ Frau A. hatte bereits 2006 und 2007 Bewerbungstrainings absolviert: So viel Frau A. dem Flyer entnehmen konnte, ging es auch hier um „das Gleiche in der Art, wo man aber im Endeffekt den ganzen Tag nur rumsitzt und im Internet surft. [...]Da schreibt man ja auch Bewerbungen, dann helfen die einem, sagen, so kann man es besser machen, klar, Bewerbungen hab ich da schon gemacht, aber es gibt nicht viel im Büro. Und so war man halt so, was weiß ich, von sechs Stunden hat man eine Stunde Bewerbungen gemacht, und fünf Stunden hat man halt nichts gemacht, einfach so.“ Neu wäre dieses Mal gewesen, zu lernen, wie man sich fürs Vorstellungsgespräch schminkt. Frau A. hob diesen Punkt spottend hervor. Wenn man ihr im Gespräch gegenüber sitzt, hat man nicht den Eindruck, dass ihre Arbeitssuche in den letzten vier Jahren wegen unpassenden Make-ups erfolglos geblieben wäre.

Zu Frau A.s Zweifel am Sinn der Maßnahme kam die Zumutung, dass sie monatlich 23 Euro Fahrtkosten aus der Regelleistung hätte bestreiten müssen. Denn die Behörde legte bei der Berechnung der von ihr zu übernehmenden Fahrt-kosten nicht den tatsächlichen Preis einer Monatskarte für den Stadtbus zugrunde, sondern die Entfernung zwischen Wohnung und dem Ort, an dem eine Maßnahme durchgeführt wird. Da die Entfernung in diesem Fall nur 3,5 Kilometer betrug, hätten die erstatteten Fahrtkosten um 23 Euro unter dem Preis einer Monatskarte gelegen. „Und dann hab ich gesagt, wenn ich das Fahrgeld nicht krieg, mach ich’s nicht. Sonst wär ich da hin, was soll’s, ph, dann tut man halt die Zeit absitzen, sozusagen.“

Frau A. erhielt den Sanktionsbescheid, der ihr die dreimonatige Kürzung des Lebensunterhaltes um dreißig Prozent ankündigte. Die von ihr beantwortete schriftliche Anhörung blieb Formsache. Die Sanktion wurde vollzogen. Frau A. widersprach dem Kürzungsbescheid nach Rücksprache mit einer Erwerbslosen-beratungsstelle. Der Widerspruch blieb erfolglos, und Frau A. klagte gegen die Kürzung. Dieses Mal beauftragte sie einen Anwalt. Zum Interviewzeitpunkt stand

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die Verhandlung noch aus. Zwei Monate später teilte Frau A. mir mit, dass die Klage von demselben Richter, der auch eine 18 m²-Wohnung für sie angemessen fand, abgewiesen wurde.

Frau A. bewältigte die Leistungskürzung unter anderem dadurch, dass sie öfter mal zu ihren Eltern, die glücklicherweise in ihrer Nähe wohnten, zum Essen ging. Der Vater „steckte“ ihr hin und wieder „mal zehn Euro zu“. Darüber hinaus lebte Frau A. noch zurückgezogener als gewöhnlich: „Ich brauch ja auch nicht viel, ich geh ja auch nie fort, ich bin immer daheim. Man wird ja sowieso, man wird ja, ich weiß nicht, depressiv oder, so ein bisschen jedenfalls. Jedenfalls hab ich keine Lust, irgendwohin zu gehen, ich bin immer daheim.“

Die wesentliche Auswirkung der Sanktion dürfte darin bestehen, dass Frau A. sich nicht noch einmal erlauben wird, eine Maßnahme abzulehnen, die das Amt ihr aufdrängt, - unabhängig davon, wie sinnvoll oder sinnlos ihr die Maßnahme erscheint. Als wir über ihre und ihrer Töchter finanzielle Notlage redeten, sagte sie quasi resümierend, „das liebe Geld“ und fügte nach einer nachdenklichen Pause hinzu: “Wenn ich jetzt wieder was absagen würde, dann kämen ja sechzig Prozent Kürzung.“ Dass dieses Risiko nicht eingegangen werden kann, verstand sich sozusagen von selbst und musste nicht ausgesprochen werden.

Dabei wartete Frau A. schon längst wieder auf die nächste Aufforderung, an einer Maßnahme teilzunehmen: „Ja, die ganze Zeit warte ich wieder auf Post, ich hab ja schon Angst vor meinem Briefkasten. Da wart ich immer auf Drohbriefe, sag ich. Weil, jetzt kommt ja bestimmt dieses Jahr was anderes.“ Dass etwas käme, was ihr helfen würde, Arbeit zu finden, erwartete Frau A. nicht.

Herr B.: Ich hab gedacht, egal, Hauptsache ein Job.Herr B. war 55 Jahre alt, seit 2003 nach 28-jähriger Ehe geschieden. Der ältere Sohn war erwachsen, der jüngere Sohn zum Interviewzeitpunkt 16 Jahre alt.

Herr B. war als gelernter Kaufmann bis Juli 2006 37 Jahre lang berufstätig gewesen, davon zwanzig Jahre lang als Zollsachbearbeiter in international agie-renden Unternehmen tätig. In dem amerikanischen Konzern, für den er die letzten 17 Jahre gearbeitet hatte, beobachtete er: „Ein Jahr ging es gut, und 16 Jahre war kontinuierlicher Personalabbau, von 1100 Mitarbeitern auf jetzt knappe 400.“ Weil Herr B. „immer die Angst (hatte), wann erwischt es dich oder die Familie“, begann er bereits 1996, nebenberuflich selbstständig auch für andere Firmen die Zollsachbearbeitung zu erledigen. Hierfür mietete er eigens ein Büro an. Die Arbeit für seinen Hauptarbeitgeber vernachlässigte er deswegen offensichtlich

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nicht. Vielmehr arbeitete er auch mit Sprunggelenksbruch für die Firma: „egal, ich konnt ja zuhause arbeiten, Bein hoch“.

Der hohe berufliche Einsatz verhinderte nicht, dass Herr B. Ende 2005 die Kündigung bekam, die am 1.7.2006 wirksam wurde. Seine Arbeit wurde teilweise einem neuen EDV-Programm, teilweise einem externen Auftragnehmer übertra-gen. Herr B. war tief verletzt.

Er versuchte, die Situation mit dem gewohnten Aktivismus zu bewältigen: „Dann hab ich noch vom alten Gesetz gehört, was am 30.7.06 auslief, dieses alte Überbrückungsgeld, hab ich gedacht, okay, dann versuch das, deinen Nebenjob, deinen Nebenberuf in eine Vollexistenz zu bringen, nimm die Möglichkeit wahr, dann hab ich noch ein Blitzgutachten erstellen lassen, so ein Existenzgründer-Gutachten, und alles das noch am 31.7. vorgelegt, mit Eingangsstempel, so dass ich noch vom alten Gesetz profitieren konnte. Dann wurde man gefördert ein halbes Jahr, und dann war ich sehr aktiv und hab viel Werbung, jetzt im Gedan-ken an eine Vollexistenz, hab auch einige Gespräche geführt, hab aber immer gemerkt, viele Versprechen, aber keine Kontinuität, und ich brauch auch meine Kontinuität, ich brauch auch jeden Monat in etwa ein kostendeckendes, ein mehr als kostendeckendes Einkommen. Dass natürlich auch Schwankungen da sind, ist mir vollkommen klar. Aber ich kann keine Löcher vertragen, auch psychisch nicht.“ Nach vier Monaten kam Herr B. zu dem Schluss, dass er als selbstständiger Zollsachbearbeiter seine Existenz nicht sichern könnte. Er gab den Plan auf und stürzte sich in die Suche nach einer neuen Stelle als Angestellter. Allein 2008 verschickte Herr B. ungefähr 250 Initiativbewerbungen, schrieb alle irgendwie infrage kommenden Betriebe im weiten Umkreis zweimal an, „optimierte“ ständig seine Bewerbungsunterlagen, ließ sich Bewerbungsflyer drucken, gab selbst An-zeigen auf. Er zeigte mir die unzähligen beeindruckenden Bewerbungen während des Interviews.

Außerdem beantragte Herr B. bei der ARGE einen SAP-Grundkurs und einen SAP-Fachkurs, in dem die Anwendung eines Spezialmoduls für die Zollsach-bearbeitung vermittelt wird. Der Grundkurs wurde ihm „aus Kostengründen“ verweigert, der Fachkurs wurde genehmigt, er begann im September 2008 und dauerte sechs Wochen. Den Fachkurs absolvierte Herr B., hat dabei auch „schon etwas mitgenommen“, obwohl er sich wegen der fehlenden Grundlagen „verdammt schwer tat“.

Bevor Herr B. ab September 2008 den Fachkurs besuchen konnte, bekam er Anfang August 2008 ein Stellenangebot: „Ich habe da auch eine Absage erhalten,

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die Absage habe ich zu den üblichen Absagen genommen im Ordner. Nach vier Wochen hat sich diese Firma noch mal gemeldet, ob ich noch zur Verfügung stehe, was ich bejaht habe. Das war an einem Mittwoch, am Donnerstag, am folgenden Tag, hatte ich ein Vorstellungsgespräch wahrgenommen, und am darauf folgenden Freitag, also zwei Tage später, hab ich den Arbeitsvertrag unterschrieben, mit Arbeitsbeginn am kommenden Montag, sehr kurzfristig. Also alles [...] sehr hopp, hopp, hopp. Hab noch ne Party gemacht, hab mich unheimlich gefreut, nach so langer Zeit, und dann noch nen Job gefunden in meinem Beruf, im Zollwesen. Ja, und dann stellte sich also-, ich hab den Arbeitsplatz nicht besichtigt, das ist ne Lehre für mich, für die Zukunft mal wieder. Und dann hab ich also dann den Job angetreten, und ich hab darauf hingewiesen, auch im Vorstellungsgespräch vorher, weil ich wusste, man setzt dort das Programm SAP ein, und ein Fachmodul nennt sich SAP-GTS 100, das ist das Zollmodul, und dann hab ich darauf, hab ich noch mal darauf eingewirkt und gefragt und gesagt, ich habe einen vom Arbeitsamt genehmigten [...] Fachkurs SAP-GTS. Der dauert sechs Wochen, ist verschoben worden, sollte dann im September beginnen.“ Aber der Betrieb brauchte offenbar sehr dringend einen Mitarbeiter für die Zollsachbearbeitung und wollte mit der Einstellung und Beschäftigung von Herrn B. nicht länger warten, und Herr B. dachte: „[...]egal, Hauptsache ein Job, reingehen in den Job.“ Die Ernüchterung trat in den ersten Arbeitstagen ein, als Herr B. von der einzigen Kollegin, die Fachkenntnisse hatte, erfuhr, dass sie zwei Wochen später in den fest gebuchten und davor immer wieder verschobenen Urlaub gehen würde. Herr B. wusste, dass er die Arbeitssituation nicht würde bewältigen können, ohne sich sehr zu blamie-ren, weil er das eingesetzte Zollsachbearbeitungsprogramm nicht beherrschte. Er sprach mit dem Abteilungsleiter in der Hoffnung, der Urlaub der Kollegin würde doch noch einmal verschoben oder es würde sich eine andere Lösung finden. Es wurde aber keine Lösung gefunden, so dass Herr B. in seiner Not von der einwö-chigen Kündigungsfrist Gebrauch machte und die Stelle fast so schnell wieder aufgab, wie es sie ange treten hatte.

Die ARGE, bei der Herr B. wieder ALG II beantragen musste, glaubte ihm nicht, dass er schwerwiegende Gründe für die Kündigung gehabt hatte. „Das Arbeitsamt fragt dann vom Prozess her den Arbeitgeber, wie es aus seiner Sicht war, der gibt ein Statement ab, ich gebe ein Statement ab, und diese beiden stim-

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men absolut nicht überein. Der Arbeitgeber hat behauptet zum Beispiel, dass ich jederzeit einen für mich notwendigen Kurs hätte absolvieren können. Das ent-spricht absolut nicht der Wahrheit. Und das Dumme ist daran, dieses schriftliche Statement nimmt die ARGE zu ihren Akten, informiert den Leistungsempfänger nicht darüber, erst über den VdK habe ich davon Kenntnis erhalten.“

Die ARGE sanktionierte die „Weigerung, eine zumutbare Arbeit fortzuführen“ mit einer von Oktober bis Dezember 2008 wirksamen Leistungskürzung in Höhe von dreißig Prozent der maßgeblichen Regelleistung47 und mit dem vollständigen Entzug des befristeten Zuschlags nach § 24 SGB II, der den Übergang von Arbeits-losengeld I zu Arbeitslosengeld II abfedern soll. Welch fundamentale Bedeutung es für Herrn B. hatte, wenig stens sein Selbstwertgefühl und die bisherige Anerken-nung als eines Arbeitnehmers, der stets verantwortungsbewusst, zuverlässig und fehlerfrei gearbeitet hat, zu wahren, konnte die ARGE mit ihren lebensfremden Deutungsmustern und bürokratischen Reglements nicht erfassen. Auch Herr B. war fassungslos: „Ich bin jetzt 37 Jahre im Beruf, davon über zwanzig Jahre im Zollwesen. [...] Und ich hab immer fehlerfrei arbeiten müssen und hab auch so ge-arbeitet, immer so, als wenn der Zöllner mit dabeisitzt. Da wurde nix gemauschelt, wurde genau nach Gesetz [...] so gearbeitet wie gearbeitet werden musste. Und so ist auch mein Denken, und so ist auch meine Verantwortung, die Verantwortung mir gegenüber und die Verantwortung dem Unternehmen gegen über. Ich kann nicht der Firma-, ich kann nicht einfach behaupten, [...] sagen, ja, ich kann’s und kann’s doch nicht. Ich kann sagen, ich kann’s nicht, weil ich es definitiv nicht kann. Und ich kann nicht in zwei Wochen das lernen, was mir zwei Fachkurse in zwölf Wochen vermitteln, und das sind ja auch nur Anfängerkenntnisse. Und wenn man sich vorstellt, man sitzt im Unternehmen, soll den ganzen Import machen, dann kommt da ein Container, kommt da Containerware an, die wird dringendst für die Fertigung gebraucht, ja, da kann ich nicht im Programm rumhüpfen, und eh, ich kann auch keinen fragen. Dann schreit die Fertigung, ich brauch die Ware, aber ich kann’s nicht. Und das ist eine Situation, die ist unhaltbar, auch für so’n Unternehmen, und ich bin fair dem Unternehmen gegenüber gewesen und hab gesagt, das geht so nicht. Den Dank hab ich gekriegt durch die Sanktion vom Arbeitsamt, indem ich also von Oktober bis Dezember 08 sanktioniert wurde.“ Die mit der Sanktion implizit gestellte Anforderung der ARGE hätte für Herrn B.

47 Wobei Herr W. wegen seiner kontinuierlich fortgeführten selbstständigen Nebentätigkeit die volle Regelleistung ja nie erhielt. Die tatsächlich gewährte Unterhaltsleistung wird in solchen Fällen um einen deutlich höheren Prozentsatz gekürzt.

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bedeutet, sich unseriös und unverantwortlich zu verhalten, womöglich auch noch ein sein Versagen bescheinigendes Zeugnis zu riskieren und damit die künftige Stellensuche völlig aussichtslos zu machen.

Herr B. legte gegen die Sanktion Widerspruch ein und erhob Klage mit anwalt-licher Unterstützung durch den VdK. Aber auch vor Gericht unterlag Herr B. der sich ins Allgemeine flüchtenden und darüber hinaus sachlich sehr fragwürdigen Argumentation des Richters, wonach bei einer gut bezahlten Arbeitsstelle keine Einarbeitungszeit zu erwarten sei und der Arbeitnehmer sich die notwendigen Spe-zialkenntnisse während der Ausübung der Tätigkeit anzueignen habe. Der Richter machte sich offensichtlich weder die Mühe, sich in die spezifische Arbeitssituation von Herrn B. hineinzuversetzen, noch sich zu fragen, wie die Unter stellung, Herr B. weise zumutbare Arbeit zurück, zu der Tatsache passt, dass Herr B. Hals über Kopf einen Job angetreten hatte, der ihm keineswegs von der ARGE vermittelt wurde. Die Ignoranz entmutigte Herrn B. so, dass er sich an keine weitere juri-stische Instanz wandte.

Herr B., der auch Teile der Kosten seiner Wohnung selbst trug, bewältigte die Lei stungseinbuße, indem er noch weniger einkaufte und sein ohnehin schon sehr geschrumpftes Geschäftskonto „fast auf null geführt“ hat, wobei er wusste, dass die Rechnung für den Steuerberater noch ausstand. Demnächst, so Herrn B.s Angst, würde „die ARGE es geschafft (haben), mein Kleingewerbe platt zu machen und meine Existenz ganz vernichtet zu haben“. Mindestens so sehr wie an den finanziellen zehrte die Sanktion an Herrn B.s psychischen Reserven. Mit Blick auf die Scheidung, die von sehr belastenden Auseinandersetzungen und Zerwürf-nissen begleitet gewesen war, und auf die Kündigung seiner langjährigen Arbeits-stelle sagte er: „Alles hat mich nicht umgehauen, bis auf diese ARGE-Situation, die scheint mich zu schaffen, diese Perspektivlosigkeit“. Auf meine Nachfrage, woran er das spüre, dass die Situation ihn zu schaffen scheine, führte er aus: „Das spür ich an dem kontinuierlichen Rückbau. Das heißt, ich gehe jeden Tag-, mein Tagesablauf ist so, dass ich aufstehe mit dem Gedanken ‚Job‘. Kaum bin ich wach, hab ich Job im Kopf, dann geh ich in die Internet-Stellenbörse und frustriere mich damit selber, ich habe viele Jobagenten laufen, und da ich keine Antwort kriege [...] frustriert mich das natürlich, [...] und ja, dann such ich den ganzen Tag Job, und dann kommen natürlich Rechnungen [...], dann kommen Lei stungskürzungen, ich zeigte Ihnen ja, vier Ordner Arbeitsamt, ich bin nur verwaltet beim Arbeits-amt, ich kriege bis zu vier Briefe täglich vom Arbeitsamt, Leistungsabteilung .... Es kommt so gut wie nie-, hab ich jetzt in zwei Jahren sieben oder acht Vermitt-

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lungsvorschläge, aber die sind alle unpassend.“ Die Sanktionserfahrung bestärkte Herrn B. in seiner Wahrnehmung des SGB II-Trägers als einer Institution, die vor allem sich selbst beschäftigt, indem sie ihre Klienten drangsaliert statt unterstützt: „Da ist ein ganz großer Apparat, der nennt sich halt ARGE, und die haben auch einen Job, und da gibt es die so genannten Kunden, und ohne die Kunden wär die ARGE nichts. Also muss man sich beschäftigen, aber nicht mit der Zielsetzung, die in einen Job zu bringen. Das wäre eine klare Zielsetzung.“

Während des Sanktionszeitraumes, einen Tag vor Weihnachten, zog der 16-jäh-rige Sohn von Herrn B., der damals beim Vater wohnte, dort wieder aus- und bei der Mutter ein. Ob dies daraus folgte, dass das Verhältnis wegen der schlechten nervlichen Verfassung des Vaters besonders angespannt war, oder daraus, dass der Sohn wegen der Trennung der Eltern und der von beiden gebotenen Möglichkeit, bei ihnen zu leben, Konflikten mit Vater oder Mutter stets auszuweichen konnte, mochte Herr B. nicht beurteilen. Kontakt hatten Vater und Sohn seither nur noch äußerst spärlich.

In den letzten Monaten vor unserem Interview hatte Herr B. insbesondere um „dieses so genannte Fallmanagement“ gekämpft, das ihm mit der Einglie-derungsvereinbarung zugesagt worden war, das aber lange nicht zustande kam. Schließlich beauftragte die ARGE einen externen „Fallmanager“ für Herrn B., der an den ersten beiden anberaumten Terminen wegen Krankheit nicht da war, ohne dass er die Termine abgesagt hätte. Der dritte Termin kam zustande: „Ich hab sehr viel von mir erzählt, von der Dringlichkeit, und, und, und, von meinen Aktivitäten, hab die Bewerbungsmappe schon dagelassen und Kontaktliste dage-lassen, damit man nicht doppelt-, zweigleisig fährt. Also, es ist sehr einseitig, hab viel von mir erzählt, weiß von denen gar nix. Ich kenn deren Kompetenzen nicht, ich kenn deren Vermittlungsquote nicht, ich kenn deren Möglichkeiten nicht, gar nix, man hat sich nicht mal bemüht, sich vorzustellen. Ich fühle mich als einer von vielen. Ich hab nur eindeutig gesagt, ich brauch kein Bewerbungsmanagement, das hab ich schon lange hinter mir, ..., ich brauch keinen Mutkurs, ich kann mich selber verkaufen. [...]. Also, wenn ich da nicht hinterher bin, und man sagte ja, man hat Kontakte zur Wirtschaft hier, mit Personalern, und wenn ich die nicht in diese Richtung bringe, dass die auch an den Arbeitsmarkt gehen, und zwar jetzt schnell, dann ist der Zug abgefahren.“

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Frau C.: Ich hab ja nur meinen Hasen gehabt, mit dem ich über alles reden konnte.Frau C. war zwanzig Jahre alt, als wir miteinander sprachen. Als sie drei Jahre alt war, wurde sie in ihrer ersten Pflegefamilie untergebracht. Wie es dazu kam, darüber wusste Frau C. nur wenig. Irgendwann, als es die DDR eben noch gab, sei die Mutter mit den beiden älteren Kindern und Frau C. in die Bundesrepublik geflohen. Offenbar war nicht nur die Wohnungssuche, sondern überhaupt der Versuch, sich im Westen einzurichten, schwieriger gewesen als erwartet. „Die vom Jugendamt haben gesagt, wenn meine Mutter ne Arbeit hat, einen Kinder-gartenplatz hat und eine Wohnung für ihre Kinder hat, dann könnte ich zurück kommen.“ Warum es dann doch mehr als zwölf Jahre gedauert hat, bis Frau C. wieder zu ihrer Mutter kam, konnte sie mir nicht berichten.

In der ersten Pflegefamilie lebte Frau C. fünf Jahre lang. Erst als sie in die Schule ging, wunderte sich jemand, warum sie „immer [...] blaue Flecken hatte und so“. Auf meine Frage, ob sie in der Pflegefamilie geschlagen worden sei, antwortete Frau C: „Schon. Teilweise war es halt auch meine Schuld und teilweise eigentlich auch gar nicht so.“

Frau C. wurde in einer anderen Pflegefamilie untergebracht. Eine vertrauens-volle, herzliche Beziehung entwickelte sich auch zu den neuen Pflegeeltern nicht. „Die waren völlig anders als ich. Die waren eher, wollten halt, dass alles immer schön perfekt ist, schöne Kleider, ja bloß keine alten Kleider anziehen. [...] Die hat mich zwar nicht wirklich geschlagen, die hat mich eher dann so gejagt.“ Aber immerhin hatte die neue Pflegefamilie darauf geachtet, dass Frau C. regelmäßig zur Schule ging und ihre Hausaufgaben erledigte. So gelang es Frau C., obwohl sie sich in der Schule nie recht wohl fühlte, einen guten Hauptschlussabschluss zu machen. Darauf war sie erkennbar stolz.

Nach der Schule nahm sie eine Gärtnerlehre auf, bei der sie sich allerdings schon wieder als Versagerin erlebte: „Ich war zu langsam, weil ich hab da tagsü-ber ständig geträumt so, ich hatte so teilweise Probleme gehabt. Und die Probleme wurden immer schlimmer, weil ich dann nicht wusste-. Wenn ich den ganzen Tag gearbeitet hab und nachhause kam, hab ich weniger gegessen und so, und das hat dann halt Probleme-. Und Berufsschulprobleme hatte ich dann auch noch.“ In dieser Zeit begannen auch Frau C.s Schlafstörungen. „Ja, und dann wurden die Probleme halt noch größer, ich hatte dann Sehnsucht nach meiner richtigen Familie. Als vom Jugendamt die Anfrage kam, ob ich meine Familie mal sehen möchte und so, Kontakt haben möchte, hab ich auf jeden Fall eingewilligt, ich

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wollte, ja. Und es war an einem Freitag, wo ich sie mal sehen durfte, aber weil ich nicht nach [...] konnte, weil ich am Wochenende schaffen musste, kamen sie dann extra zu mir runter.“

Nach elf Monaten brach Frau C. die Gärtnerlehre ab und zog zu ihrer Mutter. Zu ihrer „Familie“, von der Frau C. sprach, gehörte noch die ältere Schwester, die mit Mann und Kindern im selben Haus wohnte. Wo die Schwester gewesen war, als sie in Pflegefamilien lebte, wusste Frau C. nicht. Die dunkle Vergangenheit wurde offenbar in Gesprächen zu Hause kaum berührt. Nur dass der ältere Bruder „auch weg kam“ und „es auch nicht so gut gehabt hat da“, wusste sie.

Auch wenn sich mit der Rückkehr zur Mutter für Frau C. eine Sehnsucht erfüllt hatte, war der Anfang schwierig. „2006, 2007, so um den Dreh rum war’s. Da war ich bei meiner Familie, und die ersten zwei Wochen gingen ja super, keine Probleme. Aber da ich das Temperament von meiner Familie nicht kannte, war es halt schon schwierig, und das hat mich halt noch mehr runtergezogen.“ Frau C. war dann eine Zeit lang in einer psychiatrischen Klinik. „Dann hab ich da Gedichte geschrieben.“ Mit den Gedichten versuchte sie, sich „aufzubauen“ und Hoffnung zu machen: „Zum Beispiel der Satz: ‚Selbst der dunkelste Weg, irgendein Lichtlein kommt irgendwann.‘ oder so.“

Seit der Entlassung aus der Klinik lebte Frau C. mit ihrer Mutter zusammen, die als Putzfrau arbeitete und selbst nur ein geringes und unregelmäßiges Einkom-men hatte: „Manchmal ist es halt mehr, und manchmal ist es weniger. Wenn sie mehr verdient, dann nur dann, wenn sie für jemand anders einspringen muss und dann den ganzen Tag schaffen muss.“ Wenn die Mutter mehr verdiente, sank das Arbeitslosengeld von Frau C., verdiente die Mutter weniger, stieg es wieder. 2008 wurde Frau C. ein Ein-Euro-Job in der Cafeteria eines Krankenhauses zugewiesen. Ein Gespräch mit ihrem Fallmanager, in dem Frau C. Gelegenheit gehabt hätte, darüber zu reden, wer sie ist, was sie will und was sie braucht, ist dem nicht vo-raus gegangen. „Ich bekam einen Zettel, einen Brief, dass ich einen Ein-Euro-Job machen müsste, und ich wusste nicht, wo das ist und so.“ Auf meine Nachfrage, ob sie den Fallmanager zu dem Zeitpunkt noch gar nicht gekannt habe, erläuterte Frau C.: „Schon, ich kannte seinen Namen, und sein Aussehen hab ich auch mal gesehen, aber es ist halt so, dass ich da nicht viel zu tun hatte.“ Frau C. nahm ihren Fallmanager quasi in Schutz, indem sie mir erklärte, dass auch sie nie das Gespräch mit ihm gesucht, sondern den Kontakt zur Behörde aufs Unvermeid-liche beschränkt hätte. „Ja, dorthin zu gehen, hat mir immer so große Probleme bereitet, ich hab immer noch große Probleme damit, [...] (das ist so ähnlich wie

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früher beim) Jugendamt, das muss man halt machen, ich bin immer froh, wenn ich dann nicht so lange da drin bin.“

Frau C. trat den Ein-Euro-Job an und hatte Probleme mit den wechselnden Arbeitszeiten im Schichtdienst. Weil sie seit der missglückten Lehrzeit unter Schlafstörungen litt, gelang es ihr nicht immer, rechtzeitig aufzustehen, wenn sie frühmorgens arbeiten sollte. Zu spät zu kommen, wäre ihr aber so peinlich gewe-sen, dass sie dann lieber ganz weg blieb. Dies hatte zur Folge, dass sie einen neuen Wochenplan nicht bekam und nicht wusste, wann sie zur Arbeit eingeteilt war. Nach einem knappen Monat erschien sie nicht mehr in der Cafeteria. Im Laufe des Interviews wurde deutlich, dass es nicht nur die durch den Schichtdienst verstär-kten Schlafstörungen waren, die Frau C. daran hinderten, morgens aufzustehen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, sondern außerdem oder vorwiegend andere Probleme. Spaß gemacht hatte ihr die Arbeit in der Cafeteria „überhaupt nicht“. „Wenn ich morgens dort war, bin ich schier eingeschlafen, weil ich kaum was zu tun hatte, außer vielleicht ein paar Regale einzuräumen, und nachmittags in der Küche, Kaffeemaschine zu bedienen und so, da war es halt ständig hektisch, dann hatte ich immer Probleme, ob ich da was falsch mach.“ Ebenso wenig wie in der ALG II-Behörde hatte in der Cafeteria ein Gespräch über den Sinn ihres Einsatzes und über die an sie gerichteten Erwartungen stattgefunden. Auch sonst gab es keinen kollegialen Austausch. „Da gab es nicht wirklich so ein Gespräch wie jetzt hier (gemeint war die zum Interviewzeitpunkt aktuelle Ein-Euro-Arbeitsstelle). Da gab es eher nur-, morgens musst ich dort antanzen und dann haben sie mir gesagt die Zeit und haben auch gleich gesagt, dass der erste Tag, wo ich dort gearbeitet hab, nicht gezahlt wird.“ Auch für die ausbleibende Kommunikation in der Cafeteria übernahm Frau C., die es seit je gewöhnt war, sich schuldig zu fühlen, die Verantwortung: „Ich kam mit denen zwar nicht klar, aber es gab halt trotzdem keinen Stress, halt eher so, dass ich mich da von den Leuten zurückge-halten hab. [...]: Naja, ich hab halt immer manchmal so Probleme, Kontakte zu knüpfen, und so.“

Auch außerhalb der Cafeteria sprach Frau C. mit niemandem über ihr Problem. „Das ist eine Gewohnheitssache, dass ich da nie was sagen möchte.“ Auf meine Frage, ob die „Gewohnheit“ entstanden sei, weil sie in ihrem Leben schon so viel mit sich und ihren Gedanken allein gewesen sei, antwortete Frau C.: „Ja, ich hab ja nur meinen Hasen gehabt, mit dem ich über alles reden konnte.“

Was Frau C. in der Cafeteria gefehlt hatte, wurde deutlich, als sie über den Ein-Euro-Job sprach, den sie zum Interviewzeitpunkt bereits im neunten Monat

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innehatte, nachdem er nach dem ersten halben Jahr für ein weiteres halbes Jahr verlängert worden war. Hier hatte sie nicht nur eine gleichbleibende Arbeitszeit und abwechs lungsreiche Arbeit. Hier hatte sie insbesondere auch persönliche An-sprache: „Hier hat man schon viel zu sprechen gehabt. Man hat auch gleich-, also, man kann sich da auch duzen, war schon der erste Akt der Gelassenheit, man kann sich da wohlfühlen, so.“ An anderer Stelle ergänzte Frau C.: Die Leute sind halt hier auch viel netter. Man kann sich auch wohlfühlen und hat auch das Gefühl, dass man da auch richtig Spaß machen kann.“ Soziale Kontakte und ein gutes „Betriebsklima“ sind für die meisten Menschen ein wichtiger Faktor ihrer Ar-beitsmotivation. Für einen jungen Menschen wie Frau C. mit ihren überbordenden Einsamkeitserfahrungen und Verunsicherungen ihres Selbstwertgefühls waren sie von grundlegender Bedeutung. Seit sie den aktuellen Ein-Euro-Job hatte, konnte Frau C. auch dann morgens aufstehen, wenn sie nachts schlecht geschlafen hatte oder abends später als sonst ins Bett gegangen war.

Sich mit Frau C.s Motiven zu befassen, fehlte dem Fallmanager offenbar die Zeit, vielleicht auch die Qualifikation, jedenfalls die Gelegenheit. Es hatte nicht einmal eine persönliche Anhörung stattgefunden, bevor Frau C. drei Monate lang kein Geld mehr bekam, weil sie den Cafeteria-Job abgebrochen hatte. Vielmehr wurde Frau C., ohne dass ein Gespräch zwischen ihr und dem Fallmanager erfolgt wäre, eben dem Ein-Euro-Job in der Cafeteria erneut zugewiesen, mit dem sie so offensichtlich überfordert war. Da sie in der Cafeteria aber nach wie vor nicht mehr erschien, folgte die zweite Sanktion der ersten unmittelbar: Der Leistungs-entzug dauerte also nicht drei, sondern sechs Monate.

Die Schuldgefühle gegenüber der Mutter waren für Frau C. die schlimmste Auswirkung der Sanktionen. Denn die eben erst wiedergewonnene Beziehung zur Mutter war für Frau C. noch keineswegs fraglose Realität. Die explizite Beteue-rung der Beziehung macht es deutlich: „Meine Mutter sagte, ist ja in Ordnung, du gehörst ja zur Familie. Das Problem war, ich hab da so Schuldgefühle gehabt.“ Auf meine Nachfrage: “Die schlimmste Auswirkung für Sie von dieser halbjäh-rigen Leistungssperre war Ihr schlechtes Gewissen ihrer Mutter gegenüber?“, erläuterte Frau C.: „Ja, schon. Das lag halt daran, dass ich da seit Jahren nicht da war und dass ich dort unterm Dach leb und von ihrem Geld halt auch ess und so. Das war ein schlechtes Gefühl, wenn ich da nichts beisteuern konnte. Anfangs ging es ja noch, anfangs hatte ich ja noch ne Sparkasse und ein Girobuch gehabt und da war halt noch einiges drauf, von der Arbeit, die ich da jedes Mal gemacht hab, und dann hundert pro Monat halt ab aufs Sparbuch.“ Verglichen mit den

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Schuldgefühlen gegenüber der Mutter waren der Aufbrauch der Ersparnisse, die Bankschulden, die sie machte und zum Interviewzeitpunkt immer noch tilgte, und der Hunger, unter dem sie zeitweise litt, für Frau C. weniger belastend. Nicht ausgehen zu können, war für Frau C. kein Problem: „Ich halte es auch ohne Ausgehen aus.“ Als „erzieherisch wertvoll“ ist es kaum zu beurteilen, dass Frau C. die Pflege außerfamiliärer sozialer Kontakte, die ihr ohnehin schwer fiel, noch weiter erschwert wurde.

Auf die Idee, sich gegen die Zuweisung zu einem Ein-Euro-Job, dessen Zweck und Ziel nicht mit ihr besprochen worden war, oder gegen die Sanktionen zu wehren, kam Frau C. nicht. Vielmehr dachte sie, dass „das ja eigentlich meine Schuld war“. Immer wieder fiel mir in unserem Gespräch Frau C.s anhaltende Bereitschaft auf, sich schuldig zu fühlen.

Frau C. wollte sehr gerne noch mal eine Ausbildung wagen. „Das auf jeden Fall. Aber das Problem ist halt, ich muss erst rausfinden, wo meine Stärken sind und wo meine Schwächen sind, ja.“ Auf meine Frage, wer ihr dabei helfe, das herauszufinden, fiel ihr keine Antwort ein. Und auf meine weitere Frage, ob der Fallmanager sie denn bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle unterstütze, meinte sie „eigentlich nicht so, nee“.

Ihre Wachträume waren Frau C. immer noch sehr wichtig, um das seelische Gleichgewicht zu erhalten. Die Phantasieperson, die sie in diesen Träumen war, war „mutig, selbstbewusst, und sie gibt niemals auf, egal, wie schwer es ist, wie viel Schmerzen und Leid sie erlebt hat, dass sie den Schmerz nicht mehr spüren kann, und ja, dass sie trotzdem weiterkämpf. Sie ist nicht nur innerlich so eine Kämpferin, sondern auch äußerlich, und so besondere Kräfte halt so, ja. Ich liebe Drachen über alles.“

Frau D.: Die sagen mir halt, was ich machen soll.Frau D. war zwanzig Jahre alt, hatte einen Hauptschulabschluss, lebte seit zwei Jahren im Betreuten Jugendwohnen und bekam seit Herbst 2007 Arbeitslosengeld II.

Aufgewachsen ist Frau D. mit ihrem Vater und zwei älteren Geschwistern auf dem Bauernhof der Großeltern väterlicherseits. Frau D.s Mutter ist alkoholkrank. Die Trennung der Eltern erfolgte, als Frau D. noch sehr klein war. Kennen gelernt hat sie ihre Mutter erst vier Jahre vor unserem Gespräch.

Die Großmutter starb, als Frau D. acht Jahre alt war. Frau D. sagte, sie sei in einer „Männerwirtschaft“ groß geworden. „Mein Vater hat mich sozusagen an-

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ders erzogen, ich bin mit in den Wald, ich hab dreckige Sachen gemacht, meine Schwester, die ist die Feine geworden.“

Als Frau D. 18 war, zerstritt sie sich mit dem Großvater, verließ das Haus der Großeltern und zog zu ihrer Mutter, was aber offenbar nicht lange gut ging. Nach kurzer Zeit „auf der Straße“ bekam sie einen Platz im Betreuten Jugendwohnen. Kontakt zur Mutter hielt sie seither, so gut es ging, trotzdem. Da Frau D.s Vater und die älteren Geschwister die Mutter aber gleichsam ächteten, wollten sie wegen dieses Kontakts nichts mehr mit Frau D. zu tun haben. „Ich hab denen sogar einen Brief geschrieben, falls er (der Vater) sich in einem Monat nicht meldet, vergess ich ihn.“ Der Vater hatte sich nicht gemeldet, und Frau D. gab sich un-empfindlich: „Ja, aber das ist Vergangenheit. Ich versuch einfach, meinen Weg jetzt zu gehen.“

Welcher Weg der ihre sein könnte, lag für Frau D. jedoch noch ziemlich im Dunkeln. Nachdem sie Arbeitslosengeld II beantragt hatte, wollte das Jobcenter sie in die Holzwerkstatt eines Berufsförderungszentrums „reintun“, „hab ich aber nicht hingekriegt, morgens um fünf aufstehen, dann um sechs, halb sieben auf den Zug“. Dann wurde ihr ein Ein-Euro-Job zugewiesen, aber da hat sie „was Doo-fes“ gemacht, nämlich hundert Euro unterschlagen, „und weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, bin ich nicht mehr so oft hierher gekommen, hab absichtlich verschlafen“. Das führte dazu, dass sie aus diesem Ein-Euro-Job entlassen wurde. Gleich danach wurde ihr ein anderer Ein-Euro-Job zugewiesen.

Wie Frau C. sollte sie nun in der Cafeteria eines Krankenhauses arbeiten. Hier arbeitete aber – ebenfalls als Ein-Euro-Jobberin - bereits eine ältere Bekannte, mit der Frau D. offenbar wegen eines kleinen Eifersuchtsdramas tief zerstritten war. Frau D. hatte sich mit dem Freund der Bekannten „ziemlich gut verstanden“, aber „die hat halt gedacht, dass ich was von ihrem Freund will, obwohl der 25 Jahre älter ist als ich. Und dann hat sie mir gedroht, hat sogar eine andere Freundin auf mich hetzen wollen, sie hat dann auch noch gesagt, wenn ich nicht die Finger von ihm lass, bricht sie mir beide Beine, ich soll aus [...] (Wohnort) verschwinden.“ Als Frau D. erfuhr, dass diese Bekannte auch in der Cafeteria arbeitete, wollte sie da nicht mehr hin, und als sie es doch musste, sprach sie mit der Frau nichts. Dabei wäre sie darauf angewiesen gewesen, eben von dieser Kollegin, die sich in der Cafeteria bereits auskannte, Einweisung zu erhalten. „Dann musst ich immer warten, bis die Chefin da war, dass ich die fragen konnte, und das kam halt auch ein bisschen blöd bei den Kunden.“ Nach dem zweiten Tag ging Frau D. nicht

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mehr in die Cafeteria, wurde sanktioniert, bekam als unter 25-Jährige also für drei Monate kein Arbeitslosengeld II mehr.

Dass sie so bestraft werden würde, wusste Frau D., aber ihr war „das Geld egal“. Sie konnte die Situation trotz der drohenden Sanktion nicht aushalten. Glücklicherweise erhielt Frau D. eben in dieser Zeit eine Kindergeldnachzahlung, so dass sie ihre laufenden festen Kosten bestreiten konnte. Im Übrigen durfte sie öfter bei Freunden essen, und bekam von Freunden auch Lebensmittel geschenkt. Nicht ausgehen zu können und keine Kleider kaufen zu können, machte ihr nichts aus, weil sie ohnehin nicht gerne ausging und auch nicht gerne Kleider kaufte. Auf meine Frage, worin sie die Ursache solcher für 20-Jährige sehr untypischen Genügsamkeit vermute, verwies sie erneut auf die Umstände, unter denen sie aufgewachsen ist und sich „halt anders entwickelt“ hat. Sie fand, dass sie eher wie ein Junge geworden ist, „sieht man ja, kurze Haare, so fühl ich mich wohler als mit langen Haaren oder mit eng anliegenden Klamotten, das ist nix für mich“. Mit der Perspektive, eine Frauenrolle einzunehmen, tat sich Frau D. vermutlich auch deshalb schwer, weil Frauen in der „Männerwirtschaft“, in der sie groß geworden war, offenbar allgemein einen schlechten Ruf hatten. Sie berichtete: „Ja, und von meinem Vater der andere Bruder, der hat es wenigstens geschafft gehabt, eine Familie zu haben, aber die Frau ist auch abgehauen mit dem Kind. Tja, meine Familie hat Pech mit Frauen.“ Meine Nachfrage, ob sie lieber ein Junge wäre, weil die Familie „Pech mit Frauen“ gehabt hätte, bejahte Frau D.: „Ja. Nicht dass irgendein Kerl da Pech hat mit mir, dass ich dann auch weg bin.“

Die Kindheits- und Jugenderfahrungen prägten auch Frau D.s Wünsche an Arbeit. Sie möchte „draußen oder im Wald oder mit Tieren“ arbeiten, sagte sie. „Sobald irgendwas mit Tieren ist oder so, da bin ich gleich dabei.“ Sie glaubte, dass eine landwirtschaftliche Ausbildung ihr Spaß machen würde: „Mit dem Land-wirtschaftlichen, da bin ich auch groß geworden. Wir hatten ja selber einen Hof, und da bin ich halt sozusagen mit aufgewachsen, Kühe füttern und so.“ Dass sie solcher Arbeit auch körperlich gewachsen ist, wusste sie und erzählte über den aktuellen Ein-Euro-Job: „Am Anfang, als ich hierher kam, musste ich putzen. Und da hat man gesehen, bei mir hat man da gleich am Gesichtsausdruck gesehen, dass das nichts für mich ist. Und dann war halt ein großer Umzug nach Limburg, da hat man mich halt gefragt, ob ich schwer anpacken kann, ich sag, ja, kann ich. Dann durfte ich da das erste Mal mit zum Umzug. [...] Ja, und seit da bin ich auch außerhalb tätig, eigentlich nur noch außerhalb.“ In einer Cafeteria war Frau D. jedenfalls völlig fehlplatziert.

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Klar war für Frau D., sie will „irgendwann nen richtigen Beruf haben, ne Ausbildung gemacht haben und nicht nur einen Euro-Job da machen, um nicht immer vom Sozialamt da abzuhängen“. Auch sie wusste auf meine Frage, wer sie bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz unterstütze, keine Antwort. Und auf meine Nachfrage, was das Jobcenter oder ihre Fallmanagerin für sie tue, antwor-tete sie: . „Die sagen mir halt, was ich machen soll, dass ich regelmäßig hierher (zum Ein-Euro-Job) kommen soll, fertig. [...] Auch wenn sie unbedingt wollen, dass man von denen endlich loskommt und von denen kein Geld mehr braucht, aber helfen tun sie da eigentlich einem nicht.“

Herr E.: Und dann geh ich schaffen, und das freut mich.Herr E. war 47 Jahre alt, ausgebildeter Dachdecker, konnte aber wegen Arthrose im Kniegelenk nicht mehr „aufs Dach gehen“. „Ich hoff, dass ich mal ein neues Kniegelenk krieg, aber jeder Doktor sagt, ich bin noch zu jung dazu, trotzdem, dass ich bald fünfzig werd, ei, ich bin jetzt 47, [...], und ich möcht auf den Bau gehen.“

Nachdem Herr E. seine Ausbildung abgeschlossen und den Wehrdienst absol-viert hatte, hatte sein Nachbar „ein Dachdecker-Geschäft aufgemacht, und hat gefragt [...] und hat gesagt, und so, da kannst gleich anfangen“. Knapp zehn Jahre blieb Herr E. in diesem Betrieb, „dann hat es Schwierigkeiten gegeben. Des ist blöd. Sein Sohnemann hat auch noch gelernt bei uns, und der hat halt auch viel Scheiß gemacht und hat das meiste auf die Arbeiter-, (geschoben), und dann hat es Ärger gegeben.“ Danach arbeitete Herr E. zweieinhalb Jahre in einem Sägewerk, bis er diese Stelle verlor, weil die Auftragslage zu schlecht war.

„Und dann war ich wieder arbeitslos, und dann ist meine Mutter gestorben, und mein Vater war ein Pflegefall, und dann hab ich meinen Vater noch gepflegt. [...] Dann ist mein Vater gestorben, und mein Bruder [...], mein Bruder hat Selbst-mord probiert, [...], wenn er auch zehn Jahre älter ist als ich. Ich hab ja noch eine Schwester, die ist in Norwegen, die ist elf Jahre älter als ich.“ Herr E. war, wie er meinte, „nicht so wortgewandt“, aber das Stakkato, in dem er insbesondere an dieser Stelle sprach, lässt ahnen, wie sehr ihn die kurz aufeinander folgenden Schicksalsschläge in der Familie außer Atem brachten. Den Bruch in seiner Er-werbsbiografie vertiefte Herr E. anschließend noch: „Das elterliche Haus haben wir verkauft. Und dann hat man halt Geld gehabt, und dann hat man gesagt, ..

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lebst erst mal von dem Geld, was du hast. [...] Aber, wie soll man sagen-? Okay, ich bin Alkoholiker, das sag ich klipp und klar, ich war schon zweimal in einer Entziehungskur, aber es klappt halt nicht so.“ Wie und wann die Alkoholsucht, diese schleichende Krankheit, begann, blieb offen.

Das Geld war schneller aufgebraucht als gedacht, aber Herr E. fand nur noch Aushilfsjobs. Zum Interviewzeitpunkt war er seit sieben Jahren erwerbslos.

Arbeitslos war er nicht, als wir miteinander sprachen. Seit nahezu einem Jahr arbeitete er als Ein-Euro-Jobber in einer Beschäftigungsgesellschaft. „Ich bin im Holzlager, ich hab Verantwortung, und da hab ich irgendwie einen Auftrag. [...] und ich glaub, dass hier die zwei Kapos, die sind zufrieden mit mir, und der andere Chef, der sagt, dass ich meine Arbeit sauber mache, und ich komm auch mit den Arbeitskollegen gut aus.“ Der Ein-Euro-Job bot Herrn E. auch eine Art Geborgenheit: „Ich fühl mich wohl. Ich will ja schaffen. Aber mit 47, wo willst, wie willst, wo wollen wir denn da noch ne Arbeit finden. [...] Und hier, ich kenn die Leut, die grüßen[...], wo ich mal beim [...] geschafft hab oder als Modellschreiner, jeder hat nicht gegrüßt. Es ist halt doch ne kleine Familie, also ein Zusammenhalt, und den Zusammenhalt, den möcht ich nicht verlieren.“ Herr E. war zum Intervie-wzeitpunkt sehr unglücklich, dass sein Ein-Euro-Job wenige Tage später zu Ende sein würde und nicht gleich ein weiteres Mal verlängert werden konnte. „Ich freu mich halt jeden Tag, aufstehen, um halb fünf steh ich auf, und dann geh ich mit dem Hund raus, [...], und dann ziehe ich mich langsam an, also die Schaffklamot-ten, und dann geh ich schaffen, und das freut mich.“ Herr E. sagte, er würde den Ein-Euro-Job „sofort weitermachen“, obwohl er fand, „das ist ein Sklavenlohn. Ich muss aber genauso schaffen wie einer, der im Betrieb schaffen tut.“ Am Ende des Interviews brachte er seinen tiefsten Wunsch auf den Punkt: „Wenn ich nur eine richtige feste Stelle hätte“, und zwar am liebsten „auf dem Bau oder in der Landwirtschaft, [...]nicht in so ne stickige Fabrikhalle hinhocken“.

Bevor Herr E. den Ein-Euro-Job bekam, wurde er zweimal nacheinander, also für insgesamt sechs Monate, mit dem Entzug von dreißig Prozent der Regellei-stung dafür bestraft, dass er die von ihm geforderten fünf schriftlichen Bewer-bungen pro Monat nicht vorlegte. Erst als er schon im Ein-Euro-Job war, machte ihn die Sozialarbeiterin in der Beschäftigungsgesellschaft darauf aufmerksam, dass er „irgendeinen Schrieb gekriegt (hatte), und dann sind wir zu zweit rüberge-gangen. Den Zettel hätt ich nie unterschreiben sollen, i Säckl“48. Meine Nachfrage,

48 „i Säckl“, schwäbisch für „ich Dummkopf“

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ob es sich bei dem „Schrieb“ oder „Zettel“ um eine Eingliederungsvereinbarung gehandelt habe, bejahte Herr E.. Dass ihm die Verweigerung seiner Unterschrift unter die Eingliederungsvereinbarung kaum vor einer Sanktion geschützt hätte, sprach ich nicht an. Dass ihn die Sozialarbeiterin ins Amt, das in der Nähe der Beschäftigungsgesellschaft lag, begleitete, führte immerhin dazu, dass die bis dahin geforderten fünf monatlichen Bewerbungen auf drei reduziert wurden.

Seit er den Ein-Euro-Job ausübte, legte Herr E. die geforderten Bewerbungen regelmäßig vor, weil ihm die Sozialarbeiterin dabei half: „Da muss ich echt sagen, hier, wenn ich irgendein Problem hab, jetzt grad mit dem Schreiben, ich hab ja keinen Computer , [...], druckst mir dann drei, vier aus. Aber das muss man sagen, da ist die [...] (Sozialarbeiterin) echt, die ist in Ordnung. Der [...] und der [...] und der [...] (andere Festangestellte), die sind genau so in Ordnung. Wenn ich ein Problem hab, irgendwas wegzubringen, da helfen sie mit.“ Die Mitarbeiter des Beschäftigungsträgers halfen Herrn E. wahrscheinlich nicht nur beim Ausdrucken der Bewerbungen, sondern auch bei deren Abfassung. Ob Herr E. auch noch schriftliche Bewerbungen vorlegt, wenn ihm niemand mehr dabei hilft, scheint mir sehr fraglich.

Denn er besaß nicht nur keinen Computer, er konnte auch nicht damit umge-hen. Das dürfte sich inzwischen kaum geändert haben. Er hatte zwar drei Monate lang „so ein Ding, [...], mitgemacht, [...]halt so ne Fortbildung gemacht, mit Computer“, aber gelernt hatte er dabei nicht viel. „Ich kann mit dem Meterstab oder mit dem Hammer schaffen, aber ein Computer-, ich war ja froh, dass ich ihn einschalten konnte.“ Hinzu kommt, dass Herr E. Legastheniker ist. Der wichtigste Grund für Herrn E.s „Pflichtversäume“ war wahrscheinlich, dass er andere Ver-fahren der Stellensuche kannte und darauf vertraute: „Wenn ich irgendwo einen Job such und weiß, hoppla, dann ruf ich an und sag so und so, oder dann sagt der, bringst deinen Lebenslauf vorbei und fertig, aus. [...] Wenn ich irgendwohin gehe, wie es früher war, da ist man hin gegangen, zur Arbeit, hat gesagt, ich stell mich vor, da hab ich meinen Gesellenbrief, da meine Zeugnisse von den andern und dann, willst mich oder willst mich nicht. So war es früher mal, aber heutzutage ist das ja nicht so.“ Vermutlich sind in dem Arbeitsmarktsegment, in dem Herr E. gern eine Stelle fände, solche Bewerbungsverfahren auch heute noch eher die Regel als die Ausnahme.

Aber wie gesagt, seit Herr E. Ein-Euro-Jobber war, schickte er seine Bewer-bungen weg und nahm die schriftlichen Absagen entgegen, und er ärgerte sich über die Geldverschwendung. „Pro Schrieb krieg ich fünf Euro wieder, und in meinen

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Augen ist das so was Paradoxes. [...] das ist Geld rausgeworfen. Da krieg ich da einen Brief, und dann kommt das wieder zurück, ‚Dankeschön‘, nananananana und so. Das ist sinnlos. [...] Das ist Geld rausgeworfen.“ Dass die Behörde Geld für sinnlose Bewerbungen „rauswirft“, ärgerte Herrn E. um so mehr, als ihm Ar-beitskleidung und die Monatskarte, die er brauchte, um zu seinem Ein-Euro-Job zu kommen, nicht erstattet wurden. „Wir müssen unsere Arbeitsklamotten selbst zahlen. Okay, wir kriegen‘s ja billiger, dass wir gleich aussehen. Bloß Fahrgeld krieg ich auch nicht. [...] Das sind 49,50, die ich jeden Monat zahlen muss. Wenn ich hundert Stunden hab, dann schaff ich halt für fünfzig Cent.“

Das halbe Jahr, in dem ihm das spärliche Arbeitslosengeld II noch um dreißig Prozent gekürzt war, bewältigte Herr E. mit noch stärkerer sozialer Isolation als üblich: „Da hat man halt weniger gegessen, da ist man halt nicht mehr aus dem Haus gegangen, [...], und dann hast halt irgendwas gemacht, dann hast ein biss-chen gemalt auf Pappdeckel, [...] dann mach ich halt irgendwie meine Katzen, aus Pappdeckel mach ich halt irgendwas. Irgendwie muss es gehen.“

Als ich Herrn E. frug, wie er mit seiner Fallmanagerin auskäme, lachte er zum ersten Mal in unserem Gespräch und sagte: „Sie sieht gut aus.“ Nach kurzer Bedenkzeit fuhr er fort: „Ne, da fehlt irgendwie ein bisschen, wie soll man sagen, [...] da könnte man mal nachfragen oder so oder ‚kommen Sie mal wieder‘. Die paar Meter, die ich da rüber laufen muss, da fehlt es mir etwas, ein klein wenig mehr Kontakt oder so etwas. So, ‚Herr[...], da hätten wir da einen Job‘ oder so etwas. Das fehlt in meinen Augen. Da kommt zu wenig rüber.“

Herr F.: Ausbildung will ich keine mehr machen, erst mal.Herr F. war 22 Jahre alt und lebte zum Interviewzeitpunkt seit etwa einem Jahr in Baden-Württemberg in einer Einrichtung, die wohnungslosen jungen Menschen Unterkunft und unter Umständen auch darüber hinaus gehende Hilfen anbietet. Seit neun Monaten hatte er in dieser Einrichtung auch einen Ein-Euro-Job in der Haustechnik.

Aufgewachsen ist Herr F. in Ostdeutschland, wo er, ebenso wie seine vier älteren Geschwister, in verschiedenen Heimen untergebracht war. Der Unterbrin-gung in einem Säuglingsheim folgte nach etwa drei Jahren, nach der „Wende“, die Unterbringung in einem Kinderheim der Caritas, die nach etwa fünf Jahren eine neue Einrichtung eröffnete. Mit 18 kam Herr F. ins Betreute Jugendwohnen einer staatlichen Einrichtung.

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Ursache für die Heimunterbringung der Kinder war die Gewalttätigkeit des Vaters. Selbst an „Besuche“ bei den Eltern, die zu Weihnachten und anderen „Feiertagen“ stattfanden, erinnerte sich Herr F. nur mit Schrecken. „Man hatte auch öfters das gesehen, die Wunden. Wie zum Beispiel, ich war acht Jahre, es war eines Sonntags, da-, sonntags sind wir immer wieder in die Einrichtung zurück gefahren, unsere Mutter hat noch mal geduscht und alles Mögliche, was dazu gehört, und meine Mutter wollte mich baden. Ne, ne, das war Weihnachten, und da wollte meine Mutter mich baden, und das hat mein Vater mitgekriegt, und der hat immer wieder seine Aggressionen nicht in die Tasche stecken können, sondern hat‘s mal wieder rausgelassen, und unser großer Bruder, der wenigstens was im Leben geschafft hat, der nicht so misshandelt wurde wie wir, war nicht da, der war grad zu der Zeit in Irland, glaub. Da kam mein Vater rein, meine Mutter wollte mir grad die Haare waschen, wollt sie grad mit sauberem Wasser abspülen, wie man es halt macht, und mein Vater hat gesagt, nein, das macht man nicht so, das gehört sich nicht, hat er mich mit dem Kopf unter Wasser gehalten, und mehrere Minuten hab ich’s unter Wasser aushalten müssen. Theoretischer Weise, hätten wir nicht genug Leute gehabt, wär ich heute nicht da. Also, mein Vater hätt es beinah geschafft, aber ich hatte so einen guten Willen, dass ich durchkomme. Ich hatte dann halt Kratzer, Verletzungen, und so, wo ich dann im Heim ankam, wussten schon wieder die Betreuer-.“

Die Mutter war offenbar auch nicht in der Lage, die Kinder vor den Miss-handlungen des Vaters zu schützen. Von ihr sagte Herr F., dass der Vater sie „so kaputt gemacht“ habe.

Herr F. besuchte eine Förderschule für Kinder mit Lernbehinderung und absol-vierte danach das Berufsvorbereitungsjahr, wo es ihm gelang, den Hauptschulab-schluss nachzuholen. Danach absolvierte Herr F. einen einjährigen Förderlehrgang, zu dem auch Praktika in der Gastronomie gehörten. Dem folgte der Beginn einer Ausbildung zum Beikoch in einer überbetrieblichen Ausbildungseinrichtung. Eine eigene Entscheidung von Herrn F. ging dem nicht voraus: „Man ist verpflichtet, ja und Amen zu sagen, wird reingezwungen, ich konnte nicht mal was sagen, der Fallmanager vom Amt, der hat dann gesagt, so, du machst die Ausbildung, im September fängt die an.“ Das war 2006 gewesen.

Vier Monate nach Ausbildungsbeginn wurde Herrn F. gekündigt, weil er nicht mehr in den Ausbildungsbetrieb ging, nachdem er sich gesagt hatte: „Ich verschlaf’s mit Absicht, bis ich die Kündigung kriege. Bis es einen Grund gibt, dass ich nicht mehr dorthin gehen muss.“

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Die Gründe, warum er „nicht mehr dorthin“ wollte, waren vielfältig und verworren, und Herr F. selbst überblickte es offenbar noch nicht, welche Gründe ausschlaggebend und welche nachrangig waren und ob und wie die verschiedenen Gründe miteinander zusammenhingen. Als er mir seine damalige Situation zu erklären versuchte, verlor er immer wieder den Faden, setzte an anderen Stellen unseres Gesprächs zu anderen Erklärungsversuchen an.

Ein belastender Faktor der Situation, in der Herr F. die Ausbildung machen sollte, war das Wohnumfeld. Herr F. hatte zu dieser Zeit eine eigene Wohnung, die aber offenbar im „sozialen Brennpunkt“ lag. Herr F. beschrieb, dass es „in dem Viertel drastische Änderungen gab, Drogenprobleme hatten dort welche, dann gab es halt Kampf öfters, dass Leute sich – das ist jetzt keine Lüge oder so – Leute sich umgebracht haben sogar, weil die ganz genau wussten, dass die Polizei hinter ihnen her ist, nachts ist sogar die Polizei durch das Viertel gefahren, oder öfters Großeinsätze von SEK, so in der [...]straße, weil da nämlich auch welche wohnten.“ Und in diesem Viertel gab es „Personen [...], die vor meiner Haustür gelauert haben, wenn ich rauskomme und mir eine drücken wollten. Die wollten mir eine auf die Fresse hauen, weil die was gegen mich hatten, weil ich die Ausbildung gekriegt hab oder viele Leute das nicht verstanden haben, warum ich ne Ausbildung mache.“ Herr F. ging öfter nicht zu seiner Ausbildungsstelle, weil er sich nicht aus dem Haus traute. „Der Stalker [...] konnte mich halt nicht leiden, weil ich ne andre Art hab, ich bin anders erzogen.“

Dass er „ne andre Art“ habe, stellte Herr F. zutreffend fest. Er wirkte sehr weich und mädchenhaft. Vermutlich bot er sich als Opfer diffus motivierter Ag-gressivität geradezu „an“. Andere Jugendliche in seiner Situation, so meinte Herr F., „schaffen es nicht aus dem Bett, weil sie denken, juhu, ich bin über 18, ich kann machen, was ich will. Aber so war das nicht bei mir.“

Ein anderer Grund dafür, dass Herr F. die Ausbildung nicht weiterführen wollte, war offensichtlich Überforderung in der Ausbildung selbst. Zum einen fand er die Erklärungen der Ausbilder oft nicht gut: „Wenn du die gefragt hast, wie wird das gemacht, dann haben manche Leute selber überlegen müssen, obwohl ein Ausbilder von einer auf die andere Minute die richtige und die einfachste Art sagen muss.“ Zum anderen hatte er das Gefühl, von den anderen Auszubildenden zu sehr in Anspruch genommen zu werden, weil er durch seine vorangegangenen Praktika schon viel wusste. „Und nun war es halt so gewesen, dass ich in meiner Ausbildungsklasse, weil ich mehr wusste meistens und die Leute mir hinterher ge-rannt sind, weil sie alles wissen wollte, was ich wusste. [...] Und die Leute kommen

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zu dir, aber irgendwann mal geht es dir auf den Keks, dann schaffst du nämlich dein Zeug nicht, du kriegst die Praxis hin, aber deine Theorie nicht. In der The-orie hatte ich mehrere Vieren dadurch.“ Vermutlich hatten die – wie auch immer verursachten – schlechten Noten stärker zu seiner Demotivierung beigetragen, als dies Herrn F. während unseres Gesprächs bewusst war. Wie diskriminierend er es fand, Abgänger einer Förderschule zu sein, klang an mehreren Stellen des Interviews an. Er hatte zum Beispiel den Eindruck, dass die Arbeitsverwaltung für Absolventen von Förderschulen nur „minderwertigere“ Ausbildungen in Be-tracht zöge: „Ich werd auch immer in der Reha bleiben, also wenn ich jetzt ne Ausbildung mache, ich werde immer sozusagen eine minderwertigere Ausbildung machen, als man mich einstufen würde. [...] Weil alle Abgänger Förderschule, egal, ob sie einen Hauptschulabschluss nachgemacht haben, immer in der Reha bleiben, weil das Amt sagt, angeblich würden sie mit diesen Anforderungen, die auf einen zukommen würden, nicht klarkommen.“

Herr F. wurde vom SGB II-Träger für die – aus Sicht der Behörde von ihm verschuldete – Kündigung der Ausbildungsstelle mit einem dreimonatigen voll-ständigen Entzug der ALG II-Regelleistung bestraft. Er bekam in dieser Zeit zwar Lebensmittelgutscheine, konnte aber, was für ihn schlimm war, nirgends hinfah-ren, um eine andere Wohnung zu suchen, so dass er nicht „aus diesem Mobbing-Verhältnis rauskommen“ konnte.

Eine besonders kontraproduktive Auswirkung der Sanktion ist Herrn F.s an-haltende Angst davor, wieder eine Ausbildung zu wagen: „Ich bin 22 [...] mitt-lerweile, und in der Zeit hab ich noch keine Ausbildung gemacht, ich weiß auch nicht, ob ich noch mal eine mach. Diese Bestrafung, die es da geben tut, mit diesen Drohungen-, [...]mit diesen Folgen, und was in den drei Jahren alles passieren kann, dass du gemobbt wirst oder, wenn du keine Familie hast, dass du sagen kannst, okay, mich kotzt die Ausbildung an, ich kann wenigstens zu der Familie zurück.“ Zu solchen Überlegungen kam er im Laufe des Interviews immer wieder zurück, indem er zum Beispiel ausführte: „Seitdem ich das durchgemacht hab, [...], dass man mal weiß, wie eine Kürzung ist, dass man davon reden kann und dass die Leute, denen mal knallhart ins Gesicht zu sagen, eh Leute, guckt, wenn ihr ne Ausbildung macht, guckt, ob ihr die Ausbildung auch schaffen werdet, das hab ich schon einigen gesagt, die haben dann Angst gekriegt. [...] Wenn du das einmal durchgemacht hast, machst du nicht noch mal den Fehler und sagst ja beim Amt, ich mach ne Ausbildung.“

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Nachdem der Sanktionszeitraum beendet war, hatte Herr F. zusammen mit einer Schwester, zu der er als Jugendlicher Kontakt gesucht und gefunden hatte, eine Wohnung bekommen. Dort stellten sich neue Probleme ein, über die hier zu berichten zu weit führen würde. Beide gingen jedenfalls „freiwillig auf die Stra-ße“, schlugen sich nach Südwest-Deutschland durch und gelangten schließlich in die zu Beginn dieser Skizze erwähnte Einrichtung. Hier machte Herr F. die positive Erfahrung, dass er bei der Zuweisung zum Ein-Euro-Job und während dessen Durchführung mitreden konnte: „Da konnt ich mitsprechen, da haben sie gefragt, was ich machen will, wie ich es machen will und weshalb, was für ein Ziel, und die fragen mich immer wieder, was für ein Ziel hast du eigentlich, wenn du hier arbeitest.“ Aber Herrn F.s Angst davor, sich auf etwas festlegen zu lassen, war geblieben: „Ich sage kein Ziel, ich lass es auf mich zukommen [...], weil die auch davon ausgehen, dass ich vielleicht in dem Bereich, wenn es mir Spaß macht, eine Ausbildung machen würde.“

Herr G.: Wir reden einfach nicht.Herr G. war 21 Jahre alt. Er ist zwar in Deutschland aufgewachsen, hatte aber die portugiesische Staatsangehörigkeit. Er hatte die Hauptschule nach neun Schul-jahren ohne Abschluss verlassen, fing mit 16 an, Cannabis zu rauchen, lebte ein Jahr lang bei der Großmutter in Portugal, kam mit 17 wieder zurück. Als er 18 war, setzten ihn die Eltern wegen seines anhaltenden Cannabiskonsums vor die Tür. Seither lebte er in einer Einrichtung, die jungen Menschen „mit sozialen Schwierigkeiten“ im Sinne des SGB XII Obdach bietet. Er besuchte seine Mutter gelegentlich, wobei es aber keinerlei Kommunikation mit dem Vater gab: „Ich geh schon nach Hause, aber ich red nicht mit meinem Vater, mein Vater ist im Wohnzimmer, wir reden einfach nicht.“

Eine Ausbildung hatte Herr G. nicht absolviert. In den vergangenen Jahren hatte er immer mal wieder Jobs als Verkäufer bei Internetdienst- und Mobilfunk-anbietern; dazwischen war er arbeitslos. Zum Interviewzeitpunkt war er wieder seit 2 ½ Monaten ohne Arbeit.

2008 bekam Herr G. in einer Phase der Arbeitslosigkeit für drei Monate kein Arbeitslosengeld II. Sanktionsgrund war seiner Ansicht nach ein versäumter Ter-min beim psychologischen Dienst des Arbeitsamtes. Er hatte diesen Termin nicht wahrgenommen, weil er am betreffenden Tag arbeitete.

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Ich frug ihn, ob die ARGE nicht auch noch etwas anderes von ihm erwartet hätte, was er unterlassen hätte, weil ein Terminversäumnis normalerweise nur mit einer Leistungskürzung von zehn Prozent sanktioniert würde. Aber er antwortete: „Ich hatte da ein paar Sachen vom Arbeitsamt bekommen, was ich machen mus-ste, [...], und zum psychologischen Dienst bin ich nicht hingegangen, und dann haben Sie mir gekürzt.“ Die zweite Verpflichtung, die ihm auferlegt war, war ein Gespräch bei der Drogenberatung. Dieser Verpflichtung ist er nachgekommen. Welches die dritte Verpflichtung war, konnte er sich nicht erinnern, war aber überzeugt, dass er die ebenfalls erfüllt hätte.

Möglicherweise ist die 100-Prozent-Sanktion tatsächlich deswegen erfolgt, weil Herr G. einen Termin beim psychologischen Dienst nicht wahrgenommen hat und dies vom zuständigen Behördenmitarbeiter als Weigerung, „in der Ein-gliederungsvereinbarung festgelegte Pflichten zu erfüllen“49, interpretiert wurde. Einen Hinweis hierauf liefert seine meinen Nachfragen folgende Formulierung: „Drei Dinge musste ich machen, und ich hab das vereinbart mit denen, wenn ich das nicht mach, krieg ich die Kürzung.“

Aus dem, was Herr G. mir sagte, bin ich nicht schlau geworden. Seine großen Schwierigkeiten, sich mitzuteilen, folgen offenbar daraus, dass er selbst nicht versteht, was andere von ihm wollen und was er selbst will. In keinem anderen Interview ist so häufig der Satz, „ich weiß nicht“, gefallen. Auf die Frage, warum er nach einem Jahr bei der Großmutter wieder aus Portugal zurückkam, obwohl er zunächst dachte, „dort ist besser zu leben“, antwortete er: „Ich weiß nicht. Ich wollte nicht dort bleiben. Ich war dort ein Jahr, und dann irgendwann war’s zu viel, keinen Bock mehr gehabt.“ Auf die Frage, ob er gern eine Ausbildung machen würde, antwortete er: „Ich weiß nicht, was bringt.“ Auf die Frage, was ihn seiner Vermutung nach beim psychologischen Dienst erwarte, für den zum Interviewzeitpunkt ein neuer Termin anstand, antwortete er: „Ich weiß nicht, ich weiß nicht, was die so machen, Deutschtest, ich weiß nicht, was die machen so. Ich geh einfach da hin, mach das ganz kurz und dann geh ich und dann hab ich das hinter mir.“ Auf die Frage, wie er mit seinem persönlichen An sprechpartner im Jobcenter klar käme, antwortete er: „Ich weiß nicht. Wir sehen uns fast kaum, der schreibt ab und zu mal einen Brief ganz kurz.“ Auf die Frage, ob es kein Gespräch im Jobcenter gegeben habe, bevor die Sanktion verhängt wurde, antwortete er: „Ich weiß nicht, was die machen, die machen einfach so Kürzungen,[...], mach

49 § 31 Abs. 1, Satz 1, Nr. 1, Punkt b) SGB II

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ich mir nicht allzu viel Kopf, geh ich halt mit dieser Kürzung einkaufen.“ („Mit dieser Kürzung einkaufen“ zu gehen, bedeutet, Lebensmittelgutscheine einzu-lösen.) Auf die Frage, was ihm noch einfiele zum Thema „Jobcenter und ALG II“, wie es ihm damit ginge, antwortete er: „Ich kenn mich nicht so viel aus mit Hartz IV, wie soll ich sagen, ich kümmer mich nicht so. Ich weiß nichts. Ich mach immer meine Sachen, was ich machen muss, und was ich nicht machen muss, mach ich nicht.“

Die dreimonatige ALG II-Einbuße zu verkraften, fiel Herrn G. offenbar nicht sonderlich schwer. Er löste Lebensmittelgutscheine ein oder gab sie seiner Mutter, die damit einkaufen ging und ihrem Sohn den Gegenwert in bar gab. Auch darüber hinaus bekam er von der Mutter etwas Bargeld geschenkt oder geliehen. „Schlimm war es nicht. Essen hat ich, Bett hat ich auch, trotzdem, man lebt.“

Eine „erzieherische Wirkung“ erzielte die Sanktion bei Herrn G. kaum. Was ihm – vermutlich schon lange - fehlte, sind Gesprächs- und Interaktionspartner, die ihn herausfordern und sich von ihm herausfordern lassen. Ein Vater, der sich schweigend ins Wohnzimmer verzieht, half ihm so wenig wie eine Behörde, die gelegentlich amtliche Schreiben verschickt.

Herr H.: Wenn man irgendwie mal in so einen Kreislauf von so nem Sozialbereich kommt ...Herr H. war zum Interviewzeitpunkt 25 Jahre alt. Aufgewachsen ist er in Berlin. Als Herr H. 13 Jahre alt war, zog die Mutter mit den beiden jüngeren Geschwi-stern zu einem neuen Freund nach Baden-Württemberg. „War auch eigentlich ne gute Entscheidung, weil meiner Mutter ging es hier anfangs echt viel besser“, sagte Herr H. im Interview, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Mutter schon seit ein paar Jahren verstorben war. Ob er als Dreizehnjähriger die Entscheidung der Mutter auch gut fand, ist zweifelhaft.

Herr H. blieb in Berlin beim Vater, der „auf Schichten arbeiten“ war, so dass Herr H. oft sich selbst überlassen war. „Davor war meine Mutter zuhause und hat geguckt nach Hausaufgaben oder irgendwie so.“ Jetzt war für Herrn H. „High-life“, was dazu führte, dass er den Hauptschulabschluss nicht schaffte.

Nach vergeblicher Ausbildungs- und Arbeitssuche in Berlin zog Herr H. 2001 zu Mutter und Geschwistern nach Baden-Württemberg. Hier holte er den Haupt-schulabschluss nach und begann eine Ausbildung. Die Mutter war inzwischen an Krebs erkrankt. Sie „ist dann auch an der Krankheit verstorben, und das hat mich dann irgendwie ein bisschen, ich weiß nicht-, und ich hab auch nicht mehr

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zuhause gewohnt gehabt, und ich musste immer trotzdem zuhause sein, weil sie konnte nicht mehr laufen und alles.“

Die Belastung durch die Erkrankung, „vor allem, wo sie uns gesagt hatte, dass sie austherapiert ist“, die Hilfebedürftigkeit und den Tod der Mutter führten dazu, dass Herr H. die Ausbildung nach einem Jahr abbrach. Beruflich festen Tritt zu fassen, war Herrn H. seither noch nicht gelungen.

Zuletzt war er 2008 für fünf Monate als Leiharbeiter beschäftigt gewesen. Die Arbeit, die er in „Lager und Produktion“ zu verrichten hatte, machte ihm Spaß. Er bewarb sich in dem Entleihbe trieb auch für eine Ausbildung. Herr H. wohnte damals in einer Wohnung, für die er nur einen befristeten Mietvertrag hatte. Zwei Wochen, bevor dieser Vertrag auslief, hatte er immer noch keine an-dere Wohnung gefunden. Auch ans Jobcenter wandte sich Herr H. wegen seiner Wohnungsnot, bekam jedoch keine Unterstützung, weil er „jetzt nicht mehr von denen [...] abhängig“ war und sich deswegen „alles selber suchen“ sollte. Um intensiv nach einer Wohnung suchen zu können, kündigte er seinen Job, wobei er im Zeitarbeitsunternehmen die Auskunft erhielt, er könnte sich „sofort wieder melden“, wenn er eine Wohnung gefunden habe. Dass „sich melden“ zu können, nicht bedeutet, Arbeit zu bekommen, bedachte Herr H. nicht.

Die Wohnungssuche blieb auch – oder erst recht – ohne Arbeit erfolglos. Herr H. fand für zwei Wochen noch Unterschlupf bei seiner Schwester und ging wieder zum Jobcenter. Arbeitslosengeld II blieb ihm aber, da er seinen letzten Job selbst gekündigt hatte und noch nicht 25 Jahre alt war, erst einmal für drei Monate völlig versagt. „Aber dadurch haben sie mir wieder irgendwas vermittelt, wo ich halt wohnen konnte.“ Herr H. bekam ein Zimmer in einer Einrichtung für wohnungslose junge Menschen.

Die drei Monate, in denen er kein Geld bekam, waren für Herrn H. eine schlimme Zeit. Die Einlösung der Lebensmittelgutscheine erlebte er als sehr pein-lich, darüber hinaus fühlte er sich „gefesselt in der Wohnung“. Ab und zu fuhr er schwarz.

In dieser trostlosen Zeit kam an einem Wochenende, nachdem Herr H. „etwas getrunken“ hatte, ein „Typ“ in sein Zimmer. „Das hat sich alles ganz leicht ange-hört so, der Typ hat gesagt, ‚es ist schon alles (unverständlich), wir brauchen nur noch hingehen und Geld holen‘ und was weiß ich. Und ich halt in meinem Tran, hab kein Geld sowieso-. Herr H. ist „da halt mit“ und hat Schmiere gestanden, während der „Typ“ in einen Kiosk einbrach, dessen Scheibe er schon eingeschla-gen hatte, bevor er sich einen „Komplizen“ suchte. Der „Typ“ versprach, das

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Geld, das er im Kiosk finden wollte, mit Herrn H. zu teilen. „Für mich war das gut“, berichtete Herr H., „weil ich hab in dem Moment eh kein Geld gehabt, da hab ich mir gedacht, ja, ich geh zwar nicht mit rein, ich komm mit, aber ich geh da nicht rein, ich bleib da stehn vor.“ Herr H., der nach meinem Eindruck ein sehr intelligenter junger Mann ist, muss in dieser Situation stark benebelt gewesen sein, sonst hätte er gewusst, dass auch Kioskbesitzer ihre Einnahmen zur Bank tragen. Zu Geld kamen die jungen Männer jedenfalls nicht, aber zu einer Anzeige wegen Einbruchs, weil sie bei der Tat beobachtet wurden. Herr H. wurde zu einer fünfmonatigen Haftstrafe verurteilt, die für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Er litt sehr unter der Situation: „Ich hab auch noch nie davor geklaut oder irgendwelche Sachen, was gibt es denn noch, Körperverletzung oder irgendwie sowas, ich hab noch nie vorher mit Polizei zu tun gehabt. [...] Ich hab’s geschafft, 24 Jahre straffrei zu sein, aber dann kommt irgendein Moment mal, wo ich mich eigentlich zusammengerissen hätte sonst immer oder wo ich gesagt hätte, ‚ach geh raus, mach das alleine, damit will ich nichts zu tun haben‘, aber den Tag war’s halt nicht so, [...] ich will nicht vorbestraft sein, das ist so ein Scheiß-Klischee schon dann.“ Und an anderer Stelle unseres Gesprächs ergänzte er: „Ich würd nie irgendwie so anderen Leuten irgendwie was machen, so war ich noch nie gewesen, werd ich auch nie sein. Mein Problem war immer ich selber. Ich hab mir immer selber Beine gestellt so, in manchen Sachen.“ Herr H. hatte, als wir miteinander sprachen, große Angst davor, dass die Strafaussetzung zurückgenommen werden könnte: „Jetzt kommen mir von irgendwann mit Schwarzfahrten, die ich vor zwei Jahren gemacht hab und so, das kommt jetzt halt auch, drei Stück von irgendwann aufgelistet jetzt. Die letzte war im Dezember letztes Jahr, okay, das war die letzte, aber davor, das war, das eine war 2007, das andere war 2008 noch.“

Herr H. resümierte: „Ja, es ist halt schwer, wenn man irgendwie mal in so, wie soll man sagen, in so einen Kreislauf von so nem Sozialbereich kommt oder überhaupt so Jobcenter, irgendwelche Einrichtungen, dann kommt vielleicht noch Polizei dazu oder irgendwelche Sachen, dann ist das irgendwie so ein Kreislauf. Man probiert, aus der einen Lücke so rauszukommen, okay, kommst wieder, aber in ner andern sackst de wieder ab, weil irgendwie was ist.“

Dabei wollte Herr H. alles lieber als „absacken“. Er wünschte sich sehr eine Ausbildungsstelle oder eine „feste“ Arbeit. „Eigentlich wär mir schon lieber, noch mal ne Ausbildung, das ist mir eigentlich grad so am wichtigsten, das, was ich schon am längsten mit rumziehe.“ In der Zeit, als wir das Interview führten, nahm

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er an einem Bewerbungstraining teil, von dem er hoffte, dass es ihm nützen würde, einen Ausbildungsplatz zu finden.

Herr I.: Die sagen das alles immer so leicht.Herr I. war zwanzig Jahre alt. Als 16-Jähriger hatte er die Schule mit Hauptschul-abschluss verlassen und danach eine einjährige Ausbildung als Restaurant-Fach-helfer gemacht. Nach Abschluss dieser Ausbildung mochte er in der Gastronomie wegen der Arbeitszeiten nicht mehr arbeiten. „Morgens arbeiten, dann mittags frei, dann nachmittags wieder kommen bis nachts“ ließ eine jungendtypische Lebensgestaltung kaum zu. Herr I machte dann „Gelegenheitsjobs [...], mal hier, mal da“. Zu den „Gelegenheitsjobs“ gehörte auch der Handel mit Drogen. Damit ist er jedoch anderen Verkäufern „in die Quere gekommen“. Sie sagten ihm, dass er sich „aus der Stadt verziehen“ solle oder „was erleben“ könnte. Er „verzog“ sich in eine andere Stadt, wo er in einer Einrichtung für junge Wohnsitzlose Aufnahme fand. Hier lebte er auch zum Interviewzeitpunkt noch.

Am neuen Wohnort holte ihn die Vergangenheit jedoch rasch ein. Er wurde wegen einer noch am alten Wohnort erfolgten Schlägerei mit gefährlicher Kör-perverletzung „mitangeklagt“. Es war ihm in unserem Gespräch wichtig, her-vorzuheben, dass er nicht der Hauptbeschuldigte war. Nach fünfmonatiger Un-tersuchungshaft wurde ihm der Rest der insgesamt 18-monatigen Haftstrafe zur Bewährung erlassen.

Nach Entlassung aus der Haft fand er mithilfe seines Stiefvaters sofort Arbeit als Gerüstbauer im selben Betrieb, in dem auch der Stiefvater arbeitete. Nach einigen Monaten wechselte er als Mitarbeiter einer Leiharbeitsfirma zu einem anderen Gerüstbauunternehmen. Im Spätherbst 2008, nachdem er insgesamt ein knappes Jahr im Gerüstbau gearbeitet hatte, gelang es ihm nicht mehr, morgens rechtzeitig aufzustehen: „Also, ich hab morgens um fünf aufstehen müssen und nach [...] fahren und die Arbeitszeiten, die sind ab und zu 14 Stunden am Tag gewesen.“ Er bekam die Kündigung und vom Jobcenter erst mal drei Monate lang kein Arbeitslosengeld II, sondern lediglich Lebensmittelgutscheine.

Die Gutscheine einlösen zu müssen, war schlimm für Herrn I.: „Hab mich ziemlich geschämt jedes Mal, wenn ich da an der Kasse stehe und ne Riesen-schlange hinten dran ist und [...], es ist einem peinlich, es ist echt peinlich, und dass die vom Jobcenter jemanden so demütigen dürfen, sag ich jetzt mal, weil es ist demütigend, ich find das nicht in Ordnung.“ Auf meine Frage, was er unter-nommen habe, um an etwas Bargeld ranzukommen, antwortete er: „Ich hab das

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meistens so gemacht: Ich hab die ganzen Lebensmittelgutscheine genommen, hab mir zwei Einkaufswagen voll gemacht mit PET-Flaschen Wasser und hab auf die dreißig Prozent Verlust geschissen und hab mir Wasserflaschen gekauft und hab dann das Pfand direkt danach abgegeben, nachdem ich die Flaschen ausgeleert hab. [...] Die dreißig Prozent, die ich da Verlust gemacht hab, waren mir egal, Hauptsache, ich hab ein paar Groschen in der Tasche.“

Bei Herrn I. bewirkte die Sanktion im Wesentlichen, dass er die Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter des Jobcenters für „Pappnasen“ hält, die von andern Arbeit erwarten, die sie selbst nicht machen müssen. Er sagte: „Klar, ich würd meinen Job auch nicht aufgeben, wenn ich mir den ganzen Tag den Arsch breit drücken müsst aufm Stuhl, dann würd ich meinen Job auch nicht aufgeben. Und wenn ich für vier Stunden Arbeit dasselbe kassier wie einer, der acht Stunden oder zehn Stunden auf der Baustelle knechtet. [...]. Ich mein, die sagen das alles immer so leicht.“ Herr I. verdiente im Gerüstbau einschließlich Höhenzulage 8 Euro brutto in der Stunde.

Herr I. wollte gern noch eine Ausbildung machen, denn „irgendwann muss ich ja mal zu was kommen“. Und obwohl er fand, dass die Arbeit im Gerüstbau „ein Knochenjob“ war, wollte er eine Ausbildung gern in diesem Bereich machen: „Ich würd schon gern auf der Baustelle bleiben, also irgendwas in die Richtung, Stuckateur oder eben Gerüstbauer.“

Zum Interviewzeitpunkt stand ihm aber erst einmal eine Operation an der Lendenwirbelsäule bevor, weil er starke Schmerzen am Steißbein hatte. Zu meinen Bedenken, ob er wohl wieder auf dem Bau würde arbeiten können, wenn er sich als 20-Jähriger bereits an der Wirbelsäule operieren lassen müsse, meinte er: „Ich denk mal, wenn sich dann der Rücken so weit wieder aufgebaut hat, dass wieder ein bisschen Muskulatur da ist, die das ganze Ding zusammenhält, werd ich da keine Probleme mehr haben. [...]Am besten noch abends nach der Arbeit eine Stunde Rückentraining, und dann funktioniert das auch alles.“

Für Herrn I. war ausgemacht, dass er sich auch seine nächste Arbeitsstelle oder gar eine Ausbildungsstelle selbst suchen würde: „Auf die vom Jobcenter kann man sich wirklich nicht verlassen, was Arbeitssuche angeht.“

Herr J.: Ich sag, da kann man doch anrufen.Herr J. war 53 Jahre alt und lebte allein in einer kleinen Einzimmerwohnung.

Aufgewachsen ist Herr J. in der DDR, wo er beim Großvater „Melker gelernt“ hat. Nach dreijähriger Haft in der Strafanstalt Bautzen kam er 1984, also mit 28

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Jahren, mit seiner Frau und einem damals 5-jährigen Kind als Flüchtling in den Süden Westdeutschlands. Hier fand Herr J. Arbeit in einem Schlachthaus.

Es kamen zwei weitere Kinder zur Welt. Die Ehe scheiterte, Herrn J.s Frau ging zurück nach Ostdeutschland, die Kinder blieben zunächst beim Vater. Das Schlachthaus wurde nach einigen Jahren geschlossen. Danach hatte Herr J. für kurze Zeit Arbeit in einer Bäckerei. Anschließend versuchte Herr J. sich noch als Zeitschriftenabonnementwerber. „Von Tür zu Tür tingeln und so. Und da bin ich reingefallen, es stand drin, Zeitungen verteilen, hab ich gedacht, ja, gut, bewerb ich mich doch da, und dann bin ich sozusagen betteln. [...] Ich musste Zeitungen ausgeben, also [...] und da musst ich irgendwas sagen, bin Student oder ich komm grad vom Gefängnis, und das hab ich so ein halbes Jahr gemacht, und dann hab ich gedacht, ne, das mach ich nicht mehr, komm ich mir blöde vor.“

Er fing an, sehr viel zu trinken. Auch die Kinder gingen nun wieder nach Ostdeutschland zurück. „Ja, und ich hab ne große Wohnung gehabt, die war dreimal so groß wie hier. Da hab ich Kinderzimmer gehabt, Wohnzimmer, Schlaf-zimmer, Küche, Bad, Gästeklo, in [...], und das hab ich dann verloren. Weil ich konnte keine Miete mehr zahlen, meine Kinder waren raus, und ich hatte keine Arbeit gehabt, musste raus, und dann war ich zehn Jahre auf der Straße. [...] Die Wohnung kostete 800 Mark, gut, das ging ja noch, ich hab ja gut verdient im Schlachthaus. [...] Dann war es aus, dann bin ich bloß noch an der Flasche hängen geblieben.“

Schließlich fand Herr J. Aufnahme in einer Einrichtung für Obdachlose, in der er wieder „auf feste Füße“ kam. Herr J. trank seither keinen Alkohol mehr. „Auf einen Schlag war Ruhe. Ich hab auch keine Therapie gemacht, nichts, ich hab alles selber gemacht.“

2005 zog Herr J. aus der Einrichtung in die Einzimmerwohnung, in der wir auch das Interview führten.

Ende 2007 wurde Herr J. im Lebensmittelladen von einer Frau angespro-chen und gefragt, ob er Arbeit suche. Von da an arbeitete er an mehreren Tagen in der Woche auf einem Bauernhof und bekam dafür 80 Euro im Monat. „Sie hat gesagt, ich kann da für immer arbeiten, weil das ja schon über die Zeit war [...](unverständlich)[...] Probezeit. Und das war meine Hoffnung gewesen, dass ich für immer dort arbeiten kann, ne. Und das hat nicht geklappt. Ich hab auch gefragt, ‚wie sieht es aus jetzt, nehmt Ihr mich für immer?‘ ‚Ja, das wissen wir noch nicht, das wissen wir noch nicht‘.“ Herr J. ließ sich lange hinhalten. Erst als er ab November 2008 nur noch dreißig Euro bekam, gab er die Arbeit auf. „Das

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seh ich ja nicht ein, dass ich für dreißig Euro arbeite, im Monat. Gut, achtzig Euro ist auch schon wenig. Aber da hab ich ja noch meine 250 Euro gekriegt von der ARGE, weil die ja die Miete zahlen, und dann auf einmal sagt er, es gibt nur noch dreißig Euro, sag ich, ‚Schluss, aus, Feierabend‘.“ Herr J. zeigte mir die Quittungen über seine monatlichen Bezüge.

Herr J. war, als wir miteinander telefonierten, um einen Gesprächstermin zu vereinbaren, überzeugt, dass er deshalb sanktioniert war, weil er diesen Job auf-gegeben hatte. Auch zu Beginn unseres Gesprächs war er davon noch überzeugt. Man habe ihm in der ARGE gesagt, der schlechte Lohn „[...]das geht uns nichts an, Sie haben die Arbeit hingeschmissen, also wird’s abgekürzt“. Ich behauptete in unserem Gespräch, dass das nicht sein könne, dass Herr J. die Aussage falsch verstanden haben müsse. Denn erstens dürfe die ARGE nicht von ihm verlangen, dass er zu einem völlig sittenwidrigen Lohn arbeite. Zweitens habe er mit einer Arbeit, die so gering entlohnt wird, ohnehin nichts zur „Verringerung seiner Hil-febedürftigkeit“ beigetragen, weil der Verdienst noch unter der Einkommensbe-reinigungspauschale von 100 Euro liege. Herr J. stimmte mir halbherzig zu, sagte gegen Ende unseres Gespräches aber doch wieder: „Ich sag, ‚die dreißig Euro könnt ihr behalten‘. Und das weiß die ARGE, und deswegen muss ich auch jetzt die Schule machen. Ich vermute, dass die ARGE, dass die mir gekürzt haben, weil ich selber aufgehört habe.“

Im ersten Satz dieser zuletzt zitierten Gesprächspassage ging es noch einmal darum, dass Herr J. seinen Job aufgegeben hatte. Im zweiten Satz spricht er von einer Trainingsmaßnahme, die er in der folgenden Woche beginnen sollte und schon wiederholt absolviert hatte. Im dritten Satz wiederholte er seine Vermutung, dass er wegen Aufgabe seiner Arbeitsstelle sanktioniert worden sei.

Als mir bei der Transkription des Interviews mit Herrn J. auffiel, dass er in der weiter oben zitierten Passage gesagt hatte, er habe zu den 80 Euro Lohn noch 250 von der ARGE bekommen, wurde ich unsicher: Wurden die 80 Euro, die er auf dem Bauernhof verdient hatte, etwa tatsächlich als Einkommen von der Re-gelleistung abgezogen? Dann hätte eine Sanktion wegen der Aufgabe zumutbarer Arbeit eine gewisse Folgerichtigkeit gehabt.

Mir Sicherheit verschaffende Antwort auf meine Frage hätte ich auch in einem nachträglichen Gespräch mit Herrn J. so wenig bekommen, wie es mir während des Interviews gelungen war, Aufschluss darüber zu gewinnen, warum Herr J. zum Interviewzeitpunkt offenbar einer Leistungskürzung in Höhe von sechzig oder mehr Prozent der Regelleistung unterworfen war. Jedenfalls beteuerte Herr J.

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wiederholt, zum Interviewzeitpunkt nur 110 Euro und davor 215 Euro monatlich bekommen zu haben, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich bat Herrn J., mich den Sanktionsbescheid lesen zu lassen. Er kramte in zwei Schubladen und zog schließlich einen Bescheid neueren Datums heraus, in dem stand, dass Herr J. wiederholt seiner „Meldeplicht nicht nachgekommen“ sei und deswegen das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1.2.2009 bis zum 30.4.2009 um dreißig Pro-zent gekürzt würde. „Daraus ergibt sich eine Absenkung in Höhe von 105 Euro monatlich“, stellte der Bescheid noch fest. Ein Angabe zum verbleibenden und auszuzahlenden ALG II-Betrag machte der Bescheid nicht. Weitere Bescheide fand Herr J. nicht. Er besaß wahrscheinlich noch nie einen Aktenordner, um Be-hördenpost aufzubewahren. Er konnte mir auch keine Kontoauszüge zeigen, weil er kein Konto hatte, sondern Schecks in Höhe des ihm gewährten Arbeitslosen-geldes zugeschickt bekam. Auf die Idee, die Schecks zu kopieren, bevor er sie einlöst, kam Herr J. nie. Eine Erwerbslosenberatungsstelle, die Herrn J. hätte helfen können, Überblick über die Bestimmungen des SGB II und die Bescheide der ARGE zu gewinnen und sich gegen eventuelle Fehlentscheidungen zu wehren, gibt es in dem Ort und in dem Landkreis, in dem Herr J. lebt, nicht.

Ich machte Herrn J. geradezu Vorhaltungen und sagte ihm, falls er tatsächlich derzeit nur 110 beziehungsweise wegen der Gebühr für die Scheck-Einlösung nur 105 Euro monatlich bekäme, müsste er doch wenigstens wissen, warum das so ist. Da beschrieb er die Schwierigkeiten, die ARGE zu erreichen: „Da war ich auch sprachlos, warum ich bloß 105 Euro krieg. Das kann doch nicht hinhauen, und dann hab ich auch gleich angerufen, was das soll, und dann haben die gesagt, ‚es ist niemand mehr da‘, also, die Auskunft [...], ‚rufen Sie morgen noch mal an‘. Hab ich den andern Tag angerufen, da bin ich gar nicht mehr durchgekommen, da ging es immer ‚tüt, tüt, haben Sie etwas Geduld‘, und das ging so ungefähr ne Viertelstunde, hab ich gedacht, könnt ihr mich am Arsch lecken. Und deswegen geh ich am Montag noch mal hoch.“ „Hoch gehen“ bedeutete für Herrn J., mit dem Bus in den zwanzig Kilometer entfernten Ort fahren zu müssen, in dem die ARGE ihren Sitz hat, und die Fahrtkosten nicht erstattet zu bekommen.

Dass er zu zwei Terminen, die die ARGE anberaumt hatte, nicht erschienen war, wusste Herr J. und verteidigte sich: „Aber die haben ja gewusst, dass ich dort arbeite donnerstags. Das wissen die ja. [...] Ich hab vorher angerufen. Die haben gesagt, ich muss kommen, ich hab gesagt, es geht nicht. Ich hab gesagt, wir tun einmal [...] (unverständlich)[...] und den nächsten Donnerstag tun wir dann absetzen, das heißt, von den Muttersauen weg, in den großen Laufstall.“

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Auch wenn Herr J. an den Donnerstagen nicht hätte arbeiten müssen, hätte er kaum Motivation gehabt, die ARGE aufzusuchen. Über die letzten Vorspra-chen bei der ARGE berichtete er: „Die (Ansprechpartnerin) hat nur gesagt, dass ich [...] (Name des Bildungsträgers, der die Trainingsmaßnahmen durchführte) besuchen muss, und wenn irgendwas ist, soll ich mich mal melden, und wenn es Probleme gibt, ‚da können wir sowieso nichts machen‘. Und dann hab ich gesagt, ‚okay, ich mach die Schule‘, und dann hab ich gefragt, ‚haben Sie noch mehr Fragen‘, sagt sie, ‚nee, das war’s‘. Da war ich-, um halb zehn war ich bestellt, um dreiviertel zehn war ich schon wieder fertig. Die fragt nicht, wie es mir geht und so was, ob ich irgendwie Probleme hab oder so. Ich hab ja schon mal gefragt, können Sie mir nicht helfen. Sagt sie, nee, sie ist bloß da, damit wir Arbeit haben. [...] Die kümmern sich auch nicht. Ich bild mir ein, ARGE ist nur da, damit die Geld kürzen. Das vermut ich. Ich war einmal beim-, da war ich bei einem Mann. Da fing der an, ‚so, Sie dürfen wieder gehen, Sie waren da‘. ‘‘Ich sag, ‚hallo, was soll das jetzt?‘ ‚Ja, ich wollte nur sehen, ob Sie noch leben.‘ Ich sag, ‚da kann man doch anrufen‘.“

Solch sinnlose Besuche bei der ARGE ärgerten Herrn J. um so mehr, als ihm, wie oben erwähnt, die Fahrtkosten nicht erstattet wurden. „Und ich sag, ja, mein Fahrgeld kostet es auch. Ich sag, ‚krieg ich das Fahrgeld zurück?‘ ‚Ja, von [...] nach [...], da kriegen Sie kein Geld zurück‘. [...] Jetzt bezahl ich schon für eine Fahrt 3 Euro 45[...] Nur einmal hin, einmal hin 3 Euro 45, einmal zurück, also das sind 7 Euro“ Auf meinen Einwand, dass dieses Geld aber erstattet werden müsste, antwortete Herr J. nur: „Das machen die aber nicht.“

Zum Interviewzeitpunkt lag Herrn J. die Jahresabrechnung des Energiever-sorgungsunternehmens vor. Er sollte 71 Euro nachzahlen und wusste nicht, wie. Herr J. hatte Angst, dass ihm in der folgenden Woche der Strom abgestellt werden würde.

Schon viel länger niedergeschlagen war Herr J. jedoch wegen der Vergeb-lichkeit seiner Arbeitssuche. Sätze wie „Dass ich keine Arbeit kriege, das tut mir weh.“ oder „Ich wär ja froh, wenn ich arbeiten gehen könnte, da wär ich-, ich fühl mich besser.“ durchzogen das Interview.

Herr K: Die Sanktionen, die kann ich nachvollziehen.Herr K. war 45 Jahre alt und alleinstehend. Um das Interview mit ihm zu führen, besuchte ich ihn in einer Fachklinik für Suchtkranke, wo er sich seit neun Wochen einer Therapie seiner Alkoholerkrankung unterzog.

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Die Entscheidung zu der Therapie hatte er getroffen, nachdem er während einer Entgiftung im Krankenhaus einen Krampfanfall hatte. „Ich war bewusstlos, mich hat’s halt einfach hier so sitzend vom Stuhl gehauen ohne Vorwarnung, ohne alles, ohne nix. Ich weiß nicht mal, wie lang ich weg war, wie lang ich auf dem Boden gelegen bin, bis man mich gefunden hat aufm Zimmer, also-. [...] das hat mir schwer zu denken gegeben.“

Herr K. ist Kaminfegermeister. Nach Ausbildung, Arbeit als Geselle und Mei-sterprüfung war er fünf Jahre lang als selbstständiger Bezirksmeister tätig, bis er 2002 von der zuständigen Behörde dieses „Amtes enthoben“ wurde. Eine Steu-ernachzahlung und ein Kredit, den er deswegen aufnehmen musste, hatten Herrn K. „dermaßen in die Bredouille“ gebracht. „Das war eigentlich der Anfang vom Ende. Von da an bin ich nur noch finanziell umeinander geschaukelt.“ Herr K. kam „mit der Zahlerei nicht hinterher“, und die Behörde bekam „Zweifel an der fachlichen Zuverlässigkeit“. Herr K. vermutete, dass seine Zahlungsschwierig-keiten nur die offizielle Begründung waren. Aus dem Umstand, dass binnen eines Jahres außer ihm auch zwei Kollegen, mit denen er sich nach Feierabend in Ar-beitskleidung in der Kneipe getroffen hatte, die Bestellung als Bezirkskaminfeger entzogen worden war, schloss er, dass dieses Verhalten missbilligt wurde. „Gut, wir haben jetzt nicht hergesoffen, aber wir haben uns abends nach Feier abend mal getroffen, in den Arbeitsklamotten, in den schwarzen. [...] Das war manchen von den Kollegen ein Dorn im Auge.“

Herr K. war nun zum ersten Mal in seinem Leben arbeitslos und erlebte – weil er als Selbstständiger nicht in der Arbeitslosenversicherung war - gleich den „freien Fall vom Unternehmer zum Sozialhilfeempfänger.“ Er hatte, als er 18 oder 19 Jahre alt war, angefangen, regelmäßig Alkohol zu trinken, aber jetzt erst kam eine Phase, „also da war ich jeden Tag, jeden Tag voll. Da hab ich noch alles verkauft, was ich hab geschäftsmäßig verkaufen können: das zweite Auto, Werkzeug, Computer, alles zu Geld gemacht und so wie ich’s verkauft hab, hab ich’s versoffen.“ Ob er eine Idee habe, woher seine Alkoholsucht rühre, wollte ich von Herrn K. wissen. „Ah, ich nenn’s einmal, das ist irgendwo angestauter Frust, ich bin ein Mensch, der ziemlich viel in sich rein frisst, der nicht so mal mit der Faust auf den Tisch haut und sagt, he, das passt mir nicht, ich schluck halt und schluck halt.“

Nach sieben Monaten konnte Herr K. sich aufraffen und Arbeit suchen. Er fand auch rasch eine Stelle in einer „Hausiererfirma“. Er musste Leute dafür gewinnen, Reklameschilder von „Baumärkten und McDonalds“ an ihren Gartenzäunen und

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Hecken anbringen zu lassen. Wahrscheinlich konnte Herr K. nicht genug Verträge abschließen. Jedenfalls wurde er zum Ende der halbjährigen Probezeit gekündigt, und solche Kündigungen bedürfen ja keiner Begründung. „Ich hab da ein gutes Arbeitszeugnis gekriegt, also, das ging da schon, aber [...] bei der [...] (Firmen-name), da sind die Leute gegangen und gekommen. Ich nehm an, das war von vornherein geplant, also für ne Arbeit, wo man eigentlich nichts können muss, ein halbes Jahr Probezeit, also das ist ja-.“

Danach arbeitete Herr K. für einige Monate bei einem Paketversand-Unterneh-men, bis er seinen Führerschein verlor, weil er alkoholisiert fuhr. Danach arbeitete er mehr als zwei Jahre in einem Unternehmen, das Kunststoff für die Wiederver-wertung aufbereitete. Ende 2005 ging das Unternehmen in Konkurs.

Seit 2006 arbeitete Herr K. in verschiedenen Zeitarbeitsunternehmen. Dazwi-schen bekam er Arbeitslosengeld I, das wegen des geringen vorangegangenen Entgeltes so knapp war, dass es durch Arbeitslosengeld II aufgestockt wurde. Dann bekam er nur noch Arbeitslosengeld II, und das meistens gekürzt. Von 2006 bis 2008 hat er in jedem Jahr Sperren und Leistungs kürzungen erlebt. „Meistens ging’s um verspätete Meldungen zur Arbeitslosigkeit, weil man vor lauter Suff nicht mehr aufs Arbeitsamt gekommen ist. Kündigungsgrund war dann meistens eine fristlose Kündigung wegen unerlaubten Fehlens. Und einmal war es so, ich hab einen Termin nicht wahrgenommen beim Jobcenter. [...]. Also, ich war schon arbeitslos, hab die Kündigung schon im Briefkasten gehabt und bin auch einfach nicht aufs Amt. Und dann hab ich gleich zwei Sperren gekriegt, eine Sperre wegen Zu-spät-Melden und eine Sperre wegen fristlos entlassen.“

Die Leistungskürzungen bewältigte Herr K., indem er noch genügsamer lebte als sonst und das Geld aufbrauchte, das er sparen konnte, weil er als Leiharbeiter durch viele Überstunden relativ gut verdient hatte.

Geld geliehen oder geschenkt hatte Herrn K. niemand. Sein Vater ist 2002, also im selben Jahr, in dem Herr K. seine Stellung als Bezirkskaminfegermeister verlor, gestorben. Den Kontakt zu Mutter und Schwester hatte er völlig abgebrochen, weil sie nicht verstehen würden, warum er nicht mehr als Kaminfeger arbeiten wolle. Der Kontakt zu den beiden Brüdern war „eh schon lose“. Auf meine Frage, ob er Freunde habe, antwortete Herr K., „Freunde nicht, aber einen großen Bekannten-kreis“. Auf meine Nachfrage, ob er also niemanden habe, bei dem er „auch mal Probleme ablassen“ könne, sagte er: „Da bin ich sowieso nicht der Typ dazu. Da ist grad die Therapeutin am Arbeiten.“

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Die Sanktionen bewirkten nicht, dass Herr K. sich wegen seiner Alkoholkrank-heit in Therapie begab. „Ich hab ja immer das Ziel vor Augen gehabt, bis da und dahin, dann ist die Sperre ja aufgehoben, dann hast du ja wieder dein Geld. [...] Sobald das Geld da war, war auch der Alkohol wieder da. Das erste Mal, wo wieder der volle Satz auf dem Konto war, Getränkemarkt und einen Kasten Bier kaufen. Wobei ich sagen muss, meine Extremtrinkerei, die hat nie zuhause stattgefunden, sondern immer in der Wirtschaft.“

Dazu dass Herr K. sich zur Therapie entschließen konnte, bedurfte es des körperlichen Zusammen bruchs und der darauf folgenden Erkenntnis: „Ich häng an meinem Leben.“

Auch wenn die Sanktionen nichts an der Ursache für den Verlust seiner Jobs in den vergangenen drei Jahren geändert haben, beklagte sich Herr K. hierüber nicht. „Die Frau [...].(persönliche Ansprechpartnerin), die hat ihre Vorschriften, die kann nicht bei mir ein Auge zudrücken und sagen, ‘ne, der kriegt jetzt keine Sanktion‘. Wenn das rauskommt oder so, dann ist die Frau ihren Job los. [...] Der Schuldige war ich.“

Zufrieden mit der Arbeit des Jobcenters war Herr K. jedoch nicht. „Wenn ich ein Angebot krieg vom Jobcenter, wo in den Anforderungen drinsteht, abgeschlos-sene Ausbildung in einem Metall- oder Elektroberuf, das hab ich gar nicht, dann liest die, ‚aha, das ist ein kunststoffverarbeitender Betrieb‘, aber den Rest nicht. ‚Ja, ich soll mich da unbedingt bewerben‘, hab ich auch gemacht, hab bis heute noch keine Antwort gekriegt auf die Bewerbung. Der Personalchef hat meinen Lebenslauf gelesen und gesagt, was soll ich mit dem. Ich glaub, die leben in einer anderen Welt. Vor allem geht es denen überhaupt nicht drum, Leute in Arbeit zu bringen, sondern einfach, die verwalten die Arbeitslosigkeit. [...] Wie gesagt, die Sanktionen, die kann ich nachvollziehen,[...] . Aber wo es mir wirklich drum geht, ich weiß nicht, können die Leute nicht oder dürfen sie nicht, oder haben sie keinen Bock mehr, sind sie dermaßen frustriert in ihrem Job, weil sie eben merken, da geht nichts. Ein paar sind so ehrlich und sagen, das können wir nicht.“ Zu den unsinnigen Formen der Verwaltung der Arbeitslosigkeit zählte Herr K. auch „diese Pflichttermine, ja, dass man da alle Vierteljahr erscheinen muss. Im Endeffekt ist das Gespräch (unverständlich). Fragt, ‚wie geht’s‘, ‚gut‘, ‚haben Sie was?‘, ‚nein‘, ‚haben Sie was?‘, ‚nein, auch nicht‘, also tschüss bis zum nächsten Mal.“

Die Jobs, für deren Verlust er bestraft wurde, hatte Herr K. sämtlich ohne Hilfe des Jobcenters gefunden.

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Frau L: ... und zu viel Durcheinander in meinem Leben.Frau L. war 38 Jahre alt. Sie lebte, als wir das Interview führten, seit etwas mehr als zwei Jahren mit Herrn M. zusammen, über dessen Situation in der nächsten Fallskizze berichtet wird. Ich habe Frau L. und Herrn M. gemeinsam interviewt, wobei beide diszipliniert darauf geachtet haben, nicht gleichzeitig zu reden und einander nicht ins Wort zu fallen. Beiden war zum Interviewzeitpunkt die Regel-leistung um sechzig Prozent gekürzt.

Es gibt wenig seelische und körperliche Verletzungen, die Frau L. noch nicht erlebt hatte. Als Kind war sie bereits behindert durch Verkrümmung in allen Ge-lenken, eine Verkürzung des linkes Beines und einen einseitigen Gehörschaden. „Meine Mutter hat für mich einen Schwerstbehinderten-Ausweis gehabt, sollte ich mit in die Schule nehmen, hab ich gesagt, [...], ich will’s nicht.“ Auch als Erwachsene wollte sie nie als Schwerbehinderte anerkannt werden, obwohl noch weitere Behinderungen hinzu kamen.

Frau L. und ihr Bruder waren vom Stiefvater sexuell und in anderer Weise misshandelt worden. „Wir haben sehr spät reagiert, also mein Bruder und ich, wir haben sehr lange gewartet, bis wir ihn angezeigt haben.“ Das Gerichtsver-fahren endete erst 2004, der Stiefvater wurde zu 7 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, sollte allerdings 2009 auf Bewährung aus der Haft entlassen werden. Davor hatte Frau L. Angst: „Das find ich eine absolute Sauerei, weil dann fühl ich mich nicht mehr sicher. Der hat uns angedroht, uns umzubringen und all so’n andern Scheiß.“

Als Jugendliche und junge Erwachsene arbeitete Frau L. beim Roten Kreuz. Sie war mit dem Mann, mit dem sie damals verheiratet war und der inzwischen tot ist, bei Hilfseinsätzen „im Ausland unterwegs“, weil beide „so ne Jugendstrafe“ abzubüßen hatten. Frau L. musste „Leute verbinden, zureden und so“. Meine Nachfrage, ob es sich also um Kata strophenhilfe gehandelt habe, bejahte Frau L und fügte hinzu.: „Tel Aviv war das Schlimmste.“

1992 wurde Frau L. bei einem S-Bahn-Unfall sehr schwer verletzt. Zwei Jahre lang war sie danach im Krankenhaus, und in den nächsten sechs Jahren folgten noch mehrere kürzere Krankenhausaufenthalte. Zusätzlich zu den schon vorhan-denen Behinderungen sind infolge des Unfalls der kleine und der Ringfinger der rechten Hand gelähmt.

Beruflich hat Frau L. nie Fuß gefasst. Ein-Euro-Jobs hatte sie „schon mehrere. Aber alles kurzfristig, und dann tschüs, weil es war einfach für mich zu schwer und zu viel Durcheinander in meinem Leben.“ In einem Second-Hand-Shop, in dem

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nur Frauen arbeiteten, habe sie 2006 „ein Jahr durchgehalten. Da wär ich auch verlängert worden, aber dann bin ich umgezogen, tausend mal, immer hin und her gezogen, da haben sie gesagt, ne, komm, mach erst mal ne Pause.“ Dauernd umgezogen war sie, nachdem ihr zweiter Ehemann sie „rausgeschmissen“ hatte: „Ich bin das zweite Mal verheiratet gewesen, ja, und mein Exmann hat das nicht eingesehen, dass ich gearbeitet hab, und hat mich vor die Tür gesetzt.“ Eine feste Bleibe fand Frau L. erst wieder, als sie zu Herrn M. in dessen sehr bescheidene Wohnung ziehen konnte.

Der vorletzte Ein-Euro-Job, der ihr zugewiesen worden war, war „so Stadtteil-service, hab ich mir gedacht, na gut, guckst mal rein, hab das eine Woche gemacht, hab gesagt, ‚Ihr habt wohl nicht alle Tassen im Schrank. Das sind alles stinkreiche Leute, die sind kerngesund, die haben zwei Hände, die haben zwei Füße, die kön-nen sich selber verpflegen‘. [...] Ich bin von einer Frau blöd angemacht worden, die hat mich sogar rausgeschmissen, sie hat gesagt, ‚einen Krüppel kann sie hier nicht gebrauchen‘. Und das hab ich dann dem Chef gesagt, hab gesagt, ‚also zu der brauchst du mich nicht mehr hinschicken, weil erst mal ist die stinkreich‘-, Das war so ne alte Dame, eigenes Haus, riesengroß, konnte das nicht selbst sauber machen, sollte da mit sauber machen.“ Dafür, dass sie diesen Ein-Euro-Job abgebrochen hatte, wurde Frau L. mit dem Entzug von dreißig Prozent der Regelleistung bestraft. Zur 60-prozentigen Kürzung kam es, als sie den nächsten Job, den sie ausüben sollte, ebenfalls ablehnte: „Ich sollte an der Hauptstraße Laub kehren und was weiß ich, irgendwas. Hab ich gesagt, mach ich nicht, ich häng noch ein bisschen an meinem Leben. [...] Und dann hab ich gesagt, ich will hier oben arbeiten, da hab ich noch einen andern Job angeboten bekommen, und dann hab ich gesagt, das ist mir lieber, wenn ich hier oben bin, haben die nicht gemacht, hab ich gesagt, ‚gut, dann könnt ihr mich am Arsch lecken‘, bin da nicht mehr hingegangen.“

Ihren persönlichen Ansprechpartner fand Frau L. trotz der Sanktionen „in Ordnung“: „Der ist noch Mensch geblieben. Also, es gibt welche, die denken nur bürokratisch und sagen ‚so und so, und das musst du machen‘. [...] Also der, den wir jetzt haben, der ist in Ordnung. Auf meine Nachfrage, woran sie das merkten, dass der Ansprechpartner „in Ordnung“ sei, antwortete Herr M.: „Der wollte das nicht, [...] die Sanktion reindrücken, hat er ja gesagt, aber bloß, er kann das nicht alleine entscheiden, da hängen noch mehrere Leute drinne.“

Auf meine Frage, ob sie sich vom Jobcenter Unterstützung in beruflicher Hin-sicht wünschen würde, antwortete Frau L.: „Ich möchte wieder was mit Menschen

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machen, das heißt, sie pflegen, entweder einkaufen oder mal das Treppenhaus sau-ber machen oder wieder was mit Obdachlosen machen.“ Frau L. hätte gern Men-schen geholfen, die Hilfe brauchen, aber sie wollte nicht als Ein-Euro-Jobberin Dienstleistungen für Menschen erbringen müssen, die aus ihrer Sicht „stinkreich“ waren, und sie wollte dabei schon gar nicht als „Krüppel“ bezeichnet werden.

Eher kam sie mit den Sanktionen zurecht, indem sie mit Herrn M. in den Park ging und Flaschen aufsammelte, die andere liegen lassen, und Lebensmittelgut-scheine einlöste. „Wir leben zu viert davon, der Vogel und unser Hund leben ja auch noch davon. Der Vogel lebt mehr von dem Flaschengeld.“ Beim Arzt war Frau L. zum Interviewzeitpunkt seit fast drei Monaten nicht mehr, um die Praxis-gebühr zu sparen. Deswegen fehlte ihr seit zwei Monaten der Asthmaspray. Die Telefonrechnung war offen.

Herr M.: Der hat gleich nur gesagt, der Penner braucht gar nicht kommen.Herr M. war 52 Jahre alt. Er kam aus Ostdeutschland, hatte eine Ausbildung als Baufacharbeiter, arbeitete in Ostdeutschland jedoch zuletzt zwei Jahre lang bei einem Schausteller, der 1993 Konkurs anmelden musste. Zum weiteren Lebenslauf berichtete Herr M.: „Dann bin ich-, hab en Kumpel irgendwie hierher gebracht, und dann bin ich dann hier hängengeblieben, hab ich erst mal sämtliche Wohn-heime durch, und irgendwann hab ich die Wohnung gekriegt. [...] Bin ich aber auch schon dreimal umgezogen, weil sie angeblich abgerissen werden, [...], und hier muss ich auch bald wieder ausziehen, weil die auch bruchfällig sind.“

Anfang 2007 zog Frau L., um die es in der vorigen Fallskizze ging, zu ihm in die enge Wohnung, deren Einrichtung teils vom Sperrmüll, teils aus dem Gebrauchtmöbel“markt“ stammte.

Ein ganzes Jahr am Stück arbeitete Herr M. zuletzt Ende der 90er Jahre als ABM-Kraft in einer Beschäftigungsgesellschaft eines Wohlfahrtsverbandes. Es wurden Entrümpelungen durchgeführt und Gebrauchtmöbel entsorgt oder ver-kauft. „Das war 97, [...], 98 musst ich erst mal drei Monate aussetzen, dann konnt ich mich nochmal da bewerben. Also bin ich noch mal hin, ob ich noch mal ein Jahr machen kann. Konnte ich noch mal ein Jahr machen. Aber dann ist Schluss mit lustig. [...] Das ging ja bloß zwei Jahre, ein Vierteljahr aussetzen, dann konnt man wieder hingehen, und dann noch einmal, und dann nichts mehr, weil die meinen, die andern wollen auch mal was, auch mal ran.“

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Seit das SGB II in Kraft ist, verrichtete Herr M. eine ganze Reihe von Ein-Euro-Jobs.

Bei seinem vorletzten Ein-Euro-Job reinigte er S-Bahnhöfe und füllte Check-listen aus, „wegen der Automaten, die kaputt sind“. „Man soll immer so zehn Minuten einen Bahnhof sauber machen.“ Herr M. mochte die Arbeit nicht, weil sie langweilig war und weil der Vorarbeiter „zu allen ‚Penner‘ gesagt“ hatte. Herr M. brach den Ein-Euro-Job ab, seine Regelleistung wurde um dreißig Prozent gekürzt. Die Frage, ob es sich bei der Reinigung und Inspektion von S-Bahnhöfen um zusätzliche Arbeit handelt, die vor der Einführung von Ein-Euro-Jobs nicht verrichtet wurde, stellte Herr M. weder sich noch dem Jobcenter.

Im Herbst 2008 bekam er einen weiteren Ein-Euro-Job. „Da ging alles drunter und drüber.“ Am 29. November 2008 wurde auf dem Betriebsgelände ein Ar-beitskollege und „Kumpel“ von Herrn M. vom Lastwagen überfahren und tödlich verletzt. „Mit dem LKW, mit dem 7-Tonner. Der ist tot. Der LKW ist rückwärts gefahren, der ist hinten und vorn drüber. [...] . Sie können es ja lesen da.“ Herr M. gab mir einen Zeitungsausschnitt zu lesen, in dem über den Unfall berichtet wurde, und führte weiter aus: „Dann war ich ungefähr drei Stunden bei der Polizei, [...], ich hab gesehen, wie ’s Blut aus dem Mund gespritzt ist und aus der Nase.“

Nach dem tödlichen Unfall „ging“ bei Herrn M. zunächst „gar nichts mehr [...] . Ich konnt ne ganze Woche gar nicht raus. Das hat keiner eingesehen. [...] Und da haben sie gesagt, geh zum Doktor, hab ich gesagt, ich hab doch kein Geld, um die zehn Euro zu bezahlen.“

Dass er in dieser Situation wegen der zehn Euro Praxisgebühr nicht zum Arzt ging, ist nicht plausibel. Aber vermutlich konnte sich Herr M. selbst nicht erklä-ren, weshalb er nicht zum Arzt ging, um sich krank schreiben zu lassen. Bei der Auswertung der Interviews ist mir aufgefallen, dass einige Gesprächspartnerinnen und –partner in Jobs „unentschuldigt“ fehlten, anstatt einem Arzt ihre Situation zu schildern und um eine Krankmeldung zu bitten. Offenbar gehört es nicht zu ihren Problembewältigungskompetenzen, nicht-körperliche Beschwerden als Störungen ihrer Gesundheit und Arbeitsfähigkeit geltend zu machen.

Herr M. verlor diesen Ein-Euro-Job wegen unentschuldigten Fehlens und – da es sich um die zweite „Pflichtverletzung“ binnen Jahresfrist handelte - wurde er nun mit einer 60-prozentigen Leistungskürzung sanktioniert. Am 12. Januar hätte er den gleichen Job gleich wieder antreten können, was er auch tun wollte. „Und am 12. hab ich natürlich verpennt, weil der Wecker gesponnen hat, der spinnt so-wieso, um sechs hätt ich aufstehen müssen, ne, und da ist das dann so gekommen.

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[...] Da war ich unterwegs, musste noch auf den Bus warten, hab ihr (gemeint ist Frau L.) gesagt, sie soll dort anrufen, und der hat gleich nur gesagt, ‚nö, der Penner braucht gar nicht kommen‘. Sie ruft mich an, ‘kannst zurückkommen‘.“

Wieder hatte Herr M. „Anlass für den Abbruch“ einer Maßnahme gegeben. Die völlige Streichung des Arbeitslosengeldes II als Sanktion für die dritte Pflicht-verletzung stand zum Interviewzeitpunkt unmittelbar bevor.

Wie Herr M. die 60-prozentige Leistungskürzung bewältigte, ist in der Fall-skizze zu Frau L. beschrieben. Irgendwie, so war mein Eindruck, würden sich Frau L. und Herr M. auch durchschlagen, wenn Herr M. für drei Monate gar nichts bekommt. Mit der Anforderung, sich durchschlagen zu müssen, waren beide sehr vertraut.

Frau N.: Die Zeitarbeitsfirmen sagen einem ja nie, wo und was.Frau N. war 52 Jahre alt. Sie lebte mit Herrn O. , mit dem ich das nachfolgend resümierte Interview geführt habe, zusammen. Die beiden Interviews wurden unmittelbar aufeinander folgend durchgeführt. Frau N. und Herr O. wurden gegen ihren Willen vom zuständigen Jobcenter als „Bedarfsgemeinschaft“ behandelt, was sie nach anfänglichem Widerstand resigniert hingenommen haben.

Frau N. ist gelernte Krankenschwester und hatte bis 2004 fast dreißig Jahre lang in ihrem Beruf gearbeitet. Auch während sie zusammen mit ihrem dama-ligen Mann in einer sehr abgeschiedenen ländlichen Region Baden-Württembergs ein Haus kaufte, umbaute und erweiterte und darin Feriengäste beherbergte, war sie halbtags weiterhin als Krankenschwester tätig. Nach dem Scheitern der Ehe verließ Frau N. die einsame Gegend, in der „in den Monaten November bis [...] Ostern, außer Weihnachten, [...] vielleicht ein Auto am Haus vorbei gefahren (war)“, um an einem belebteren Ort auf einen Neuanfang hoffen zu können. Dafür, dass sie über Jahre durch ihre Arbeit zu einer erheblichen Steigerung des Wertes des Hauses beigetragen hatte, bekam sie nur „einen feuchten Händedruck“. Auch die Suche nach einer neuen Arbeit erwies sich für die Mitvierzigerin, die Frau N. inzwischen war, schwieriger als erwartet. Sie fand zwar noch Jobs, was in der Altenpflege leichter war als in der Krankenpflege, aber nur noch befristete Stellen, in denen sie als Vertretung arbeitete. Die letzte solche Stelle hatte sie 2004.

Im Januar 2007 trat sie eine Stelle als Ein-Euro-Jobberin in einer Einrichtung an, in der 5- bis 14-jährige Kinder tagsüber betreut werden, spielen können und bei den Hausaufgaben unterstützt werden. Als der Ein-Euro-Job zu Ende war, verrich-tete Frau N. die Arbeit gegen Aufwandsentschädigung ehrenamtlich weiter. Seit

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1.12.2008 war Frau N. halbtags für diese Arbeit angestellt. Auch wenn sie nur 579 Euro netto verdiente und deswegen immer noch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen war, war Frau N. froh über diese Entwicklung. „Kinderbetreuung, das war eigentlich auch mein Wunsch. Deswegen hab ich da auch schwer drauf hingearbeitet, weil ich eigentlich gesagt hab, ich möchte nicht mehr - (mit alten Menschen arbeiten), ja, weil ich hab meinen Vater zwischenzeitlich auch noch zu, in den Tod begleitet und hab gedacht, also das mit den Kindern, das wäre schon nett.“ Mit ihrer Arbeit war Frau N. aber nicht nur deswegen recht zufrieden, weil sie Kinder betreuen konnte. Die Stelle bot Frau N. auch bereits seit über zwei Jah-ren eine Art von Kontinuität und sie erhoffte sich von ihr weitere Beständigkeit: Die Stelle war zwar zunächst „befristet auf ein Jahr, welches zum 30.11. ausläuft, aber die Möglichkeit einer einjährigen Verlängerung besteht, also, wo die Leiterin hier gesagt hat, da sieht sie keine Schwierigkeiten, ... Und nach dem nochmaligen Jahr könnte es dann unbefristet werden.“ Die Kindertages stätte hatte für Frau N. auch eine hohe Bedeutung als Feld sozialer Interaktion. Als ich sie nach ihren Möglichkeiten, auszugehen, frug, antwortete sie: „Och, das waren wir schon Jahre nicht mehr. [...] Also, ich gehe hier nicht gern aus dem Haus, ich bin eigentlich wirklich froh und dankbar über die [...] (Name der Einrichtung).“

Wenige Wochen, bevor sie für ihre Arbeit in der Kindertagesstätte einen An-stellungsvertrag bekam, sollte sich Frau N. bei einer Zeitarbeitsfirma vorstellen. Sie rief dort an, sprach mit dem Unternehmensleiter, erfuhr jedoch nicht, für wel-chen Kunden und welche Arbeitsstelle das Zeitarbeitsunternehmen eine Mitarbei-terin suchte. „Die Zeitarbeitsfirmen sagen einem ja nie, wo und was, da muss man ja erst mal hin, zwanzig Seiten ausfüllen.“ Frau N. sagte am Telefon, dass sie ab dem 1. Dezember vermutlich für die Arbeit eingestellt würde, die sie ehrenamtlich bereits ausübe, dass noch ein weiteres Vorstellungsgespräch in einem Altenheim anstehe und dass sie sich wieder melden würde, falls ihre derzeitigen Bemühen nicht zum Erfolg führten. Das Zeitarbeitsarbeitsunternehmen teilte dem Jobcenter mit, dass Frau N. sich nicht vorgestellt habe, und bezog diese Mitteilung auf ein ganz konkretes Stellenangebot, von dem Frau N. nichts wusste. Das Jobcenter verfügte eine ab Dezember wirksame 30-prozentige Sanktion wegen Ablehnung zumutbarer Arbeit. Die „Zumutbarkeit“ wurde mit Informationen zu einer Stelle begründet, über die Frau N. nicht verfügte.

„Diese Ungerechtigkeit da mit dieser Sanktion“ war es, was Frau N. „am mei-sten wurmt(e)“. Sie bat mich, die Sanktionsbegründung zu lesen und sagte: „Das tut mir sehr weh, dass dieser Chef von dieser Zeitarbeitsfirma mich da dermaßen

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reingeritten hat, der tut ja so, als ob ich mich da überhaupt nicht gemeldet hätte.“ Frau N. hatte dem Sanktionsbescheid nicht widersprochen, weil ein Mitarbeiter des Wohlfahrtsverbandes, der seit 1.12.2008 ihr Arbeitgeber war, irrtümlich der Meinung war, dass die Sanktion ohnehin zurückgenommen würde, wenn der Ar-beitsvertrag mit dem Wohlfahrtsverband unterzeichnet wäre.

Dass sie überhaupt nicht als Leiharbeiterin arbeiten möchte, womit sie „schon mal nicht so gute Erfahrungen gemacht“ hat, wagte Frau N. selbst im Gespräch mit mir nicht so deutlich auszusprechen. Sie wusste, dass Erwerbslosen und erst recht Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II eigene Wünsche an Arbeitsverhältnisse nicht mehr zugestanden werden.

Gegenüber der Verletztheit durch die Sanktionsbegründung, in der das Job-center sich auf Informationen des Zeitarbeitsunternehmens berief, die sie selbst nicht bekommen hatte, hätte Frau N., wie sie meinte, die finanzielle Einbuße, nämlich den Wegfall des ihr zustehenden ergänzenden Arbeitslosengeldes II, noch vergleichsweise leicht verkraftet, wenn nicht Herr O., mit dem sie in erzwungener „Bedarfsgemeinschaft“ lebte und um dessen Situation es in der nächsten Skizze geht, seit dem 1. Januar, also zum Interviewzeitpunkt seit nahezu drei Monaten, gar keine Unterhaltsleistung mehr bekommen hätte. Auf meine Frage, wie sie und Herr O. sich denn zur Zeit durchschlügen, antwortete Frau N: „Zur Zeit schlagen wir uns die Köpfe ein.“ Auch wenn die Formulierung vermutlich nicht wörtlich zu nehmen ist, so ist sie doch eine treffende Metapher für die Zerreißprobe, der die Beziehung zwischen Frau N. und Herrn O. ausgesetzt war oder vielleicht immer noch ist. Herr O. berichtete auf seine Art davon.

Herr O.: Ich war nie ein Widerständler.Herr O. war 55 Jahre alt. Er lebte mit Frau N., mit der ich das in der vorangegan-genen Skizze resümierte Interview geführt habe, zusammen.

Nach einer ersten Ausbildung als Industriekaufmann hatte Herr O. Zivildienst in einem psychiatrischen Landeskrankenhaus geleistet. Damals ging dem Zivil-dienst noch eine amtliche Gewissensprüfung voraus, und der Dienst dauerte 16 Monate. Nach dem Zivildienst half er der Mutter bei der Pflege des schwer er-krankten Vaters, dem beide Beine an den Oberschenkeln amputiert worden waren. Herr O. entschloss sich zu einer zweiten Ausbildung als Altenpfleger. In diesem Beruf arbeitete lange Jahre in unterschiedlichen Wohnorten.

2003, in seinem 49. Lebensjahr, hatte Herr O. einen schweren Verkehrsunfall. „Da kam praktisch der Bruch für mich, im Berufs- und Arbeitsleben“, konstatierte

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er. Nach einem längeren Klinikaufenthalt musste er sich wegen eines Lendenwir-belsyndroms verschiedenen stationären Rehabilitations-Maßnahmen unterziehen. Fünfeinhalb Monate war er arbeitsunfähig. Im dritten Monat erkundigte sich sein damaliger Arbeitgeber, wie lange die Arbeitsunfähigkeit noch dauern würde. Die Frage konnte weder Herr O. noch der Arzt mit Sicherheit beantworten. Während des letzten Reha-Aufenthaltes bekam Herr O. die Kündigung. Offenbar gab es einen Passus in seinem Arbeitsvertrag, der die Kündigung bei nicht absehbarer Krankheitsdauer erlaubte. „Also gut, die Stelle war dann weg, und dann kam praktisch irgendwie der soziale Abstieg.“

Herr O. wurde im März 2004 mit der dringenden ärztlichen Empfehlung aus der Arbeitsunfähigkeit entlassen, bis auf Weiteres höchstens dreißig Kilogramm zu heben, um keine schlimmere Beschädigung der Wirbelsäule zu riskieren. Als 50-Jähriger wegen einer Beeinträchtigung der Wirbelsäule fünfeinhalb Monate arbeitsunfähig gewesen und danach immer noch nur beschränkt körperlich be-lastbar zu sein, sind sehr schlechte Voraussetzungen für die Arbeitsuche in der Altenpflege. Die Bewerbungsbemühungen von Herrn O. blieben erfolglos, auch wenn er es damals immerhin noch bis zu Vorstellungsgesprächen brachte. Irgend-wann in 2005 ist Herr O. „in Hartz IV reingerutscht“.

Seither hatte Herr O. an fünf „Maßnahmen“ teilgenommen: Bewerbungstrai-nings, Computerkursen und einem Ein-Euro-Job. „Ich war jetzt jahrelang, sagen wir mal, brav. [...] Ich war also nie ein Widerständler.“ Der Ein-Euro-Job in einem Altenheim wurde auf seinen Wunsch hin verlängert: „[...]aber nur einen Monat, dann war wieder das Geld aus.“ „Da hab ich eigentlich immer gehofft, ja, wenn man sich jetzt, sagen wir mal, gut anstellt, dann tut sich irgendwie ein Türchen auf, und am Anfang hieß es dann auch immer, [...] 400-Euro-Job und so, ich wollt natürlich mehr als 400 Euro, ich hab dann irgendwie gehofft, vielleicht fünfzig oder sechzig Prozent, aber infolge der mangelnden Auslastung da, sagen wir, achtzig Prozent war nur ausgelastet von den Zimmern, war dann am Ende des Jahres: ‚Tut mir leid, sind jetzt so viele gestorben, sind wieder grad drei von der Stufe gestorben, wir können niemand einstellen‘.“

Auch wenn es ihm infolge der vielen Enttäuschungen immer mal wieder sehr schwer fiel, hatte Herr O. bis zu unserem Gespräch noch nicht aufgehört, reguläre Arbeit zu suchen. Dabei machte er aber die Erfahrung: „Es gab nur so dubiose Sachen, also teilweise ist auch praktisch so unter der Hand, so ‚ich hab ne 86-jäh-rige Mutter, das darf aber niemand wissen und äh, nix aufs Konto‘, und das hab ich jetzt nie gemacht, ach irgendwie hatte ich da wahrscheinlich auch mehr Angst.

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[...] Aber man kriegt in der Altenpflege schon so dubiose Angebote. ‚Und das sind nur drei Stunden täglich‘. Hab ich jetzt noch nicht gemacht, ich weiß nicht, ob ich mal so verzweifelt bin, dass ich dann doch sowas mache.“

Im Sommer 2008 nahm Herr O. noch einmal einen beherzten Anlauf, seiner Hoffnung auf Berufstätigkeit Auftrieb zu geben. Er recherchierte intensiv im Inter-net nach Möglichkeiten der Fortbildung zur gerontopsychiatrischen Fachkraft. Er wusste, dass es wegen der zunehmenden Zahl dementiell erkrankter Menschen in der Altenpflege Bedarf an entsprechend qualifiziertem Pflegepersonal gibt. „Also ich möchte gerne gerontopsychiatrische Fachkraft machen und auf die Schule, hab ich doch mehr Chancen, ich kann mir vorstellen, ich könnte noch zehn Jahre arbeiten, bis 65. Ich muss irgendwie was vorweisen und außerdem würd mich der Bereich interessieren.“ Das hatte er auch seinem damaligen Arbeitsvermittler erklärt. Aber der Qualifizierungswunsch war mit dem Hinweis auf die Kosten der Weiterbildung in Höhe von 2000 Euro abgelehnt worden. „Ich bin da in ein schwarzes Loch gefallen, ich hab mich schon auf der Schule irgendwo gesehen wieder, es hätt mir nichts ausgemacht. [...]. Und wenig später les ich ja auch, ‚suche Fachkraft für Gerontopsychiatrie‘.“

Nicht lange nach der Ablehnung der Zusatzqualifizierung wurde Herrn O. ein weiterer Ein-Euro-Job angeboten, und zwar in einem psychiatrischen Lan-deskrankenhaus. „Ich hab’s abgelehnt, weil ich wusste, was auf mich zukommt, und ich hab da schon früher meine Schwierigkeiten gehabt, also mit der Frei-heitsberaubung da, ich wusste, dass das wahrscheinlich wieder käme, mit diesen Bauchgurten und Magnetverschluss. Und ich hab, damals im Zivildienst hab ich das ja mitmachen müssen, es war Pflicht 16 Monate, und da hat es mich immer schon gestört.“ Die Ablehnung des Ein-Euro-Jobs wurde mit einer 30-prozentigen Leistungskürzung für drei Monate sanktioniert. Herr O. legte Widerspruch gegen den Sanktionsbescheid, „aber das wurde nicht akzeptiert, dass ich aus seelischen Gründen nicht in die Psychiatrie wollte.“ Im November 2008 trat die Sanktion in Kraft.

Vermutlich war die Erinnerung an bedrückende Erlebnisse im Zivildienst zwar der Hauptgrund dafür, dass Herr O. sich zum ersten Mal gegenüber den Erwartungen des Jobcenters nicht als „brav“ erwies. Aber er deutete noch eine Reihe weiterer Motive an, die zu seiner Ablehnung des zweiten Ein-Euro-Jobs beigetragen haben dürften. Beim ersten Ein-Euro-Job, der ihm nicht die erhoffte Anstellung brachte, hatte er bereits die Erfahrung gemacht, dass es „normale Arbeit fast“ war, aber „von der Hierarchie bist du halt doch etwas unten, du bist

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ja nicht eingestellt, du bist ja nur einer vom Arbeitsamt“. Herr O. betrachtete eine so genannte Arbeitsgelegenheit inzwischen als „Dumping-Arbeitsplatz“. Hinzu kam, dass ihm mit dem Job-Vorschlag nicht einmal mitgeteilt worden war, welche Arbeit er in der Klinik verrichten sollte und auf welcher Station er eingesetzt wer-den sollte. Als er dies in einem Telefonat mit der Klinik erfahren wollte, bekam er zur Antwort: „Ja, das erfahren Sie erst, wenn Sie kommen, ich kann Ihnen auch nichts Genaues sagen.“ Herrn O.s Bereitschaft, so blindlings über sich verfügen zu lassen, war zu dem Zeitpunkt offenbar erschöpft; er sah es auch nicht mehr ein, „gemeinnützig“ arbeiten zu müssen: „[...]da stand ja auch gemeinnützig, ich hab gedacht, was hab ich denn verbrochen?“

Noch im Oktober 2008, als Herr O. den ersten Sanktionsbescheid bekam, erhielt er einen „Vermittlungsvorschlag“ für eine reguläre Arbeitsstelle in einem Altenheim. Allerdings war Herr O. bereits Wochen zuvor ohne Zutun des Job-centers auf dieses Stellenangebot gestoßen, hatte sich auf die Stelle beworben und einen Tag, bevor der „Vorschlag“ des Jobcenters kam, eine Absage erhalten. Herr O. teilte der Behörde, dass er sich auf die vorgeschlagene Stelle bereits ver-geblich beworben habe. Mit dem Argument, „ ‚immer wieder probieren‘ oder so ähnlich“, erhielt er wegen seiner Weigerung, sich erneut zu bewerben, den zweiten Sanktionsbescheid. Und da es sich dieses Mal um eine so genannte wiederholte Pflichtverletzung handelte, betrug diese Leistungskürzung sechzig Prozent der maßgeblichen Regelleistung für drei Monate. Da beide Sanktionen zeitgleich wirksam waren, wurde ihm die Leistung also um neunzig Prozent gekürzt.

Herr O. legte erneut Widerspruch ein, und dieses Mal hatte die Widerspruchs-stelle ein Einsehen, dass Herr O. sich nicht „unmöglich machen“ wollte. Aller-dings dauert die Bearbeitung von Widersprüchen ihre Zeit, und Widersprüche haben keine aufschiebende Wirkung. Verfügte Sanktionen treten dagegen sehr schnell in Kraft, so dass Herrn O. für Dezember nur 35 Euro überwiesen wur-den.

Die 30-prozentige Leistungskürzung im November konnte Herr O. noch da-durch kompensieren, dass er – und vermutlich mit ihm Frau N. – sich noch stärker beim Einkauf von Lebensmitteln einschränkte. Die 90-prozentige Leistungskür-zung im Dezember war so nicht mehr zu bewältigen. Er konnte seinen Anteil an der Stromrechnung nicht mehr bezahlen und den Zahnarzt, der ihm drei Zähne überkront hatte, konnte er auch nicht zahlen. An dieser Stelle sei angemerkt: Dass sich Herr O. trotz seiner Armut einer Zahnbehandlung unterzog, deren Kosten nicht von der Krankenversicherung getragen werden, entsprach seiner gepflegten

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Erscheinung, seinem Bemühen, die Armut nicht auch noch durch sein Aussehen zu dokumentieren.

Herr O. musste nun auch Lebensmittelgutscheine beantragen. Er erhielt zu-nächst einen Gutschein in Höhe von lediglich 35 Euro. „Normalerweise heißt es eigentlich-, das war schon eine Demütigung, man soll angemessene Lebensmit-telgut-, angemessene. Jetzt hat die mir nur [...] genau diesen Betrag als Lebens-mittelgutschein gegeben.“ Ebenfalls demütigend empfand Herr O. die Situation, diesen Gutschein einlösen zu müssen: „Das war eine Demütigung. Da musst ich noch überlegen, wo geh ich jetzt hin, wo man mich nicht kennt, weil das so ein Schamgefühl ist. Ich durfte also nicht in ein bestimmtes Kaufland oder so, da kennen mich selbst die Kassiererinnen schon, also da musste ich was auswählen, wo man mich nicht kennt, um diesen 35-Euro-Scheck einzulösen. Da wirst du echt blöd angeguckt. [...] Und dann musste ich 17 Tage etwa warten, [...] bis ich wieder sechzig Euro bekam.“

Herr O. bekam dann am 30. Dezember für Januar 2009 nur 130 Euro und seit-her – also zum Interviewzeitpunkt seit fast zwei Monaten - gar keine Leistungen mehr. Wobei auch für mich beim Lesen der diversen Leistungs- und Aufhebungs-bescheide nicht erkennbar wurde, ob Herr O. aus Sanktionsgründen oder wegen Fehlern bei der Verrechnung des Einkommens von Frau N. oder aus einer Kom-bination beider Gründe nichts bekam. Die Undurchschaubarkeit der finanziellen Situation sah Herr O. wesentlich mitverursacht durch „diese ganze Problematik in einer Bedarfsgemeinschaft“. Herr O. vermutete, dass er keine Unterhaltslei-stungen mehr bekam, weil die gegen Frau N. verhängte Sanktion ihm zugerechnet wurde: „Die haben mir das zugeschanzt, und dann musste ich mit ihr darüber streiten, ‚ja du, die meinen dich, die tun mir deine Sanktion zuschieben, weil sie mit diesen verschiedenen Konten nicht mehr zurechtkommen und mit dieser Be-darfsgemeinschaft‘.“ Der Streit und die Beziehungskrise, zu der die Geldnot und die unklare Verursachung führten, wird auch von Herrn O. ange sprochen: „[...] Partnerschaft, ich weiß nicht, da gibt es ja diese Sprichwörter mit dem Geld, am Geld scheitert sich alles, oder so, [...] ja, auf jeden Fall ging es leider um diesen Mammon da, um das Geld, und ich kam dann sehr halt ins Hintertreffen.“

Weil die Geschichte ohnehin schon so verzwickt und schwer zu vermitteln war, mochte sich Herr O. im Interview vermutlich schon gar nicht mehr so recht auf den Gedanken einlassen, dass er seit März 2009 sehr wahrscheinlich schon wieder einer 60-prozentigen Sanktion unterworfen war.

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Eher beiläufig begann er zu erzählen: „So circa September wurde mir eine-, genau, nachdem ich nicht in die Psychiatrie wollte, hat man gesagt, ja, da ist noch eine andere Maßnahme, eine Integrationsmaßnahme, da tun wir sie jetzt rein.“ Offenbar sollte es sich bei dieser Maßnahme um ein so genanntes „Bewerbungs-coaching“ handeln, denn die Maßnahme bestand aus Einzelgesprächen mit einer Sozialpädagogin und zum Inhalt der Maßnahme erhielt Herr O. im Jobcenter die Auskunft: „ ‚Ja, die tut noch mal das Ganze analysieren und so, das sind immer Gespräche und Bewerbungssachen, wie man das verbessern könnte.‘ Hab ich gesagt, ‚das kann ich doch selber machen, ich will jetzt eigentlich da nicht‘. Also Pustekuchen, ‚Sie gehen da hin.‘ Auch wieder, ‚wenn Sie nicht hingehen, dann kriegen Sie Sanktion.‘ Das ist ja immer das Druckmittel. Und dann bin ich hingegangen ordnungsgemäß.“

Die Gespräche fand Herr O. „ursprünglich sehr nett“. Nach einer durch Er-krankung der „Trainerin“ bedingten mehrwöchigen Unterbrechung änderten sich die Gespräche allerdings deutlich. „Dann hat da immer so, also aus meiner Sicht, ‚Ach, warum finden Sie denn keine Stelle?‘ [...] Scheinbar hat sie irgendeinen Druck oder so was bekommen, die hat mich etwas anders angefasst, nicht mehr mit diesen Glacé-Handschuhen, sondern, ‚ja, es muss irgendwie an Ihnen lie-gen‘, mit Schuld und so, ich kam mir vor wie in der Ehe früher; ‚was denken Sie, warum?, wie stellen Sie sich denn an beim Vorstellungsgespräch? Gehen Sie da schlecht oder nicht rasiert hin?‘. Hab ich gesagt, ‚was, nee, ich geh ganz normal hin, ich stink auch nicht, ich rauch nicht.‘ Ach, das artete dann aus, [...], beim zweiten Mal: ‚ach wissen Sie was, ich hab mir jetzt Gedanken gemacht über Sie, ich glaube, Sie haben gar keine Lust mehr zu arbeiten.‘ Dann hab ich noch so gestutzt, aber dann ging das halt weiter: ‚Was haben Sie denn zu verschleiern, haben Sie noch ne Stelle?‘ Und dann hab ich mir alles aufgeschrieben, ich hab gesagt, ‚ja, glauben Sie das jetzt wirklich von mir?‘. ‚Ja, Sie wirken immer relativ ausgeglichen.‘ ‚Ja, soll ich jetzt heulen oder jammern?‘ ‚Ja, aber es entspricht irgendwie nicht so der Realität.‘ Ich war ihr irgendwie noch zu gut drauf. Sie hat immer gesagt: ‚Sagen Sie, wie gehen Sie jetzt mit der ganzen Situation um?‘. Ich hab gesagt, ‚ich hab’s jetzt akzeptiert, ich bin mehr so der gelassene Mensch, ich trink keinen Alkohol, ich kann mich also jetzt nicht besaufen. Ich bin so einer mehr, der in der Realität lebt.‘ Wobei ich jetzt natürlich immer denk, ich bin jetzt 54 und mir wurde schon gesagt, ab einem gewissen Alter, da tun die Personalchefs halt lieber junge Mädchen vorziehen. Ach, es artete dann halt aus, also erst mal, ‚ach, ich glaub einfach, Sie wollen nicht mehr, Sie-‘, wie hat sie gesagt?, ‚Sie haben

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keine Zeit zu arbeiten und Sie haben keine Lust zu arbeiten.‘ Und dann ging es wieder los mit diesem ‚Ich glaub, Sie haben was zu verschleiern.‘ Und dann war ja die Schlussfrage an dem Tag, vielleicht war sie auch einfach schlecht drauf, aufgestanden, etwas lauter als sonst, ‚Sie wollen nicht‘. Auf jeden Fall ist meine Motivation dann zusammen gebrochen, weil ich muss mich auch immer in einem gewissen-, in einer Balance halten, und ich muss immer versuchen, wieder auf diese Waagerechte zu kommen, und da hab ich gedacht, was bringt das eigentlich, ich versuch mich ja aufzubauen.“

Herr O. war nicht bereit, sich so zu nahe treten zu lassen und sich Arbeitsunlust und/oder Schwarzarbeit unterstellen zu lassen. Dieses „Alles-so-infrage-stellen: ‚Ich nehm Ihnen das nicht ab.‘, ‚Ich glaub Ihnen das nicht.‘ “ war ein zu heftiger Angriff auf sein ohnehin nur mühsam zu verteidigendes Selbstwertgefühl. Er schrieb dem Jobcenter und der Vorgesetzten der „Trainerin“ einen Brief, in dem er erklärte, warum er nicht bereit sei, diese Gespräche fortzuführen. Hierauf erhielt er drei Monate lang von keiner Seite Antwort. Erst Mitte Februar 2009 kam eine Antwort in Form einer neuerlichen Sanktionsdrohung und der dazu gehörigen schriftlichen „Anhörung“. Herrn O.s Gründe für den Abbruch der „Maßnahme“ sind nicht akzeptiert worden, der Sanktionsbescheid kam, Herr O. hatte Wider-spruch eingelegt. Bearbeitet war der Widerspruch, als wir das Interview führten, noch nicht.

Herr O. bekam etwas Geld von seiner Schwester geliehen. Dies bedurfte der Ausein andersetzungen mit der Schwester und der Beteuerung, zurückzuzahlen.

Herr Ö.: Was will ich mit Ingenieur?Herr Ö. war 48 Jahre alt, verheiratet, hatte eine 25-jährige und eine knapp vier-jährige Tochter. Ein weiteres Kind war 1997 bei der Geburt gestorben. Herrn Ö.s Frau war halbtags als Verkäuferin berufstätig.

Herr Ö. ist gelernter Schreiner, blieb aber bei meiner Frage nach seiner Be-rufstätigkeit äußerst wortkarg, was in großem Gegensatz zu seinem enormen, wenn auch überwiegend sehr konfusen Mitteilungsbedürfnis zu anderen Themen stand. Meine Frage, „Sie sind im Grunde, wenn ich es richtig verstehe, seit Anfang der 90er Jahre erwerbslos?“, beantwortete Herr Ö. mit einem knappen „ja“. Anfang der 90er Jahre war er zwar noch „selbstständig drei Jahre“, hatte „[...] geschreinert [...] mit nem Kollegen“, aber der „Kollege hat sich dann mit ner Freundin doch lieber dann verabschiedet“.

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Herrn Ö. fehlten zwei Finger an der linken Hand, er hatte Arthrose und Rü-ckenprobleme. Mittlerweile habe er drei Bandscheibenvorfälle gehabt, sagte er. „Ich hab dann ne Umschulung, ne Reha-Maßnahme von der Agentur bekommen, um den Meister im Tischler-Handwerk zu machen.“ Das war 1994 und dauerte 9 ½ Monate. „Ich hab die neun Monate soweit gemacht, hab auch meine Prü-fungen gemacht, bis auf die Arbeitsprobe, die hab ich nicht mit Erfolg ablegen können, auch nach dem zweiten Versuch.“ Die Meisterschule, sagte Herr Ö., hätte ihm „eigentlich den Rest gegeben“. Die verworrenen Ausführungen, die dieser Feststellung vorausgingen, erklären nicht, von welchem Ganzen ihm die Meister-schule „den Rest gegeben“ habe, und eine Chance, nachzufragen, ließ mir Herr Ö. an dieser Stelle nicht. Die Interviewsentenz lautet: „[...]Aber das (damit sind die Erlebnisse an der Meisterschule gemeint) hat mir eigentlich den Rest gege-ben. Familienmäßig ist da unser Sohn auch gestorben bei der Geburt, also ist [...](unverständlich)[...]-Patientin, meine Frau, also familienmäßig war es sehr anstrengend.“

Das Kind war drei Jahre nach der gescheiterten Prüfung gestorben, wie ich bei der Auswertung des Interviewtranskriptes feststellte. Aber die Erwähnung seines Todes an dieser Stelle ließ es im Gespräch nicht zu, beim Thema „Meisterschule“ zu bleiben, so dass ich nur mutmaßen kann, dass die missglückte Arbeitsprobe Herrn Ö. den Rest dessen gegeben hatte, was erforderlich war, um sein berufliches Selbstvertrauen zu zerstören.

Nach der Meisterschule geschah jedenfalls in Herrn Ö.s Leben in beruflicher Hinsicht lange Jahre nichts mehr, was ihm der Rede wert gewesen wäre. Als dann 2005 Hartz IV in Kraft trat, hatte er mit dem Jobcenter erst mal lange Zeit ums Geld zu streiten. Erst bekam er gar nichts, weil seine Frau noch in Vollzeit berufs-tätig war, und ihr Nettoverdienst in Höhe von 900 Euro den Bedarf der „Bedarfs-gemeinschaft“ zu decken hatte, bis das jüngste Kind zur Welt kam. Dann wurde den Eltern das Kindergeld für die erwachsene, in Ausbildung befindliche Tochter als Einkommen angerechnet, obwohl das Kindergeld an die Tochter weitergeleitet wurde. Die Änderung dieser Anrechnungspraxis bedurfte des Richterspruchs. Um einen Zuschuss zu den Kosten der Instandhaltung des alten geerbten Hauses, in dem die Familie wohnte, weshalb die Behörde kaum Kosten der Unterkunft zu tragen hatte, stritt Herr Ö. vergeblich.

Einen Ansprechpartner in beruflichen Fragen hatte er im Jobcenter lange nicht. Als er schließlich doch einen Ansprechpartner bekam, wurde ihm – wiederum als Reha-Maßnahme – sogar eine „Fortbildung zum Bauingenieur“ angeboten. Herr

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Ö. lehnte das Angebot ab. „Durch das, was ich erlebt habe in der Meisterschu-le, mit dem Erfolg, dass ich nicht einmal als besser ausgebildeter Handwerker irgendwo hier einen Job kriege, was will ich mit Ingenieur? Zum andern ist mir bekannt, in [...], genau so auch wie damals in [...], da sind 70 Prozent Durch-fallquoten, und nicht nur Leute mit Behinderungen.“ Zur Angst vor erneutem Versagen kam die Angst vor Schadensersatzforderungen, die auf ihn zu gekommen wären, wenn er die Fortbildung nicht zu Ende geführt hätte. § 15, Abs. 3 SGB II verlangt von den Behörden solche Schadensersatzregelungen, und „das war ihnen ja auch wichtig, so was unterschreiben zu lassen.“

Nachdem Herr Ö. das Fortbildungsangebot abgelehnt hatte, sollte er ein Be-werbungstraining mit anschließendem dreimonatigem Praktikum absolvieren. Die-sen „Depperles-Kurs“ brach Herr Ö. ab, nachdem er dort neben „einem Jungen“ gesessen hatte, „der saß da am Bildschirm und hat da seine Bildschirmspielchen zum Besten gegeben“. Stärker als der Junge, der mit Computerspielen beschäftigt war, schreckte Herrn Ö. aber offenbar ab, dass er bei dem Bildungsträger eine Frau traf, die er als Mitarbeiterin einer Leiharbeitsfirma, bei der er sich schon mal beworben hatte, kannte. Das vermittelte ihm den Eindruck, dass „die Arbeitsver-mittler (der Leiharbeitsfirmen) möglichst schon hinter der Tür stehen, das heißt, deine Adresse wird schon verkauft, bevor es überhaupt los geht.“

Vermutlich mag Herr Ö. nicht Leiharbeitnehmer werden und sich nicht als in die Jahre gekommenes „Depperle“ auf einer Stufe mit jungen „Depperles“ füh-len. In solcher oder ähnlicher Weise explizierte Herr Ö. seine Ablehnungsgründe nicht. Wahrscheinlich war er sich seiner Motive selbst viel zu unsicher, als dass er sie im Gespräch hätte deutlich machen können. Offiziell begründet hatte Herr Ö. den rasch erfolgten Kursabbruch mit seinem Rü ckenleiden, in dessen Folge ihn die „Hockerei [...] fertig“ mache.

Die Begründung wurde nicht akzeptiert, Herr Ö. wurde sanktioniert, und zwar gleich mit einer Kürzung in Höhe von neunzig Prozent der Regelleistung. Diese Sanktionshöhe konnte er nicht erklären. Er klagte gegen die Sanktion insgesamt und erreichte nach neunmonatigem Verfahren, dass die Sanktion auf die – nach der Rechtslage – zu erwartende 30-prozentige Kürzung reduziert wurde. Da hatte er aber die drei Monate, in denen er mit Lebensmittelgutscheinen einkaufen gehen musste und die Beziehung zwischen Herrn Ö. und seiner Frau schweren Span-nungen ausgesetzt war, längst hinter sich.

Herr Ö. war zum Interviewzeitpunkt bereits seit etwa zwei Jahren ehrenamt-licher Mitarbeiter eines großen Tafelladens, der auch gebrauchte Kleidung und

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Haushaltswaren anbietet. Hier führten wir auch das Interview. Während dieser beiden Jahre war er dort auch eine Zeitlang als Ein-Euro-Jobber tätig. Am Anfang seiner Arbeit für den Tafelladen war er tatkräftig am Innenausbau des Ladens beteiligt gewesen, seither verrichtete er die anfallenden Hausmeistertätigkeiten. „Ich kann hier zu jeder Tages- und Nachtzeit rein und kann meine Arbeit machen, wann immer ich lustig bin, das heißt, es ist nicht so dieses starre Gefüge... Also, ich kann mit meinen gesundheitlichen Einschränkungen hier sehr wohl meinen Dingen nachkommen.“

Herr Ö. litt darunter, dass er seine „Familie nicht ernähren“ kann und seine „Frau [...] die Last (trägt)“. Aber eine Vorstellung davon, wie sich der Zustand ändern ließe, hatte er nicht. Um eine solche Vorstellung zu entwickeln, fehlten ihm Elan und reelle Chancen.

Herr P.: Depressionen, keine Arbeit, kein Geld.Herr P. war 39 Jahre alt und hatte die türkische Staatsbürgerschaft. Als Baby war er mit den Eltern und den älteren Geschwistern nach Deutschland gekommen. Er hatte die Hauptschule abgeschlossen und danach drei Jahre lang als „Jungarbei-ter“ in einer großen Fabrik gearbeitet. Etwas wehmütig sagte er: „Die Leute, die mit mir angefangen haben als Jungarbeiter, da hatten wir wöchentlich noch so Metallunterricht, [...] die Leute, die mit mir angefangen haben, die sind mittler-weile mindestens Schichtführer, die meisten haben noch ne kurze Ausbildung dazu gemacht, sind Meister geworden.“

Bei Herrn P. kam es anders. „Nach drei Jahren, da haben mich meine Eltern verheiratet in der Türkei. [...] Da war ich 18, ja, die Rebellionszeit, [...]und ich wollte nichts von ihr. [...] Ja, die Hochzeit war, und ich bin in der Hochzeitsnacht abgehauen. Jeder hat gewusst, dass ich sie nicht will. Ja, mein Vater hat gemeint, er müsste sein Gesicht wahren, er muss sein Gesicht wahren, ich soll erst mal heiraten, in der Hoffnung, dass sie mir vielleicht dann gefällt oder keine Ahnung, ich war 18. Nach der Hochzeit bin ich scht weg.“ Die Hoffnung des Vaters er-füllte sich nicht. Herr P. holte seine Frau, als sie wenig später nach Deutschland kam, zwar auf Bitten der Eltern noch vom Flughafen ab, wollte aber die Firmen-wohnung nicht, die sein Arbeitgeber dem jungen Ehepaar vermietet hätte, und richtete seiner Frau stattdessen ein Zimmer in der Wohnung seiner Eltern ein: „Hab mir ein Bett gekauft, normal hätte es ein Ehebett werden sollen, bin ich zum Möbelgeschäft, da gibt es so 90er Betten, da hab ich die gefragt, ob es nicht ein bisschen schmaler geht. [...] Dann hat sie in diesem Kinderzimmer, ...: ja, da

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hat sie dann gelebt, und ich hab im Auto gelebt, mehr oder weniger.“ [...] Und dann stand ich mal vorm Betrieb, nachts, zu der Zeit hatte ich noch ein Auto, Nachtschicht, und hab gedacht, für was gehst du arbeiten, wenn du dein Leben nicht selber bestimmen kannst.“

Herr P. gab seinen Job auf, verließ sein Elternhaus und ließ seine Frau dort zu-rück, mit der er aber noch lange formell verheiratet blieb, bis ihr Aufenthaltsrecht gesichert war. Dass es für die junge Frau eine zu große Schmach gewesen wäre, allein in die Türkei zurückzukehren, verstand er. Aber anstatt sein Leben von nun an selber bestimmen zu können und sich den Wunsch erfüllen zu können, „was Handfestes (zu) lernen“, ging „ab da [...] alles irgendwie abwärts“.

Herr P. arbeitete als Zweiradmechaniker, auf Baustellen und die meiste Zeit als Autoreifen-Monteur. Für diese Arbeit fand er sich, als wir miteinander sprachen, „langsam zu alt“: „Die Reifen werden immer breiter und größer, schwerer, vor allem schwerer, und dann, die Erwartungen werden auch immer mehr, und das Geld ist gleich geblieben wie vor zwanzig Jahren. Ich hab 870 Euro verdient, für von morgens um acht bis abends um acht. Echt heavy, hart, und wie gesagt, ein Auto nach dem andern.“ Es waren nicht nur die schweren Reifen, der Zeitdruck und die miserable Bezahlung, die Herrn P. zu schaffen machten: „Dann hat man einen Meister, der ist 24, der ist frisch aus der Akademie raus und schlendert da durch die Gegend. [...] . Der montiert keinen Reifen, und man montiert zwei Autos in der Zeit, man schimpft, man sagt, ‚warum machst du nichts‘, sagt er, ‚ich bin Meister‘, sag ich, ‚ich scheiß auf deinen Meister‘.“

„Mein größter Fehler war“, sagte Herr P., „ich hab Günter Wallraff mal ge-lesen, sagt Ihnen der was?“ Welche Folgen die Lektüre gehabt habe, wollte ich wissen, und Herr P. fuhr fort: „Ja, wenn ich da Sachen sehe, wo die andern ihre Zeitung lesen, und ich soll da die Reifen montieren, der eine ist jünger, der wo die Zeitung liest hinten. [...] Ja, ich hab gemerkt, ich bin zu alt jetzt für den Job. [...] Ich hab viele Parallelen in meinem Leben gesehen, bei der Arbeit.“

Herr P. lebte im Zwiespalt zwischen der mit zunehmendem Alter schmerz-licher werdenden Erfahrung, dass er als ungelernter Arbeiter am unteren Ende betrieblicher Hierarchien stand, und der Erfahrung: „Da blüht man schon auf, wenn man einen Job hat.“ Arbeitslosigkeit war für ihn keineswegs eine erträgliche Alternative. Deshalb war er auch völlig einverstanden, als ihm seine damals zu-ständige persönliche Ansprechpartnerin, mit der er gut ausgekommen sei, im Früh-sommer 2008 eine Arbeitsgelegenheit in der Entgeltvariante vermittelte. „Bevor sie mir diesen Job angeboten hat, hab ich sie darum gebeten, dass ich noch bei

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diesem Reifenhändler so einen Monat halt machen kann, weil die Saison grad begonnen hat, sie hat gemerkt, dass mir das Spaß macht, von daher war sie nett, hat gemeint, ‚okay, dann machen Sie das erst mal‘. Eigentlich hat sie gemeint, das sind sowieso Ausbeuter (gemeint war der Reifenhändler), nur eineinhalb Monate, keine Aussicht auf Festeinstellung.“

Nach der Arbeit beim Reifenhändler hat Herr P. für den von der ARGE ver-mittelten Job „[...]den Vertrag unterschrieben, und wie es der Teufel will, ich bin krank geworden, und dann bin ich zum Arzt und bin dorthin und hab die Krank-meldung vorbei gebracht, dann hat der Mann gemeint, ich soll jetzt schauen, wo ich mein Geld her bekomm, von denen bekomm ich jetzt nichts. Mir ging es ja nicht ums Geld, sondern ich war wirklich krank. Ja, und dann hab ich sowieso Depressionen gehabt und meinen Militärdienst noch vor mir in der Türkei, wo ich dort machen musste. Dann hab ich gedacht, ja, wenn der mir kein Geld gibt, dann-, meine Schwester war grad in der Türkei, hab ich gedacht, dann hock ich mich ins Auto und fahr.“

Herr P. verbrachte einige Monate bei den Eltern, die bereits seit mehr als zehn Jahren wieder in der Türkei lebten. Er absolvierte im Oktober drei Wochen Militär-dienst und kaufte sich mit Geld, das ihm seine Mutter hierfür gab, von der weiteren Dienstpflicht frei. Als er im November 2008 nach Deutschland zurückkam, war er obdachlos und er musste erneut ALG II beantragen. Er fand Unterkunft in einer Einrichtung für Wohnsitzlose, die er allerdings Mitte Januar 2009 wegen einer „Rauferei“ mit einem Mitbewohner, „so von der rechten Szene“, ebenso wie sein Kontrahent wieder verlassen musste.

Herr P. lebte seither auf der Straße. Die letzten Nächte vor unserem Gespräch hatte er in einer Garage geschlafen, weil die Einrichtung, die in den Wintermo-naten Erfrierungsschutz für die Nacht anbietet, inzwischen – es war Anfang April – nicht mehr geöffnet hatte.

Seit Februar 2009 war Herr P. mit einer 40-prozentigen Kürzung der Regellei-stung sanktioniert. Dass ein Viertel der Sanktion Folge eines Terminversäumnisses war, wusste Herr P.. Von der Begründung der weiteren 30-prozentigen Sanktion hatte er nur eine vage Vorstellung. Erst vier Wochen vor unserem Gespräch erfuhr er von einem Sozialarbeiter, dass es um den gescheiterten Job vor seinem Türkei-aufenthalt gegangen und ihm „Arbeitsverweigerung“ vorgeworfen worden sei. Meine Frage, ob er also doch nicht wegen seiner Krankmeldung gekündigt worden sei, sondern sein Wegfahren als Abbruch eines nach wie vor bestehenden Arbeits-verhältnisses interpretiert wurde, konnte Herr P. nicht beantworten. „Die haben

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das per Fax gemacht, ich hab das weder schriftlich noch in der Hand gehabt.“ Er hatte sich jedenfalls, bevor er fuhr, gekündigt gefühlt, und bei der ARGE war er ohnehin abgemeldet gewesen. „Und darauf hin hab ich gedacht, da kein Geld, dort kein Geld, ja, mein Leben läuft schon seit ein, zwei Jahren nicht so toll. [...] Depressionen, keine Arbeit, kein Geld.“

Ein paar Wochen vor unserem Gespräch hatte Herr P. seine Tasche in einem Gebüsch versteckt, weil er „nicht gern mit dem ganzen Zeug rum(rennt)“. „Ich war halt abends unterwegs, hab draußen gepennt, es war kalt, da bin ich in die Kneipe, um mich aufzuwärmen, und dann bin ich zurückgekommen, ich hatt‘ es versteckt, war’s weg.“ Daran, wenigstens seinen Pass und Ausweise in die Kneipe mitzunehmen, hatte Herr P. nicht gedacht. Als wir miteinander sprachen, hatte er weder Geld, um sich einen neuen Ausweis zu besorgen, noch, um seinen Füh-rerschein abzuholen, den er inzwischen wieder bekommen hätte, nachdem er ihn wegen einer Trunkenheitsfahrt eingebüßt hatte. Es fehlte ihm nicht nur das Geld für „die Gebühr, das sind 86 Euro, da kommen ja noch die Rote-Kreuz-Gebühren, Sehtest-Gebühren und so Kleinkram, das summiert sich halt“.

Wir führten das Interview in der Einrichtung, in der Herr P. bis Mitte Januar ein Zimmer gehabt hatte. Der Ort, in dem er auf der Straße lebte, ist dreißig Ki-lometer entfernt. Er kam mit der Bahn zum Interview, schwarz fahrend. Ich bat ihn dringend, die 15 Euro „Interviewhonorar“ für die Rückfahrkarte auszugeben. Er versprach es mir.

Auf meine Frage nach seinen Wünschen für die berufliche Zukunft antwortete Herr P.: „Keine Ahnung, echt, dass ich mir meine Jobs aussuchen kann, das ist schon lang nicht mehr so. Ich war bei der BASF Abbruch machen, total ekelhafte Arbeit, als Zimmermanns-Helfer den ganzen Scheiß wegräumen, auch keine tolle Arbeit. Es kommt immer auf die Kollegen drauf an. [...] Und man sollte eini-germaßen verdienen, einigermaßen. Ich will jetzt keine Beamtengehälter, aber dass man sich Kleinigkeiten leisten kann. Wenn man arbeiten tut, dass man sich wenigstens ne kleine Wohnung- und dann ab und zu mal rausgehen, zum Essen gehen, jemand einladen, dass man Perspektiven hat. Mit den Löhnen, die jetzt zur Zeit sind, da, man kommt alleine nicht mal über die Runden, geschweige denn, dass man Familienplanung machen könnte, also null.“

Herr Q.: Die haben kein Gesicht zu dem Fall.Herr Q. war 27 Jahre alt und lebte allein in einer Mietwohnung.

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Seine Eltern waren „Alkoholiker, so übelster Sorte“. Als Herr Q. sechs Jahre alt war, kam die Mutter bei einem Autounfall ums Leben und der Vater wurde zu einer andert halbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Vermutlich hatte er den töd-lichen Unfall unter Alkoholeinfluss verursacht. Bevor er die Haft antreten musste, lernte der Vater eine Frau kennen, die versprach, sich um Herrn Q. und seine um zwei Jahre jüngere Schwester zu kümmern, solange der Vater in Haft ist. Herr Q. hatte noch mehrere ältere Geschwister, an die er sich aber nicht erinnerte. „Die sind alle mit dem Tod der Mutter-, wurden die genommen von Onkels, Tanten, Oma, Opa, außer die zwei klein sten, die sind übrig geblieben.“

Zwei Wochen nach dem Haftantritt des Vaters habe die neue Freundin „einen Möbelwagen kommen lassen und hat alles geklaut, das ganze Haus leer. So ein Minireihenhaus. Und hat uns zwei da hocken lassen.“ Das erfuhr Herr Q. alles später aus seiner Jugendamtsakte. Auch, dass es wiederum etwa 14 Tage dauerte, bis es den Nachbarn auffiel, dass die beiden kleinen Kinder alleine hausten, und sie die Polizei verständigten.

Herr Q. und seine kleine Schwester kamen erst in ein Heim, dann in eine Pflegefamilie und danach ins Kinderdorf. „Ja, und dann im Kinderdorf war also alles, also war sehr gut, muss ich sagen. Im Nachhinein. Wenn man da wohnt, da meckert man zwar immer, aber wenn man da mal zwei Jahre weg ist, dann weiß man-, es war perfekt eigentlich. Meine ganzen Kompagnons hab ich von da noch. Sind alle immer noch die gleiche Gang wie mit zehn.“

Auch zu seiner jüngeren Schwester, die inzwischen studierte, hatte Herr Q. immer noch engen Kontakt.

Schwierig war es für Herrn Q., dass alle Kinder, die im Kinderdorf lebten, in die Waldorfschule gehen mussten. „Ich war erst auf der staatlichen Normalschule bis zur sechsten Klasse, und dann auf die Waldorfschule, und wenn man da später hinkommt, das ist glaub nix. [...] Und mit manchen Fächern konnt ich mich nicht-, mit Eurythmie zum Beispiel. Wenn Sie einem jungen Kerl sagen, er soll ein Kleid-chen anziehen und da rumtanzen.“ Weil er sich dem verweigerte, ist Herr Q. nach Ende der Schulpflicht ohne Abschluss „aus der Schule geflogen“. „Aber ich hab eh schon immer am Wochenende freiwillig in der Gärtnerei geholfen, dann hab ich dem Chef das erzählt, der hat gemeint, ‚wenn du willst, kannst gleich Ausbildung anfangen‘. Und so hab ich dann ja auch en Hauptschulabschluss eigentlich, wenn du die Lehre fertig machst.“

Nach dem Abschluss seiner Ausbildung zum Gärtner und dem anschließenden Zivildienst arbeitete Herr Q. vier Jahre lang in einer Gärtnerei. „Aber da, das

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waren nur Jungpflanzen, und das war irgendwie dann auch ein bisschen lang-weilig. [...] Ja, aber da hatte ich dann auch gleich wieder, da hatte ich mir schon vorher einen neuen Job gesucht, bei so nem Biogärtner in B[...], aber das ging dann schnell in die Hose, weil ich mich mit dem Chef überhaupt nicht verstanden habe.“ Herr Q. wurde gekündigt, und der Chef „[...]hat mir so ne Kündigung geschrieben, dass ich kein Arbeitslosengeld gekriegt hab.“ Der Chef schrieb zur Begründung der Kündigung, „dass ich mich der Arbeit verweigert hätte. Aber das stimmt gar nicht.“

Während der 12-wöchigen Sperre des Arbeitslosengeldes I bekam Herr Q., der damals noch nicht 25 Jahre alt war, bis auf die Kosten der Unterkunft auch kein Arbeitslosengeld II. Die Sanktion hatte auf den immer aktiv gewesenen Herrn Q. keine „aktivierende“ Wirkung, sondern trug dazu bei, dass er sich zum ersten Mal „hängen“ ließ. Die Wohngemeinschaft, in der er damals lebte, wurde aufgelöst, „und dann bin ich auch so ein bisschen-, sag ich mal, hab ich mich hängen lassen, und hab dann auch-, dann hab ich erst mal ein Dreivierteljahr bei einem Kumpel gewohnt und hab mich nicht so recht gekümmert um alles. [...] Dann hab ich keine gescheite Wohnung gefunden, keine Arbeit, und dann bin ich hier gelandet.“ Mit dem „Hier“ ist dieselbe Einrichtung für Wohnungslose gemeint, in der ich auch das Interview mit Herrn P. geführt habe. Auch Herr Q. kam wegen des Interviews sozusagen „zu Besuch“ in die Einrichtung.

Nun intensivierte Herr Q. seine Jobsuche wieder und fand auch wieder eine Stelle. „Beim Gemüsegärtner, da hatte ich nach drei Wochen Tomaten abwiegen-, konnt ich nicht mehr.“ Auf meine Nachfrage, „drei Wochen Tomaten abwiegen?“, fuhr er fort, „aber wirklich zehn Stunden jeden Tag, und da-, ich hab ne Ausbil-dung gemacht und so, das hat mich-.“

Herr Q. suchte also weiter nach einer anderen Stelle, hatte auch einen Vorstel-lungstermin, bekam aber für den betreffenden Tag nicht frei. Deswegen ist er an diesem Tag „einfach weggeblieben“ und zu dem Vorstellungsgespräch gegangen. Die Bewerbung führte nicht zum Erfolg, aber der bisherige Chef erfuhr von Herrn Q.s Arbeitssuche und kündigte ihm. Begründet wurde die Kündigung mit dem unentschuldigten Fehlen, so dass Herr Q. erneut sanktioniert wurde.

Herr Q. fand relativ schnell wieder Arbeit bei einem anderen Gärtner. „Wenn man mit dem ein bisschen Ärger hatte, musste man wirklich gucken, dass man ihm stundenlang aus dem Weg geht, weil er hat immer die Faust gehoben. Man hat richtig gedacht, jetzt scheppert es gleich. Bei dem war, ich glaub, Rekord war ein halbes Jahr, dass ein Mitarbeiter bei ihm gearbeitet hat. Der hat ständig zwei

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Anzeigen in der Zeitung und sucht Mitarbeiter.“ Auch dieser Gärtner kündigte Herrn Q. und schrieb, „dass ich mich unflätig verhalten würde und so“.

Herr Q. wurde zum dritten Mal sanktioniert, aber da er inzwischen das 25. Lebensjahr vollendet hatte, es sich andererseits um ein binnen Jahresfrist wie-derholtes „Pflichtversäumnis“ handelte, betrug die Leistungskürzung jetzt „nur“ sechzig Prozent der Regelleistung.

Herr Q. legte gegen die Sanktionen Widersprüche ein und versuchte, die Arbeitssituationen aus seiner Sicht darzulegen, aber die Widersprüche wurden regelmäßig abgelehnt. „Ich glaub, einmal kam es ja sogar so weit, dass sie in (Ortsname) bei dem Gärtner angerufen haben und gesagt haben, ‚der hat Wider-spruch eingelegt, wie schaut es aus?. Aber der hat natürlich gesagt: ‚So, wie ich es geschrieben habe, so war es‘. Und dann war das Thema erledigt. Wie Herr B. und Frau N. erlebte auch Herr Q., dass die Behörden den Aussagen von Arbeit-gebern höheren Wahrheitsgehalt zubilligten als den Aussagen von Arbeitnehmern oder Erwerbslosen und dass er gegenüber dieser Parteilichkeit machtlos war.

Mit seiner persönlichen Ansprechpartnerin hatte Herr Q. lediglich einmal ein ganz kurzes Gespräch, als er in der Wohnungsloseneinrichtung lebte. „Die war mal hier. Ich hab mal ganz kurz mit der geredet. [...] Ja, die waren hier und haben quasi alle kurz abgearbeitet.“ Auf meine Frage, „und Sie hatten selber im Jobcenter noch gar keinen persönlichen Kontakt?“, antwortete Herr Q.: „Ne, noch nie. Nur zur Antragsabgabe. Und beim Arbeitsamt auch noch nie wegen Jobvermittlung, [...], ich hab mich halt immer ziemlich schnell selber gekümmert. [...]Die wissen auch-, also, die haben kein Gesicht zu dem Fall.“

Herr Q. hielt die Sanktionen für unfair: „Ich hab mich echt immer gleich wieder um Arbeit bemüht. Ich hab auch keine Lust, da ewig zuhause zu hocken mit wenig Geld. Und außerdem macht mir das Gärtnern auch Spaß.“ Im Hin-blick auf die Folgen von Sanktionen konstatierte er: „[...] Von 350 Euro, wenn man da noch was gekürzt kriegt, dann sieht es ganz schlecht aus. Dann ist man schon wieder fast gezwungen, irgendwo so arbeiten zu gehen.“ Meine Nach-frage, ob er schwarz gearbeitet habe, um die Geldnot zu bewältigen, bejahte er: „Ja, irgendwas, egal, Umzug helfen, irgendwas, man findet meistens was in der Zeitung.“ Als er kein Geld bekam, ist er auch schwarz gefahren. Zweimal kam ein Kontrolleur. „Aber ich hab mir da vom Arbeitsamt so einen Blankoscheck mitgenommen, so einen Blanko antrag, hab mit der Schreibmaschine irgendeinen Namen erfunden, eingetragen, und wenn es hieß, ‚Ausweis bitte‘, hab ich immer gesagt, ‚ich hab keinen dabei ‚aber stimmt, ich hab ja was vom Arbeitsamt da, da

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steht alles drauf‘. Zweimal erwischt, zweimal hat es funktioniert.“ Herr Q. wusste, dass solche Betrügereien sehr riskant sind, weil man da „ja noch ein Verfahren an den Hals kriegen“ kann.

2008 hatte Herr Q. von März bis Dezember wieder Arbeit bei einem Land-schaftsgärtner, bis der kleine Betrieb wegen des Schnees und des Frostes vorü-bergehend zu wenig Aufträge hatte. Zum Interviewzeitpunkt ging Herr Q. jedoch davon aus, dass er die Arbeit in diesem Betrieb in wenigen Tagen wieder aufneh-men werde. „Also ich hab en guten Chef jetzt, letztes Jahr gehabt, der hat gesagt, ich kann auf jeden Fall wiederkommen. [...] Aber eigentlich hätte ich schon vor zwei Wochen anfangen sollen. Aber ich glaub, jetzt am 15. geht es dann los. [...] Da versteh ich mich sehr gut. Das ist ein kleiner Betrieb, nur der Chef, sein Vater und zwei Angestellte und ich. [...] Ja, und da verdient man besser als beim Gemüsegärtner, und es macht mir auch mehr Spaß.“

Herr R.: So ein fatales Abhängigkeitsverhältnis.Herr R. war 48 Jahre alt. Seine erste Ausbildung zum Radio- und Fernsehtechniker konnte er nicht abschließen, weil der Ausbildungsbetrieb in Konkurs ging. Herr R. absolvierte stattdessen eine Ausbildung zum elektrotechnischen Assistenten. Danach besuchte er die Fachoberschule und studierte anschließend Betriebswirt-schaftslehre.

1992, nach dem Examen, bekam er für einige Monate eine befristete Stelle bei einer Krankenkasse, für die er bereits während des Studiums in den Semesterferien gearbeitet hatte. Bei der Krankenkasse kam es zu einem Einstellungsstopp, so dass Herr R. nach dem Auslaufen seines Vertrages nicht weiterbeschäftigt wurde.

Es fehlten ihm wenige Arbeitstage, um die Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld I zu erfüllen. Herr R. musste Sozialhilfe beantragen. „Das war für mich – ich beschreib das mal vorsichtig - sehr unangenehm. Ja, und in dem Rahmen bin ich dann zu einer Tätigkeit gekommen in der Staatsbibliothek [...], das hab ich dann ein Jahr gemacht, hab ich in der Datenerfassung gearbeitet.“

Nach Ablauf des Jahres war Herr R. wieder arbeitslos. Er zog nach Baden-Württemberg um, wo er für einige Jahre wieder Arbeit in einer Verlagsbuchhand-lung fand. „Ich hab das beendet von mir aus, aus persönlichen Gründen.“ Diesen Satz sagte Herr R. mit einem abschließenden Gestus, der mich davon zurückhielt, nachzufragen, welche persönlichen Gründe ihn zur Aufgabe des Jobs bewegt hat-ten. Unser Gespräch war noch nicht weit fortgeschritten, und es war von Beginn

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an deutlich spürbar, dass man Herrn R. nur sehr behutsam fragen durfte, wenn man vermeiden wollte, dass er sich verhört fühlte.

Herrn R.s weitere Arbeitssuche blieb erfolglos. Ab 2005 bezog er Arbeits-losengeld II. Dabei war ihm in den ersten drei Jahren die Leistung wiederholt und in steigendem Maße gekürzt worden, bis sie im Herbst 2007 völlig entzogen wurde und auch die Kosten der Unterkunft nicht mehr übernommen wurden, so dass Herr R. obdachlos wurde.

Zuerst sollte er sich bei einem Kanu-Verein als Ein-Euro-Jobber vorstellen, wo es „irgendwas im Archiv“ zu tun gegeben hätte. Herr R. stellte sich nicht vor. Sein Motiv für die „Weigerung“ waren nicht etwa Zweifel, ob die Arbeit für einen Kanu-Verein im öffentlichen Interesse läge. Vielmehr war Herr R. von lähmender Unsicherheit geplagt: „Da wusste ich halt nicht, ist das für mich richtig, und dann hatte ich auch so meine Schwierigkeiten, weil meine Kenntnisse, ob die ausrei-chend sind, und dann bin ich da dann nicht hingegangen.“ Herrn R.s Stottern wurde an dieser Stelle unseres Gesprächs besonders heftig.

Herr R. sollte auch an einem Bewerbungstraining teilnehmen, was er anfäng-lich auch getan hatte, dann aber nicht mehr hinging. „Ich wusste nicht so recht, was ich da sollte eigentlich.“ Das zweite Bewerbungstraining, zu dem er beordert wurde, trat er gar nicht erst an.

Zu diesen drei „Pflichtversäumnissen“ kam hinzu, dass Herr R. Gespräch-stermine im Amt nicht wahrnahm. Herrn R.s persönliche Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen im Jobcenter wechselten mehrmals. „Es ist so, die Situation war so, dass einerseits das Selbstvertrauen sinkt in die eigenen Fähigkeiten, man glaubt irgendwann, dass man selbst relativ einfache Tätigkeiten nicht mehr auf die Reihe bekommt, man sitzt ja auch den Menschen gegenüber, muss sich dann erklären, dem Sachbearbeiter, und da ist der eine oder andere auch ein bisschen sehr direkt und ein bisschen unangenehm auch, da gibt es ja auch verschiedene-, verschiedene Typen. [...] und dann weiß man nicht, geh ich da hin, oder geh ich nicht einmal zu dem Beratungsgespräch, beim letzten Mal, da war das schon ziemlich unangenehm, dann geht man nicht hin.“ Ich hätte gern noch genauer erfahren, wie Herr R. die Gespräche im Jobcenter erlebte, doch auf meine dies-bezügliche Nachfrage blieb er knapp: „Zum Teil sachlich-freundlich, und eben zum Teil, ja wie soll ich das sagen, eine Dame, in einer direkten Weise vielleicht ein bisschen unverschämt vielleicht, mehr möchte ich jetzt gar nicht-.“ Ich frug Herrn R., ob er mir nicht erzählen möchte, was er so unverschämt fand, aber er wehrte ab: „Nein, nein, gar nicht.“

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Es fiel Herrn R. durchweg sehr schwer, über seine Gefühle zu reden. An-scheinend konnte er sie kaum als seine eigenen akzeptieren, worauf der häufige Gebrauch des unpersönlichen Pronomens „man“ hinweist.

Für Herrn R. waren die Gespräche im Jobcenter jedenfalls so unangenehm und belastend, dass auch die zunehmend härter werdenden Sanktionen nicht bewirken konnten, dass sich sein Ausweichverhalten änderte. Dabei litt er sehr unter den Sanktionen: Er hatte bald keinen Telefonanschluss mehr, und „man kann eben keine Fahrkarte mehr kaufen, man kann eben wirklich keine Rechnung mehr zahlen, so ist es mir auch eben gegangen, irgendwohin zu gehen oder sich vor-zustellen, ist auch mangels der finanziellen Möglichkeiten dann gar nicht mehr drin. Also man hat im Grunde genommen keinen Bewegungsspielraum mehr, und es ist so, man kann das eigentlich ganz einfach beschreiben, Sie kommen an eine Grenze, und wenn Sie die überschreiten bei hundert Prozent, das ist schwierig, man kann die Miete auch nicht mehr bezahlen dann.“

Herr R. wurde also obdachlos. Ein ehemaliger Arbeitskollege gab ihm in dieser Situation das Geld für eine Fahrkarte, mit der er zu seiner Familie nach Nord-deutschland fuhr. „Bin dann ganz kurz zu meiner Familie gefahren. [...] Aber der große Wurf war das nicht, weil die Familienverhältnisse waren immer schon ein bisschen schwierig, um es vorsichtig zu beschreiben, ja, und dann bin ich dort wieder weg, und bin dann hierher in dieses Haus gekommen.“ Dass Herr R. Unterkunft in der Einrichtung fand, in der ich auch die Interviews mit Herrn P. und Herrn Q. geführt habe, war sein Glück im Unglück. Denn er konnte in dieser Einrichtung, zu der auch eine große Beschäftigungsgesellschaft gehört, nicht nur wohnen, sondern auch einen Ein-Euro-Job ausüben. Nach dessen Abschluss konn-te er die Arbeit neun Monate lang als Arbeitsgelegenheit in der Entgeltvariante fortführen und seit dem Tag vor unserem Interview hatte er einen wieder etwas anders konstruierten Arbeitsvertrag, der „jetzt mindestens ein Jahr läuft“. Herr R. fand auch relativ schnell wieder eine Wohnung.

Herr R. hatte in dem Job, den er ausübte, als wir miteinander sprachen, ein breites Spektrum an Sekretariats- und Organisationsaufgaben zu erledigen. Er wäre sehr froh gewesen, diese Arbeit auf Dauer zu haben, aber davon durfte er nicht ausgehen: „Es ist so, dass man es um ein Jahr verlängern könnte. Und wie das dann danach aussieht, das weiß ich nicht.“

Wie alle Interviewpartnerinnen und –partner frug ich auch Herrn R., welche für ihn wichtigen Themenaspekte ich mit meinen Fragen noch nicht angespro-chen hätte. Dem folgte seine ausführlichste zusammenhängende Antwort: „Die

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Frage, die man vielleicht stellen könnte in dem ganzen Zusammenhang, ist, ob man vielleicht so eine Art Beraterstunde vom Jobcenter aus einrichten könnte, die nicht zwingend ist, wo man freiwillig dort erscheinen kann und man mit jemand spricht, der jetzt nicht nur fachlich orientiert ist und jetzt irgendwas macht so nach Schema Vorschrift, sondern das jemand ist, der aus dem Bereich der Sozi-alarbeit kommt und mit dem man vielleicht mal ein Gespräch führen kann über die Lebenssituation oder über die Schwierigkeiten, die man hat, oder warum was aus welchen Gründen nicht läuft, und wo man dann eben, wo man sagt, okay, das ist in einem geschützten Raum, wie jetzt hier, da besteht auch Schweigepflicht, auch gegenüber den Leuten vom Jobcenter. Ob das jetzt für mich so gut gewesen wäre-, also, eine Garantie, dass ich dahin gegangen wäre, kann ich Ihnen auch nicht geben. Aber vielleicht wäre ich hingegangen, ich kann mir vorstellen, dass es auch Leute gibt, die sagen, ‚okay, mit denen komm ich nicht klar, da weiß ich, da krieg ich Schwierigkeiten, [...] aber zu dem Gespräch würde ich gehen, weil es ist folgenlos, mit dem kann man erst mal reden.‘ Das wäre vielleicht ein Ansatz in dem Zusammenhang.“

Was er denn in solch einem geschützten Rahmen gern gesprochen hätte, konn-te Herr R. „jetzt so aus dem Stegreif gar nicht beantworten“. Aber wahrscheinlich hätte er davon sprechen mögen, wie viel Angst ihm die Verfügungsgewalt des Jobcenters, der daraus für die Betroffenen resultierende Kontrollverlust und die stets gegenwärtige Unberechenbarkeit des eigenen Lebens bereiten. Seine Situ-ation, bevor er die gegenwärtige Arbeit bekam, war beherrscht von dem „[...]Gefühl [...], dass der Spielraum immer mehr eingeengt ist, dass die Ausbildung einem auf der einen Seite nicht mehr richtig hilft, dass man vielleicht auch auf eine Schiene gerät, dass man eventuell auch in Zeitarbeit reingehen müsste, ob man wollte oder nicht, [...] (was) auch bedeuten würde, man müsste alles machen, [...] putzen und ‚morgen müssen Sie mähen oder sonst was‘, dass man irgendwie auch in so ein fatales Abhängigkeitsverhältnis gerät, man muss alles machen, ob man will oder nicht. [...] Die Schwierigkeit ist eben auch, dass man ständig wechselt, man weiß also nicht, nicht wie hier, ich geh morgens um acht ins Büro in [...] und dann bin ich in einer gewissen [...] Regelmäßigkeit, genau, es ist ja so, man kann jemand praktisch jeden Tag irgendwo anders hinschicken, heute da [...], ‚morgen gehen Sie dahin oder Sie brauchen morgen nicht mehr kommen‘, [...], das find ich also als sehr unangenehm. [...]Und dass man eben auch nicht mehr die Möglichkeit hat, Einfluss zu nehmen. Da heißt es, ‚in Ihrer Situation müssen Sie alles nehmen.‘ , und so heißt es ja auch irgendwo. [...] Und es ist so,

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ich denk mal, wenn man auf so eine Schiene gerät, da kommt man, wenn man Pech hat, kaum wieder raus. Man kann sich auch im Grunde genommen kaum wehren, weil es heißt, ‚Sie lehnen es ab, dann können Sie gehen.‘ Und es heißt im Jobcenter, ‚Sie sind gegangen, warum, das war Ihnen zumutbar, also bekommen Sie kein Geld.‘ Das ist für Menschen, die das machen müssen, eine wirklich sehr schwierige Situation.“

Herr S.: ... weil ich einen zu tiefen Schulabschluss hab.Herr S. war 24 Jahre alt. Als 13-Jähriger kam er mit den Eltern von Mecklenburg nach Baden-Württemberg. Die Eltern hofften, hier Arbeit zu finden. Herr S. wäre lieber „oben an der Ostsee“ geblieben. Mit dem Umzug verlor er nicht nur die Freunde und die vertraute Umgebung, auch der andere Schulunterricht verlangte Umstellungen. Zum Beispiel wurden ihm ausgerechnet in Mathematik, einem Fach, in dem er immer gut war, die ersten Arbeiten gestrichen, weil der Rechen-weg falsch gewesen sei. „Das Ergebnis hat gestimmt, und der Rechenweg hat auch gestimmt, aber es war ein anderer, als der Mathelehrer unterrichtet hat.“ Mit Hilfe des Schulleiters konnte Herr S. den Lehrer von der fachlichen Zulässigkeit unterschiedlicher Rechenwege überzeugen.

Herr S. wiederholte die achte Klasse freiwillig, „weil man sich teilweise halt auch mit dem Achtklässler-Zeugnis bewerben muss“. 2001 beendete er als 16-Jäh-riger die Schule mit dem Hauptschulabschluss.

Im selben Jahr wurde sein Vater „ins Pflegeheim eingeliefert, weil er schwerer Alkoholiker war“. Die Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben hatte sich für die Eltern auch in Süddeutschland nicht erfüllt. Die Mutter ließ sich scheiden und heiratete erneut, aber diese Ehe scheiterte sehr rasch. Seither trank auch die Mut-ter. Anfang 2005 eskalierte das gespannte Verhältnis zwischen Mutter und Sohn so, dass sie ihn vor die Tür setzte. Seither hatte Herr S. keinerlei Kontakt mehr zu seinen Eltern, nur seinen an Multipler Sklerose erkrankten Bruder besuchte er gelegentlich.

Herrn S.s zahlreiche Bemühungen um eine Lehrstelle führten nicht zum Erfolg. Er bewarb sich vergeblich „im komplette(n) handwerkliche(n) Bereich, Metallbauer, mit Holz, Schreiner, Tischler, dann Maler, Gipser“. Herr S. vermu-tete, dass seine ostdeutsche Herkunft die Arbeitgeber gestört hätte. „Im Vorstel-lungsgespräch, wenn sie mich gefragt haben, wo liegt denn D[...], also meine Geburtsstadt, da hab ich gesagt, ja, Mecklenburg-Vorpommern, da hat man dann gleich gesehen, Gesichtszüge nach unten, hat man zwar noch miteinander normal

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geredet, aber man hat den Leuten, den Chefs angemerkt, ‚danke und auf Wieder-sehen‘. [...] Wenn ich es nicht erwähnt hab und erst mal einen Probearbeitstermin vereinbart hatte, da war jeder von mir begeistert.“

„Und dann hab ich halt von einem Hilfsjob zum andern halt gejobbt, immer noch in der Hoffnung, dass ich irgendwie vielleicht ne Ausbildungsstelle finde oder halt einen festen Arbeitsplatz und wenn es bloß der so genannte Hilfsarbeiter ist. Aber bisher hat sich da noch nichts ergeben.“ Zwischen den Hilfsjobs war Herr S. immer wieder auf Sozialhilfe bezie hungsweise Arbeitslosengeld II angewiesen.

Einmal wurde er in ein Bewerbungstraining „reingesteckt“. Er absolvierte es geduldig, obwohl er es hätte „nehmen und aus dem Fenster schmeißen können, weil ich mich besser mit den Rechnern auskannte als die, die uns angeleitet hat“. Auf seine Computerkenntnisse war Herr S. stolz: „Ich bin halt mit dem Computer aufgewachsen, nach der Wende, unser erster Computer, das war ein Commodore C 64, und der wurde dann halt immer aktualisiert, kam immer wieder was Neues, und dann hab ich mir halt nach und nach alles selbst angeeignet oder halt bei dem ein bisschen was abgeguckt, bei dem was abgeguckt und dann halt learning by doing“

Ein anderes Mal hatte Herr S. einen Ein-Euro-Job. Der hatte ihm „sogar Spaß gemacht“, aber seinem Eindruck nach wird nicht bedacht ,[...] dass nach dem halben Jahr die ganzen Leute wieder da sind, daran denkt scheinbar keiner.“ Herr S. hätte die Arbeit in einem anderen Vertragsverhältnis gern fortgeführt. „Da war ich in der Schreinerei tätig, und ich hab nach circa drei Monaten schon das getan, was teilweise ein Lehrling im zweiten Lehrjahr gemacht hat oder ein ausgebildeter Geselle. Das hab ich als Hilfsarbeiter, hab ich das dann auch gemacht.“

Dann war er in einem Berufsförderungszentrum, wo er Grundkenntnisse des Schreinerhandwerks erwerben sollte, um seine Chancen auf eine Lehrstelle, die von der Bundesagentur gefördert würde, zu erhöhen. „Hab alles zur Zufriedenheit erfüllt, und die haben dann auch gemeint, ‚ja okay, Sie sind dabei, Sie können sich eine Lehrstelle suchen‘. Und ich hab da angefangen, weil ich ne Lehrstelle als Schreiner gesucht hab oder Tischler. Dann war ich ungefähr einen Monat da, und dann wurde mir gesagt, die Agentur für Arbeit unterstützt keine handwerk-lichen Betriebe mehr, es sei denn, man hatte schon ne Ausbildungsstelle. [...] Unterstützen keine handwerklichen Betriebe mehr, weil der Markt anscheinend zu überlaufen ist.“

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Danach fand Herr S. eine Lehrstelle als Verkäufer in einem Baumarkt. Mit der Berufs ausbildungsbeihilfe, auf die die geringe Ausbildungsvergütung angerechnet wurde, konnte er seinen Lebensunterhalt und seine Wohnkosten nicht bestreiten. § 22 Abs. 7 des SGB II, wonach „Auszubildende, die Berufsausbildungsbeihilfe [...] erhalten [...] einen Zuschuss zu ihren ungedeckten angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung“ (erhalten)“, war damals noch nicht in Kraft. Die Behörde verwies Herrn S. auf das ihm zustehende Kindergeld, das nicht auf die Berufsausbildungsbeihilfe angerechnet wird. Wegen des Kindergeldes hätte sich Herr S. aber an seine Mutter wenden müssen, weil nur Eltern Kindergeld beantra-gen und beziehen können. Kontakt zu seiner Mutter aufzunehmen, kam für Herrn S. aber nicht infrage. „Ich hab im September angefangen, [...] und dann mit 230 oder 270 Euro, hab ich leben müssen. Also noch mal fast ein Hunderter weniger, als wenn ich nicht Ausbildung“ gemacht hätte.

Hinzu kam, dass Herr S. wegen seiner Rückgratverkrümmung – „noch mal ein separates S in der Wirbelsäule“ - und der einseitigen körperlichen Belastung im Lager des Baumarktes – „halt immer in leicht vorgeneigter Haltung die ganzen Waren kontrollieren“ – krank wurde und sich in eine langwierige orthopädische Behandlung begeben musste.

Das Zusammentreffen von Geldnot und Rückenschmerzen veranlasste Herrn S., sich mit dem Ausbildungsbetrieb auf einen Auflösungsvertrag zu einigen, und es ging weiter mit den „Hilfsjobs“. Zuletzt hatte Herr S. im August 2008 mit einem Vertrag für vier Wochen in einer Fabrik gearbeitet und sich dabei Hoff-nung auf Verlängerung des Vertrags gemacht. Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Deshalb musste Herr S. im September 2008 wieder ALG II beantragen, aber die Bearbeitung des Antrags zog sich hin. Herr S. konnte im Oktober seine Miete nicht bezahlen. „Am 26., am Abend, wo ich heimgelaufen bin, hab ich gesehen, dass meine Wohnung leer ist, [...], bin dann runter zu den Garagen und hab dann gesehen, meine kompletten Sachen sind in der Garage.“ Herr S. hatte schon seit Monaten „den Eindruck, dass er mich einfach bloß raushaben wollte, weil ich der einzige war, seitdem er diesen Komplex umgebaut hat, der schon von Anfang an dabei war“. Herr S. wohnte daraufhin ein halbes Jahr bei Bekannten, „mal da, mal da“.

In dieser Zeit erreichte die Post des Jobcenters Herrn S. entweder nicht oder stark verspätet. Er versäumte drei Termine, weshalb ihm von Februar bis April 2009 die Regelleistung um sechzig Prozent gekürzt wurde. Jedenfalls glaubte Herr S., dass die Terminversäumnisse Grund der Leistungskürzung waren.

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Falls er recht hatte, hätte die Behörde eine 10-, eine 20- und eine 30-prozentige Leistungskürzung addiert, was dem Durchführungshinweis der Bundesagentur zu § 31 SGB II widerspricht, in dem es zur Sanktionierung von Terminversäumnissen heißt: „Eine Kumulation der Sanktionsbeträge in Überlappungsmonaten ist nicht zulässig.“50 Dass hier eine unzulässige Anwendung des § 31 SGB II vorliegt, ist durchaus denkbar. Die sehr zahlreichen Neufassungen des umfangreichen Durch-führungshinweises der Bundesagentur machen deutlich, wie schwer es für die Be-hördenmitarbeiter sein muss, den Paragrafen in zulässiger Weise anzuwenden.

Ebenso denkbar ist aber auch, dass Herr S. irrtümlich annahm, er wäre wegen dreier Terminversäume sanktioniert gewesen. Dass Herr S. in den sechs Monaten, die unserem Gespräch vorangingen und in denen er sich „mal da, mal da“ aufhielt, sämtliche Behördenpost, die in dieser Zeit an ihn verschickt wurde, aufmerksam gelesen hätte, falls sie ihn überhaupt erreichte, ist sehr unwahrscheinlich.

Als wir das Interview führten, wohnte Herr S. seit fünf Tagen in einer Ein-richtung für Wohnsitzlose. In dieser Einrichtung hatte Herr S. seit Anfang Januar auch einen Ein-Euro-Job, was seine Not etwas milderte. Außerdem verkaufte er ein paar Sachen über eBay. Dass ihm die Verkaufserlöse nach Vorlage der Kontoauszüge bei der nächsten Antragstellung wahrscheinlich als Einkommen angerechnet werden, hatte er nicht bedacht. Indem ich ihn darauf ansprach, lud ich ihm weiteren Kummer auf. Trotz Ein-Euro-Job und eBay-Verkäufen fehlte Herrn S. das Geld, um sich Fotos für einen neuen Ausweis machen zu lassen. Den Ausweis hatte er schon seit längerer Zeit verloren, der Reisepass war abgelaufen, wie sich Wochen zuvor bei einer Polizeikontrolle herausgestellt hatte. Die Poli-zisten hatten den Pass daraufhin einbehalten. „Das Geld für den Personalausweis hätte ich schon, aber das Geld für die Passbilder hab ich nicht. Passbilder kosten zwölf Euro, obwohl ich bloß eins brauche. Die sechs Euro fürn Personalausweis, die hätt ich schon übrig.“

Den Wunsch nach einer Ausbildung hegte Herr S. nach wie vor, wusste aber: „Die meisten Berufe, leider Gottes, die ich mir wünschen würde, kann ich nicht ausüben, weil ich einen zu tiefen Schulabschluss hab.“ Er wünschte sich zum Beispiel Arbeit im EDV-Bereich, die mit seinem Wirbelsäulenschaden auch si-cher besser zu vereinbaren wäre als ein handwerklicher Beruf oder die Arbeit im Baumarkt. Herr S. war „schon seit ungefähr zwei Monaten am Überlegen, ob ich es nicht doch versuchen soll, noch mal die Schule aufzustocken, also entweder

50 Durchführungshinweis der Bundesagentur für Arbeit zu § 31 SGB II, Fassung vom 20.4.2009, S. 8

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Werkrealschule oder sonst was oder zweijährige Berufsschule, dass ich halt auf diese so genannte Mittlere Reife komme.“ Auch wenn ich damit aus meiner Rolle als Interviewerin fiel, bestärkte ich Herrn S. sehr in seinen Überlegungen. Ich traute ihm einen „höheren“ Schulabschluss zu. Die „vier“ in Deutsch, die dazu beigetragen hatte, dass die Durchschnittsnote seines Hauptschulabschlusses 3,1 beträgt, entspricht nicht seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit.

Frau Sch.: Im Endeffekt ist man doch nur ne Nummer.Frau Sch. war 26 Jahre alt, als wir miteinander sprachen. Seit neun Monaten übte sie einen Ein-Euro-Job in der Requisite eines Theater aus.

Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Frau Sch. in einem Säuglingsheim, einem Kinderheim und zwischendurch immer mal wieder in ihrer Familie. Der Vater schlug Frau und Kinder, „und im Kindergarten ist das dann auch aufgefallen, dass wir auch blaue Flecken hatten und, ja.“ Als Frau Sch. sechs Jahre alt war, kam sie zusammen mit zwei ihrer Geschwister ins Kinderdorf, nachdem der Vater seine Mutter erstochen hatte und inhaftiert worden war. „Und meine Mutter hat damals, ist damals nach Amerika. Hat neu geheiratet und ist dann nach Amerika. [...] Es war damals so, dass das Jugendamt die Hälfte hatte vom Sorgerecht und sie die Hälfte, und wenn sie uns geholt hätte, hätte das Jugendamt ihr das Sorgerecht ganz entzogen. Sie konnte gar nichts machen, irgendwie. Sie ist dann gegangen und hat gesagt, sie kommt dann wieder, aber sie ist nicht mehr gekommen.“

Als Fünfzehnjährige war Frau Sch. so depressiv, dass sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht wurde. Ihre Kinderdorfeltern, sagte Frau Sch., fühlten sich von ihr überfordert. Frau Sch. kam nach der Klinik in einer anderes Heim und von dort aus zu Pflegeeltern nach Irland. „Also der Mann war deutsch, die Frau war Engländerin, und die haben auch irgendwie mit Behinderten schon öfter gearbeitet gehabt und wollten sich halt engagieren irgendwie und haben dann mich halt sozusagen aufgenommen. Eigentlich nur ein Jahr, aber ich bin dann noch ein zweites Jahr geblieben, um meinen Realschulabschluss dann zu ma-chen. [...] Ich hab da halt meinen Realschulabschluss auf Englisch gemacht.“

Nach ihrer Rückkehr aus Irland kam Frau Sch. wieder ins Kinderdorf, wo sie jetzt in einer Jugendwohngruppe lebte. Mit 19 lernte sie einen Mann kennen, der heroinabhängig war. Er spritzte auch Frau Sch. Heroin. Der „Freund“ bedrohte sie, wenn sie sich seinen Wünschen nicht fügte. „Ich bin halt öfter zu ihm gegangen, weil ich ja schon von Anfang an Angst hatte vor ihm.“ Ich fragte Frau Sch., ob der „Freund“ sie geschlagen habe. Sie antwortete: „Wenn das nur geschlagen

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gewesen wäre; wenn ich nur geschlagen wurde, war das ja was Gutes, eigentlich noch.“ Was denn die schlimmere Bedrohung gewesen sei, frug ich weiter und erfuhr: „Ja, Überdosen spritzen und so.“

Weil sie sich wegen dieses Mannes nicht an die Absprachen mit der Jugend-hilfeeinrichtung hielt, wurde sie dort entlassen. „Und das fand ich dann auch irgendwo blöd von denen vom Jugendamt, weil sie es dann einfach so hingenom-men haben, dass ich mich halt mit ihm getroffen hab. [...] und sie mich haben halt so gehen lassen, ohne mich zu hindern groß.“ Frau Sch., die inzwischen längst selbst heroinabhängig war, zog zu ihrem „Freund“. Sie wandte sich an eine Drogenberatungsstelle und an einen Arzt und wurde ins Methadonpro gramm aufgenommen.

Irgendwann verliebte sie sich in einen anderen – ebenfalls heroinabhängigen – Mann, mit dem sie sich heimlich traf. Als der Mann, bei dem sie wohnte, davon erfuhr, setzte er Frau Sch. vor die Tür. Sie durfte weder ihren Hund, an dem sie sehr hing, noch sonst etwas mitnehmen, was ihr gehörte.

Eben in dieser Zeit, 2005 oder 2006, sollte sie aber auch einen Ein-Euro-Job ausüben. Sie musste „so gebrauchte Sachen, so Geschirr und so Zeug [...] halt durchgucken, und was man noch gebrauchen, verkaufen kann, aussortieren und putzen und so was halt“. Frau Sch. kam ein paar Mal nicht zur Arbeit. „Ich musste erst mal nach ner Bleibe gucken und wusste gar nicht, wo ich schlafen soll, um am nächsten Morgen dort zu stehen, obwohl du eigentlich gar nicht weißt, wo du heute Nacht bist.“

Sie wurde aus dem Ein-Euro-Job entlassen und hierfür, weil sie noch nicht 25 Jahre alt war, mit einem dreimonatigen Entzug der Regelleistung bestraft. Ihrem Fallmanager konnte sie ihre Situation nicht verständlich machen. „Der wollte sie auch gar nicht hören. Ich bin nicht erschienen, Punkt, aus.“

Frau Sch. hatte inzwischen viele verschiedene Ansprechpartner und Ansprech-partnerinnen im Jobcenter und meinte: „Ja, du hast da halt mehr oder weniger Glück oder nicht Glück. Wenn du nicht Glück hast, hast keinen guten, wenn du Glück hast, hast du einen einigermaßen bisschen besseren, der sich für dich ein bisschen interessiert, so. Aber im Endeffekt ist man doch nur ne Nummer. Es interessiert die herzlich wenig, was mit mir passiert und was ich mach oder nicht mach. [...] Aber die Menschen im Jobcenter können sich ja auch gar nicht wirklich für jemand interessieren, die können sich nicht wirklich für jede Person interes-sieren. [...] .Ich weiß auch nicht, was für eine Lösung es da geben könnte.“ Meine Nachfrage, ob sie denke, dass die Behördenmitarbeiter zu viele Klienten hätten,

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um sich für deren Situation zu interessieren, bejahte Frau Sch. und fuhr fort: „Aber für den damaligen-, für das Alter, da hätte man vielleicht schon irgendwie nach-fragen können, wo meine Eltern sind oder so und warum ich das jetzt beziehen will. Ja gut, man füllt den Bogen dann schon aus, ja, ich weiß auch nicht, wie ich das beschreiben soll.“

Als die Sanktion in Kraft trat, hatte Frau Sch. wieder eine Bleibe, aber kein Geld, um den Strom zu bezahlen. Der Strom wurde abgestellt, Herd und Wasch-wasser blieben kalt, der Kühlschrank warm. Als sie zum zweiten Mal einen Le-bensmittelgutschein abholte, rügte ihr Fallmanager, dass sie mit dem ersten Gut-schein ungesunde Nahrungsmittel eingekauft hätte. „Und dann hab ich gesagt, ‚wie soll ich das machen ohne Kühlschrank, ohne Herd, wie soll ich gesundes Essen einkaufen?‘“

Auf meine Frage, was ihr eingefallen sei, um an Bargeld ranzukommen, ant-wortete Frau Sch.: „Ja, was macht man halt so, wenn man in den Kreisen ist? [...] Drogen zu verkaufen, auch klauen, ja natürlich.“ Beim Dealen ist Frau Sch. nicht erwischt worden, beim Stehlen schon. Die Arbeitsstunden, die ihr vom Gericht auferlegt wurden, hatte sie abgeleistet.

Frau Sch. hoffte zu dem Zeitpunkt, als wir miteinander sprachen, sehr da-rauf, einen Platz in einer psychotherapeutischen Klinik zu bekommen, in der sie mindestens neun Monate bleiben wollte, weil sie „Vieles aufzuarbeiten“ hätte. Sie stand auf der Warteliste der Klinik und hoffte, dass sie genug Kraft haben würde, „das alles durchzuziehen, dass es auch einigermaßen Leute sind, wenn es mir schlecht geht, dass ich da reden kann. Weil oft ist es so, wenn es mir nicht gut geht oder ich mich nicht wohl fühle, dass ich dann eigentlich auch gehen will und eigentlich auch oft abgehauen bin, damals vom Heim. Und da hab ich halt auch ein bisschen Angst, was auf mich zukommt. [...] Und da denk ich mir, vielleicht geh ich dann, und dann wird es wieder so schlimm, oder ich weiß nicht. Also, ich hab auf jeden Fall nicht vor zu gehen, ich hab vor, dort zu bleiben und wirklich echt mein Leben in die Hände zu nehmen. Aber ich weiß halt nicht, wie viel Kraft und Energie, Kraft und Tränen das kostet. Ich weiß, dass das einiges kostet, aber ich weiß nicht, wie viel das kostet. Und ich weiß nicht, ob ich so viel Kraft überhaupt noch habe.“

Für die Zeit nach der Klinik wünschte sich Frau Sch. sehr, eine Ausbildung machen zu können. „Also Spaß machen würde mir natürlich, mit Tieren irgendwie zu arbeiten.“ Am liebsten würde sie eine Ausbildung als Tierpflegerin oder Pfer-dewirtin machen, denn sie hatte im Kinderdorf und bei der irischen Familie immer

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mit Tieren zu tun, war auch geritten und hatte die Erfahrung gemacht, dass Tiere was „Ehrliches“ haben, während Menschen „alles nur Schauspieler“ seien.

Frau St.: ... kein Geld, muss ich klauen, erwischt worden.Frau St. war zum Interviewzeitpunkt 23 Jahre alt und lebte allein.

Als Elfjährige fing sie an, Cannabis zu rauchen. Als sie 14 Jahre alt war, kam der Konsum von Speed und Ecstasy, wenig später der Konsum von Heroin dazu. In der Pubertät begann sie auch, sich selbst immer wieder Schnittverletzungen an den Handgelenken und Armen zuzufügen. Belastungen, die zu ihrer seelischen Erkrankung beigetragen haben dürften, gab es zahlreiche: Kränkungen durch die Mitschülerinnen und Mitschüler, weil sie „dicker war als die andern“ und „keine Markenklamotten getragen“ hat, die Strenge der Mutter und deren Krebserkran-kung, die Vergewaltigung ihrer sieben Jahre älteren Schwester durch den Bruder, der 13 Jahre älter ist als Frau St.

Frau St. erreichte trotzdem den Hauptschulabschluss und absolvierte bei der Deutschen Post eine Ausbildung als „Fachkraft für Brief- und Frachtverkehr, also sprich: Briefzustellerin“. Während dieser Zeit nahm sie keine Drogen und bezog eine eigene Wohnung.

Kurz vor dem Ausbildungsabschluss starb Frau St.s Mutter. In den Jahren zuvor hatte sich die Mutter zwei Brustoperationen, Chemo- und Strahlentherapie unterziehen müssen. „Aber danach ist sie dann nicht mehr zum Arzt gegangen, es ging ihr immer schlechter, sie hat nur noch Schmerztabletten sich reingehauen, kaum noch was gegessen und und und, und irgendwann war einfach Feierabend. Ich denk, Sie hat einfach nicht mehr die Kraft oder den Willen dazu gehabt, noch mal zum Arzt zu gehen. Sie wollte einfach nicht noch mehr an sich rumschneiden lassen. Und da war sie 53.“ Frau St. war zwanzig Jahre alt.

Frau St. musste sich nach dem Tod der Mutter erst mal krank schreiben lassen. Nach Abschluss ihrer Ausbildung wurde sie nicht als Briefzustellerin übernom-men, weil sie zu viele Fehlzeiten hatte. Aber immerhin wurde ihr, weil sie ein gutes Abschlusszeugnis hatte, der Berufsschulabschluss als Erwerb der Mittleren Reife anerkannt.

Bald danach ist Frau St. „in die Drogensucht abgerutscht“. Die Arbeitslo-sigkeit und der Verlust der Mutter waren keineswegs die einzigen Belastungen, die Frau St. nach der Ausbildung zu bewältigen hatte. Hinzu kam zum einen ein andauernder Kleinkrieg mit einem Nachbarn, der Frau St. auch schon geschlagen hatte. „Ich lauf, wenn ich ehrlich bin, wenn ich unten in die Haustür reinkomm,

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wenn ich heimgehen möchte, ohne das trau ich mich nicht mehr ins Treppenhaus“, sagte Frau St. und zog eine Dose Pfefferspray und ein Klappmesser aus ihrer Tasche, um es mir zu zeigen. Nach einer anderen Wohnung suchte Frau St. seit zwei, drei Jahren vergeblich. Belastend war für Frau St. auch das klagende und Schuldgefühle verursachende Verhalten des Vaters, den Frau St. Daddy nannte und sehr häufig besuchte. „Ja, und mein Vater, der ist durch das mit meiner Mutter psy-chisch eigentlich auch ziemlich am Ende, und haja, mein Vater, der lässt es dann halt an uns Kindern aus oder an mir, weil ich meistens da bin. Da äußert er sich dann so zum Beispiel, ‚ja, ich bin froh, wenn mir bald der Arsch zuschnappt, dann habt Ihr Eure Ruh vor mir‘ und überhaupt und tralala, er hat zum Teil auch nichts gegessen und und und. [...] Gut, okay, es ist eigentlich ein Hilfeschrei seinerseits, er macht es dann aber so, von wegen, wie wenn ich dran schuld wär oder wenn wir Kinder dran schuld wären, wie wenn wir ihn im Stich lassen würden. Zum Beispiel mit Wäsche waschen, Wohnung putzen, er reitet eigentlich nur darauf rum, was man nicht gemacht hat. Das, was man gemacht hat, das erkennt er gar nicht mehr an. Das ist für ihn praktisch selbstverständlich, das muss einfach so sein. Wir Kinder müssen ihn einfach bemuttern, was weiß ich.“

Seit November 2007 war Frau St. im Methadon-Programm. Sie wollte auch eine ambulante Psychotherapie machen, aber der Therapeut, mit dem sie ein Erst-gespräch hatte, sagte ihr, eine Therapie sei erst möglich, wenn sie „mit den Drogen komplett fertig“ sei. Eine langfristige stationäre Therapie wagte Frau St. nicht, weil ihr Vater von ihrer Drogenabhängigkeit nichts erfahren dürfe. Frau St. war überzeugt, dass es schlimm für den Vater sei, wenn er davon erfahren hätte.

Seit Juli 2007, nachdem der Anspruch auf Arbeitslosengeld I erschöpft war, erhielt Frau St. Arbeitslosengeld II. 2008 hatte sie ihren ersten Ein-Euro-Job in der Schreinerei eines Beschäftigungsträgers. Zum Interviewzeitpunkt war sie seit zwei Monaten beim selben Beschäftigungsträger im zweiten Ein-Euro-Job. Dieses Mal arbeitete sie im hauswirtschaftlichen Bereich: „Montag, Dienstag wird gekocht oder so und ja, Mittwoch kommt drauf an, ja, und dann den Rest von der Woche putzen, die Räumlichkeiten.“

Bevor sie den zweiten Ein-Euro-Job antrat, war ihr die Regelleistung drei Monate völlig gestrichen, weil sie dreimal hintereinander den Vorstellungster-min verpasste, den sie bei dem Beschäftigungsträger vor Aufnahme der zweiten

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„Arbeitsgelegenheit“ wahrnehmen sollte. „Den ersten Termin, den hab ich total komplett vergessen, den zweiten Termin, da hab ich verschlafen und konnt erst um neun fahren. [...], Die S-Bahn, die ist dann aber auch zu spät gekommen, die ist dann zwanzig Minuten später gekommen, und der dritte Termin, da war das gleiche Spiel, da ist die S-Bahn auch einfach nicht gekommen, zwanzig oder dreißig Minuten sogar später. Und da war ich dann zehn Minuten zu spät dort, und dann haben sie gesagt, ‚nee, vorbei‘.“

In den drei Sanktionsmonaten sammelten sich unter anderem 195 Euro Schul-den beim Vermieter an, weil Frau St. monatlich 65 Euro Strom und weitere Kosten der Unterkunft aus der Regelleistung bestreiten musste, über die sie nun nicht verfügte. Die Ausstellung von Lebensmittelgutscheinen lehnte die Behörde ab. Erst im letzten Sanktionsmonat bekam sie dann den Betrag, der im Regelsatz für Lebensmittel vorgesehen ist, als Darlehen ausbezahlt. Zur Darlehenstilgung kürzte die Behörde die Regelleistung nach Ablauf der Sanktion. Dass es für ein solches Verfahren keine Rechtsgrundlage gibt, wusste Frau St. nicht. Hätte sie es gewusst, hätte sie sich vermutlich trotzdem nicht wehren können.

Die für Frau St. schlimmste Auswirkung der Sanktion bestand darin, dass gegen sie zum Interviewzeitpunkt vier Anzeigen wegen Diebstahls vorlagen. „Ich nehm zu, ich hab keine Kleider mehr, die mir passen, kein Geld, muss ich klauen, erwischt worden. Dann hab ich versucht, ein Epiliergerät zu klauen für 160 Euro, um es zu verkaufen, dass ich mir Lebensmittel kaufen kann, und lauter solche Sachen.“ Die Gewichtszunahme erklärte Frau St. an anderer Stelle sei eine der Nebenwirkungen des Methadon. Die Gerichtsverhandlung stand, als wir mitei-nander sprachen, bevor und Frau St. war in panischer Angst, zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden.

An Frau St.s miserabler beruflicher Perspektive hatte die Sanktion nichts ge-ändert. Frau St. hätte gern eine andere Ausbildung gemacht. Das Spektrum an Berufen, die zu erlernen sie sich vorstellen konnte, war breit: „Fachkraft für La-gerlogistik zum Beispiel, Kauffrau im Groß- und Außenhandel oder im Einzelhan-del oder Verkäuferin Textil, vieles.“ Sie hatte ihrem persönlichen Ansprechpartner ihren Wunsch nach einer Ausbildung mitgeteilt, aber „dadurch, dass ich schon eine Ausbildung hab, bekomm ich kein BAB, also Berufsausbildungsbeihilfe, und vom Arbeitsamt finanzielle Unterstützung bekomm ich nur, wenn ich ein Reha-Fall bin und aufgrund gesundheitlich-, wenn ich meinen Beruf gesundheitlich nicht mehr ausüben kann, dann krieg ich ne Umschulung. Das ist aber nicht der Fall, das heißt, ich hab Pech gehabt.“

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Laut § 7 Abs. 5 SGB II haben „Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen [...] der §§ 60 bis 62 des Dritten Buches dem Grunde nach förderungsfähig ist, [...] keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts“. Nach den Bestimmungen des SGB III werden aber „dem Grunde nach förderungsfähig“e Ausbildungen nur dann tatsächlich gefördert, wenn es sich um die erste Ausbil-dung handelt.51

Herr T.: Lesen Sie mal durch und unterschreiben Sie.Herr T. war, als wir das Interview führten, 49 Jahre alt und lebte in einer Wohnge-meinschaft. Über seine Berufsbiografie berichtete er kompakt: „Ich bin gelernter Elektroin stallateur; Kraftfahrer, selbstständig gewesen als Transportunternehmer, insolvent, Bühnentechniker, auf Tournee mit Ensembles gewesen, zuletzt bis Ende 2003 ange stellter Bühnentechniker bei einem [...] (Ortsname) Theater.“ Die Arbeit beim Theater verlor Herr T., weil das Theater Ausgaben verringern musste, die Stelle strich und das Ensemble die Arbeit „jetzt wieder selber“ machte.

Seit Januar 2005 erhielt Herr T. Arbeitslosengeld II. Im Oktober 2005 bekam Herr T. zum ersten Mal „[...]ne Einladung mit der üblichen Floskel, ‚ich möchte mit Ihnen über Ihr Bewerberangebot sprechen‘, was sich dann im Termin als Abschließen einer Eingliederungsvereinbarung zeigte“. Der Gesprächsverlauf stellte sich für Herrn T. so dar: „Wir haben ganz allgemein einen Großteil der vorgesehenen sechzig Minuten über die allgemeine Lage, über Weltpolitik, über spirituelle Dinge gesprochen, und erst als sie (die Behörden-Mitarbeiterin) dann gemerkt hat, wie sie sich verplappert hat, kam sie ganz schnell zum Thema. Und da war keine Zeit mehr für Erklärung. Es war hauptsächlich ein In-die Hände-drücken und ‚lesen Sie mal durch und unterschreiben Sie und raus jetzt, der nächste Kunde wartet‘. Und der hat auch schon geklopft, also wir waren schon über der Zeit.“

Herr T. las die vorgefertigte Eingliederungsvereinbarung im Gang des Amtes, verstand kaum, was er las, und entschied, sie nicht an Ort und Stelle zu unter-schreiben und „grad wieder rein“ zu geben, wie ihm aufgetragen war. Er wollte sich erst mit anderen Erwerbslosen beraten. Noch am selben Tag schrieb er der Behördenmitarbeiterin eine Mail, in der er um einen neuen Gesprächstermin bat. Inhaltlich bestand der Entwurf der Eingliederungsvereinbarung lediglich aus den

51 Frank Jäger und Harald Thomé weisen darauf hin, dass Sozialgerichte in der Frage eines ALG II-Anspruchs von Auszubildenden in einer Zweitausbildung unterschiedlich urteilen. Siehe Jäger/Thomé 2008, S. 58.

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„üblichen Floskeln“. „Also, das war überhaupt keine drangsalierende, schika-nierende Eingliederungsvereinbarung. Die hätte ich eigentlich unterschreiben können, wenn sie mir denn erklärt worden wäre.“

Auf seine Mail erhielt Herr T. keine Antwort, erhielt aber kurz später einen weitere „Einladung“, ohne dass darin Bezug auf seine Mail genommen worden wäre. Noch bevor dieser Termin stattfand, erhielt Herr T. einen Bescheid, wonach die Regelungen der Eingliederungsvereinbarung durch Verwaltungsakt erfolgt seien, und einen Sanktionsbescheid, aufgrund dessen für die kommenden drei Monate das Arbeitslosengeld II um dreißig Prozent der Regelleistung gekürzt wurde und der befristete Zuschlag nach § 24 SGB II entfiel. Herr T. legte gegen den die Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt und gegen den Sanktionsbescheid Widerspruch ein, dem „nicht abgeholfen“ wurde.

Herr T. reichte, ohne sich anwaltlich vertreten zu lassen, Klage ein. Er be-gründete die Klage damit, dass die Behörde ihrer Pflicht zur Information über den Inhalt der vorlegten Eingliederungsvereinbarung nicht nachgekommen war und keine Rechtsfolgenbelehrung erfolgt war, bevor der Sanktionsbescheid er-lassen wurde. Das Klageverfahren erstreckte sich bis zum November 2007. Bis dahin wurden viele zu Stellungnahmen auffordernde und Stellung nehmende Briefe zwischen Gericht, ARGE und Kläger verschickt. Nach der Verhandlung im November 2007 entschied der Sozialrichter zu Gunsten des Klägers: Sowohl der Verwaltungsakt als auch der Sanktionsbescheid wurden als nicht rechtmäßig ergangen beurteilt.

Inzwischen war das SGB II seit knapp drei Jahren in Kraft, und es lagen be-reits mehrere gerichtliche Entscheidungen vor, die klarstellten, dass Sanktionen aufgrund der Weigerung, eine Eingliederungsvereinbarung ohne Bedenkzeit an Ort und Stelle zu unterschreiben, in der Rechtsprechung nicht akzeptiert werden. Trotzdem ging die ARGE in Berufung. Nun erst nahm Herr T. die Unterstützung eines Anwaltes, also Beratungshilfe, in Anspruch. Welche Kommunikation im Folgenden zwischen Landessozialgericht und ARGE erfolgte, erfuhr Herr T. nicht, aber es wurde ihm im Oktober 2008 mitgeteilt, dass die ARGE ihre Berufung zurückgezogen habe. Nun bekam Herr T. das Geld, das ihm drei Jahre zuvor vorenthalten worden war.

Auf meine Frage, wie er den Einkommensausfall im Sanktionszeitraum, in den ja auch noch Weihnachten fiel, überbrückt habe, antwortete Herr T. nur: „Also, ich bin dieses Low-Budget-Leben gewohnt.“ An negative Auswirkungen der Sanktion

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auf seine Lebenslage konnte er sich jedenfalls während unseres Gesprächs nicht erinnern.

Stattdessen sagte er: „Also das ganze Prozedere hatte zur Folge, dass ich keine Eingliederungsvereinbarung mehr gehabt hab, die ganze Zeit nicht. Ich wurde also verschont.“ Mit der Behördenmitarbeiterin, die die Sanktion veranlasst hatte, hatte Herr T. auch nie wieder ein Gespräch. Er hatte in dieser ARGE nur noch wechselnde Ansprechpartnerinnen bzw. Ansprechpartner.

Erst nachdem Herr T. umgezogen war und damit eine andere ARGE zuständig wurde, hatte er wieder einen festen Ansprechpartner, und zwar einen „Sachbear-beiter, der mir wirklich wohlwollend gegenüber sitzt, mich höflich behandelt, in meiner Situation wahrnimmt“. Hier unterzeichnete Herr T. auch eine Eingliede-rungsvereinbarung, in der vereinbart wurde, dass Herr T. die Schuldnerberatung aufsucht. Denn Herr T. und der Ansprechpartner waren überein gekommen, dass der hohe Schuldenberg, vor dem Herr T. seit der Pleite seines Transportunterneh-mens stand, eines seiner „Vermittlungshemmnisse“ sei, weil die Kommunikation mit den Gläubigern, die einem potenziellen Arbeitgeber gegenüber ihre Forde-rungen geltend machen würden, „unnötige Arbeit fürs Personalbüro oder für den Chef“ bedeuten würden. Herr T. nahm einen Termin bei der Schuldnerberatung wahr, was an seiner Situation aber nichts änderte, weil er als ALG II-Bezieher seinen Gläubigern nichts anzubieten hatte, was diese bewegen hätte bewegen können, sich auf ein Verfahren zur „Restschuldbefreiung“ einzulassen.

Wie Herr T. der Situation, ALG II-Bezieher zu sein, wieder entkommen soll, steht nach vier Jahren, in denen er zwar sinnlos sanktioniert, aber nicht gefördert, sondern lediglich vier Jahre älter wurde, mehr denn je in den Sternen.

Herr T. bewarb sich als internationaler Kraftfahrer. Aber er wusste, „da gibt es jede Menge junge fitte Männer, die das gern und gut und vor allen Dingen für relativ wenig Geld machen heutzutage“. Und sein LKW-Führerschein galt nur noch bis zur Vollendung des fünfzigsten Lebensjahres. Damit er für weitere fünf Jahre verlängert worden wäre, hätte sich Herr T. verschiedenen Tests unterziehen müssen. Nach seinen Informationen betrugen die Gebühren hierfür zwischen 300 und 500 Euro. „Und entweder, ich finde einen Arbeitgeber mit einer Einstellungs-zusage, dann bezahlt es die ARGE, oder ich bezahl es selber und erhöhe damit meine Bewerbungschancen.“ Aber Herr T. hatte kein Geld, um die Gebühren selbst zu zahlen. „Das gleiche gilt für meine abgelaufene ADR-Qualifikation. [...] .ADR ist die Erlaubnis für Gefahrguttransporte. Das hatte ich auch mal. Die wird halt nach einer gewissen Zeit ungültig und muss erneuert werden in einer

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Nachschulung. Auch kostenpflichtig. Und in der Regel übernehmen das die Firmen für ihre Fahrer. [...] Ja, und es ist ganz, ganz schwierig, ohne ADR mit demnächst auslaufendem Führerschein eine Stelle zu bekommen in dem Gewerbe.“

Herr U.: Ja, zwei, drei private Punkte sind immer dabei.Herr U. war zum Interviewzeitpunkt 33 Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kin-der im Alter von vier und zwei Jahren.

Herr U. war „angelernter Trockenbauer. [...] Früher hieß es nur Trockenbau-er, also Rigips-Platten verschrauben und so, und jetzt heißt es Wärme-, Kälte-, Schall- und Brandschutz-Techniker.“ Die Arbeit übte er wegen seiner Allergie gegen Glaswolle schon lange nicht mehr aus. „Die Lunge baut das dann nicht mehr ab, das setzt sich alles fest. Und da ich eh seit Geburt chronische Bronchitis hab und das dann in der Jugend übergegangen ist ins Asthma, dadurch wurde mir halt empfohlen, ich soll es nicht weitermachen.“

Danach arbeitete Herr U. hauptsächlich als Fahrer, die letzten Jahre allerdings nur noch über Leiharbeitsfirmen. Den letzten Job hatte er verloren, weil ihm der Führerschein entzogen wurde, nachdem sich zu viele Punkte im Verkehrszentral-register angesammelt hatten. Einmal war er von der Polizei angehalten worden „total überladen mit abgefahrenen Reifen. Als Arbeitnehmer hast du eigentlich nie die Zeit, jedes Mal vor ner Fahrt nach dem Auto zu gucken, wie es ja eigentlich vom Gesetz vorgeschrieben ist.“ Zuletzt geriet er in eine Polizeikontrolle, als ein „Spediteur (ihn) [...] losgeschickt hat(te) mit nem LKW, wo die Zugmaschine zwar zulässig war, aber der Anhänger nicht für die Zugmaschine gedacht war.“

Herr U. hätte sich einer medizinisch-psychologischen Untersuchung unterzie-hen müssen, um seinen Führerschein wieder zu bekommen, wofür ihm das Geld fehlte. „Dann hab ich vor Kurzem (im Jobcenter) noch mal nachgefragt, wie es denn aussehen würde, dadurch dass ich schlecht vermittelbar und einfach keinen Job finde, weil ich jetzt schon vier, fünf Absagen bekommen hab, weil ich keinen Führerschein hab, ob es denn möglich wäre, weil die MPU, die ich machen muss, kostet mich halt auch 500 Euro, ob die da irgendwas zahlen würden. ‚Ja nee, das machen sie nicht, das ist mein Eigenverschulden.‘ Hab ich gesagt, ‚aber die letzten Punkte, die kamen alle zustande aufgrund der letzten Arbeitgeber.‘ ‚Ja, da sind bestimmt zwei, drei private Punkte dabei.‘ Hab ich gesagt, ‚ja, zwei, drei private Punkte sind immer dabei, aber das Hauptsächliche-.‘“

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Auf einen Führerschein wäre Herr U. schon deshalb dringend angewiesen gewesen, weil die Familie in einem recht abgelegenen Dorf wohnte, und Busse nur selten fuhren.

Eine Umschulung zum Berufskraftfahrer oder „im Computerbereich“, die Herr U. früher schon beantragt hatte, wurde unter Hinweis auf fehlende finanzielle Mittel abgelehnt. Herr U. hatte den Eindruck, Umschulungen würden willkürlich gewährt: „Ich hab vor kurzem, wo ich in einer Leihfirma geschafft hab, hab ich auch bei ner Spedition gearbeitet, der LKW-Fahrer dort, der hat mir erzählt, er hat vor kurzem ne Umschulung gekriegt als Berufskraftfahrer, der hat insgesamt 14 000 Euro gebraucht, weil er noch zwei-, dreimal die Prüfung hat machen müssen.“

Inzwischen suchte Herr U. auch Arbeit im Ausland, „weil ich einfach sag, nee, ich möchte hier nicht bleiben. Wenn wir das schon so mitkriegen, wie es in den letzten zehn Jahren bergab ging, wie soll das dann für unsere Kinder werden. [...] In Finnland, da findet man momentan ziemlich viel, da hab ich jetzt ein paar Be-werbungen laufen.“ Auch für seine Idee, Arbeit im Ausland zu suchen, vermisste Herr U. Unterstützung durchs Jobcenter: „Man hat jetzt oben, Richtung Flensburg, dass da die Leute gefördert werden eben finnlandmäßig oder Dänemark. Dass sie in Dänemark öfters Fabrikleute suchen, dass die dann drei Monate lang geschult werden mit Sprachkurs und allem und die können dann da rüber und arbeiten. Wieso gibt es das bei uns da unten rum nicht? [...] Das Einzige, was sie hier unten rum machen, sie stecken dich in die [...] (Beschäftigungsträger), Ein-Euro-Job, dass ja die Zahlen schön gepuscht werden, wir haben nur so viele Arbeitslose, das ist der Witz hier unten rum.“

Gegen einen Ein-Euro-Job hatte sich Herr U. bislang erfolgreich gewehrt. „Die wollen mich die ganze Zeit in einen Ein-Euro-Job stecken, wo ich dann gesagt hab, ne, will ich nicht machen, erstens aufgrund dessen, weil es einfach nicht im öffentlichen Bereich ist, also weil es nicht der Öffentlichkeit gut tut. [...] Also das ist bei uns die [...] (große Kommunale Beschäftigungsgesellschaft) [...] Mittlerweile machen die halt für größere Firmen, zum Beispiel Firma [...] in [...].; kriegen die da Sachen geschickt aus der Produktion, die machen die fertig, und die gehen dann wieder in die Produktion rein. Da hab ich gesagt, also meines Erachtens ist das nicht im öffentlichen Interesse, das ist ne Ausbeute. [...] Da hab ich gesagt, den verweiger ich, Sie können mich irgendwo anders hinstecken, aber bestimmt nicht dahin, und ich geh keine dreißig Stunden arbeiten in der Woche für irgendeinen, wo es ne Leihfirma genau so machen könnte. [...] Und dann soll

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es ja zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt eigentlich sein. Dann frag ich mich aber, wenn einer schon das dritte oder vierte Mal jetzt dabei ist, was hat das mit Wiedereingliederung zu tun?“

Herr U. machte auch keinen Hehl daraus, auf welche Weise es ihm bisher gelungen war, sich gegen die Zuweisung zu Ein-Euro-Jobs zu wehren. Auf meine Frage, ob er wegen der Ablehnung eines Ein-Euro-Jobs noch nicht sanktioniert worden sei, antwortete er: „Bis jetzt noch nicht, ne. Sie haben mir halt tausend Mal noch mal ne Einladung geschickt, und dann hab ich halt mit ner Krankmeldung drauf geantwortet.“

Sanktioniert wurde Herr U. in 2007, weil er eine „Musterbewerbung“, die der ARGE zeigen sollte, ob er sich „auch richtig bewerben kann“ nicht vorgelegt hatte. An dem Freitag, als er die Musterbewerbung hätte vorlegen sollen, wusste er schon, dass er ab dem darauf folgenden Montag wieder einen Job bei einer Leiharbeitsfirma haben würde. Herr U. glaubte, dass damit die in der Einglie-derungsvereinbarung festgelegte Verpflichtung zur Vorlage der „Musterbewer-bung“ entfallen sei. Das war ein Irrtum, weil Herr U. in der Leiharbeitsfirma so wenig verdiente, dass die Familie Anspruch auf ergänzendes ALG II behielt. Sanktioniert wurde er, indem die ergänzende Leistung um vierzig Prozent der für Herrn U. maßgebenden Regelleistung gekürzt wurde. Zehn Prozent entfielen auf das Terminversäumnis an besagten Freitag, 30 Prozent auf die Nicht-Vorlage der „Musterbewerbung“.

Die zweite Sanktion war zum Interviewzeitpunkt im April 2009 den dritten Monat in Kraft. Wieder war Herr U. zu einem Termin nicht erschienen, mel-dete sich zwar telefonisch krank, was er dieses Mal auch tatsächlich war, legte die Krankmeldung aber erst für die Zeit ab dem folgenden Tag vor. Bei diesem Termin hätte er die zwölf Bewerbungen vorlegen sollen, die er vierteljährlich nachzuweisen hatte. Zwölf Stellenangebote pro Quartal zu finden, auf die sich Herr U. mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten bewerben konnte, war kaum möglich. „Also, ich ruf selber in ner Leihfirma immer mal wieder an, weil es gibt keine andere Möglichkeit. Klar, in der Zeitung, wenn irgendwas mal drinsteht. Aber meistens heißt es dann, ‚oh, kein Auto, da würden Sie eh nicht hinkommen, da sind Sie nicht so flexibel‘.“

Durch die Sanktion waren vor allem Mietschulden aufgelaufen. Denn Herr und Frau U. mussten seit Januar 2009 monatlich 100 Euro ihrer Wohnkosten aus der Regelleistung bestreiten, weil die Kaltmiete in Höhe von 650 Euro für die vierköpfige Familie als unangemessen teuer galt. „Wir haben im ersten Jahr

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weniger gezahlt, dadurch, dass wir hier renoviert haben, also wir zahlen jetzt 650 kalt. [...] Bei uns werden nur 550 Euro gezahlt. ... Es sind zwölf Quadratmeter zu viel. Also, wir haben hier 102 statt neunzig Quadratmeter, und selbst wenn es nur neunzig wären, wäre es ja von der Miete her-. Also, es ist Idiotie. Wir haben jetzt in dem letzten halben Jahr, wo wir Wohnung suchen, haben wir eine Wohnung dabei gehabt, die genau da rein passen würde, und die Vermieterin wollte uns nicht, weil wir arbeitslos sind, was aber absolut nicht passt, wenn man die Wohnung anguckt, da geht kein normaler Mensch rein, der arbeitet.“

Auch Stromschulden bestanden, als wir miteinander sprachen, und mit „Te-lefonrechnungen sind wir immer hintendran“.

Herr Ü.: ... und ich hab mich auf den großen Zettel verlassen.Herr Ü. war zum Interviewzeitpunkt 43 Jahre alt und lebte allein. Er hatte eine Ausbildung als Industriekaufmann und eine Weiterbildung zum Multimedia-Kaufmann absolviert. In den 90er Jahren gründete er eine „Künstleragentur“: „Ich hab Modeschauen veranstaltet, Modelagentur, Moderatoren, DJs, hab halt auch die Firmen gesucht für diese Modeschauen, hab Veranstaltungen gemacht mit Ausstellungen, Vernissagen, Konzerte und das Ganze.“

Das Unternehmen ging in Konkurs, Herrn Ü. blieben 75 000 Euro Bankschul-den, für die seine Eltern mit ihrem Haus bürgten.

Die letzte Arbeitsstelle, bei der Herr Ü. genug verdiente, um Schulden tilgen und nicht nur Schuldzinsen zahlen zu können, endete 2002. Es war eine befristete Stelle gewesen, die die Landeszentralbank für die Umstellung auf den Euro ge-schaffen und nach vollzogener Umstellung nicht verlängert hatte.

Seit sieben Jahren zahlte Herr Ü. nur noch die Zinsen für den Großkredit, 56 Euro pro Quartal. Auch als ALG II-Bezieher hörte er damit nicht auf. Außerdem tilgte er seit geraumer Zeit jeden Monat mit einem Betrag von 50 Euro einen weiteren Kredit in Höhe von 2000 Euro, in den die Bank Herrn Ü.s von der Bank gekündigten Überziehungskredit umgewandelt hatte.

Bereits 2005 übte Herr Ü. für neun Monate einen Ein-Euro-Job im Land-ratsamt aus. Dem folgte eine befristete versicherungspflichtige Beschäftigung in derselben Behörde auf demselben Arbeitsplatz. Als das Fristende erreicht war, und die ARGE den Eingliederungszuschuss nicht weiter zahlte, wurde Herrn Ü.s Stelle gestrichen. Nach einjährigem Bezug von Arbeitslosengeld I war Herr Ü. ab Mitte 2008 wieder auf Arbeitslosengeld II angewiesen.

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Herr Ü. tat stets, was die ARGE von ihm verlangte. Er absolvierte ein Bewer-bungstraining und zwei kaufmännische Grundkurse, in denen es für ihn als Kauf-mann nichts Neues zu lernen gab. Die Ansprechpartnerin im Amt hatte „gesagt, ‚Herr[...], auch ich komm nicht rum, dass Sie nach so ner Zeit in so ne Maßnahme rein müssen, da gibt es halt Vorgaben.‘“ Herr Ü. akzeptierte das, weil er die An-sprechpartnerin fair und hilfsbereit fand. Er bedauerte es sehr, dass sie im Som-mer 2008 in den Arbeitsbereich „50 plus“ wechselte. Die Beziehung zur neuen Ansprechpartnerin missriet schon bei der ersten Begegnung: „Die war so was von brüskiert, dass ich mir erlaubt hab, von mir aus mich vorzustellen. Ich hab gesagt, ‚hallo, Sie sind doch für mich zuständig, ich möchte, dass Sie auch wissen, [...]um wen es geht‘. Die hat mich ganz kurz wieder abgewimmelt, bis ich dann Wochen später einen Termin bekam, wo sie mich dann offiziell eingeladen hat, und es ist – ich nenn es – eine Schreibtischtäterin: null Interesse am Menschen, einfach nur ‚hier sind die Bestimmungen, das machen Sie oder so und so‘.“

Im September 2008 bot sich Herrn Ü. die Möglichkeit zu einem Nebenjob: „Hab ich über einen Bekannten gehört, dass es da eine Stelle gibt, die stunden-weise jemanden suchen, was aber auch gut laufen könnte, dass man vielleicht fest angestellt wird.“ Seine beiden ersten Arbeitstage in diesem Betrieb fielen auf zwei aufeinanderfolgende Freitage, an denen auch „Info-Tage“ bei einem Beschäftigungsträger stattfanden, zu denen Herr Ü. von der ARGE geladen war. Der Beschäftigungsträger war derselbe, der Herrn Ü. bereits den Ein-Euro-Job im Landratsamt vermittelt hatte. Herr Ü. rief sowohl dort als auch in der Behörde an, um zu sagen, dass er wegen der Arbeit zu den „Info-Tagen“ nicht kommen könne. Der Beschäftigungsträger, bei dem man Herrn Ü. noch in guter Erinnerung hatte, akzeptierte die Entschuldigung. Vom Jobcenter bekam er jedoch „gleich zwei Wochen später die ersten dreißig Prozent Sanktion.“

Ich hatte mit einer Mitarbeiterin des Beschäftigungsträgers, die das Interview mit Herrn Ü. vermittelt hatte, gesprochen, bevor ich mit Herrn Ü. selbst sprach und ohne dass er dabei war. Sie hatte mir schon berichtet, dass sie, als die Sanktion in Kraft war, der Behörde geschrieben habe, dass Herr Ü. sich doch entschuldigt hätte, und wegen dieses Schreibens vom Jobcenter gerügt worden war.

Am 19. Oktober 2008 hätte Herr Ü. – jedenfalls nach der Erwartung seiner Ansprechpartnerin in der ARGE – seine „Bewerbungsaktivitätenliste“ vorlegen sollen. „Ich hab einen Eingliederungsvertrag, da stand, ich hab es dann auch spä-

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ter erst nachgelesen, wirklich drin, Abgabetermin 19.10., meine vier Bewerbungen pro Monat. Ich hatte aber auch einen Ausdruck, einen großen, da steht drauf, 19.12., und ich hab mich auf den großen Zettel verlassen, hab meine ganzen Be-werbungen drauf geschrieben, hab den zwei Tage später abgegeben, kam prompt ein zweites Schreiben, zweite Sanktion.“

Für November und Dezember 2008 bekam Herr Ü. gar kein Arbeitslosengeld II. Zum einen war er offensichtlich in Höhe von neunzig Prozent der Regelleistung sanktioniert, womit die Behörde auch hier, ebenso wie bei Herrn S. eine unzuläs-sige Addition von Sanktionsbeträgen vorgenommen hat. Auch zur Sanktion von „Tatbeständen nach den Absätzen 1 und 4“ des § 31 SGB II stellt der Durchfüh-rungshinweis der Bundesagentur klar: „Die Überlappung von Sanktionszeiträu-men wegen erster und erster wiederholter Pflichtverletzung führt nicht zu einer Minderung, die über das für die erste wiederholte Pflichtverletzung vorgesehene Maß von 60 % hinausgeht.“52 Zum andern ging die Behörde davon aus, dass Herr Ü. einen Nebenverdienst von 165 Euro pro Monat hätte, also etwa fünfzig Euro auf die Regelleistung anzurechnen wären. Er hatte ursprünglich angenommen, 165 Euro zu verdienen und hatte dies der Behörde so mitgeteilt. Er wies wenig später mit Verdienstbescheinigung nach, dass seine ursprüngliche Erwartung zu optimistisch war und er tatsächlich nur 100 Euro verdiente, aber „das haben sie bis heut noch nicht geschnallt.“

Herr Ü. schrieb Widersprüche, die schnell abweisend beschieden wurden. Er suchte sich daraufhin einen Rechtsanwalt, um sich gegen die Sanktionen zu weh-ren, „weil in diesem Paragrafending kenn ich mich nicht aus.“ Der Rechtsanwalt schickte ihn zum Amts gericht, um sich dort einen Beratungsschein zu besorgen. Im Amtsgericht erfuhr Herr Ü., dass er zunächst wegen der Sanktionen rechts-mittelfähige Bescheide bräuchte und dass es „eine Gepflogenheit dieses Amtes (sei), keine rechtsmittelfähigen Bescheide rauszugeben“. Herr Ü. forderte zweimal vergeblich rechtsmittelfähige Bescheide an. Erst nachdem ihm der Rechtspfleger im Amtsgericht „dann genau aufgeschrieben (hatte), nach Paragraf so und so hab ich das Anrecht darauf und so weiter“ und Herr Ü. mit diesen Formulierungen bewehrt seine Forderung ein drittes Mal vorbrachte, bekam er endlich rechtsmit-telfähige Sanktionsbescheide.

Herrn Ü.s Anwalt klagte gegen die Sanktionen, die ihre unheilvolle Wirkung aber bereits entfaltet hatten. Als die Bank im November und Dezember festge-

52 Durchführungshinweis der Bundesagentur für Arbeit zu § 31 SGB II, Fassung vom 20.4.2009, S. 7.

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stellt hatte, dass keinerlei Kontobewegungen mehr stattfanden und damit keine Zinszahlung und keine Tilgung des Kleinkredites mehr erfolgten, kündigte sie die Kredite, wollte auf die Bürgschaft zurückgreifen und leitete die Zwangsversteige-rung des Hauses der Eltern ein. „Das Haus wäre eigentlich jetzt abbezahlt, wenn nicht meine Fünfundsiebzigtausend da drin stehen würden.“, sagte Herr Ü. und an anderer Stelle: „Ja, jetzt durch diese erst mal außergerichtliche Insolvenz verlieren meine Eltern noch das Haus und stehen jetzt mit 70 Jahren auf der Straße.“

Herr Ü. berichtete, dass er eigentlich immer einen guten Kontakt zu Vater, Stiefmutter und Geschwistern hatte, aber zum Interviewzeitpunkt wartete er da-rauf, dass sein „Vater mit dem Gewehr vor der Tür steht, jetzt mal makaber. [...] Die ganze Familie teufelt jetzt natürlich auf mich ein.“

Die Situation machte Herrn Ü. so sehr zu schaffen, dass er seit Dezember 2008 krank geschrieben war. „Der Verdacht ist auf Morbus Crohn, eine psycho-somatische Autoimmunkrankheit des Darmes. Bei mir schlägt sich alles auf den Magen, und ich hab dann auch sehr viel Blut verloren, Krämpfe gehabt, da sind auch Polypen schon rausgeschnitten worden, mal geht es gut und mal geht es schlecht.“ Seit Mitte Dezember nimmt Herr Ü. auch Psychopharmaka. Gegen Ende des Interviews konnte er die Tränen nicht mehr unterdrücken.

Herr V.: Du verlierst auch den Mut und den Willen.Herr V. war 32 Jahre alt und lebte gemeinsam mit seinem Bruder in einem alten geerbten Haus auf dem Land. Herr V. und sein Bruder bekamen monatlich 17,67 Euro für „Unterkunft und Heizung“. Außerdem zahlte die Behörde einmal im letzten Winter eine Brennstoffbeihilfe von 240 Euro. Den Erhaltungsaufwand für das alte Haus akzeptierte die Behörde nicht.

Herr V. hatte eine Ausbildung zum Forstwirt absolviert. Ein guter Start ins Berufsleben war die Ausbildung für Herrn V. nicht: „Der Meister, den wir hatten, der hat die Leute gegenein ander ausgespielt, und so hat es angefangen. Eigentlich hätten wir müssen beim Chef sagen, so und so sieht es aus. [...] Jetzt im Nachhi-nein ist es rausgekommen, oder wurde er auch gekündigt, er wurde-, hat noch ne Riesenabfindung. [...] Das haben sämtliche Leute mitgekriegt, dass er eigentlich das Arschloch war, aber nicht wir, die er immer als Arschloch betitelt hat.“

Herr V. wurde nach der 1994 abgeschlossenen Ausbildung nicht übernommen und übte viele verschiedene Jobs aus: „[...]eigentlich alles Mögliche, Mädchen für alles, vom Bauhelfer, Fahrer, Reinigungskraft, das war ich vier Jahre am Stück mal, also Kloputzer auf gut deutsch im [...] (Ortsname) Schwimmbad, und ja.“

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2005 bekam Herr V. einen Ein-Euro-Job in der „Grüngruppe“ eines großen Beschäftigungsträgers, anschließend für ein halbes Jahr eine befristete, arbeitsver-traglich geregelte Stelle in einem „Landwirtschaftsprojekt“ dieses Trägers.

2007 bekam Herr V. eine Stelle als Zaunbauhelfer, die die ARGE mit Ein-gliederungszuschuss an den Arbeitgeber gefördert hatte. „Die haben gesagt, ich würde übernommen, aber der ist die Schiene gefahren: Solang es Zuschüsse vom Arbeitsamt gibt, bist du recht und gut, und ab Freitagmittag-, und ab dem nächsten Tag oder der nächsten Woche hätte ich Lohnerhöhung gekriegt, einen Euro mehr, und die Kündigungsfrist und alles wäre länger gegangen, und Freitagmittag musst noch mit ins Büro: Kündigung.“ Die mit dem Auslaufen des Eingliederungszu-schusses erfolgte Kündigung traf Herrn V. sehr. „Ich hätte es gerne weitergemacht, das war zwar harte Arbeit, aber mir hat es persönlich gefallen, ich hab mich zurecht gefunden, hab schon gewusst, wie was zu tun ist. Von der Aussage vom Chef her, ja, wenn du dich anstrengst und weißt, wie es geht, er will jemand für längerfristig, hat es am Anfang geheißen, dementsprechend den Arsch aufgeris-sen, arbeiten gegangen, obwohl teilweise manchmal auch Schmerzen vorhanden waren.“

Über die Auswirkungen solcher Erfahrungen sagte Herr V.: „Du verlierst auch den Mut und den Willen, irgendwie, irgendwo was anzufangen, weil bei meinem Bruder war es so, der hat auch bei einer Firma gearbeitet und genau das gleiche Spiel. Dann, als das Arbeitsamt nichts mehr gezahlt hat, ab dann tschüss. Und ich war bei der Firma noch mal zwei Wochen später, um die Papiere zu holen, haben sie den nächsten gehabt vom Arbeitsamt, der wieder Zuschuss kriegt.“

„Letztes Jahr war irgendwie-, nach mir die Sintflut, ja“, so umschrieb Herr V. seine Stimmungslage in 2008, die dazu führte, dass Herr V. von der ARGE mehrfach sanktioniert wurde, bis ihm schließlich mitgeteilt wurde, dass er für die nächsten drei Monate überhaupt keine Leistung erhalten würde. An die Gründe für die Sanktionen konnte sich Herr V. in unserem Gespräch nur sehr mühsam erin-nern. Er las seine damalige Post vom Jobcenter kaum, geschweige denn, dass er sie geordnet aufbewahrt hätte. „Ich hab keine Unterlagen, ich hab geguckt, ich hab keine mehr gefunden. Wie gesagt, in der Zeit hab ich dann gesagt: ‚Arbeitsamt, machen wir gar nicht auf, weg mit‘.“ Klar wurde in unserem Gespräch so nach und nach: Einmal hatte er einen Termin im Amt nicht wahrgenommen, ein anderes Mal hatte er die zehn Bewerbungen, die er alle zwei Monate nachweisen sollte, nicht rechtzeitig nachgewiesen. Ein weiteres Mal hatte er sich bei einer Arbeits-stelle, die weit entfernt von seinem Wohnort lag, nur telefonisch gemeldet, anstatt

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sich persönlich vorzustellen. Herr V. hatte 2008 wegen einer Trunkenheitsfahrt seinen Führerschein verloren, und es fehlte ihm, wie manchem meiner Gesprächs-partner das Geld für die medizinisch-psychologische Untersuchung, ohne die er ihn nicht zurückbekommen würde. Schließlich hatte er eine Stelle als „Hoflakei“ auf einem ebenfalls etwas entfernt gelegenen Bauernhof abgelehnt. Das Arbeits-angebot erinnerte er so: „Körperlich belastbar, Arbeitszeit von 7 bis 17 Uhr, [...] 16, 17 Kilometer. Ich mein, das wäre machbar mit dem Fahrrad irgendwie. Aber dann noch den ganzen Tag körperlich hart arbeiten, von wegen Stall ausfegen, alle anfallenden Arbeiten, und das zehn Stunden lang. Dann, bis du mit dem Fahrrad daheim bist, dann-, nee. Dann hast ja gar nichts mehr davon, von daheim, und das ist auch nicht Sinn und Ziel. Ich sag mal, wenn der Lohn stimmen würde, wäre das okay, aber nicht für 6 Euro 25. Das können sie nicht verlangen.“

Als Herr V. ab August 2008 gar kein Geld mehr von der ARGE bekam, bot ihm ein Bekannter Arbeit an. „Da hat es auch geheißen, ja Festanstellung, kein Problem. Dann hab ich aber mein Geld auch nicht gesehen, dann hab ich-, wenn ich mal sechs Wochen kein Geld sehe, sag ich, ‚he, ich hab nichts mehr zu essen und weiß auch nicht mehr, wie oder was, und soll arbeiten kommen‘, hab aber selber kein Geld, Chef kein Geld, dann sag ich halt, ‚nee, geht nicht mehr‘.“ In-zwischen hätte Herr V. wieder einen Verlängerungsantrag fürs Arbeitslosengeld II stellen müssen, das unterließ er, weil er „sich dachte“: „Macht Ihr doch, was Ihr wollt, ich hab keinen Bock mehr drauf, weil es mir wirklich zu viel Stress war, das ganze Mich-rechtfertigen-Müssen, warum und wieso und ‚Sie wollen ja nicht arbeiten gehen‘. Ich will schon arbeiten gehen, aber find mal was, wo du dauer-haft bleiben kannst.“ Herr V. bekam vorübergehend wieder einen 400-Euro-Job. „Dort wollte ich auch fest arbeiten, aber das hat nicht funktioniert.“

Erst als Anfang 2009 „gar nichts mehr ging“, beantragte Herr V. wieder ALG II. Seither hatte er auch wieder einen Ein-Euro-Job bei der Beschäftigungsgesell-schaft, bei der er schon 2006 als Ein-Euro-Jobber war. Zum Interviewzeitpunkt machte er sich große Hoffnungen, dort wieder, wie drei Jahre zuvor, wenigstens für sechs Monate einen Anstellungsvertrag im „Landwirtschaftsprojekt“ zu be-kommen. „Das mit dem Landwirtschaftsprojekt, ich sag mal, sind 850 Euro. Es ist ein Unterschied, ob es 350 oder 850 Euro sind, das sind halt 500 Euro, und es ist ein bisschen mehr Lebensqualität. [...]. Mal wieder einkaufen gehen, mal wieder Klamotten kaufen oder so, oder einen Teil auf die Seite legen für Urlaub, hab ich eigentlich geplant, oder am Haus weitermachen, weiterrenovieren. Und das geht mit dem Arbeitslosengeld-, kannst da halt-, oder mit dem Hartz IV kannst

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nichts. Da biste froh, wenn du am Ende vom Monat noch was zu essen hast, [...] will ich [...] schauen, dass das funktioniert mit dem Landwirtschaftsprojekt und dass da wenigstens ein bisschen Geld-, und wenn es nur für ein halbes Jahr ist. Besser als nichts.“

Was er von seiner beruflichen Zukunft in den kommenden 35 Jahren erwarte, wagte ich Herrn V. nicht zu fragen.

Frau W.: Mit so einer Arbeit soll man in den Ersten Arbeitsmarkt hineinkommen?Frau W. war 59 Jahre alt und lebte seit etwa zwei Jahren mit ihrem Lebensge-fährten in einer 46-m²-Wohnung. Nicht nur die Enge der Wohnung, auch die lärmenden und, wie Frau W. sagte, „polizeibekannten“ Nachbarn zur Rechten und zur Linken zerrten an Frau W.s Nerven. Das Interview wollte sie nicht in ihrer Wohnung führen; wir setzten uns in einen nahe gelegenen Park. Die Belastungen durch die Wohnsituation, die Umstände, durch die sie in die Wohnsituation geriet, und die Schwierigkeiten, als ALG II-Bezieher der Situation wieder zu entkommen, nahmen einen breiten Raum in Frau W.s Schilderung ihrer Lebenssituation ein. Dies wiederzugeben, würde den Rahmen einer Fallskizze bei weitem sprengen.

Frau W. pflegte Kontakt zu ihrer im Nachbarort lebenden 30-jährigen Tochter und sie traf sich gelegentlich mit Bekannten zum Minigolf-Spielen.

Aufgewachsen ist Frau W. im Heim. „Weil meine Eltern oder sagen wir Er-zeuger oder wie man das nennen will, da hat sich meine Mutter überhaupt nicht um mich gekümmert, bin ich irgendwo im Heim aufgewachsen.“ Auf die Umstän-de ihres Aufwachsens führte Frau W. es zurück, dass sie keinen Beruf erlernen konnte: „Hab dann Probleme gehabt, [...] überhaupt eine Ausbildungsstelle zu bekommen, die waren alle mit Vorurteilen gehaftet, ‚ja, Leute im Heim, die haben über die Stränge geschlagen‘. Auf die Idee, dass manche Kinder nicht im Heim sind, weil sie über die Stränge geschlagen haben, da sind die gar nicht gekommen. [...] Hab ich zum Beispiel Kinderpflegerin lernen wollen, weil mit Kindern kann ich gut, und ne, ja, ‚Leute, die im Heim aufgewachsen sind, können wir doch nicht auf die armen Kinder los lassen‘.“

Frau W. wurde stattdessen Hilfsarbeiterin, heiratete und bekam 1978 eine Tochter. „Solange ich verheiratet war, als die Tochter dann geboren war, bin ich dann größtenteils-, gut, das seh ich jetzt auch wieder als Fehler an, aber damals war es für mich richtig, bin ich zuhause geblieben, weil der Mann hat gut verdient. Gut, im Nachhinein sag ich, es war ein Fehler. Hauptsächlich bin ich aus dem

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einen Grund zuhause geblieben bei der Tochter, weil ich gesagt hab, die Tochter soll nicht irgendwo fremd aufwachsen.“

Als die Tochter größer war, waren es eher die Ansprüche des Ehemanns, die es Frau W. schwer machten, wieder erwerbstätig zu sein: „Hab dann noch mal was bekommen, ich hab es schier nicht für möglich halten können, beim [...]-Center in [...] draußen. Auch wieder an der Kasse, hab das gleiche Geld verdient, also auch 18, damals hat man noch Mark gehabt, 18 Mark die Stunde, hab mich gefühlt wie eine Königin. Ich als ungelernte Kraft, da fühlt man sich wie im Paradies. [...] Und dann hab ich zwei Wochen dort angefangen, dann kommt mein Ex-Mann daher, es war Oktober, er will nach Südtirol, um Urlaub zu machen. Hab ich gesagt, ‚ich geh zwar gern nach Südtirol, bloß ich kann da nicht mit, weil ich da frisch angefangen hab, die erlauben mir das nicht. Was heißt, erlauben tun die schon, bloß, dann bin ich weg.‘ Hab ich gesagt, ‚komm, nimm doch die .. mit, die Tochter.‘ ‚Die geht mit ner Freundin auf ne Hütte ins Allgäu.‘ Hab ich gesagt, ‚dann nimmst deine Mutter mit oder gehst allein.‘ ‚Nein, ich will nicht allein‘, hat er wie ein kleines Kind gesagt. Zuerst liegt er mir in den Ohren, ich soll Arbeit suchen, gut, ich hab selbst auch gesagt, ich will einfach auch das Geld haben und will irgend ne Bestätigung, und dann macht er mir so was. Hab ich gesagt, ‚nee, ich mach das nicht, weil hundertprozentig, der Chef, der hat mir jetzt ne gute Chance gegeben, ich flieg da raus.‘ Hat er mir die Hölle heiß gemacht, das kann ich nicht machen, und mit Scheidung gedroht. Ja, dann bin ich mit dem mit und anschließend bin ich die Arbeit wieder los gewesen. [...] Und er hat mir auch noch die Schuld gegeben. Dann hat es so fürchterlich gekracht, da ist dann, auch aufgrund anderer Sachen noch, die Scheidung gekommen.“

1994 trennte sich Frau W. von ihrem Mann, der sie „rumkommandiert“ hatte. „Ich bin ausgezogen, hat mir auch leid getan wegen dem Haus.“ 1997 folgte die Scheidung. Inzwischen war Frau W. 47 Jahre. Ihren vorletzten Job hatte Frau W. 1998 in einer Computerfirma, die irgendwann keine Gehälter mehr zahlen konnte und pleite ging. Ihre letzte Arbeitsstelle 1999, „[...] wär so optimal gewesen, Vollzeit sogar, einigermaßen gutes Gehalt, wo ich hätte können normal leben.“ Aber es „[...]waren lauter Kolleginnen, die haben alle, weil ich bin ja Nichtrau-cher, ich kann das auch nicht vertragen, weil ich hab seit Kindheit Probleme da, Bronchitis und so lauter Zeug, und die haben alle geraucht. Da hat man keine Fenster aufmachen können, [...], ich hab am Abend Kopfweh gehabt, ich kann das nicht mehr. Hat es geheißen, ich soll den Chef fragen, immerhin ist für mich viel auf dem Spiel gestanden, Vollzeit, hab ich gedacht, das kann irgendwo nicht wahr

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sein, und der Chef hat selber geraucht wie ein Schlot. .... Hab dann gekündigt und seither nichts mehr gefunden.“

Eine Zeit lang hatte Frau W. noch Anspruch auf Unterhaltsleistungen ihres geschiedenen Mannes. Irgendwann endete der Anspruch. Seit 2005 lebte Frau W. von Arbeitslosengeld II. 2008, inzwischen war Frau W. 58 Jahre alt, erhielt sie die Aufforderung, sich bei einer Beschäftigungs gesellschaft als Ein-Euro-Jobberin zu melden. „Angerufen, ‚ja, kommen Sie raus, am besten heut noch‘“. Hab ich gedacht, gut, fahr ich halt raus, bin dann zu einer Dame geschickt worden, die hat gesagt, ich müsste da, sechs oder acht Zettel, so große Din-A-4 unterschreiben im Eiltempo. [...] Ich hab gar nicht lesen können, was da alles drin steht. [...] Betriebsordnung, alles im Eiltempo, logisch, damit man nicht lesen kann, was einfach nicht akzeptierbar ist. Okay, ich bin ziemlich ängstlich gewesen, das hat die mir wahrscheinlich auch angemerkt, hab dann unterschrieben. Dann hab ich zu ihr gesagt, da hab ich mich vorher schon informiert, weil ich hab keine Aus-bildung, hab kein Abitur, hab keine Realschule, aber wegen dem bin ich nicht auf den Kopf gefallen. Ich kann ein bisschen was denken. Hab ich zu dieser Dame gesagt, ‚so, ist das alles, was ich unterschreiben muss?‘, sagt sie, ‚ja, reicht Ihnen das nicht?‘. Hab ich gesagt, ‚doch, das reicht mir, Sie haben mich gezwungen zu unterschreiben, und ich hätte jetzt gern von diesen Blättern eine Kopie.‘ [...] Ist doch richtig, oder? [...] . Da sagt sie, ‚Sie haben keine Ansprüche zu stellen.‘[...] Die hat mich angeguckt, so ein richtig giftiger Blick, vielleicht ist das schon Übungssache gewesen von ihr. [...] Hab ich gesagt, ‚gut, Sie wollen mir keine Kopie geben, ich hab auch Rechte, wo sind wir denn? Sie zwingen mich zu unter-schreiben‘. [...] Sagt sie, ‚das ist doch hier keine Versicherung‘. Hab ich gesagt, ‚das ist mir egal, ob das jetzt eine Versicherung ist oder sonst ein Vertrag, es gibt diverse Sachen, ob Mietvertrag oder sonst was, da kriegen beide eine Kopie, das ist doch das Normalste vom Normalen‘. Ich war am Donnerstag dort, [...], ich soll jetzt am Montag, soll ich erscheinen um acht Uhr. Hab ich gesagt, ‚das werden Sie sehen, ob ich erscheine‘. Ich bin dann halt nicht raus.“

Statt montags zum Ein-Euro-Job „zu erscheinen“, schrieb Frau W. der ARGE einen Brief, in dem sie zu erklären versuchte, warum sie den Ein-Euro-Job nicht angetreten hatte. Eine Antwort auf diesen Brief erhielt sie nicht. Aber sie bekam etwa zwei Monate später eine weitere Aufforderung, sich bei einer anderen Be-schäftigungsgesellschaft wegen eines Ein-Euro-Jobs zu melden. „Jetzt musste ich zuerst nach [...], da ist scheinbar der Hauptgeschäftsführer, keine Ahnung. [...] .Hat gesagt, gut, da und da am 8. Juli, ich war irgendwann im Juni da, im Juli

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soll ich zur Frau B[...] in .., soll ich mich da vorstellen. [...] Und die Frau B[...], hat der Geschäftsführer gesagt, würde mit mir besprechen, da gibt es verschie-dene Arbeiten, für was ich mich am besten eignen würde. Es bleibt mir ja nichts anderes übrig, ich mein, ne richtige Arbeit wäre mir lieber, aber gut, macht man gute Miene zum bösen Spiel, bin ich dann hin.“

Auch in dieser Beschäftigungsgesellschaft musste Frau W. zunächst etliche „Zettel“ unterschreiben, bekam dann aber immerhin auf ihr Verlangen hin Kopien davon. Aber Frau B. besprach nicht mit Frau W., welche Arbeit für sie geeignet wäre, sondern wies Frau W. eine Arbeit zu „und dann sagt sie noch, sie könnte mich nur von Montag bis Freitag von 13 bis 19 Uhr einteilen, sechs Stunden, morgens könnte sie mich nicht einteilen, da würden diverse Frauen morgens ar-beiten, die Schulkinder und Kindergartenkinder haben.“ Frau W. wurde auch noch belehrt, dass sie das Sozialkaufhaus, für das sie jetzt arbeiten sollte, außerhalb ihrer Arbeitszeiten nur mit schriftlicher Genehmigung betreten dürfe.

„Und dann war es so, dann bin ich mit der anderen Kollegin überall rumge-laufen, bin dann zum Schluss in den Keller geführt worden, es war ein Kellerraum, da war kein Fenster offen, es war bloß-, gut, Fenster waren schon da, aber es war keins offen, man hat auch keins kippen können, [...], da war eine Luft da drin, da waren Leute drin, zwanzig Leute, da war es warm, ich hab eine Wasserflasche neben mich gestellt, ich muss immer wieder was trinken, das war nicht möglich, das war ein Gehetze. [...] Jetzt musste ich, wie soll ich sagen, blöd zu erklären, da kommen Sie oder irgendwie Privatleute kommen da, bringen irgendwie Sachen, Parfümfläschle, was weiß ich, Kaffeekannen, alles Mögliche, Klamotten, Schuhe, [...] Sachen, die noch gut erhalten sind, und da musste ich Etiketten hinkleben oder irgendwie hinmachen mit so einem Tacker, mit so einem komischen Gerät, und ich hab gedacht, mit so einer Arbeit soll man in den Ersten Arbeitsmarkt hineinkommen?“ Der Arbeitsraum, das ergänzte Frau W. an anderer Stelle, war am helllichten Sommernachmittag durch Neonröhren beleuchtet.

Als ob Frau W. nicht schon elend genug zumute gewesen wäre, wurde ihr am Ende dieses ersten Arbeitstages von einer anderen Ein-Euro-Jobberin auch noch verboten, den Aufzug zu benutzen. „Bevor ich dann aufgehört habe, da war so ein Korb mit Sachen von der Frau, die das in Kommission gegeben hat, mit dem Korb fertig gewesen, hat ne Kollegin gesagt, sie müsste hoch in den dritten oder vierten Stock, da soll ich mitkommen. ... Dann hat die Frau, die Kollegin, den Aufzugknopf gedrückt, dann ist der Aufzug aufgegangen, [...]. Hab ich in den Aufzug auch rein-wollen, hat die gesagt, ne, ich soll gefälligst die Treppen laufen. Hab ich gesagt,

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‚gut, für mich hat sich dieser Laden erledigt‘.“ Auf meine Nachfrage, warum sie die Treppe laufen sollte, antwortete Frau W.: „Keine Ahnung, Schikane.“

Frau W. schrieb wieder einen Brief - diesmal an die ARGE und die Beschäf-tigungsgesellschaft - , in dem sie darzulegen versuchte, warum sie auch diesen Ein-Euro-Job nicht ausüben würde. Die Arbeitsvermittlerin bestellte sie nach ei-nigen Wochen ins Amt und stellte sie vor die Alternative, entweder zu der ersten Beschäftigungsgesellschaft zurückzugehen oder sanktioniert zu werden. „Hab ich gesagt, ‚das machen Sie mit mir nicht‘.“

Der Sanktionsbescheid kam, eine dreimonatige Kürzung in Höhe von dreißig Prozent der Regelleistung trat in Kraft. Frau W. wandte sich an den VdK, der sie zum Amtsgericht schickte, um sich einen „Beratungsschein“ zu holen. Eine Anwältin des VdK schrieb einen Widerspruch, dem die Behörde nicht abhalf. Die Anwältin schickte Frau W. ein weiteres Mal zum Amtsgericht, um Prozesskosten-hilfe zu beantragen. Die Gerichtsmit arbeiterin verweigerte die Prozesskostenhilfe. Die Anwältin zog sich zurück und sagte Frau W., sie müsse nun allein klagen. Frau W. formulierte irgendwie ihre Klage und schickte sie ans Sozialgericht. Viel schneller als erwartet bekam Frau W. eine Einladung ins Gericht. „Sonst heißt es doch immer, die sind überarbeitet.“

„Jetzt hab ich meinen Lebensgefährten mitgenommen, [...], dass ich ein biss-chen eine Vertrauensperson bei mir habe, bin ich da rein gekommen, der Richter, der war, wie sagt man, aalglatt, da war (außerdem) so ein junger Fallmanager, also nicht die, die ich gekannt hab, der war so von der Widerspruchsstelle, ein Beamter. [...] Ich vermute mal, dass es ein Beamter war, von der Widerspruchs-stelle. Da hat der Richter gesagt, ‚ja, Sie haben einen Fehler gemacht, Sie hätten alles-‘‚ [...] In zehn Minuten war der fertig, das ganze Zeug, das man da ge-schrieben hat, die Einwände, haben ihn gar nicht interessiert, sagt der Richter, ‚ganz einfach, Sie haben einen Fehler gemacht, Sie müssen immer tun, was die ARGE sagt‘. [...] Dann hat er-, man ist ja unerfahren, dann hat er am Schluss noch gefragt, wie gesagt, alles innerhalb zehn Minuten, nach dem Motto, in der Kürze liegt die Würze, hat er dann noch gefragt, ‚ja, Sie haben ja eingesehen, Sie haben einen Fehler gemacht, hätten Sie den Ein-Euro-Job gemacht, wären Sie jetzt nicht bei mir, hätten Sie Ihre Ruhe, hätten zusätzlich noch 100, 150 Euro im Monat gehabt‘. ... Und dann fragt er mich noch, nachdem ich eingesehen hätte, dass ich Fehler gemacht hätte, ich und nicht die ARGE, fragt er mich noch, ob ich noch ein Urteil brauche. [...] Er fragt, ob ich ein Urteil benötige. Hab ich gedacht, ‚bitte?‘. Muss man das blicken? Mein Lebensgefährte hat es auch nicht

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geblickt, woher auch? Hab ich halt gesagt, ‚ich brauch keins‘. Woher soll ich das wissen? Da hab ich natürlich einen Fehler gemacht. Haben mir dann später Leute im Internet, im Erwerbslosenforum gesagt beziehungsweise geschrieben, auch sonst Leute, die sich auskennen. [...] Ja, gut, dann ist so eine Nachschrift noch gekommen per Post. Und da ist drin gestanden, ich hätte erkannt, so ähnlich, dass ich einen Fehler gemacht hätte, ich hätte sollen den Ein-Euro-Job machen ohne Wenn und Aber.“

Bedrückende materielle Folgen hatte die Sanktion für Frau W. nicht. Denn zur gleichen Zeit, als die Leistungskürzung einsetzte, wurden ihr zu viel gezahlte Stromkosten fast in der Höhe des entzogenen ALG II zurückerstattet. „Und da hab ich gedacht, oh, das schickt der Himmel.“ Bei der stark überhöhten Stromkosten-pauschale, die Frau W. bis dahin bestritten hatte, hatte sich der Energieversorger noch am Verbrauch des Vormieters orientiert.

Aber die Sanktion hat Frau W. in der Überzeugung bestärkt: „Das ist für mich eine Zwangsarbeit, damit man von der Statistik weg ist. [...] Das ist Zwangsarbeit, fertig Schluss. Wenn es dieselbe Tätigkeit irgendwo in einem normalen Betrieb wäre, hätt ich gesagt, ‚klar, mach ich‘.“

Herr Z.: Das arrogante Amt, das immer Befehle macht.Herr Z. war 48 Jahre alt und alleinstehend. Er hatte eine Ausbildung zum Indus-triekaufmann absolviert und sich in seinen ersten Berufsjahren im EDV-Bereich weiterqualifiziert und „in gute EDV-Positionen hoch gearbeitet“. Er wechselte relativ häufig die Arbeitsstellen, teils freiwillig, um sich beruflich zu verbessern, teils unfreiwillig nach Kündigungen. Bereits in den 90er Jahren hatte er auch Phasen von Arbeitslosigkeit erlebt. Im letzten Betrieb, in dem Herr Z. angestellt war, hatte er ein „nagelneues EDV-Netzwerk“ aufgebaut. „Als es fertig war, wurde ich plötzlich entlassen. Und dafür hatte der Arbeitgeber vorher meine Unterschrift erschwindelt.“

Um die Jahrtausendwende machte er sich als EDV-Unterstützer selbstständig, musste hier jedoch nach etwas über einem Jahr feststellen, dass er damit seine Existenz nicht sichern konnte. Seit 2001 war Herr Z. arbeitslos.

Seit 2005 lebte Herr Z. von Arbeitslosengeld II. In den ersten beiden Jahren hatte er in der ARGE seltene und ergebnislose Gespräche mit wechselnden An-sprechpartnern. 2007 bekam er einen Arbeitsvermittler, der ihn einer „Integrati-onsmaßnahme Zeitarbeit“ zuwies. Herr Z. absolvierte die Maßnahme, die zwei Monate lang ganztägig durchgeführt wurde. „Es sollte darauf vorbereiten auf

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Zeitarbeit, das heißt über Zeitarbeit sprechen, über die Besonderheiten und so weiter. Das war eine zweimonatige Vollzeitmaßnahme, und in diesen zwei Mo-naten ist fast nichts über Zeitarbeit vorgekommen, sondern es war nur Bewer-bungstraining. Es war lediglich-, einmal war ein Vortrag von einem Mitarbeiter einer Zeitarbeitsfirma. [...] Und am Ende des Kurses sah es so aus, dass keiner in Zeitarbeit integriert wird.“

Im selben Jahr entwickelte Herr Z. eine neue Idee zur Existenzgründung: „[...]also selber Veranstaltungen machen. Ich hab früher als Diskjockey in Diskotheken gearbeitet, hab auch eine Zeit lang als Hobby im Lokalradio gearbeitet, als Radi-omoderator, und es hat mir gut gefallen, kam auch gut an, und dann hab ich selbst ein Konzept ausgearbeitet, wie man mit einer mobilen Musikanlage als Diskjockey Veranstaltungen machen kann, auch neue Bereiche finden kann, Nischen und so weiter.“ Er musste in einem Kurs bei einer Unternehmens beratung seine Idee testen lassen, und sie wurde als nicht tragfähig beurteilt. Sein Arbeitsvermittler, sagte Herr Z., habe die Idee ohnehin „[...]gleich am ersten Tag persönlich abge-lehnt, weil er das für eine Schnapsidee hielt, ohne nach Details zu fragen[...] .“

Ende April 2008 erhielt Herr Z. erneut die Zuweisung zu einem Bewerbungs-training, das am 5. Mai beginnen, ebenfalls zwei Monate dauern und ganztägig stattfinden sollte. „Und dann hab ich dem Amt geschrieben, sie sollen mir bitte erklären, wozu schon wieder ein Bewerbungstraining. Ich habe ein Jahr vorher bereits ein Bewerbungstraining gemacht, ich habe bereits [...] 1998 und noch frü-her auch jeweils ein Bewerbungstraining gemacht, das heißt, schon dreimal. Ich hab meine Bewerbungen meinem Arbeitsvermittler vorgelegt, der hat sie als sehr gut bewertet, und dann hab ich das Amt gefragt, bitte erklärt mir, warum ich jetzt noch mal ein Bewerbungstraining machen soll, einfach nur, um zu erklären, wozu dient das, wozu das gut sein soll, sollen mir mal erklären, was denn ihr Einglie-derungskonzept ist, die Strategie, wie sie mich jetzt eingliedern wollen, weil das in der Eingliederungsvereinbarung auch nicht erkennbar war. Als Antwort bekam ich nur, man wolle es damit versuchen, und hat eben mit Sanktionen gedroht, wenn ich das nicht tue. [...]. Ich schrieb zurück, bitte erklärt mir warum, und es ist ja kein Problem, weil zwei Monate später fängt die nächste Klasse an, dann kann ich ja da immer noch diese Maßnahme absolvieren. Ich hab also immer erklärt, auch das war mir wichtig in jedem Brief, ich bin selbstverständlich bereit, diese Maßnahme zu absolvieren.“

Statt einer Erklärung bekam Herr Z. einen Sanktionsbescheid und von Juli bis September 2008 eine 30-prozentige Leistungskürzung. Herr Z. schrieb einen

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Widerspruch, dem nicht abgeholfen wurde. Mithilfe einer Anwältin stellte er einen Antrag auf Einst weilige Anordnung, der abgelehnt wurde. Herr Z. klagte mit-hilfe der Anwältin und bekam im Februar 2009, ohne dass dem eine mündliche Verhandlung vorangegangen wäre, einen Gerichtsbescheid, mit dem die Klage abgewiesen wurde.

Eine Kopie des Gerichtsbescheides liegt mir vor. Der entscheidende Absatz der Begründung lautet: „Der Kläger hat die ihm angebotene Integrationsmaßnahme unstreitig nicht angetreten. Dafür hatte er keinen wichtigen Grund, die von ihm gemachten Ausführungen betrachtet die Kammer als Ausflüchte, um tatsächlich an der Maßnahme nicht teilnehmen zu müssen. Der Kläger behauptet, er habe kein Bewerbungstraining nötig. Es kann dahingestellt bleiben, ob er sich und seine beruflichen Fähigkeiten überschätzt oder diese Aussage verdecken soll, dass er nicht integriert werden will. Jedenfalls ist anhand der Akten festzustellen, dass der Kläger [...] seit vielen Jahren arbeitslos ist, obwohl er nach eigenen Angaben hinreichend qualifiziert ist, keine wesentlichen gesundheitlichen Ein-schränkungen vorliegen, er sich gut ausdrücken und behaupten kann, sein Alter oder Sprachdefizite nicht gegen eine Einstellung sprechen und im Gerichtsbezirk, insbesondere im Arbeitsamtsbezirk [...] nahezu Vollbeschäftigung herrscht. Keine der Bewerbungen des Klägers in den letzten Jahren hatte Erfolg, obwohl die Rahmenbedingungen demnach nahezu optimal für eine erfolgreiche Beendi-gung der bestehenden Langzeitarbeitslosigkeit sind. Unter diesen Voraussetzungen musste die Beklagte ermessensfrei davon ausgehen, dass es an der mangelnden Fähigkeit des Klägers liegt, sich in Vorstellungsgesprächen gut zu präsentieren und konnte daher ein (weiteres) Bewerbungstraining anbieten. Als Alternative käme allenfalls in Betracht, wie bereits im Eilbeschluss als zumindest denkbare Option genannt und trotzdem bis zum heutigen Tage vom Kläger nicht bestrit-ten, dass er nicht arbeiten will. Dann wäre ein Bewerbungstraining tatsächlich, wie vom Kläger vorgetragen, sinnlos. Der Anspruch auf Alg II wäre unter diesen Umständen – wenn sie nachzuweisen wären – aber nicht nur zu kürzen, sondern gänzlich aufzuheben.“ (Hervorhebungen d.d.Verf.)

Zur Behauptung der Richterin, dass im Arbeitsamtsbezirk „nahezu Vollbe-schäftigung“ herrsche, ist festzustellen, dass der Landkreis, in dem Herr Z. lebt, im Februar 2008 eine Arbeitslosenquote von 4,8 Prozent53 hatte. Das war die

53 Bundesagentur für Arbeit, Statistik der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, SGB II-Kennzahlen für interregionale Vergleiche, Endgültige Daten nach einer Wartezeit von drei Monaten

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siebthöchste Quote der 35 Landkreise in Baden-Württemberg. Dabei sagt die offizielle Arbeitslosenquote wegen des hohen Anteils an Arbeitslosen, die als Teil-nehmerinnen und Teilnehmer von „Integrationsmaßnahmen“ nicht als arbeitslos erfasst werden, wenig über das tatsächliche Ausmaß von Erwerbslosigkeit. Die „SGB II-Quote“ des betreffenden Landkreises, also der Anteil der unter 65-jäh-rigen Bevölkerung, die auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen ist, betrug 6,0 Prozent54 und war damit die höchste aller Landkreise in Baden-Württemberg.

Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass die Richterin als eine von zwei mög-lichen Erklärungen für Herrn Z.s Ablehnung eines Bewerbungstrainings „dahin-gestellt“ lässt, er überschätze seine „beruflichen Fähigkeiten“. In einem Bewer-bungstraining geht es nicht um die Weiterentwicklung beruflicher Fähigkeiten.

Schließlich spricht es auch nicht für die Objektivität der Richterin, wenn sie die in einem früheren Schreiben von ihr genannte „denkbare Option“, dass Herr Z. „nicht arbeiten will“ durch den Hinweis zu untermauern sucht, dass er diese Vermutung im Folgenden „nicht bestritten“ habe. Es ging in dem Verfahren nicht um die Frage, ob Herr Z. arbeiten wolle, sondern um die Frage, ob er zur wieder-holten Teilnahme an einem Bewerbungstraining verpflichtet war.

Herrn Z.s Anwältin beantragte eine mündliche Verhandlung, die einige Wochen nach dem Interview mit Herrn Z. stattfand. Zu einer Änderung der Ansichten und der Entscheidung des Gerichts hat die mündliche Verhandlung nicht geführt.

Herr Z. kannte sich, anders als die allermeisten meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, ungewöhnlich gut im SGB II und in den Durchführungs-hinweisen der Bundesagentur für Arbeit aus. Den „Kampf gegen das arrogante Amt, das nur Forderungen stellt, Maßnahmen stellt, aber für die Vermittlung und Eingliederung nichts tut, aber mir immer Befehle macht, du musst das und das machen, sonst Sanktion“ führte er schon länger. Er nahm sämtliche Entwürfe von „Eingliederungsvereinbarungen“, die er bekam, auseinander und wies die Behörde sehr gut informiert auf unzulässige Entwurfsinhalte hin. Beliebt gemacht hat sich Herr Z. damit vermutlich nicht, aber auch keine Hinweise darauf gegeben, dass er „nicht arbeiten will“.

Herr Z. wusste, dass sein Haupthandicap bei der Arbeitssuche die lange Dauer seiner Arbeitslosigkeit ist. Auf meine Frage, „Probieren Sie es trotzdem hin und wieder noch mit Bewerbungen?“, die ich wie in anderen Interviews auch bewusst

54 Bundesagentur für Arbeit, Statistik der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, SGB II-Kennzahlen für interregionale Vergleiche, Endgültige Daten (für Februar 2009) nach einer Wartezeit von drei Monaten.

125

so formulierte, das es leicht fällt, die Arbeitssuche als reduziert oder eingestellt zu beschreiben, antwortete Herr Z.: „Ja natürlich, laufend, ich hab mich auch für andere Stellen beworben, ich hab mich zweimal beim ALDI beworben als Regalauffüller und für die Kasse, bei andern Supermärkten, Lidl, Rewe, Bauhof. Beim Bauhof, da hab ich mich für Inventur beworben und hab ein Gespräch mit dem Geschäftsführer verlangt, warum ich abgelehnt wurde, war nett, freundlich, hat sich Zeit genommen und hat erklärt, bürokratischer Aufwand, er würde Haus-frauen, Schüler, Studenten, Rentner, aber eben keine Arbeitslosen, die müsste er extra für die Inventur an- und abmelden, das sei ihm zu aufwändig. Ich hab ihm zwar erklärt, es gibt ja nur ein Formular, das er ausfüllen muss, nein, das glaubt er nicht. Deswegen, denk ich auch, der Hang zu Minijobbern, weil das für den Arbeitgeber einfacher ist als eine reguläre Beschäftigung.“

Herr Z. wollte aber keinen Minijob und keinen Ein-Euro-Job. „Ich will meinen Lebensunterhalt damit verdienen, ich will endlich eine Arbeitsstelle.“ Ob sich dieser Wunsch auf einem Arbeitsmarkt, auf dem eben keine Vollbeschäftigung herrscht oder deshalb nach wie vor ziemlich rigide Ausschließungsregeln gelten, für Herrn Z. noch mal erfüllen wird, bleibt fraglich.

3.3 Sanktionsursachen

3.3.1 Offizielle SanktionsanlässeZunächst werden in der folgenden Tabelle die amtlich festgestellten Sankti-

onsanlässe im Sinne des § 31 SGB II, sofern sie den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner bekannt waren oder aus ihren Schilderungen erschlossen wer-den konnten, aufgelistet. Die dreißig Interviewpartnerinnen und Interviewpartner waren zusammen 49 mal sanktioniert, weil sieben von ihnen zweimal und sechs dreimal sanktioniert wurden. Häufig erfolgten wiederholte Sanktionen aus dem-selben Anlass wie die vorangegangen Sanktionen.

In etlichen Fällen war eine Sanktion zum Beispiel wegen des nicht recht-zeitigen Nachweises einer bestimmten Anzahl von Bewerbungen verbunden mit der Sanktionierung eines Terminversäumnisses. In solchen Fällen wurde nur der stärker sanktionierte Anlass erfasst. Deswegen entspricht die in der Tabelle an-gegebene Zahl von Terminversäumnissen nicht der tatsächlichen Zahl von Sank-tionen wegen Terminversäumnissen, die gegen die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner verhängt wurden. Bei den in der Tabelle erfassten ersten oder

126

wiederholten Terminversäumnissen handelt es sich nur um solche, die einziger Anlass einer Sanktion in einem bestimmten Zeitraum waren.

Tabelle 3: Sanktionsanlässe

Sanktionsanlass HäufigkeitEin-Euro-Job abgelehnt oder abgebrochen; Anlass zum Abbruch gege-ben, Vorstellungstermin zu Ein-Euro-Job nicht wahrgenommen

14

arbeitgeberseitige Kündigung 8unspezifische (nicht auf bestimmte Stellenangebote bezogene) Bewer-bungsauflagen nicht erfüllt

7

Trainingsmaßnahme abgelehnt oder abgebrochen 6eigene Kündigung einer Arbeitsstelle 2spezifische (auf bestimmte Stellenangebote bezogene) Bewerbungsver-pflichtung nicht erfüllt

2

Eingliederungsvereinbarung nicht an Ort und Stelle unterschrieben 2Ausbildungsabbruch veranlasst 1Termin beim Psychologischen Dienst nicht wahrgenommen 1Termin bei Arbeitsvermittler/-in/pers. Ansprechpartner/-in versäumt 6Summe 49

3.3.2 Die Komplexität von SanktionsursachenSanktionen nach § 31 SGB II liegt in den meisten Fällen ein vielschichtiges und verwobenes Ursachengefüge zugrunde, dessen allgemeine Struktur im folgenden Schaubild dargestellt ist:

Abbildung 1: Schema: Ursachen von Sanktionen

119

3.3.2 Die Komplexität von Sanktionsursachen

Sanktionen nach § 31 SGB II liegt in den meisten Fällen ein vielschichtiges und verwo-

benes Ursachengefüge zugrunde, dessen allgemeine Struktur im folgenden Schaubild

dargestellt ist:

Abbildung 1: Schema: Ursachen von Sanktionen

konkrete Verhaltens-anforderung

Motive, Kompetenzen/ Kompetenz-

defizite, Lebens-

umstände

VerhaltenVerhaltens-bewertung

politische Vorgaben

Damit es zu einer Sanktion kommen kann, bedarf es zunächst einer bestimmten

Verhaltensanforderung durch einen hierzu ermächtigten Akteur. Die Verhaltensanfor-

derung trifft auf bestimmte Motive, Motivationsdefizite, Kompetenzen, Kompetenzdefizi-

te und (behindernde) Lebensumstände des- oder derjenigen, der oder die die Anforde-

rung erfüllen soll. Diese je individuellen und/oder situationsspezifischen Gegebenheiten

tragen erheblich zur Spezifizierung der Anforderung bei. Je nach individuellen Motiven

und Handlungskompetenzen stellt zum Beispiel derselbe Arbeitsplatz verschiedene

Menschen vor unterschiedliche Anforderungen. Die Gegebenheiten bestimmen das

konkrete Verhalten der Person, an die sich eine Verhaltenserwartung richtet. Das

konkrete Verhalten trifft auf eine Verhaltensbewertung, von der es abhängt, ob es zu

einer Sanktion kommt oder nicht. Die Kriterien für die Verhaltensbewertung liefern

politische Vorgaben, denen Annahmen über Motive und Probleme Erwerbsloser und

Arbeitsuchender zugrunde liegen, die sich auf die Ergebnisse einschlägiger empiri-

scher Forschungen kaum stützen können.

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Damit es zu einer Sanktion kommen kann, bedarf es zunächst einer bestimmten Verhaltensanforderung durch einen hierzu ermächtigten Akteur. Die Verhaltensan-forderung trifft auf bestimmte Motive, Motivationsdefizite, Kompetenzen, Kom-petenzdefizite und (behindernde) Lebensumstände des- oder derjenigen, der oder die die Anforderung erfüllen soll. Diese je individuellen und/oder situationsspezi-fischen Gegebenheiten tragen erheblich zur Spezifizierung der Anforderung bei. Je nach individuellen Motiven und Handlungs kompetenzen stellt zum Beispiel der-selbe Arbeitsplatz verschiedene Menschen vor unterschiedliche Anforderungen. Die Gegebenheiten bestimmen das konkrete Verhalten der Person, an die sich eine Verhaltenserwartung richtet. Das konkrete Verhalten trifft auf eine Verhal-tensbewertung, von der es abhängt, ob es zu einer Sanktion kommt oder nicht. Die Kriterien für die Verhaltensbewertung liefern politische Vorgaben, denen An-nahmen über Motive und Probleme Erwerbsloser und Arbeitsuchender zugrunde liegen, die sich auf die Ergebnisse einschlägiger empirischer Forschungen kaum stützen können.

In der Art der gestellten Anforderungen und in der Bewertung von Verhal-tensweisen offenbaren sich vielfältige Formen von Kommunikationsstörungen zwischen Klienten sowie Behördenmitarbeitern. Damit wird sich Kapitel 3.3.8 befassen.

Die Kommunikationsstörungen sind ihrerseits auf die Überforderung der SGB II-Träger und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch die an sie gerichteten politischen Erwartungen zurückzuführen. Im Kapitel 3.3.9 wird auf diesen Aspekt der Verursachung von Sanktionen eingegangen.

Zunächst seien in den folgenden Kapiteln die Motive, Kompetenzen, Kom-petenzschwächen und Lebensumstände, die sich bei der Analyse der Interviews als verhaltensbestimmende Gegebenheiten herauskristallisierten, im Einzelnen erörtert. Es geht um

Ansprüche an Arbeit und an die eigene Rolle als Arbeitender bzw. Arbeiten-de,Ablehnung bestimmter Implikationen der behördlichen Definitionen der Klientenrolle,fehlende Motivation zur Erfüllung der behördlichen Erwartungen,belastende und behindernde Lebensumstände,psychische Belastungen und Behinderungen der Handlungsfähigkeit.

In fast allen Sanktionsfall-Geschichten haben zwei oder mehr dieser Faktoren als Bedingungen des sanktionierten Verhaltens zusammengewirkt. Was beeinflussend

128

und was ausschlaggebend war, entzieht sich in der Regel selbst den Rekonstruk-tionsmöglichkeiten der agierenden Subjekte.

3.3.3 Ansprüche an Arbeit und die eigene Rolle als Arbeitende/rArbeitsverhältnisse bedeuten für die Arbeitenden weit mehr als die Sicherung der materiellen Existenzgrundlage.55 Sie bieten, wenn es einigermaßen gut geht, unmittelbare soziale Integration durch Kooperation mit anderen Menschen sowie Anerkennung, Selbstwertgefühl und Nützlichkeitsempfindung. Wenn es nicht gut geht, können Arbeitsverhältnisse auch zum Erleben von Isolation und Einsamkeit, zu Minderwertigkeitsgefühlen und Versagensängsten führen. Nicht jede Art von Arbeit ist „besser als keine“. Besonders belastende Arbeitsbedingungen bergen mehr Gefahren für die psychische Gesundheit der Betroffenen als Arbeitslosig-keit.56 Menschen suchen Arbeitsverhältnisse, in denen ihre Bedürfnisse nach sozi-aler Zugehörigkeit, Anerkennung und Selbstwertgefühl befriedigt werden, und sie suchen Arbeitsverhältnisse zu vermeiden oder zu beenden, in denen sie seelisch gekränkt werden. Dies gilt nicht nur für reguläre Erwerbsarbeit, sondern auch und insbesondere für so genannte Arbeitsgelegenheiten oder Ein-Euro-Jobs, die ja das primäre Bedürfnis nach Sicherung der materiellen Existenz ohnehin nicht befriedigen können.

Wenn Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner wegen der Ablehnung oder des Abbruchs von Ein-Euro-Jobs, wegen der Kündigung regulärer Arbeitsver-hältnisse oder wegen nicht erfolgter Bewerbungen auf bestimmte Stellenangebote sanktioniert wurden, lässt sich das sanktionierte Verhalten in mindestens 14 Fällen auch oder ausschließlich darauf zurückführen, dass arbeitsbezogene Motive der Erfüllung der Verhaltenserwartung entgegenstanden. Dabei handelte es sich bei den arbeitsbezogenen Motiven der Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner, also ihren Erwartungen an Arbeit und Arbeitsverhältnisse, durchweg um solche, die Menschen üblicherweise an Arbeit richten.

Einige Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner sahen sich unter ande-rem vor der Anforderung, besonders monotone, ihre Fähigkeiten und Interessen nicht herausfordernde Arbeitsverhältnisse ertragen zu sollen. Angesprochen wurde dies insbesondere von Frau C., Frau D., Herrn M. und Herrn Q.. Frau C. hatte in ihrem Ein-Euro-Job in der Cafeteria eines Krankenhauses zumindest vormittags fast nichts zu tun. Bei Frau D. lag die Arbeit in einer Cafeteria völlig

55 Vgl. zum Beispiel Promberger 2008.56 Mohr/Richter 2008, S. 32.

129

neben ihren Arbeitsfähigkeiten und -interessen. Herr M. mochte einen seiner Ein-Euro-Jobs auch deswegen nicht, weil ihn die Reinigung von S-Bahnhöfen immer mehr langweilte. Herr Q., der sanktioniert wurde, weil er reguläre Arbeitsstellen verlor, hatte zu diesen Kündigungen vermutlich durch sein Verhalten beigetragen, weil äußerst monotone Tätigkeiten, die er anhaltend verrichten musste, seine be-rufliche Qualifikation völlig unterforderten.

Ein anderes arbeitsinhaltliches Motiv trug bei Herrn O. dazu bei, dass er einen Ein-Euro-Job ablehnte, nämlich der Wunsch, die ohnehin prekäre seelische Stabi-lität zu wahren. Wegen dieses Wunsches weigerte er sich, in einer psychiatrischen Klinik zu arbeiten.

Frau C. und Frau D. vermissten in ihren Ein-Euro-Jobs außer interessanter Arbeit auch Kollegialität. Zwischen Frau C. und den anderen Cafeteria-Beschäf-tigten fand kaum Kommunikation statt. Frau D. sollte mit einer Frau zusammen-arbeiten, mit der sie persönlich bekannt und tief verfeindet war.

Herr M. und Herr Q. vermissten außer herausfordernden Aufgaben eine re-spektvolle, zumindest nicht herabwürdigende Behandlung durch Vorgesetzte. Dasselbe gilt für Frau W., die einen Ein-Euro-Job gar nicht erst antrat, weil sie sich schon im „Vorstellungsgespräch“ geringschätzig behandelt fühlte, und einen anderen Job schon nach dem ersten Arbeitstag aus diesem Grund abbrach. Frau L. beklagte die abwertende Behandlung durch eine Dienstleistungsnehmerin, für die sie als Ein-Euro-Jobberin gearbeitet hatte.

Einige Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner machten deutlich, dass sie in den Jobs, die sie nicht hätten aufgeben dürfen, unter Versagensängsten litten. Zu ihnen gehört auch Frau C., die nachmittags, wenn es in der Cafeteria „hektisch“ wurde, Angst hatte, Fehler zu machen, während sie sich vormittags langweilte und ohnehin kollegialen Austausch vermisste. Unter Versagensängsten litten auch Herr F., der eine Ausbildung abbrach, Herr R., der wegen Versagens-angst einen Ein-Euro-Job gar nicht erst antrat, sowie Herr B., der ein an seinem Ar-beitsplatz eingesetztes, anspruchsvolles EDV-Programm noch nicht beherrschte.

Hinter Herrn B.s Versagensangst stand aber vor allem sein ausgeprägtes und seinen bisherigen beruflichen Erfolg stützendes Motiv, als kompetenter und zu-verlässiger Mitarbeiter zu gelten. Diesem Motiv widersprach die Anforderung, eine Arbeit fortzuführen, für deren sachgerechte Erledigung er nicht die nötigen Kenntnisse hatte, wie er kurz nach Aufnahme der Arbeit feststellen musste. Letzt-lich lässt sich die Sanktion, die gegen Herrn B. verhängt wurde, sogar auf sein überaus dringendes Bestreben, wieder eine Arbeitsstelle zu haben, zurückführen.

130

Ohne dieses Bestreben wäre er nicht in die Versuchung geraten, völlig überstürzt ein – nicht vom SGB II-Träger vermitteltes – Stellenangebot anzunehmen, ohne auf seine durchaus vorhandenen Bedenken, ob seine Kenntnisse den Anforde-rungen genügten, Rücksicht zu nehmen.

Kontinuität und Vorausschaubarkeit sind weitere Erwartungen an Arbeit, die von einigen Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartnern thematisiert wur-den und die mindestens im Fall von Frau N. der konkreten an sie gerichteten Anforderung entgegen stand. Sie sollte sich bei einer Leiharbeitsfirma quasi blind bewerben, also ohne zu wissen, an welchem Arbeitsplatz die Leiharbeitsfirma sie einsetzen wollte. Das widersprach ihrem Interesse, die Arbeit fortzuführen, die sie schon längere Zeit als Ein-Euro-Jobberin und ehrenamtlich ausgeübt hatte, die ihr Freude bereitete und ihr seit zwei Jahren soziale Einbindung bot. Auch Herr R. machte seine Angst vor diskontinuierlichen und nicht vorausschaubaren Arbeitsverhältnissen sehr deutlich. Diese Angst war bei ihm so stark, dass sie dazu beitrug, dass er den Kontakt zum SGB II-Träger völlig mied. Die Ablehnung von Zeitarbeit war offenbar auch das Hauptmotiv von Herrn Ö, eine Trainings-maßnahme abzulehnen, bei der er den Eindruck hatte, dass sie hauptsächlich der Vermittlung in diese Art Arbeit dienen sollte.

Mindestens zwei Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner sahen sich Anforderungen gegenüber, die unter anderem ihrem Wunsch nach „Work-Life-Balance“, also nach Arbeitsverhältnissen, die ausreichend Raum für Erholung und Vergnügen lassen, widersprachen. Herr I., der erst zwanzig Jahre alt war und dessen Bedürfnis nach Freizeit und Geselligkeit altersentsprechend stark war, hätte die seit einem knappen Jahr von ihm ausgeübte körperlich stark belastende Vollzeiterwerbstätigkeit mit frühem Arbeitsbeginn, relativ langem Anfahrtsweg und immer wieder anfallenden Überstunden nicht aufgeben dürfen. Herr V. lehnte es einmal ab, sich auf eine Stelle zu bewerben, die ihm nur noch wenig Frei-zeit gelassen hätte. Zu seiner Ablehnung trug außerdem bei, dass die Arbeit sehr schlecht bezahlt worden wäre.

Zu dem Verhalten, für das Herr V. sanktioniert wurde, trug also auch seine Er-wartung an Arbeit bei, dass Arbeitsbelastung und Entgelt in einem als gerecht empfundenen Verhältnis stehen.

In den meisten der Fälle, in denen arbeitsbezogene Motive der Anforderung widersprachen, einen bestimmen Ein-Euro-Job anzutreten oder fortzuführen, einen regulären Job fortzuführen, oder sich auf ein bestimmtes Stellenangebot zu bewer-ben, war also mehr als ein arbeitsbezogenes Motiv verhaltenswirksam.

131

3.3.4 Ablehnung bestimmter Implikationen der behördlichen Defi-nitionen der Klientenrolle

Für Bezieherinnen bzw. Bezieher von Arbeitslosengeld II sind die für sie zu-ständigen SGB II-Träger hoch „signifikante Andere“, also besonders bedeutsame Interaktionspartner im soziologisch-rollentheoretischen Sinn, der weder impliziert, dass die „Partner“ einander ausgesucht haben, noch dass sie gut miteinander aus-kommen. Die „Rollenpartnerschaft“ ist im Fall der Beziehung zwischen SGB II-Trägern und ihren Klienten von einer extrem ungleichen Definitionsmacht über die Rolle des anderen, also über die Erwartungen, die an ihn gerichtet werden dürfen, gekennzeichnet. Gelegentlich versuchen Menschen, die auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, sich gegen bestimmte Implikationen der ihnen von der Behörde zugewiesenen Rolle zu wehren. In einigen Fällen war dies offenbar treibendes Motiv für das Verhalten, das sanktioniert wurde.

In einigen Fällen war das anforderungswidrige Verhalten auch oder ausschließ-lich von dem Motiv getragen, Restbestände von bürgerlicher Vertragsfreiheit und/oder das eigene Selbstverständnis gegenüber der Verfügungsgewalt der SGB II-Träger zu verteidigen oder sich dagegen zu wehren, dass die Behörde Verfügungen über die Verwendung der eigenen Zeit nicht zweckrational begründen muss.

Als Versuch der Verteidigung von Restbeständen bürgerlicher Vertragsfreiheit lässt sich das Verhalten von Herrn T., Herrn X., Herrn Z. und – in gewissem Sinne – auch das Verhalten von Frau A. verstehen.

Herr T. und Herr X. wurden sanktioniert, weil sie sich geweigert hatten, an Ort und Stelle eine Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben, die nicht mit ihnen besprochen, sondern ihnen vorgefertigt vorgelegt worden war. Beide hoben hervor, dass ihre Weigerung nicht bestimmten Verpflichtungen, die in den „Vereinbarungs“-Entwürfen vorgesehen waren, gegolten habe, sondern dem Vor-gehen, mit dem die jeweiligen Behördenmitarbeiterinnen den raschen Abschluss der „Vereinbarungen“ durchsetzen wollten. Mit solchem Vorgehen und insbe-sondere mit der Sanktionierung des Widerstandes gegen ein solches Vorgehen verweigerten die Behördenmitarbeiterinnen den Klienten das Recht, sich über die Verpflichtungen, die sie mit ihrer Unterschrift anerkennen sollten, wenigstens Klarheit zu verschaffen. Damit trieben sie die Entmündigung und Entrechtung der Klienten, die darin besteht, dass deren eigene Wünsche bezüglich ihrer „Einglie-derung“ in den Arbeitsmarkt vor dem Entwurf einer Eingliederungsver einbarung regelmäßig nicht erkundet werden, auf die Spitze. Anders formuliert: Herr T. und

132

Herr X. wehrten sich gegen den Übergriff von Behördenmitarbeiterinnen auf die letzten Rudimente ihrer Vertragsfreiheit.

Herr Z. wehrte sich dagegen, in eine Maßnahme beordert zu werden, ohne dass sich die zuweisende Behörde die Mühe machen musste, die Zweckdienlichkeit der Maßnahme im Hinblick auf die Arbeitsmarktintegration von Herrn Z. mit einem schlüssigen Konzept zu erklären, geschweige denn, ein solches Konzept mit dem Betroffenen zu diskutieren. Bei Herrn Z. führte also der Widerstand gegen die an keine Verpflichtung zur rationalen Begründung gebundene Ermächtigung des SGB II-Trägers, darüber zu verfügen, wo, mit wem und mit welchen Tätigkeiten er seine Zeit verbringen muss, dazu, dass er sanktioniert wurde.

Frau A. wurde sanktioniert, weil sie sich geweigert hatte, an einer Trainings-maßnahme teilzunehmen. Sie weigerte sich unter anderem deswegen, weil sie, um an der Maßnahme teilnehmen zu können, einen Teil der Fahrtkosten aus der Regelleistung hätte bestreiten müssen. Frau A. wehrte sich also „nur“ dagegen, dass die Behörde über die Verwendung eines Teils ihres (ohnehin äußerst spär-lichen) Einkommens verfügen wollte.

Herr O. wehrte sich mit seiner zur zweiten Sanktion führenden Weigerung, ein Bewerbungscoaching fortzuführen, gegen die Übergriffe einer vom SGB II-Träger beauftragten Trainerin auf sein Selbstverständnis. Die von der Behörde be-auftragte Trainerin maß sich offenbar psychodiagnostische Kompetenzen an, mit denen sie sich über die – die eigene Psyche betreffende – Mitteilungsbereitschaft und die Selbsteinschätzung von Herrn O. grob hinwegsetzte. Mit inquisitorischen Suggestivfragen und apodiktischen Feststellungen bezichtigte sie ihn nach seiner Wahrnehmung nicht nur der Unwahrhaftigkeit, sondern suggerierte auch, seine Motive zu „durchschauen“, ohne auf entsprechende „Eingeständnisse“ von Herrn O. angewiesen zu sein.

Es entspricht den in Kapitel 1 angesprochenen Ambitionen des aktivierenden Staates, „erzieherisch“ auf die Erwerbslosen einwirken zu wollen, damit diese nicht nur ihr Verhalten, sondern auch die vermutete verhaltenssteuernde „Haltung“57, also ihre Verhaltensdispositionen, ändern.58 Mit dieser „Gouvernementalität“59 sehen sich vermutlich alle Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II stärker oder schwächer kon frontiert. So ist zum Beispiel auch Herr Z. in der

57 Behrend 2008, S. 20.58 Dieses Muster der Deutung von Sozialleistungsbedürftigkeit und der Legitimierung „aktivierender“

Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist vielfach erörtert worden. Unter anderem in Lemke 2000, auf S. 39 ff; Ames /Jäger 2006; Ludwig-Mayerhofer u.a. 2007; Behrend 2008.

59 Zu Begriff und Theorie vgl. Lemke 2000; Lemke u.a. 2000.

133

Begründung der in der Fallskizze ausführlich zitierten gerichtlichen Entschei-dung, mit der seine Klage gegen eine Sanktionierung zurückgewiesen wurde, heftigen Spekulationen der Richterin zu seiner Motivlage unterworfen. Auch an-dere Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartner berichteten davon, dass ihnen im Jobcenter mehr oder minder deutlich vorgeworfen worden sei, dass sie nicht arbeiten wollten.

Das Besondere an Herrn O.s Situation ist, dass die psychologisierende Schuld-zuschreibung sehr hartnäckig in der unmittelbaren Kommunikation zwischen Herrn O. und der „Trainerin“ stattfand und damit die Forderung an Herrn O., diese Zuschreibung zu übernehmen, also geradezu Inhalt einer Maßnahme war. Damit war Herr O. einerseits besonders deutlich in seinem Selbstverständnis an-gegriffen, hatte aber mit dem Abbruch der Maßnahme und dessen Begründung gleichzeitig auch eine Möglichkeit, sich gegen den Angriff zu wehren, während die Reaktion der Betroffenen auf die Deutung ihrer Verhaltensdispositionen in der Regel latent bleiben muss.

Ebenso wie im Fall von Herrn O. wurde bei Herrn R. manifest, was als Unbe-hagen gegenüber der Interaktion mit dem SGB II-Träger unterschwellig sicher bei sehr vielen Erwerbslosen vorhandenen ist und Angst und/oder Trotz hervorruft: dass nämlich das Handeln von Sozialverwaltungen, insbesondere SGB II-Trägern, „tendenziell auf die ganze Person“60 der Klienten zielt.

Der sehr zurückhaltende, offenbar tief verunsicherte und von Stottern geplagte Herr R. erweckte keineswegs den Eindruck, als ob er sich je in seinem Leben gegen irgendetwas aufgelehnt hätte, jedenfalls nicht in einer Weise, die für seine Interaktionspartner als Auflehnung erkennbar gewesen wäre. Aber gerade bei ihm wurde ein aus Angst vor Kontrollverlust resultierender Widerwille und faktischer Widerstand gegen die Verfügungsmacht des Jobcenters im Interview sehr deut-lich. Wobei es seine Art des angstgeleiteten Widerstandes war, sich vollständig zu entziehen, wohl wissend und erlebend, dass er sich damit sukzessive um die Existenzgrundlagen brachte.

Die aus einem „fatalen Abhängigkeitsverhältnis“, wie er es selbst nannte, resultierende Asymmetrie in der Kommunikation zwischen Behördenmitarbeiter und Hilfebedürftigem, die nur letzteren der Pflicht unterwirft, sich zu „erklären“, erlebte Herr R. als An- und Übergriff auf seine Art des Selbstschutzes, nämlich sich mit der Mitteilung von Gefühlen sehr zurückzuhalten. Insbesondere eine

60 Ludwig-Mayerhofer u.a. 2007, S. 8.

134

Mitarbeiterin, die er „in einer direkten Weise vielleicht ein bisschen unverschämt“ erlebte, versuchte offenbar, grenz überschreitend und wenig empathisch zugleich in Herrn R.s Gefühle vorzudringen. Sein Widerstand galt also zum einen dem Versuch einer Behördenmitarbeiterin, sich seiner Psyche zu bemächtigen, indem sie diese „aufdecken“ und damit quasi der behördlichen „Bearbeitung“ zugänglich machen wollte.

Angst bereitete Herrn R. zum andern die unberechenbare, täglich in sein Leben einbrechen könnende Befugnis des SGB II-Trägers und die hierüber potentiell vermittelte Befugnis von Zeitarbeitsfirmen, stets aufs Neue verfügen zu dürfen, wo er welche Tätigkeiten in welchen sozialen Beziehungen verrichten muss. Seine Verweigerungshaltung folgte also teilweise auch aus seiner Angst vor der im Prin-zip unbegrenzten Macht des Jobcenters, darüber zu verfügen, wie er lebt.

3.3.5 Fehlende Motivation, die behördlichen Anforderungen zu er-füllen

In den 18 Fällen, die in den vorangegangen beiden Abschnitten genannt wurden, wurden Motive der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner deutlich, die dazu geführt oder dazu beigetragen haben, dass sie bestimmte behördliche Erwar-tungen nicht erfüllt haben. In mindestens vier dieser 18 Fälle stand der Erfüllung der Erwartung aber nicht nur das eigene Motiv, sondern auch die fehlende Mo-tivation, die Erwartung zu erfüllen, entgegen. Diese vielleicht etwas sophistisch anmutende Unterscheidung sei anhand der vier Fälle erläutert:

Wie beschrieben, wurde Frau A. sanktioniert, weil sie sich geweigert hatte, an einer Trainingsmaßnahme teilzunehmen. Sie weigerte sich, weil sie einen Teil der Fahrtkosten aus der Regelleistung hätte bestreiten müssen. Ihr Motiv, den SGB II-Träger nicht auch noch über einen Teil ihres spärlichen Einkommens verfü-gen zu lassen, war deutlich. Verhaltenswirksam wurde dieses Motiv mit großer Wahrscheinlichkeit aber deswegen, weil Frau A. an die Zweckdienlichkeit der Maßnahme im Hinblick auf die Verbesserung ihrer Arbeitsmarktchancen ohnehin nicht glaubte, sondern nach ihrer Erfahrung mit einer vorangegangenen Trainings-maßnahme ihre Teilnahme als „Zeit absitzen“ empfunden hätte.

Herr O. lehnte einen Ein-Euro-Job in einer psychiatrischen Klinik ab, weil er die damit verbundene seelische Belastung fürchtete. Nach seinen vorangegangen Erfahrungen mit Ein-Euro-Jobs war aber seine Motivation, einen solchen Job überhaupt auszuüben, ohnehin so gut wie erloschen.

135

Gegen Herrn V. wurden Sanktionen verhängt, weil er seinen Bewerbungs-pflichten nicht nachgekommen war. In einem konkreten Fall kam er dieser Ver-pflichtung deswegen nicht nach, weil er das Missverhältnis zwischen hohen Ar-beitsanforderungen und sehr niedriger Bezahlung nicht akzeptieren wollte. An der Befolgung einer weiteren konkreten Bewerbungsaufforderung und an der Erfüllung der allgemeinen Verpflichtung, regelmäßig eine bestimmte Anzahl von Bewerbungen nachzuweisen, hinderten Herrn V. aber offenbar eine Zeit lang über-wiegend resignative Passivität und Gleichgültigkeit. Zu diesem bei ihm tatsächlich – jedenfalls für die erste Hälfte des Jahres 2008 – festzustellenden „Aktivierungs-defizit“ dürfte die lähmende Erfahrung mit der – vom SGB II-Träger anscheinend geduldeten – Personalpolitik eines Arbeitgebers, der die Subventionen des Jobcen-ters offenbar missbrauchte, um immer neue für ihn äußerst billige Arbeitskräfte zu bekommen, beträchtlich beigetragen haben.

Frau W. lehnte zwei Ein-Euro-Jobs ab, weil sie sich schon beim „Vorstellungs-gespräch“ beziehungsweise am ersten Arbeitstag sehr abwertend behandelt gefühlt hatte. Zur Ablehnung der Jobs trug neben ihrem Motiv, respektvoll behandelt zu werden, aber sicher auch ihr Desinteresse an einem Ein-Euro-Job bei, das sie sehr deutlich machte. Die negative Bewertung von Ein-Euro-Jobs als „nicht normale“ Arbeit, deren Bezahlung kein behördenunabhängiges Leben ermöglicht, teilt Frau W. aller Wahrscheinlichkeit nach mit der überwiegenden Mehrzahl der ALG II-Bezieherinnen bzw. Beziehern. Ihr Desinteresse an einem solchen Job, durch das sie sich von zahlreichen ALG II-Bezieherinnen bzw. Beziehern unter-scheidet, beruht darauf, dass weder das kleine Zusatzeinkommen, noch durch den Job vermittelte soziale Kontakte, noch die eigenen Fähigkeiten herausfor-dernden und bestätigenden Arbeitsinhalte, noch die Hoffnung, mit Hilfe des Jobs Zugang zu einer regulären Arbeitsstelle zu bekommen, ein Gegengewicht zu der negativen Bewertung von Ein-Euro-Jobs bilden konnten.61 Denn ihre materiell völlig an spruchslose Lebensweise und sehr geringe Miete machte Frau W. von der Aufwandsentschädigung relativ unabhängig; soziale Kontakte pflegte sie durch die Beziehung zu ihrem Partner, zur Tochter und zu Bekannten, mit denen sie ab und zu Minigolf spielte; eine inhaltlich interessante Arbeit bot man ihr nicht an, auf Pseudo-Erwerbsarbeit zur Strukturierung ihres Alltags war Frau W., die den allergrößten Teil ihres Lebens Hausfrau und Mutter war, nicht angewiesen;

61 Vgl. zu den Motiven für das Einverständnis mit oder der Meldung zu Ein-Euro-Jobs Ames 2007, S. 67; Ames 2008b, S. 96.

136

Hoffnung auf eine reguläre Arbeitsstelle konnte sie sich schon wegen ihres Alters von 58 Jahren nicht machen.

Zwei weitere Gesprächspartner gaben im Interview neben der fehlenden Mo-tivation, die behördlichen Anforderungen zu erfüllen, keine Motive zu erkennen, die der Erfüllung der konkreten Anforderungen entgegen gestanden hätten.

Herr U. wurde mehrfach sanktioniert, weil er Termine im Jobcenter versäumte sowie eine „Musterbewerbung“ und Bewerbungsnachweise nicht vorlegte. Er war also – ähnlich wie Herr V. – partiell „inaktiv“. Als Folge von „Arbeitsunwilligkeit“ lässt sich aber auch seine Inaktivität nicht deuten. Seine diversen Arbeitsstellen, die er in den letzten Jahren nur noch bei Leiharbeitsfirmen fand, hatte er stets in Eigeninitiative gesucht. Was Herrn U. an den verlangten Bewerbungsaktivitäten offenbar hinderte, war der Mangel an für ihn infrage kommenden Arbeitsange-boten. Über eine Ausbildung verfügte er nicht, seine Erfahrung als Kraftfahrer konnte er ohne Führerschein nicht mehr einsetzen und für die Realisierung sei-ner Bereitschaft, im Ausland Arbeit zu suchen, hätte er konkrete Unterstützung gebraucht. Diese erhielt er ebenso wenig wie Hilfe zur Wiedererlangung sei-nes Führerscheins, obwohl zu dessen Verlust schwerwiegende Nachlässigkeiten früherer Arbeitgeber erheblich oder überwiegend beigetragen hatten. Zu seiner „Aktivierung“ hätte Herr U. „Förderung“ gebraucht.

Herr G., dessen Motivlage mir, wie in der Fallskizze beschrieben, verschlossen blieb, machte jedenfalls deutlich, dass er einen Termin beim psychologischen Dienst, zu dem er offenbar per Eingliederungsvereinbarung verpflichtet worden war, nicht wahrnahm, weil er nicht wusste, was ihn dort erwartete, und kein In-teresse daran hatte. Um entscheiden zu können, ob die Ursachen für Herrn G.s Ablehnung, der Kategorie „Widerstand gegen die Verfügungsmacht der SGB II-Träger“ zuzuordnen ist, ob er sich also gegen den behördlichen Zugriff auf seine Psyche auflehnte, hätte Herr G. mehr von sich mitteilen müssen.

Schwierig einzuschätzen und einzuordnen ist auch die Ursache dafür, dass Herr J. mehrere Termine zu Vorsprachen im Amt versäumte. Er begründete dies damit, dass die Termine für Tage anberaumt wurden, an denen er auf dem Bau-ernhof arbeitete, was er der Behörde auch mitgeteilt habe. An dieser Darstellung sind Zweifel ange bracht, weil eine solch grob unzulässige Behördenentscheidung, Terminversäumnisse zu sanktionieren, für die der Betroffene einen eindeutig „wichtigen Grund“ hatte, nur schwer vorstellbar ist. Andererseits halten, wie in Kapitel 1.4 dargestellt, sehr viele Sanktionsbescheide juristischer Überprüfung nicht stand, und der Landkreis, in dem Herr J. lebt, weist anhaltend die höchste

137

Sanktionsquote der Bundesrepublik auf. Das lässt die Vermutung zu, dass hier be-sonders viele Sanktionsentscheidungen den geltenden rechtlichen Bestimmungen widersprechen. Wenn Herrn J.s Darstellung dem Sachverhalt entspräche, gehörte das Motiv seiner Weigerung, die anberaumten Termine wahrzunehmen, freilich in die Kategorie des Widerstandes gegen die Verfügungsgewalt des Jobcenters. Ob die Darstellung dem Sachverhalt entspricht, muss hier dahingestellt bleiben.

Deutlich ist in Herrn J.s Mitteilungen jedoch geworden, dass ihn nichts mo-tivierte, Termine im Jobcenter wahrzunehmen, nachdem er die Belanglosigkeit dieser Vorsprachen mehrmals erlebt hatte. Einmal war er sogar nach seiner An-kunft in der immerhin zwanzig Kilometer von seinem Wohnort entfernten Behörde mit der Mitteilung, man habe nur sehen wollen, ob er noch lebe, gleich wieder weggeschickt worden.

Von fehlender Motivation, die behördlichen Anforderungen zu erfüllen, war sicher nicht nur das Verhalten der in diesem Kapitel genannten Gesprächspartne-rinnen bzw. Gesprächspartner mitbe stimmt. Dieser Motivationsmangel ist aber in keinem Fall Ausdruck fehlender Motiva tion zur Erwerbsarbeit. Vielmehr drückt sich darin immer die fehlende Hoffnung aus, dass die Erfüllung der behördlichen Erwartungen zur Verbesserung der eigenen Arbeitsmarktchancen beitragen könnte. Oft haben die Behörden selbst zur Resignation und Hoffnungslosigkeit erkennbar beigetragen, indem sie Wünsche nach fachlicher Fortbildung oder andere konkrete Förderungswünsche zurückwiesen.

3.3.6 Belastende und behindernde LebensumständeIn sieben Fällen haben die Lebensumstände meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, insbesondere die schlechte Wohnsituation oder die Wohnungs-losigkeit, dazu geführt oder dazu beigetragen, dass sie behördliche beziehungs-weise gesetzliche Erwartungen nicht erfüllen konnten. Sechs dieser sieben Ge-sprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner waren, als sie sich „pflichtwidrig“ verhielten, zwischen 19 und 24 Jahre alt.

Herrn F.s Versagensangst und seinem sehr deutlich gewordenen Wunsch, der Stigmatisierung als „Förderschüler“ zu entkommen, widersprach die Anforde-rung, eine Ausbildung fortzuführen, in der er schlechte Noten für die theoretischen Arbeiten bekam. Aber seine bedrückende Wohnsituation im sozialen Brennpunkt, in der er Angst vor gewalttätigen Übergriffen beim Verlassen des Hauses hatte, dürfte erheblich dazu beigetragen haben, dass er seine Aufmerksamkeit zu wenig auf die Anforderungen der Ausbildung konzentrieren konnte.

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Herr I. lebte in einer Einrichtung für wohnungslose junge Menschen, die über-wiegend auch arbeitslos waren. Nachtruhe stellte sich hier entweder sehr spät oder gar nicht ein. Auch wenn Herr I. vermutlich auch unter anderen Umständen den Wunsch nach einem weniger anstrengenden Arbeitsalltag und mehr Freizeit gehegt hätte, so ist doch sehr nachvollziehbar, dass die Bedingungen der Wohnsituation es ihm besonders schwer machten, jeden Morgen sehr früh aufzustehen, um den langen Arbeitstag im Gerüstbau anzutreten.

Herrn S., der über Monate keine eigene Wohnung hatte, sondern bei ver-schiedenen Bekannten wechselnde Unterkünfte fand, entgingen gleich mehrere Schreiben des Jobcenters. In der Folge wurde er wegen wiederholter Terminver-säumnisse, möglicherweise auch noch wegen der Nicht-Erfüllung einer weiteren Anforderung, die ihm mit einem der Schreiben mitgeteilt worden war, sanktio-niert.

Herr Y., der in einem kleinen Gartenhaus ohne eigenen Briefkasten lebte und seine Post bei den Nachbarn abholte, bekam eine Einladung des Jobcenters nicht, nachdem der Nachbar Herrn Y.s Namen vom Briefkasten entfernt hatte und der aushilfsweise tätige Postbote deshalb nicht wusste, wo er die Post an Herrn Y. zustellen sollte.

Herr H., dem die Wohnungslosigkeit unmittelbar bevorstand, weil er wenige Tage vor Ablauf seines Mietvertrages immer noch keine andere Wohnung gefun-den hatte, hoffte darauf, eine Wohnung zu finden, wenn er auch tagsüber suchen könnte, und kündigte deshalb seine Stelle als Leiharbeiter in der irrigen Hoffnung, sie wieder zu bekommen, sobald er eine Wohnung hätte.

Frau Sch. wurde sanktioniert, weil sie einen Ein-Euro-Job nicht regelmäßig ausgeübt hatte. Sie war, nachdem sie von ihrem heroinabhängigen „Freund“ vor die Tür gesetzt worden war, ebenfalls ohne sichere Unterkunft und darauf ange-wiesen, bei verschiedenen Bekannten Unterschlupf zu finden. Da die Bekannten alle im Drogenmilieu lebten, war solche Art, Unterkunft zu finden, in besonde-rem Maß von Unruhe und Unzuverlässigkeit geprägt und mit der Notwendig-keit zur Anpassung an Tagesabläufe verbunden, die mit der Einhaltung regelmä-ßiger Arbeitszeiten nicht vereinbar sind. Die Lebensumstände bildeten also eine wesentliche Ursache für das Verhalten von Frau Sch., das sanktioniert wurde. Hinter diesen Lebensumständen steht aber offenkundig Frau Sch.s aus massiven psychosozialen Belastungen resultierende Unfähigkeit zu einem selbstständigen und selbstbestimmten Leben und ihre Drogenabhängigkeit, auch wenn diese in-

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zwischen zur Methadonabhängigkeit geworden war. Hierauf wird im nächsten Abschnitt zurückgekommen.

Frau St. wurde sanktioniert, weil sie einen Vorstellungstermin zu einem Ein-Euro-Job vergaß und zu einem Ersatztermin zu spät kam, nachdem sie verschlafen hatte. Auch sie lebte, als sie sich so anforderungswidrig verhielt, in einer vor allem durch die Angst vor ihrem gewalttätigen Nachbarn sehr belastenden Wohnsitu-ation. Hinzu kamen die Belastungen durch das noch nicht lange zurückliegende Sterben der Mutter und das depressiv-schuldzuweisende Verhalten des Vaters. Aber auch bei Frau St. war die Bewältigung von Anforderungen, die zur Bewälti-gung der belastenden Lebenssituation hinzu kam, zusätzlich erschwert durch ihre Methadon- und Schlafmittelabhängigkeit, die wiederum Folge von psychischen Belastungen und Schwächen ist, um die es im nächsten Abschnitt geht.

3.3.7 Starke psychische Belastungen und Behinderungen der Handlungsfähigkeit

Ein besonders auffälliges Ergebnis der Interviews ist der sehr hohe Anteil von Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, deren Kindheit und Jugend von schwerwiegenden psychischen Belastungen und Entbehrungen geprägt sind. Ge-walt, Vernachlässigung, abrupte Abbrüche der Beziehungen zu Eltern, häufiger Wechsel von Bezugspersonen, schwerwiegender Verlust des sozialen Ansehens von Eltern und daraus folgende Minderwertigkeitsgefühle des Kindes oder – wie im vergleichsweise erträglichen Fall von Herrn P. – die massive und für die weitere Lebensgestaltung folgenreiche Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts durch die von den Eltern arrangierte Heirat sind für zahlreiche Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartner beherrschende Lebenserfahrungen.

Unter den zehn unter 25-jährigen Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächs-partnern ist kaum jemand, für die oder den das nicht zutrifft. In den Gesprächen mit den älteren Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartnern wurden Kindheit und Jugend seltener eingehend thematisiert, weil die Berufsbiografien der Betrof-fenen, andere Aspekte ihres Erwachsenenlebens und ihre Erfahrungen als ALG II-Beziehende schon zu reichlichen Gesprächsstoff boten. Aber auch unter den älteren Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartnern gab es einige, nämlich Frau L., Herrn P., Herrn R., Frau W. und Herrn Y., die mehr oder minder ausführ-lich auf ihre Kindheit und/oder Jugend eingingen und hierbei ebenfalls schwere Belastungen und Beein trächtigungen deutlich machten. Einige weitere Intervie-

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wpartnerinnen und Interviewpartner gaben nur am Rande Hinweise auf Störungen ihrer Beziehungen zur Herkunftsfamilie.

Die Bedingungen, unter denen etliche meiner Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner aufwuchsen und ins Erwachsenleben eintreten mussten, brachten es unter anderem mit sich, dass ihnen auch als Jugendliche und junge Erwachsene familiärer Rückhalt völlig fehlte. Insbesondere unter den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, die zum Sanktionszeitpunkt noch nicht 25 Jahre alt und zum Teil deutlich jünger waren, ist kaum jemand, der oder die in schwierigen Lebenslagen auf familiäre Unterstützung hätte zurückgreifen können. Die Eltern lebten nicht mehr oder waren weit weg und/oder hatten die Fürsorge für ihre Kinder infolge der eigenen Überforderung ohnehin schon lange aufgegeben.

Zum Fehlen familiären Rückhalts gehört insbesondere auch, dass sie die un-terschiedlichsten behördlichen Anforderungen nicht erfüllen konnten, weil sie vorübergehend keine eigene Wohnung hatten oder ihnen Wohnungslosigkeit un-mittelbar bevorstand, noch eine Familie hatte, in der sie oder er wenigstens zur Überbrückung der Notsituation hätte unterkommen können. Die „behindernden Lebensumstände“, die, wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben, in einigen Fällen das sanktionierte Verhalten bestimmten oder dazu beitrugen, sind Folge dieser auch räumlichen Rückhaltlosigkeit.

Darüber hinaus führten die schwerwiegenden seelischen Belastungen, Entbeh-rungen und Verluste, die etliche meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächs-partner als Kinder und Heranwachsende ertragen mussten, zu unterschiedlichen seelisch bedingten Behinderungen ihrer Handlungsfähigkeit, die zu dem Verhalten, das sanktioniert wurde, direkt oder indirekt beigetragen haben.

Bei einer Reihe von Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern wurden mangelnde Fähigkeiten zur Selbstbehauptung deutlich. Diese zeigten sich zum Beispiel bei Frau C., Frau D., Frau St. und Frau Sch., unter anderem darin, dass sie vor der Zuweisung zu Ein-Euro-Jobs nicht einmal versuchten, gegenüber ihren Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern in der Behörde wenigstens eigene Wünsche und Ansprüche an die in diesen Jobs zu verrichtenden Tätigkeiten zu vertreten. Sie ließen sich solche Jobs widerspruchslos zuweisen. Das dürfte daran liegen, dass die Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner es zum einen in ihrem Leben kaum lernen konnten, eigene Wünsche und Interessen zu entwickeln und sich bewusst zu machen, und es sich zum andern schon gar nicht zutrauen, Wünsche und Interessen einer Behörde gegenüber zu vertreten.

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Wenn die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner dann durch behörd-liche Verfügung in Situationen gerieten, in denen sie unglücklich und überfordert waren, reagierten sie auch darauf nicht mit dem Versuch, die Situation zu erklären oder vom SGB II-Träger gar eine andere Art der „beruflichen Förderung“ zu for-dern, sondern sie reagierten – zum Beispiel durch Verschlafen – mit Ausweichen und Rückzug.

Mangelnde Fähigkeiten zur Selbstbehauptung lassen sich auch hinter dem sehr widersprüchlich erscheinenden Verhalten von Frau L. erkennen: Bei ihr verstrickten sich das in der Kindheit massiv beschädigte Selbstwertgefühl, das Aufbegehren gegen Geringschätzung und das von ihr im Interview aber auch sehr deutlich gemachte Bedürfnis nach Schutz und Rücksichtnahme zu einem nur schwer entwirrbaren Knäuel. Einerseits lehnte sie trotz ihrer starken Behin-derungen seit Kindheit einen Schwerbehindertenausweis ab. Wenn sie über einen solchen Ausweis verfügt hätte, hätte ihr der zuletzt von ihr abgewiesene Ein-Euro-Job vermutlich gar nicht zugewiesen werden dürfen. Der Grund für die Ablehnung des Ausweises war wahrscheinlich derselbe, der auch dazu beitrug, dass sie einen anderen Ein-Euro-Job abbrach: Sie wollte nicht als „Krüppel“ gelten und von einer Dienstleistungsnehmerin im Ein-Euro-Job auch nicht so genannt werden. Gleichzeitig schien sie sich aber durchaus zu wünschen, dass ihre gesundheitlichen Belastungen und Behinderungen wahrgenommen und auf ihre mangelnde Belastungsfähigkeit Rücksicht genommen wird. Das brachte sie in vielfältiger Weise zum Ausdruck. Unter anderem begründete sie die Ablehnung eben des zuletzt zugewiesenen Ein-Euro-Jobs, in dem sie unter anderem an einer verkehrsreichen Straße hätte Laub fegen sollen, mit der Feststellung, dass sie noch an ihrem Leben hänge, und sie begründete die rasche Beendigung anderer Ein-Euro-Jobs damit, dass die Jobs „zu schwer“ für sie gewesen seien. Frau L. kaschiert ihr Bedürfnis nach Schutz und Rücksichtnahme jedoch mit sehr burschi-kosen Redeweisen. Ihre Selbstzitate lassen annehmen, dass sie sich nicht selten geradezu schroff abweisend gibt, womit sie Fehlinterpretationen ihres Verhaltens vermutlich Vorschub leistet.

Zumindest ein Aspekt der bei Frau L. erkennbaren Selbstbehauptungsschwä-che zeigte sich auch bei Herrn M.: Er verzichtete auf eine ärztliche Bescheinigung seiner zeitweiligen Arbeitsunfähigkeit, obwohl er wegen eines psychisch äußerst belastenden Ereignisses tatsächlich arbeitsunfähig war. Entweder traute er sich nicht zu, einem Arzt seine Verfassung beschreiben zu können, oder er hoffte nicht auf ärztliches Verständnis. Auch in den Schilderungen anderer Gesprächspart-

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nerinnen und Gesprächspartner schien durch, dass die Nutzbarmachung dieses institutionell geregelten Verfahrens, sich Entlastung von gesellschaftlichen bezie-hungsweise behördlichen Anforderungen zu verschaffen, nicht zu ihren Problem-bewältigungsressourcen gehört.

Auch in Herrn R.s Schilderungen der Ursachen seines sanktionierten Verhal-tens wurde nicht nur sein Bedürfnis, sich zu verwahren und die Kontrolle über die eigene Lebensführung und die Mitteilungen zur eigenen Befindlichkeit zu bewah-ren, deutlich, sondern ebenfalls mangelnde Fähigkeiten zur Selbstbehauptung. Sie drückten sich darin aus, dass er sich gegen das von ihm als unverschämt erlebte Kommunikationsverhalten einer Behördenmitarbeiterin nicht aktiv zu behaupten vermochte, sondern statt dessen den Kontakt zur Behörde völlig mied.

Zudem litt er offensichtlich unter starker Versagensangst. Sie führte dazu, dass er einen Ein-Euro-Job ablehnte, weil er sich nicht sicher war, ob seine „Kenntnisse ausreichend“ seien. „Man glaubt irgendwann, dass man selbst relativ einfache Tätigkeiten nicht mehr auf die Reihe bekommt“, lautete die Beschreibung seiner Unsicherheit an einer anderen Stelle des Interviews. Angesichts der sehr guten und vielfältigen Ausbildung von Herrn R. ist das eine erstaunliche Beschreibung, die jedoch im Kontext seiner sonstigen verbalen und non-verbalen Mitteilungen sehr glaubhaft war.

Bei mindestens zwei weiteren Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspart-nern trugen Versagensängste dazu bei, dass sie die behördlichen Anforderungen nicht erfüllten. Herr F. sah sich von den Anforderungen der ihm zugewiesenen Ausbildung überfordert, Frau C. hatte in ihrem Ein-Euro-Job Angst, Fehler zu machen.

Vier Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner brachten im Interview depressive Störungen zur Sprache. Bei drei von ihnen, nämlich Frau C., Frau Sch. und Frau St., waren die Störungen so massiv, dass sie deswegen bereits in stationärer (jugend-)psy chiatrischer Behandlung waren. Auch Herr P. litt unter Depressionen, als er eine Arbeitsstelle nicht antrat, weil er sich gekündigt glaubte oder tatsächlich gekündigt war, nachdem er eine Krankmeldung – vermutlich zu spät – gebracht hatte.

Vier Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner waren drogenabhängig. Frau St. nahm in der Zeit, in der sie zu Vorstellungsterminen für einen Ein-Euro-Job nicht erschien, nicht nur Methadon als Heroinsubstitut, sondern wegen ihrer depressiven Schlafstörungen auch Schlaftabletten. Das dürfte dazu beigetragen haben, dass sie in ihrer ohnehin überfordernden Lebenssituation die Termine

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vergaß oder verschlief. Bei Frau Sch. war die Heroin- beziehungsweise Metha-donabhängigkeit Folge, aber eben auch Ursache fehlender Selbstsicherheit und Selbstständigkeit. Dieser Mangel führte dazu, dass sie so lange bei einem gewalt-tätigen, freiheitsberaubenden und ebenfalls heroinabhängigen Mann ausharrte, bis er es war, der sie vor die Tür setzte, was sie wiederum in die Abhängigkeit von anderen Menschen brachte, die ihr zwar Schlafplätze gewährten, damit aber auch ihren Tagesablauf bestimmten, was ein weiteres Hindernis war, den Ein-Euro-Job regelmäßig auszuüben.

Bei Herrn K. brachte es seine schwere Alkoholerkrankung, wegen der er sich zum Interviewzeitpunkt in einer Fachklinik behandeln ließ, nahezu zwangsläufig mit sich, dass er seine letzten Arbeitsstellen „selbstverschuldet“ verlor. Die dem exzessiven Alkoholkonsum folgenden Ausfälle seiner Leistungsfähigkeit machten ihn wiederholt arbeitsunfähig, ohne dass er sich die Arbeitsunfähigkeit ärztlich bescheinigen ließ.

Herrn E. fehlten insbesondere die instrumentellen Fertigkeiten, um die ver-langten schriftlichen Bewerbungen zu erstellen. Er verfügte weder über die hierzu erforderlichen schriftsprachlichen Kenntnisse, noch konnte er mit einem Computer arbeiten, den er im Übrigen auch nicht besaß. Aber auch Herr E. beschrieb schwere psycho-soziale Belastungen und „gestand“ seine Alkoholabhängigkeit, die vermut-lich dazu beigetragen hatte, dass er vor der Anforderung resignierte, anstatt nach Hilfe zu suchen und/oder die Anforderung wenigstens pro forma zu erledigen.

3.3.8 Gestörte Kommunikation zwischen Behörden und Klient/-inn/-en als Sanktionsursache

In den Kapiteln 3.3.3 bis 3.3.7 wurden die in den Interviews zutage getretenen Mo-tive, Lebensumstände und Handlungs(in)kompetenzen der Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartner, die mit großer Wahrscheinlichkeit zur Verursachung ihres nach § 31 SGB II sanktionierten Verhaltens beigetragen haben, erörtert.

In diesem Kapitel ist der Blick nun darauf zu richten, dass Sanktionen nicht Folge des Verhaltens der Sanktionierten sind, sondern Ergebnis eines – gestörten – Kommunikationsprozesses zwischen sich verhaltenden Personen und ande-ren Personen, die Verhaltensanforderungen an die ersteren zu richten und deren tatsächliches Verhalten zu beurteilen und zu bestrafen befugt sind. Typisch für die Kommunikation zwischen Behördenmitarbeitern und Klienten ist das starke Machtgefälle in Verbindung mit der fehlenden Möglichkeit zur eingehenden Kom-munikation.

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Die beiden Sanktionen, die gegen Herrn Ü., der in den vorangegangenen Kapiteln noch nicht erwähnt wurde, kurz nacheinander verhängt wurden, folgten offenbar in der Hauptsache, wenn nicht ausschließlich, aus der tiefen Kommu-nikationsstörung zwischen Herrn Ü. und der zum Sanktionszeitpunkt erst seit Kurzem für ihn zuständigen Behördenmitarbeiterin. Die erste Sanktion erfolgte, nachdem Herr Ü. Informationsveranstaltungen einer Beschäftigungsgesellschaft, bei der er bereits tätig gewesen war, nicht besucht hatte, weil er an den beiden Tagen, an denen die Veranstaltungen stattfanden, erwerbstätig war. Die Beschäf-tigungsgesellschaft selbst, bei der Herr Ü. noch in guter Erinnerung war, akzep-tierte seine Entschuldigung, wie mir eine Mitarbeiterin der Gesellschaft mitteilte. Die zuständige Behördenmitarbeiterin jedoch glaubte Herrn Ü. entweder nicht, dass er an den Tagen, für die sie ihn zu Informationsveranstaltungen bei einem Beschäftigungsträger beordert hatte, erwerbstätig war, oder sie akzeptierte nicht, dass die Erwerbsarbeit für Herrn Ü. Vorrang vor dem Besuch der Informations-veranstaltungen hatte. Die zweite Sanktion erfolgte, weil die Mitarbeiterin auf der Gültigkeit des in der Eingliederungsvereinbarung genannten Termins für die Abgabe von Bewerbungsnachweisen beharrte und sich nicht dafür verantwortlich sah, dass auf dem gesonderten Formular, auf dem die Bewerbungen aufzulisten waren, ein anderer Abgabetermin stand. Ob Herr Ü. die Mitarbeiterin zu solch rechthaberischer Sturheit herausforderte, indem er auch ihr zu verstehen gab, wie sehr er es bedauerte, dass die vorherige, von ihm sehr geschätzte Ansprechpart-nerin nicht mehr für ihn zuständig war, muss offen bleiben. Im Interview hatte er dieses Bedauern jedenfalls sehr deutlich gemacht.

In den anderen Fällen verlieh das Verhalten der Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner der Bestrafung durch die Behördenmitarbeiter zwar eine größere gesetzesimmanente Logik, aber Sanktionsursache war das Verhalten der Bestraften in keinem Fall. Sanktionen werden verursacht durch eine je bestimmte Abfolge von Verhaltensanforderungen hierzu ermächtigter Akteure, tatsächlichem Verhal-ten und Verhaltensbewertung durch zur Bewertung ermächtigte Akteure. Und in dieser Abfolge ist die Kommunikation zwischen den Akteuren auf beiden Seiten in vielfältiger Weise gestört.

Zwar war die direkte Beobachtung der Interaktionen und Kommunikationen zwischen. Behördenmitarbeiter und ihren Klienten im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht möglich. Aber dafür boten die von der Diskussion und Er-klärung eines aktuellen Geschehens weitgehend entlasteten Interviews den Ge-sprächspartnerinnen und Gesprächspartnern mehr Raum, auf die Gesamtheit ihrer

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Erfahrungen mit der Interaktion mit den Behördenmitarbeitern einzugehen, als beobachtungsbegleitende Interviews62 dies in der Regel tun. Vor allem aber lassen sich die Aussagen der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner zu ihren Er-fahrungen der Interaktion in und mit der Behörde sehr gut vor dem Hintergrund der Ergebnisse von aktuellen Beobachtungsstudien63 sowie von Interviews mit Behördenmitarbeitern64 zu ihrer Interaktion und Kommunikation mit den Klienten interpretieren.

Die für die berufliche Förderung beziehungsweise Arbeitsmarktintegration der Klienten zuständigen Behördenmitarbeitern haben zu viele Klienten und zu viele Vorgaben für die „Fallbearbeitung“, um einzelfallbezogen arbeiten zu können.65 Sie haben zu wenig Zeit für Gespräche mit ihren Klienten, um deren Motive, Probleme und Lebensumstände kennenzulernen. Das erschwert insbesondere die Kommunikation mit den Klienten, die selbst nur eine unklare Vorstellung von ihren Wünschen und Motiven haben und schon gar nicht darin geübt sind, ihre Wünsche und Interessen zu vertreten. Zahlreichen Behördenmitarbeitern fehlt auch die Qualifikation, so zuzuhören, dass Gesprächspartnerinnen und Gesprächs-partner darin unterstützt werden, ihre Gedanken zu entwickeln und vorzutragen. Viele der für die Arbeitsmarktintegration der Klienten zuständigen Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter verfügen über Ausbildungen und berufliche Erfahrungen, in denen sie andere Fähigkeiten erlernt haben und einsetzen mussten.66

Den Behördenmitarbeitern fehlen aber nicht nur Zeit und – in zahlreichen Fällen – die Qualifikation, sich auf die Perspektive ihrer Klienten einzulassen; insbesondere fehlt ihnen auch der Freiraum hierfür. Erstens müssen sie in den Ge-sprächen mit ihren Klienten ihre Aufmerksamkeit sehr selektiv auf die Informati-onen konzen trieren, die „amtlich verwertbar“ sind, das heißt, sich in vorgegebene, der Kundensegmentierung dienende Profilingraster einfügen lassen.67 Zweitens müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oft schon in den ersten Gesprächen mit Klienten Ziele verfolgen, die weit über die Erhebung von Informationen hi-naus gehen. Sie müssen entscheiden und mitteilen, welche Forderungen sie an ihre

62 Wie sie von Baethge-Kinsky u.a. (2007) im Rahmen einer Studie zu den Interaktionen zwischen SGB II-Träger-Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeitern und Klienten sowie von Hielscher/Ochs (2009) für Erstgespräche mit SGB III-Klienten in den Arbeitsagenturen durchgeführt wurden

63 Siehe Fußnote 62.64 Ames 2008a; Behrend 2007.65 Vgl. Ames 2008a, Kap. 4.1.1 und 4.1.2.66 Vgl. Ames 2008a, Kap. 2.1 bis 2.3.67 Vgl. hierzu etwa Behrend 2007 und für die Vermittler-Klienten-Kommunikation im Rechtskreis

des SGB III Hielscher /Ochs 2009, S. 94.

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Klienten richten und welche Förderungen, die von den Klienten häufig nicht als solche beurteilt werden, sie gewähren wollen. Falls die Klienten eigene Vorstel-lungen von und Ansprüche an ihre Förderung artikulieren, muss das Gespräch in der Regel auch noch dazu dienen, diese zurückweisen.68

Die Überfrachtung der Gespräche zwischen den für die Arbeitsmarktinte-gration zuständigen Behördenmitarbeiter und ihren Klienten mit behördlichen Anforderungen an das Ergebnis dieser Gespräche wird von zahlreichen Klienten als „Abfertigung“ wahrgenommen. Dieses Gefühl haben die weitaus meisten Interviewpartnerinnen und Interviewpartner zum Ausdruck gebracht, als ich sie danach fragte, wie sie die Gespräche mit ihren persönlichen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern erlebt hätten. Wobei acht der Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartner, die sich „abgefertigt“ fühlten, aber auch Verständnis für solches Verhalten ihrer Ansprechpartnerin oder ihres Ansprechpartners äußerten: Sie be-urteilten sie oder ihn als „persönlich nett“ oder „freundlich“ oder „menschlich in Ordnung“, aber eben an die Vorschriften gebunden und damit im Handlungsspiel-raum sehr eingeengt. Offenbar bemühen sich nicht wenige Behördenmitarbeiter, sich ihren Arbeitsalltag zu erleichtern und sich die Sympathie ihrer Klienten zu sichern, indem sie an deren Verständnis für die „höhere Gewalt“, der sie selbst unterworfen sind, appellieren.

Eine besonders drastische, aber keineswegs ungewöhnliche Art, abgefertigt zu werden, erlebte Herr J., der nach Ankunft in der immerhin zwanzig Kilometer von seinem Wohnort entfernten Behörde mit der Mitteilung, man habe nur sehen wollen, ob er noch lebe, gleich wieder weggeschickt wurde.69 Ein solches für ihn absurdes Erlebnis kann als direkt durch das Behördenhandeln geschaffene Moti-vation zu Herrn J.s „Pflichtverletzung“, nämlich künftige Termine nicht wahrzu-nehmen, verstanden werden.

Sechs Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner haben bei der Beschrei-bung ihrer Beziehung zu ihrem Ansprechpartner oder ihrer Ansprechpartnerin hervorgehoben, dass der Kontakt äußerst spärlich sei, sieben andere Gesprächs-partnerinnen und Gesprächspartner betonten, dass der oder die Ansprechpartne-rin bzw. der Ansprechpartner schon einmal oder – bei den meisten – mehrmals

68 Vgl. ebd. 2009, S. 96 ff., wo solche Funktionen von Gesprächen zwischen Arbeitsvermittlern und Arbeitslosengeld I-Antragstellern beschrieben werden. Im SGB II-Bereich ist die Zurückweisung von Förderansprüchen der Klienten noch viel stärker politisches Programm.

69 Dass solche Art Vorsprachen wegen der Verpflichtung der Behördenmitarbeiter, Vorgaben zur „Kontaktdichte“ zu erfüllen, nichts Ungewöhnliches sind, geht auch aus entsprechenden Schilde-rungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern selbst hervor. Vgl. Ames 2008a, S. 16 ff.

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gewechselt habe und die sanktionierende Ansprechpartnerin oder der Ansprech-partner vor der Sanktion erst seit kurzer Zeit für sie zuständig gewesen sei. Die Personalfluktuation bei den SGB II-Trägern trägt offenbar über die Reglemen-tierung der Fallbearbeitung hinaus dazu bei, dass die Behördenmitarbeiter wenig Gelegenheit haben, Einblick in die Lebenswirklichkeit und die Bedürfnisse ihrer Klienten zu erlangen.

Vier der sieben Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner, deren per-sönlicher Ansprechpartner bzw. persönliche Ansprechpartnerin schon mehrfach wechselte, führten aus, dass es nach ihrem Eindruck trotz der für alle geltenden schematisierenden Vorgaben von den persönlichen Dispositionen der Ansprech-partnerinnen und Ansprechpartner abhänge, ob man sich freundlich und respekt-voll behandelt fühle oder nicht.70 Hierzu sei noch einmal Frau Sch. zitiert: „Ja, du hast da halt mehr oder weniger Glück oder nicht Glück. Wenn du nicht Glück hast, hast keinen guten, wenn du Glück hast, hast du einen einigermaßen bisschen besseren, der sich für dich ein bisschen interessiert, so.“

Zahlreichen Sanktionen liegen Verpflichtungen zugrunde, die den Betroffenen auferlegt wurden, ohne dass sich die Behördenmitarbeiter zuvor ausreichende Kenntnisse von den Lebenslagen, Bedürfnissen und Problemen der Verpflichte-ten verschaffen konnten oder wollten. Die Nicht-Erfüllung der Verpflichtungen wurde nicht zum Anlass genommen, die Informationsbasis zu verbessern, ob-wohl es vielen Klienten vermutlich gerade anhand der Anforderungen, denen sie nicht nachkommen konnten oder wollten, möglich gewesen wäre, über die eigene Motiv- und/oder Problemlage zu sprechen. So genannte Anhörungen, in denen vor der Verhängung von Sanktionen erfragt werden soll, ob der Klient oder die Klientin einen „wichtigen Grund“ für sein oder ihr Verhalten hatte, erfolgen, wenn überhaupt, dann über „Anhörungsbögen“. Diese Formulare schematisieren die Kommunikation zwischen Behörden und Hilfebedürftigen ebenso wie die ande-ren Formulare und die unzähligen aus Textbausteinen bestehenden behördlichen Schreiben, und sie überfordern die Klienten oft.

Die in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten Befunde zeigen, dass sich die Ursachen des sanktionierten Verhaltens der Klienten in keinem Fall mit Verdikten wie „Arbeitsunwilligkeit“ oder „mangelnde Bereitschaft zur Selbstver-antwortung“ erschließen lassen. Es ist den Behördenmitarbeitern aber auch nicht aufgegeben, die Beweggründe ihrer Klienten zu verstehen. Sie sollen lediglich

70 Vgl. Ames 2008a, Kap. 5.4.

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prüfen, ob sich deren Verhalten einem der im Gesetz aufgeführten „Pflichtver-säumnisse“ zuordnen lässt.

Einige Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner schrieben ihren An-sprechpartnerinnen und Ansprechpartnern in der Behörde Briefe, in denen sie sich bemühten, ihr Situationserleben und ihre Gründe für ihr Verhalten darzulegen. Antwort auf diese Briefe bekamen sie nicht. Auch SGB II-Träger bestimmen, ebenso wie andere Behörden, sehr einseitig Zeitpunkt, Anlass, Inhalt und Form der Kommunikation zwischen sich und ihren Klienten. Im Fall der SGB II-Träger steht dies jedoch in eklatantem Widerspruch zur Dienstleistungs- und darüber hi-naus vielfach sozialarbei terischen und pädagogischen Rhetorik71, die in Text und Begründung des SGB II angelegt ist und die Umsetzung des Gesetzes vielerorts begleitet.

Die einseitig von den Behörden bestimmte formelle und floskelhafte Art, in der mit den Klienten kommuniziert wird, verhindert nicht nur, dass die Klienten ihre Anliegen und ihre Sicht der Dinge zur Geltung bringen können; sie verhindert in etlichen Fällen offenbar auch, dass die Klienten wenigstens verstehen, was die Behörde von ihnen will. Von den ihnen auferlegten Verpflichtungen erfuhren die Betroffenen überwiegend nur durch formelle schriftliche Mitteilungen, nicht in einem persönlichen Gespräch, in dem Art und mutmaßlicher Zweck der Verpflich-tung erörtert worden wären. Auch Sanktionsbescheide sind so formuliert, dass längst nicht allen Betroffenen klar wird, wofür sie bestraft werden.

Hierzu trägt auch bei, dass die behördlichen Schreiben, die gerade auch durch ihre die Distanz zu den Klienten betonende Form und ihre Floskelhaftigkeit stets auch die Übermacht und die Überheblichkeit des Amtes vermitteln, heftige Aver-sionen bei vielen Klienten hervorrufen und deswegen häufig nicht aufmerksam gelesen werden.

Eine weitere Form und zugleich Auswirkung der Kommunikationsstörung zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von SGB II-Trägern und ihren Klienten wird in den Fällen von Herrn B., Frau N. und Herrn Q. deutlich: Wenn es um die Kündigung von Arbeitsverhältnissen oder um eine vermeintliche oder tatsächliche Unterlassung einer Bewerbung geht, haben die Klienten kaum eine Chance, ihrer Sicht der Dinge gegenüber den Darstellungen von Arbeitgebern Geltung zu verschaffen. Herr B., Frau N. und Herr Q. empfanden eine parteiische

71 Hierzu Ames/Jäger 2006 sowie Behrend 2008, S. 16 f.

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Verbundenheit zwischen Arbeitsverwaltung und Arbeitgebern, der gegenüber sie sich als machtlos erlebten.

3.3.9 Überforderung der SGB II-Träger und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Sanktionsursache

Auch „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ und das SGB II wurden wie alle Va-rianten von Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik mit der Ankündigung eingeführt, einen Abbau von Arbeitslosigkeit zu bewirken. Im Fall des SGB II zielte der Gesetzgeber – jedenfalls nach eigenem Bekunden – insbesondere auf den Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit.72 Als geeignetes Mittel zum Abbau der Arbeitslosigkeit gilt die „Aktivierung“ der Erwerbs losen.

Diejenigen, die die „Aktivierung“ betreiben sollen, sind die SGB II-Träger. Sie haben es jedoch überwiegend mit Klienten zu tun, die keiner Aktivierung zur Arbeitssuche bedürfen, weil sie in Verfolgung ihrer eigenen Interessen ohnehin Arbeit suchen, meist mit großer Ausdauer und Intensität73. Gerade die sehr aktiven Arbeitsuchenden empören sich häufig darüber, dass die Arbeitsverwaltung nur die Arbeitslosen verwalte, aber keine Arbeit vermittle.

Bei einem kleineren, aber sicher auch beträchtlichen Teil der Klienten muss die Aktivierung zur Arbeitssuche gegen die aus leidvoller Erfahrung entstandene Resignation der vergeblich Arbeitsuchenden angehen, ohne an den Gründen der Resignation etwas ändern und dadurch Hoffnung machen zu können. SGB II-Träger können keine Erwerbsarbeitsplätze schaffen, die vorhandene Arbeit nicht umverteilen, und sie können an den Ausschlusskriterien des von großer Differenz zwischen Angebot und Nachfrage gekennzeichneten Arbeitsmarktes nichts ändern. An erster Stelle dieser Ausschlusskriterien stehen nach wie vor längere Erwerbs-arbeitslosigkeit und andere Brüche in der Erwerbsbiografie. Um die resignierten Klienten zu Bewerbungsaktivitäten zu aktivieren, die zu stets neuen Bestätigungen ihres Ausschlusses vom Arbeitsmarkt führen, bedarf es der Sanktionsdrohung.

Mit „Aktivierung“ ist aber offenbar noch etwas anderes gemeint als Aktivie-rung zur Arbeitsuche. „Aktiviert“ wird in der Praxis der Umsetzung des SGB II vor allem durch die Zuweisung zu „Trainingsmaßnahmen“ und „Arbeitsgele-genheiten“, wobei die Evaluation der Wirkung dieser Instrumente aktivierender Arbeitsmarktpolitik implizit auf die große Diskrepanz zwischen ihrem massen-haften Einsatz und ihrem sehr geringen Beitrag zur Verbesserung der Arbeits-

72 BT-Drs. 15/1516, S. 44.73 Bescherer u.a. 2008, S. 24.

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marktchancen der Teilnehmerinnen und Teilnahmer hinweist.74 Für die meisten Erwerbslosen bedeuten Trainingsmaßnahmen, Fähigkeiten immer wieder trainie-ren zu müssen, über die sie ohnehin verfügen und/oder die sie nicht zum Einsatz bringen können.

Welchem Aktivierungsziel so genannte Arbeitsgelegenheiten dienen sollen, bleibt schon durch deren Verortung in der Struktur des SGB II unklar. Einer-seits werden sie schon in § 2 des Gesetzes als Konkretisierung des „Grundsatzes des Forderns“ genannt und erscheinen so als hauptsächliches Instrument einer Workfare-Politik75, die Arbeit als Gegenleistung für Unterhaltsleistungen verlangt, ohne dass damit der An spruch verbunden wäre, den Arbeitenden den Zugang zu Existenz sichernder, von staatlicher Hilfe unabhängig machender Erwerbsarbeit zu eröffnen. Andererseits werden Arbeitsgelegenheiten in § 16 SGB II als „Leistung zur Eingliederung“ aufgeführt. Hiermit wird offenbar wiederum auf den Trai-ningseffekt von Arbeitsgelegenheiten spekuliert; jedenfalls ist nicht ersichtlich, auf welch anderem Wege Arbeitsgelegenheiten zur Integration in den Arbeitsmarkt beitragen könnten.

Nicht um Erwerbslose überhaupt in Trainingsmaßnahmen und Arbeitsgele-genheiten unter bringen zu können und sich auf diese Weise als „aktivierend“ zu erweisen, brauchen SGB II-Träger die Möglichkeit, mit Sanktionen zu drohen, sondern um so massenhaft unterbringen zu können, wie sie es tun. Viele Erwerbs-lose sind aus eigenen Motiven bereit, Trainingsmaßnahmen zu absolvieren und in Ein-Euro-Jobs zu arbeiten.76 Die Motivation hängt davon ab, ob die Menschen in ihrer konkreten Lebenssituation positive Erwartungen mit der Teilnahme an solchen Maßnahmen verbinden können, und davon, ob die je konkrete Maßnahme ihnen die Möglichkeit zu als sinnvoll erlebter Betätigung, zu interessanten Lerner-fahrungen und zu aufbauenden sozialen Beziehungen bieten.77 Viele Erwerbslose versprechen sich von ihrer Teilnahme an Maßnahmen keine Verbesserung ihrer Arbeitsmarktchancen, und viele Maßnahmen vermögen das Selbstwertgefühl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht einmal für die Dauer der Teilnahme zu stärken.

Auch um Erwerbslose in Maßnahmen zu bringen und zu halten, von denen sie sich nichts versprechen, brauchen die SGB II-Träger die Möglichkeit, mit

74 Vgl. Jozwiak/Wolff 2007; Wolff/Hohmeyer 2008.75 Erläutert etwa bei Koch u.a. 2005; Mohr 2009.76 Vgl. Bescherer u.a. 2008, S. 21.77 Ames 2008b, S. 102 ff.

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Sanktionen zu drohen. Sie verfügen kaum über Möglichkeiten, das Verhalten ihrer Klienten mit positiven Anreizen zu steuern. Hierin liegt ein Aspekt der Überfor-derung der SGB II-Träger.

Für das große Heer der Erwerbstätigen und Erwerbslosen ist die Sanktions-drohung in der Regel ausreichend, um ihr Verhalten in der politisch und admi-nistrativ erwarteten Richtung zu steuern. Die Menschen wissen, dass sie auf die minimalen Existenzsicherungsleistungen angewiesen sind, und sind in der Lage und bis auf wenige Ausnahmen auch willens, die an sie gerichteten Anforderungen um ihrer Existenzsicherung willen zu erfüllen. Zudem haben die meisten ALG II-Beziehenden wahrscheinlich einfach Glück, nicht eine Anforderung erfüllen zu sollen, die ihren Motiven völlig zuwider läuft.

Manche haben jedoch Pech und geraten in eine Situation, in der er ihnen nicht möglich ist, eine spezifische Anforderung mit ihrer Motivlage zu vereinbaren. Diese Art der Überforderung spielt für das Verhaltens tatsächlich sanktionierter Personen eine mehr oder minder große Rolle. In manchen Fällen erklärt sie das sanktionierte Verhalten vollständig, in anderen Fällen ist eine solche Art der Über-forderung nicht erkennbar. Dazwischen gibt es viele Abstufungen.

Eine andere Art der Überforderung erklärt das Verhalten sanktionierter Per-sonen ebenfalls zu einem individuell unterschiedlichen großen Anteil. Sie besteht darin, dass die Lebenssituation der Betroffenen schon zu fordernd und/oder ihre Handlungskompetenzen zu schwach sind, um bestimmte Anforderungen, die der Motivlage der Betroffenen gar nicht widersprechen müssen, erfüllen zu können. Diese Art der Überforderung dürfte bei etlichen Sanktionierten für ihr „pflicht-widriges“ Verhalten ausschlaggebend gewesen sein.

Damit ist der zweite Aspekt der Überforderung der SGB II-Träger angespro-chen. Mit dem SGB II ist der Arbeitsverwaltung eine quasi sozialarbeiterische Zuständigkeit zugefallen, der sie nicht gewachsen ist.78 Die SGB II-Träger sollen Menschen „aktivieren“ und die Beschäftigungsfähigkeit von Menschen fördern, deren psychosoziale Probleme viel komplexer sind, als dass sie sich in dem Ver-dikt mangelnder Gewöhnung an Arbeit oder „Gewöhnung an den Bezug von Sozialleistungen“79 fassen ließen und in solchen Verdikten der Ansatzpunkt für die Lösung der Probleme liegen könnte. Der Hilfebedürftigkeitsbegriff des SGB II, der Hilfebedürftigkeit mit der Abhängigkeit von Sozialleistungen gleichsetzt80,

78 Vgl. Ames/Jäger 200679 BT-Drs. 15/1516, S. 51.80 Bemerkenswert deutlich formuliert in § 9 SGB II.

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wird der Hilfebedürftigkeit dieser Menschen nicht gerecht. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von SGB II-Trägern verfügen zu einem großen Teil nicht über die Qualifikation, den Hilfe- und Förderungsbedarf dieser Menschen in der geduldigen Zusammenarbeit mit ihnen zu erkennen, und sie verfügen vor allem nicht über einen gesetzlichen Auftrag, ein anderes Ziel als das der „Integration in Arbeit“ zu verfolgen. Auch die zwischenzeitlich erhobene Forderungen nach „Quantifizie-rung anderer Zielindikatoren als des Übergangs in reguläre Beschäftigung“, die dazu dienen sollen, „[...] für arbeitsmarktferne Personen auch Fortschritte in der Beschäftigungsfähigkeit zu messen, die nicht sofort in ein Beschäftigungsverhält-nis münden“81, ändern an der engen Zielsetzung nichts.

Mit der Einführung des SGB II hat sich die Jugendhilfe vielfach noch stärker aus ihrer Verantwortung für sozial benachteiligte und beeinträchtigte junge Men-schen zurückgezogen, als sie es unter Sparsamkeitsdiktaten schon zuvor getan hat. Diejenigen, die die fachlichen Ansprüche der Jugendhilfe vertreten, müssen um die Zuständigkeit der – nicht sanktionsbewehrten - Jugendhilfe für diese jun-gen Menschen kämpfen.82 Sehr erfolgreich ist der Kampf nicht.83 Freilich sind aktivierungspolitische Strategien inzwischen auch zu einem „zentralen Rationa-litätsmuster der Kinder- und Jugendhilfe geworden“84. Aber zumindest verfügen die Jugendhilfe und die Sozialpädagogik über eine lange Tradition, wissenschaft-lich informiert darüber zu streiten, „zu welchen Ziel ‚aktiviert‘ wird“85, und sie verfügen über eine lange Tradition des Anspruchs, die Rechte Heranwachsender gegenüber der Gesellschaft, nicht nur die Ansprüche „der Gesellschaft“ gegenüber den jungen Menschen zu vertreten.

Aber nicht nur mit der faktischen Umdefinition von Aufgaben der Jugendhilfe zu Aufgaben der Arbeitsverwaltung und der Verlagerung von Arbeit von dem einen Hilfe- beziehungsweise Kontrollsystem auf das andere, ist der Arbeitsverwaltung eine sie überfordernde, quasi sozialarbeiterische Funktion zugefallen. Auch mit der Erwartung, sämtliche älteren Erwerbslosen, die den Anforderungen des real existierenden Arbeitsmarktes schon lange nicht mehr genügen, wenigstens zur Pseudo-Teilnahme durch Bewerbungsaktivitäten und/oder die Ausübung von Ein-Euro-Jobs zu erziehen, sind die SGB II-Träger in vielen Fällen überfordert. Weil sie aber Machtlosigkeit offenbar nicht einräumen dürfen, sanktionieren sie Ver-

81 Bernhard u.a. 2008, S. 53.82 Vgl. Schruth 2009.83 Ebd., S. 11.84 Kessl 2006, S. 228.85 Ebd., S. 222.

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halten, dessen Disposition sie nicht ändern können, und fördern damit – statt „In-tegration in Arbeit“ – die soziale Desintegration der betreffenden Menschen.86

3.3.10 Resümee zu den Ursachen von SanktionenAuch wenn ein solcher Blickwinkel noch befremdet, macht ein Vergleich der Ursachen strafrechtlicher Sanktionen mit den Ursachen von Sanktionen nach dem SGB II die Struktur von letzteren deutlich. Strafrechtlich sanktioniert werden strafmündige Menschen, weil sie etwas getan haben, dass für alle verboten ist, sofern die Tat entdeckt und angeklagt wird und die Täterschaft als nachgewiesen gilt. Nur wenige Straftatbestände bestehen in Unterlassungen, etwa unterlassener Hilfeleistung. Sanktionen nach § 31 SGB II erfolgen überwiegend deshalb, weil Menschen etwas ganz Bestimmtes nicht getan haben, was von ihnen verlangt wurde. Auch hier gibt es Ausnahmen von der Regel: Sanktionen infolge der Kün-digung von Arbeitsstellen lassen sich zumindest gleichermaßen als Bestrafung der Übertretung eines Verbotes wie als Bestrafung der Unterlassung eines geforderten Verhaltens verstehen.

Der Vergleich von strafrechtlichen Sanktionen und Sanktionen nach dem SGB II macht deutlich, dass die je spezifischen Anforderungen, die nicht erfüllt wurden, als Faktoren der Verursachung von Sanktionen Aufmerksamkeit verlangen. Ohne die spezifische Verhaltensanforderung hätten die Sanktionierten keine Gelegen-heit gehabt, sich erwartungswidrig zu verhalten. Die Anforderungen standen im Widerspruch zur – wiederum sehr differenziert zu betrachtenden – Motivlage der Betroffenen und/oder überforderten ihre Handlungskompetenzen und/oder lebenssituationsspezifischen Handlungsmöglichkeiten.

Wenn Gesprächspartnerinnen oder Gesprächspartner wegen der Ablehnung oder des Abbruchs von Ein-Euro-Jobs, wegen der Kündigung regulärer Arbeits-verhältnisse oder wegen nicht erfolgter Bewerbungen auf bestimmte Stellenan-gebote sanktioniert wurden, lässt sich das sanktionierte Verhalten in mindestens 14 Fällen unter anderem oder ausschließlich darauf zurückführen, dass arbeits-bezogene Motive der Erfüllung der Verhaltenserwartung entgegenstanden. Dabei handelte es sich bei den arbeitsbezogenen Motiven der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, also ihren Erwartungen an Arbeit und Arbeitsverhältnisse, durchweg um solche, die Menschen üblicherweise an Arbeit richten. Denn Arbeit

86 Vgl. Mehlich 2005, S. 246.

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und Arbeitsverhältnisse bedeuten für die Arbeitenden weit mehr als die Sicherung der materiellen Existenzgrundlage.

Die den arbeitsbezogenen Motiven widersprechenden Arbeitsbedingungen, denen die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner unterworfen waren oder die sie antizipierten waren

besonders monotone, die Fähigkeiten und Interessen der Arbeitenden nicht herausfordernde Arbeitsverhältnisse,Aufgaben, die die individuelle psychische Belastungsfähigkeit oder andere Kompetenzen überstiegen,fehlende Kollegialität,respektlose und herabwürdigende Behandlung durch Vorgesetzte oder Dienst-leistungsnehmer,fehlende Kontinuität und Vorausschaubarkeit von Arbeitsverhältnissen,Arbeitsverhältnisse, die zu wenig Zeit zur Erholung lassen und/oder sehr schlecht bezahlt sind.

In mindestens sieben Fällen war das sanktionierte Verhalten auch oder ausschließ-lich von dem Motiv der Betroffenen geleitet, sich gegen besondere Implikationen der behördlichen Definition ihrer Klientenrolle zu wehren. Es ging diesen Ge-sprächspartnerinnen und Gesprächspartnern darum, Restbestände von bürgerlicher Vertragsfreiheit und/oder das eigene Selbstverständnis gegenüber der Verfügungs-gewalt der SGB II-Träger zu verteidigen oder sich dagegen zu wehren, dass die Behörde Verfügungen über die Verwendung der eigenen Zeit nicht zweckrational begründen muss.

In einigen Fälle standen der Erfüllung der behördlichen Erwartung nicht oder nicht ausschließlich arbeitsbezogene oder auf die Rolle als Behördenklienten be-zogene Motive entgegen, sondern das Fehlen einer Motivation, die behördliche Erwartung zu erfüllen. Die fehlende Motivation, behördliche Anforderungen zu erfüllen, kann in keinem Fall als Ausdruck fehlender Motivation zur Erwerbsarbeit gewertet werden. Vielmehr drückt sich darin die fehlende Hoffnung aus, dass die Erfüllung der behördlichen Erwartungen zur Verbesserung der eigenen Arbeits-marktchancen beitragen könnte. Oft haben die Behörden selbst zur Resignation und Hoffnungslosigkeit erkennbar beigetragen.

In einigen Fällen haben Wohnungslosigkeit, unmittelbar drohende Wohnungs-losigkeit oder ein stark belastendes Wohnumfeld, also die Lebenssituation, dazu geführt oder dazu beigetragen, dass die Betroffenen behördliche beziehungsweise gesetzliche Erwartungen nicht erfüllen konnten.

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Darüber hinaus führten in zahlreichen Fällen die starken seelischen Bela-stungen, Entbehrungen und Verluste, die etliche meiner Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner als Kinder und Heranwachsende ertragen mussten, zu un-terschiedlichen seelisch bedingten Behinderungen ihrer Handlungsfähigkeit, die zu dem Verhalten, das sanktioniert wurde, direkt oder indirekt beigetragen haben. Die Behinderungen bestanden in mangelnden Fähigkeiten zur Selbstbe-hauptung, die sich nicht zuletzt auch in der Kommunikation mit den behördlichen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zeigten, Ängsten, vor den Anforde-rungen von Jobs zu versagen, schwerwiegenden depressiven Störungen und Dro-genabhängigkeit.

Die verhaltensbestimmenden Motive, Motivationsdefizite, behindernden Le-bensumstände und Handlungskompetenzschwächen der Klienten sind an sich keine Sanktionsursachen. Die Motive, Hindernisse und Kompetenzschwächen bedürfen, um auftauchen und wirksam werden zu können, spezifischer Anfor-derungen. Damit komme ich auf den Beginn dieses Fazits zurück. Die Anfor-derungen werden in der Regel von denselben Behördenmitarbeitern gestellt, die auch das auf die Anforderung reagierende Verhalten der Klienten als „wichtig begründet“ oder „pflichtwidrig“ und damit strafwürdig zu beurteilen befugt sind. Oft haben die Behördenmitarbeiter von der Spezifität der Anforderung, die sie stellen, keine oder nur vage Kenntnis. Sie kennen zum Beispiel die Verhältnisse in spezifischen Ein-Euro-Jobs nicht.

In der Art der gestellten Anforderungen und in der Bewertung von Verhal-tensweisen offenbaren sich vielfältige Formen von Kommunikationsstörungen zwischen Klienten und Behördenmitarbeitern. Die Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter haben zu wenig Zeit, häufig nicht die Qualifikation und insbesondere nicht den Freiraum, um in der Kommunikation mit den Klienten deren Motive, Probleme und Lebensumstände kennenzulernen und zu berücksichtigen. Dazu stehen sie selbst vor zu vielen auf andere Zwecke und Ziele gerichteten behörd-lichen und politischen Anforderungen.

3.4 Auswirkungen der Sanktionen

In diesem Kapitel wird es zunächst darum gehen, auf welche Weise die Intervie-wpartnerinnen und Interviewpartner die Leistungseinbußen zu bewältigen ver-suchten und welche Auswirkungen dies für ihre Lebenssituation hatte. Danach

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wird der Frage nachgegangen, ob die Sanktionen bei den Betroffenen eine „erzie-herische“ Wirkung im Sinne des SGB II hatten, ob sie also infolge der Sanktionen Pflichten erfüllten, für deren Nicht-Erfüllung sie zuvor bestraft worden waren.

Bewältigungsmöglichkeiten und Auswirkungen der Sanktionen auf die Le-benssituation der Betroffenen hängen stark von der Sanktionshöhe ab. Deshalb sei diese zunächst betrachtet.

3.4.1 Sanktionshöhe

Tabelle 4: Sanktionshöhen

Sanktionshöhe in Prozent der RegelleistungAnzahl der betroffenen

Interviewpartner/-innen

10 Prozent 1

30 Prozent 7

40 Prozent 1

90 Prozent 1

100 Prozent 7

mehrfach zuletzt 30 Prozent 2

mehrfach zuletzt 40 Prozent 1

mehrfach zuletzt 60 Prozent 4

mehrfach zuletzt 90 Prozent 1mehrfach zuletzt 100 Prozent (darunter einmal auch Strei-chung der Kosten der Unterkunft) 5

Summe 30

Julia Schneider stellte Ende 2007 nach der Auswertung amtlicher Daten zum Sanktionsgeschehen im Jahr 2005 fest, dass der Zusammenhang von Sanktions-grund einerseits und Höhe und Dauer der Sanktion andererseits „eher unsyste-matisch“ erscheine.87 Die Auswertung der Interviews zeigt, dass es auch 2009 noch an Regelmäßigkeit mangelt. Die Schärfe der Sanktionen weicht in einigen Fällen zugunsten oder zuungunsten der Sanktionierten von den Bestimmungen des SGB II ab.

87 Schneider 2007, S. 3.

157

So wurde zum Beispiel Herr E. zwar zweimal nacheinander sanktioniert, weil er die von ihm geforderten Bewerbungen nicht nachgewiesen hatte, aber das „wiederholte Pflichtversäumnis“ führte offenbar nicht zu einer Verschärfung der Leistungskürzung von dreißig auf sechzig Prozent der Regelleistung. Bei der unter 25-jährigen Frau C. hätte die zweite Sanktion und bei Herrn M. die dritte Sanktion nach den Vorschriften des Gesetzes dazu führen müssen, dass auch keine Leistungen zur Bestreitung der Wohnkosten mehr erbracht werden, was aber of-fenbar nicht geschah.

Andererseits wurden bei Herrn S. und bei Herrn Ü, wie in den entsprechenden Fallskizzen dargestellt, offenbar Additionen von Sanktionsbeträgen in Überlap-pungsmonaten vorgenommen, die nach dem Durchführungshinweis der Bundes-agentur für Arbeit zu § 31 SGB II unzulässig sind.88 Bei Herrn Ö. wurde völlig undurchschaubar eine Leistungskürzung in Höhe von neunzig Prozent seiner Regelleistung vorgenommen, die zwar sozialgerichtlicher Überprüfung nicht standhielt, aber dennoch erst einmal drei Monate lang in Kraft war, bevor sie – geraume Zeit später – auf das rechtlich zulässige Maß reduziert wurde.

3.4.2 Bewältigung der LeistungskürzungenFast alle Interviewpartnerinnen und Interviewpartner haben auf mehr als eine Weise versucht, die Leistungskürzungen zu bewältigen.

Erschließung alternativer EinkommensquellenDie am häufigsten genannte Art, auf alternative Einkommen zurückzugreifen, war die Beantragung und Einlösung von Lebensmittelgutscheinen. Fast alle der neun Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, die hiervon berichteten, schilderten auch, wie demütigend sie die Einlösung von Lebensmittelgutscheinen erlebt haben. Sie haben in Läden eingekauft, in denen die Kassiererinnen und Kassierer sie nicht kannten, und haben versucht, an möglichst wenig frequentierten Kassen zu bezahlen. Besonders schlimm war es für die Betroffenen, wenn sie an Kassie-rerinnen oder Kassierer gerieten, denen Lebensmittelgutscheine unbekannt waren und die erst einen Vorgesetzten bzw. eine Vorgesetze oder eine Kollegin bzw. einen Kollegen herbeirufen mussten, um zu klären, ob sie die Gutscheine annehmen dürften und wie damit zu verfahren sei. In solchen Situationen fühlten sich die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner bloßgestellt.

88 Siehe die Fußnoten 50 und 52.

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Nur sechs Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner wurden in der Situation, in der sie sanktioniert waren, durch Eltern beziehungsweise Mutter, Schwiegermutter oder Schwester unterstützt. Auffallend ist, dass es in fünf der sechs Fälle weibliche Verwandte waren, die geholfen haben. Die Hilfe erfolgte durch Einladungen zum Essen, durch Lebensmittel- oder kleine Geldgeschenke oder durch Kleinstkredite. Noch geringer ist die Zahl derjenigen, die auf solcher-art Hilfe von Freunden zurückgreifen konnten oder wollten. Nur drei Intervie-wpartnerinnen bzw. Interviewpartner nannten diese Möglichkeit, die Einbuße an Unterhaltssicherung zu kompensieren. Die Seltenheit der Unterstützung durch Angehörige entspricht dem Untersuchungsbefund, dass insbesondere die jungen Menschen, die sanktioniert werden, zu einem beträchtlichen Anteil keinerlei fa-miliären Rückhalt haben, was oft Ursache ihrer überfordernden Lebenssituationen ist. Die noch größere Seltenheit der Unterstützung durch Freunde entspricht dem aus der Arbeitslosenforschung bekannten und durch die diesbezüglichen Mittei-lungen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner bestätigten Umstand, dass das soziale Netz Erwerbsloser, je länger die Erwerbslosigkeit andauert, immer mehr ausdünnt und schließlich, wenn überhaupt noch, dann fast nur noch aus anderen Erwerbslosen und Armen besteht.89

Ebenfalls drei Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner haben berichtet, dass sie während des Sanktionszeitraums ihre Ersparnisse aufgebraucht bezie-hungsweise stark angegriffen haben. Dies weist darauf hin, dass nur wenige sankti-onierte ALG II-Bezieherinnen und -Bezieher wenigstens geringfügige Ersparnisse haben, auf die sie bei Bedarf zurückgreifen können. Glück im Unglück hatten zwei weitere Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner, die, als sie sanktioniert waren, quasi auf vorangegangene Zwangsansparungen zurückgreifen konnten. Frau D. erhielt eine Kindergeld-Nachzahlung und Frau W. eine Rückerstattung zu viel gezahlter Stromkosten.

Drei Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner berichteten, dass sie ihr Einkommen durch das Einsammeln und Abgeben weggeworfener Pfandflaschen aufbesserten. Alle drei merkten jedoch an, dass sie das auch tun, wenn sie nicht von Sanktionen betroffen sind. Dass Not erfinderisch macht, bewies einmal mehr Herr I. Er kaufte mit den Lebensmittelgutscheinen, die er bekam, große Mengen billigstes Mineralwasser in PET-Flaschen, schüttete das Wasser weg und löste den Flaschenpfand ein, um über Bargeld zu verfügen.

89 Vgl. Ames 2008b, Kap. 3.1.5; Hellmeister u.a. 2009, Kap. 8.2.

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Drei weitere Gesprächspartner verschafften sich geringfügige Einkommen durch – wie sie es selbst nannten - „Schwarzarbeit“. Nähere Beschreibungen dieser Tätigkeiten machten jedoch deutlich, dass es um kurzfristige Aushilfstätigkeiten handelte, die vor nicht allzu langer Zeit noch kaum jemand „Schwarzarbeit“ ge-nannt hätte. Man half Nachbarn auf ihrer Baustelle, Bekannten, die Probleme mit ihrem Computer hatten, oder Fremden, die Umzugshelfer brauchten.

Herr V. versuchte in der Situation, in der ihm die Leistung ganz entzogen war, vom ALG II unabhängig zu werden, indem er einen Job bei einem Bekannten an-nahm, der ihn nicht bezahlen konnte, wie sich nach einigen Wochen herausstellte. Ohne den durch die Sanktion ausgeübten Druck hätte Herr V. die Zahlungsfähig-keit des Arbeitgebers wahrscheinlich vor Jobantritt kritischer geprüft.

Drei Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner versuchten, sich auf ille-gale Weise ein Ersatzeinkommen zu verschaffen. Die Versuche blieben im Hinblick auf das intendierte Ziel weitgehend erfolglos; sie waren jedoch für die Lebenssitu-ation von mindestens zwei der drei Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner sehr folgenschwer. Hierauf wird weiter unten näher eingegangen.

Reduktion von AusgabenDie meisten Interviewpartnerinnen und Interviewpartner hatten entweder keine Möglichkeit, sich alternative Einkommensquellen zu erschließen, oder die alter-nativen Einkommen waren so gering, dass die Betroffenen zusätzlich ihre ohnehin sehr geringen Ausgaben weiter reduzieren mussten.

Am häufigsten, nämlich in mindestens acht Fällen, geschah dies dadurch, dass Rechnungen nicht beglichen wurden. Häufig wurden Strom- und Telefon-rechnungen genannt, dreimal wurde neben anderem der Eigenanteil an der Miete beziehungsweise die Gesamtmiete nicht gezahlt, in einem Fall ging es unter an-derem um die Zahnarztrechnung, in einem anderen Fall ging es neben sonstigen nicht beglichenen Verbindlichkeiten auch um die Haftpflichtversicherung.

Sieben Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartner beschrieben, dass sich infolge der Sanktion ihr Rückzug vom sozialen Leben noch verstärkt habe. Sie verließen das Haus kaum mehr. Drei von ihnen berichteten von noch stärkeren Einsparungen beim Einkauf von Lebensmitteln. Ein Interviewpartner konnte in-folge der Sanktion die von ihm bis dahin immer noch geleistete Schuldentilgung nicht fortführen. Eine Interviewpartnerin verzichtete auf einen notwendigen Arzt-besuch und damit auch auf ein notwendiges Medikament.

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Mindestens drei Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartner haben die Aus-gaben für öffentliche Verkehrsmittel eingespart, indem sie schwarzfuhren, haben also ihre Ausgaben auf illegale Weise reduziert.

3.4.3 Auswirkungen der Einkommenseinbußen beziehungsweise der Bewältigungsversuche auf die Lebenslagen der Betroffenen

Die Einkommenseinbußen hatten – in der Regel vermittelt über die Art, in der die Betroffenen die Einbußen zu bewältigen versuchen – schädigende Auswirkungen auf die Lebenslagen der Betroffenen. Das gilt vor allem, wenn die Einbußen durch eine weitere Reduktion der Ausgaben bewältigt werden mussten.

In mindestens sieben Fällen hat das Bemühen, noch weniger Geld auszuge-ben, zur Verstärkung der sozialen Isolation der Gesprächspartnerinnen und Ge-sprächspartner geführt, indem sie ihren Aktionsradius noch mehr auf die eigene Wohnung begrenzten. Vier von ihnen haben auch ihren Telefonanschluss verloren, weil sie die Telefonrechnung nicht mehr bezahlen konnten. Auf eine Gefährdung der ohnehin sehr spärlichen sozialen Beziehungen wiesen auch die vier Inter-viewpartnerinnen bzw. Interviewpartner hin, die von schweren, hauptsächlich in Schuldvorwürfen und/oder Schuldgefühlen bestehenden Belastungen ihrer Part-nerschaften90 oder – wie es bei Herrn Ü. und Frau C. der Fall war – der Beziehung zu Eltern und Geschwistern berichteten.

Herr P. und Herr S. lebten infolge der Sanktion ohne Personalausweis, weil sie das äußerst wenige Geld, das ihnen noch zur Verfügung stand, nicht für Ausweis-fotos und -gebühr ausgeben wollten und somit das gestohlene beziehungsweise abgelaufene Dokument nicht neu beantragen konnten.

Bei sechs Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartnern führten die Sankti-onen zu Schulden beim Energieversorger und/oder beim Vermieter. Bei Frau Sch. wurde der Strom tatsächlich abgestellt, was unter anderem mit sich brachte, dass sie kein warmes Wasser hatte. Zwei derjenigen, die von Freunden oder Angehöri-gen unterstützt wurden, um die Einkommenseinbuße zu bewältigen, wurden nicht durch Geschenke, sondern durch kleine, zurückzuzahlende Kredite unterstützt.

Mindestens drei Betroffene haben sich mangelhaft ernährt, wobei die 20-jäh-rige und ohnehin magere Frau C. auch explizit von Hunger sprach, den sie zeit-weise gelitten habe. Andere schädigende Auswirkungen auf die Gesundheit hatten

90 Wie im Kapitel 3.1 dargestellt, lebten nur sieben der 30 Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpart-ner zum Sanktionszeitpunkt in einer Partnerschaft.

161

die Sanktionen bei mindestens drei weiteren Gesprächspartner bzw. Gesprächs-partnern. Vergleichsweise harmlos war diese Art der Auswirkung bei Frau L., die auf ihr Asthma-Medikament verzichtete. Schwerwiegender waren die gesund-heitlichen Folgen der Sanktion bei Herrn B., dessen Existenzangst, wegen der er sich ohnehin in psychotherapeutischer Behandlung befand, durch die Sanktion weiter verstärkt wurde.

Den schwersten Schaden fügten die Sanktionen, vermittelt über die Auswir-kungen, die sie auf seine gesamte Lebenslage hatten, Herrn Ü.s Gesundheit zu. Wie in der Fallskizze ausführlich dargestellt, führten die Sanktionen dazu, dass Herr Ü. die Schuldentilgung und die Zinszahlungen, die er zuvor auch als ALG II-Bezieher noch getragen hatte, nicht mehr leisten konnte. Die Bank kündigte seinen Kredit und schickte sich an, auf die Kreditbürgschaft, die die alten und inzwischen selbst einkommensschwachen Eltern mit ihrem Haus übernommen hatten, zurückzugreifen. Die Bankenkrise im Herbst 2008 dürfte zu diesem Vor-gehen beigetragen haben. Die Zwangsversteigerung des Hauses wurde eingeleitet. Die Ereignisse bereiteten Herrn Ü. massive Schuldgefühle, auf die er nicht nur mit einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung reagierte, sondern auch mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung.

Nicht ganz so verheerend waren die Sanktionsauswirkungen bei Herrn R.. Er verlor „nur“ die eigene, angemietete Wohnung, nachdem die ARGE auch die Kosten der Unterkunft nicht mehr übernahm, und wurde obdachlos. Zum Inter-viewzeitpunkt hatte er aber glücklicherweise wieder eine Wohnung.

An dieser Stelle sei kurz auf die Auswirkungen der „sofortigen Vollziehbar-keit“ von Sanktions- und anderen Bescheiden hingewiesen. Mit § 39 SGB II hat der Gesetzgeber festgelegt, dass Widersprüche und Klagen gegen Leistungs- und Sanktionsbescheide keine aufschiebende Wirkung haben. Das heißt, die Sanktion tritt allemal zunächst in Kraft.

Gerade in einem Fall wie dem von Herrn Ü., in dem der Erfolg der anwalt-lich vertretenen Klage höchst wahrscheinlich ist, erweist sich die zerstörerische Wirkung dieser Bestimmung. Das „Recht“, das Herr Ü. vermutlich bekommen wird, wird das Unheil nicht mehr rückgängig machen können, das die Sanktion über ihn und seine Angehörigen gebracht hat.

Delinquenz als Auswirkung von SanktionenWie bereits erwähnt haben jeweils drei Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpart-ner versucht, sich auf illegale Weise ein alternatives Einkommen zu verschaffen

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beziehungsweise auf illegale Weise Ausgaben zu vermeiden, indem sie öffentliche Verkehrsmittel benützten, ohne hierfür zu zahlen.

Fünf dieser sechs Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner waren zum Interviewzeitpunkt unter 25 Jahre alt. Beim sechsten, Herrn P., ging es nur um Schwarzfahren. Er war ebenso wie Herr Q., der auch schwarzgefahren war, bis zum Interviewzeitpunkt hierbei nicht erwischt und deshalb auch nicht angezeigt worden.

Weniger Glück hatte Herr H., gegen den eine zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafe wegen Beteiligung an einem Einbruch in einen Kiosk verhängt wor-den war. In der Fallskizze ist dargestellt, wie Herr H. unter der Bedingung des völligen Entzugs der Regelleistung der Verlockung erlag, auf scheinbar ziem-lich mühelose Weise zu einem Ersatzeinkommen zu gelangen. Herr H. ist seither vorbestraft, was ihn sehr belastet. Bei den städtischen Verkehrsbetrieben war er wegen dreier Schwarzfahrten offenbar bereits registriert. Zur Anzeige kamen die Schwarzfahrten fatalerweise, als er unter Bewährung stand. Er fürchtete zum In-terviewzeitpunkt, dass dies die Strafaussetzung gefährden könnte.

Frau St. ließ sich in ihrer Not zu Diebstählen von Kleidungsstücken und einem Artikel, den sie verkaufen wollte, hinreißen. Auch sie wurde erwischt und sah zum Interviewzeitpunkt der bereits anberaumten Gerichtsverhandlung mit großer Angst vor der zu erwartenden Strafe entgegen.

Auch Frau Sch. beging Diebstähle, während sie sanktioniert war, wurde hierfür aber „nur“ mit einer Arbeitsauflage bestraft. Beim Verkauf von Rauschgift, mit dem sie ebenfalls Geld zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes verdiente, wurde sie nicht erwischt.

Die sozialrechtlichen Sanktionen erweisen sich im Fall von Herrn H., Frau St. und Frau Sch. als Bedingungen abweichenden Verhaltens im strafrechtlichen Sinne. Die Rolle sozialrechtlicher Sanktionen für die Entstehung oder Weiterent-wicklung „abweichender Karrieren“ wird in der Devianztheorie und -forschung91 bisher nicht thematisiert. Dies wird der praktischen Bedeutung dieser Rolle nicht gerecht.

3.4.4 „Erzieherischer“ Effekt der SanktionenIn diesem Kapitel geht es um die Frage, ob Sanktionen dazu führen, dass die Sanktionierten sich künftig in der behördlich erwarteten Weise verhalten. Diese

91 Wie zum Beispiel die ausführlichen Überblicke von Lamnek ²1997 oder von Dollinger/Raithel 2006 über diesen Wissenschaftszweig zeigen

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Frage beantworten zu können, setzt voraus, dass an die Sanktionierten nach der Sanktion noch einmal die gleiche oder eine gleichartige Erwartung gerichtet wurde wie die, für deren Nicht-Erfüllung sie bestraft worden waren. Diese Voraussetzung ist bei 17 Interviewpartnerinnen bzw. Interviewpartnern nicht erfüllt.

Die Labilität und Kontingenz von VerhaltenserwartungenIn vier dieser 17 Fälle lag und liegt es nicht in der Hand der Behördenmitarbeiter, die Situation wieder herzustellen, in der die Betroffenen behördliche Erwartungen nicht erfüllten. Herr B., Herr H. und Herr I. wurden sanktioniert, weil sie Jobs aufgegeben haben, durch die sie aus völlig unterschiedlichen Gründen in der spezifischen Situation, in der sie sich befanden, überfordert waren. Um feststellen zu können, ob die Sanktionen die Verhaltensdispositionen dieser Sanktionierten beeinflusst haben, müssten die drei Gesprächspartner erst wieder einen Job haben, den sie aufgeben könnten. Das war aber zum Interviewzeitpunkt nicht der Fall, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass die drei Gesprächspartner, wenn sie eine neue Stelle haben werden, sich dabei wieder in der überfordernden Situations-konstellation befinden werden, in der sie sich befanden, als sie die von ihnen ausgeübten Jobs aufgaben. Mindestens bei Herrn B., darauf hat er im Interview deutlich hingewiesen, hat die Sanktion eher bewirkt, dass er künftig Stellenange-bote kritischer prüft, bevor er sie überstürzt annimmt. Es wäre ein interessantes Forschungsvorhaben, gezielt zu untersuchen, bei wie vielen Arbeitsuchenden die Sanktionierung von Eigenkündigungen und von arbeitgeberseitigen Kündigungen, die aus behördlicher Sicht von Arbeitnehmern verschuldetet sind, die Risikobe-reitschaft bei der Annahme von Arbeitsstellen reduziert.

Auch im Fall von Herrn P. lässt sich die Situation, in der er sich pflichtwidrig verhielt, nicht durch eine behördliche Entscheidung wiederholen. Dass er noch einmal einen Arbeitsvertrag bekommt, den Herr P. schon vor Arbeitsantritt vom Arbeitgeber gekündigt glaubt, oder der tatsächlich vor Arbeitsantritt gekündigt wird, liegt nicht innerhalb des Handlungsspielraums der Behördenmitarbeiter.

In dreizehn Fällen hätten die Behördenmitarbeiter die Möglichkeit gehabt, den sanktionierten Klienten eine gleiche oder gleichartige Verpflichtung wie die, die nicht erfüllt wurde, erneut aufzuerlegen. Dies geschah jedoch – jedenfalls bis zum Interviewzeitpunkt – nicht. Frau D. und Frau Sch. wurden zwar wieder Ein-Euro-Jobs zugewiesen, nachdem sie für den Abbruch der ersten bestraft worden waren. Aber es waren in beiden Fällen Jobs mit völlig anderen Arbeitsinhalten und organisationsspezifischen Kommunikationsstilen. Für beide Frauen handelte

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es sich beim neuen Ein-Euro-Job also um eine deutlich andere Anforderung als beim vorherigen. Herrn O. und Frau W. wurden keine Ein-Euro-Jobs mehr ange-tragen, nachdem sie wegen der Ablehnung solcher Jobs bestraft worden waren; Herr O. war darüber hinaus zum Interviewzeitpunkt auch zu keinem weiteren „Bewerbungscoaching“ beordert. Herr Ö. wurde keinem Bewerbungstraining mehr zugewiesen. Frau N. sollte sich nicht mehr bei einem Zeitarbeitsunterneh-men bewerben. Von Herrn Ü. war nicht mehr verlangt worden, an solchen Tagen Informationsveranstaltungen bei einem Beschäftigungsträger zu besuchen, an denen er erwerbstätig war, und es war nicht mehr von ihm erwartet worden, Be-werbungsnachweise früher vorzulegen, als auf dem entsprechenden Formular des SGB II-Trägers angegeben war. Herr V. erhielt von der neuen Ansprechpartnerin, die zum Interviewzeitpunkt seit knapp fünf Monaten für ihn zuständig war und mit der er sich besser verständigen konnte als mit der vorherigen, keine Stellen-angebote mehr, mit denen er nicht einverstanden war. Von Herrn T. und Herrn X. wurde nicht mehr verlangt, an Ort und Stelle eine Eingliederungsvereinbarung zu unterschrieben, ohne sie zuvor zu Hause in Ruhe überdenken zu können. Herr X. berichtete allerdings, dass er hierfür jedes Mal aufs Neue im Gespräch mit den Ansprechpartner/-inne/-n kämpfen musste. Herr F. wurde nicht mehr zu einer Aus-bildung verpflichtet. Bei ihm hatte die Sanktion – ähnlich wie bei Herrn B. – eine paradoxe erzieherische Wirkung. Sie förderte seine Versagensangst und untergrub seine Bereitschaft, eine Ausbildung zu wagen.

Auch an Frau A. und Herrn Z., die beide ihre Teilnahme an wiederholten Bewerbungstrainings von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht hatten, die von den Behörden nicht erfüllt worden waren, war bis zum Interviewzeitpunkt eine gleichartige Anforderung nicht mehr gerichtet worden. Dennoch hatten die Sanktionen beziehungsweise im Fall von Herrn Z. die erfolglose Klage dagegen eine Art prophylaktisch verhaltensdisponierende Wirkung. Frau A. hatte schon im Interview darüber gesprochen, dass sie sich eine weitere Verweigerung einer Maßnahmenteilnahme aus rein finanziellen Gründen, also völlig unabhängig von ihrer Erwartung an den Nutzen der Maßnahme, nicht leisten könnte und nicht leisten würde. Herr Z. schrieb mir nach seiner Niederlage im sozialgerichtlichen Verfahren: „Künftig wahrscheinlich keine Widersprüche und kein Sozialgericht mehr. Hier haben Arbeitslose null Chancen darin.“ Auch bei ihm erfolgte die Änderung seiner Verhaltensdisposition keineswegs aus gewonnener Einsicht in die Zweckmäßigkeit der behördlichen Anforderungen. Auf diese Art der „erzie-

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herischen“ Wirkung von Sanktionen und Sanktionsdrohungen wird im Kapitel 3.4.6 zurückgekommen.

Dass Behördenmitarbeiter in zahlreichen Fällen ihren Klienten nicht mehr die Verpflichtung auferlegen, deren Verletzung sie zuvor bestraft haben, deutet darauf hin, dass sie am Sinn dieser Verpflichtungen, insbesondere an deren Zweckdien-lichkeit für die Arbeitsmarktintegration der Verpflichteten, selbst kaum glauben. Wie diffus und eher auf die Erreichung ausreichender Werte bei bestimmten Kenn-zahlen als auf die Umsetzung einer Integrationsstrategie gerichtet die Motive von Behördenmitarbeitern bei der Zuweisung ihrer Klienten zu Maßnahmen und der Auferlegung anderer Verpflichtungen häufig sind, lässt sich aus den Ergebnissen von Interviews mit ihnen92 schließen. Die auferlegten Verpflichtungen lassen in vielen Fällen keinerlei Ziel-Mittel-Rationalität erkennen. Der Fall der 59-jäh-rigen Frau W. ist ein augenfälliges Beispiel hierfür: Dass Frau W. mit ihrer für westdeutsche Frauen ihrer Generation und ihrer Schicht normalen (und staatlich geförderten) Biografie einer Mutter, Haus- und Ehefrau, deren Erwerbsarbeit nur als Zuverdienstmöglichkeit galt, in einem „normalen Betrieb“ noch existenzsi-chernde Arbeit finden könnte, das glaubt, da darf man sicher sein, auch kein SGB II-Träger.

Die Betroffenen nehmen die Unstimmigkeiten der behördlichen Anforde-rungen wahr, was zur Unterminierung ihrer Folgebereitschaft beiträgt.

Konstanz von VerhaltenserwartungenIn 13 Fällen wurden den Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern die gleichen Verpflichtungen, die sie nicht erfüllt haben, erneut auferlegt. In neun dieser 13 Fälle kamen die Betroffenen aber auch den wiederholten Anforderungen nicht nach. Frau C. erschien zu dem sie überfordernden Ein-Euro-Job auch dann nicht, nachdem sie für ihr Fernbleiben bestraft worden war. Dies war aber offenbar die Erwartung ihres persönlichen Ansprechpartners, was aus der Streichung des Arbeitslosengeldes II für weitere drei Monate geschlossen werden muss. Frau L. wurde zwar nicht derselbe Ein-Euro-Job, den sie abgebrochen hatte, erneut zugewiesen. Aber es wurde ihr wieder ein Ein-Euro-Job zugewiesen, in dem ihr besonders ausgeprägtes, weil zutiefst verletztes Bedürfnis nach Respekt und nach Rücksicht auf ihre körperlichen Behinderungen nicht befriedigt wurde. Auch Herr M. wurde anhaltend dazu verpflichtet, Ein-Euro-Jobs auszuüben. Die Gründe,

92 Ames, 2008a, Baethge-Kinsky u.a. 2007.

166

warum er die Jobs aufgab beziehungsweise verlor, waren jeweils andere. Sie folgten aus seiner Motivlage, seinen Kompetenzdefiziten und aus einem hinder-lichen Zufall, dass nämlich „der Wecker gesponnen“ hat.

Herr E. wies, so lange er mit dieser Anforderung auf sich gestellt war, auch dann keine schriftlichen Bewerbungen nach, nachdem er hierfür bestraft worden war. Schriftliche Bewerbungen legte er erst vor, seit die Mitarbeiterin des Be-schäftigungsträgers, bei dem er arbeitete, ihm hierbei half. Auf diese Hilfe war er angewiesen. Herr J. versäumte Termine im Jobcenter auch, nachdem er deswegen sanktioniert worden war. Die Sanktionen änderten nichts an seinem nachvollzieh-baren Widerwillen gegen diese Vorsprachen. Noch konsequenter verweigerte sich Herr R. trotz der massiven Sanktionen, die er deswegen erleiden musste, dem Kontakt mit dem Jobcenter und der Erfüllung seiner Erwartungen. So schlimm die Auswirkungen der Sanktionen für Herrn R., der ja – anders als zum Beispiel Frau L. – noch soziales Ansehen und materiellen Lebensstandard zu verlieren hatte, auch waren, sie minderten nicht seine sein Verhalten dominierende Angst vor der Verfügungsgewalt des SGB II-Trägers. Wahrscheinlich ist, dass die Sank-tionen diese Angst verstärkten. Herr K. verlor auch dann noch Jobs aus eigenem Verschulden, nachdem er hierfür wiederholt sanktioniert worden war. Die Sank-tionen heilten seine Alkoholkrankheit nicht, die sein jobgefährdendes Verhalten verursachte. Auch Herr Q. wurde mehrfach sanktioniert, weil er – jedenfalls aus Sicht des SGB II-Trägers – selbstverschuldet Arbeitsplätze verloren hatte. Seinen Wunsch nach interessanter Arbeit und umgänglichen Chefs, der hinter seinem die Kündigungen auslösenden Verhalten stand, verlor er durch die Sanktionen nicht. Auch bei Herrn Q. lässt sich – ähnlich wie bei Herrn B. und Herrn F. – eher eine lähmende Wirkung der Strafen erkennen. Die erste Sanktion führte dazu, dass er sich – entgegen seinen Gewohnheiten – monatelang „hängen“ ließ und sich „nicht so recht gekümmert (hat) um alles“, das heißt, auch keine Arbeit suchte.

Auch Herrn S. wurde dreimal hintereinander die gleiche Verpflichtung auf-erlegt, nämlich ins Jobcenter zu kommen, was er dreimal versäumte, und hierfür dreifach sanktioniert wurde. Allerdings lag dies bei ihm nicht an seiner gleich-bleibenden Motivlage oder gleichbleibenden Kompetenzdefiziten, sondern an der über Monate anhaltenden chaotischen Lebenslage, in der er keine eigene Wohnung hatte und seinen Aufenthalt mehrmals wechselte, so dass ihn die Behördenpost nicht oder nicht rechtzeitig erreichte. Seine Motivlage stand einer Vorsprache beim SGB II-Träger kaum entgegen.

167

Drei oder vier der 13 Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner erfüllten nach der Sanktion die Verhaltenserwartungen, für deren Nicht-Erfüllung sie be-straft worden waren. Zu ihnen gehört Herr Y., der wegen eines Terminversäum-nisses sanktioniert worden war, aber weitere Termine wahrnahm. Allerdings lässt sich auch daraus nicht auf einen „erzieherischen“ Effekt der Sanktion schließen. Denn auch bei Herrn Y. folgte das Terminversäumnis daraus, dass er die Behörden-post nicht bekam, nicht aus fehlender Bereitschaft, im Jobcenter vorzusprechen. Bei Herrn Y. war die Nicht-Erreichbarkeit lediglich von deutlich kürzerer Dauer als bei Herrn S..

In zwei, vielleicht auch in drei Fällen hatten die Sanktionen offenbar eine verhaltenssteuernde Wirkung auf die Betroffenen. Frau St. übte zum Interview-zeitpunkt den Ein-Euro-Job aus, den sie zuvor nicht bekommen hatte, weil sie Vorstellungstermine vergessen hatte oder nicht zum anberaumten Zeitpunkt ein-getroffen war. Herr G. kündigte im Interview an, den inzwischen neu anberaum-ten Termin beim psychologischen Dienst wahrzunehmen. Allerdings machte er besonders deutlich, dass Strafen bei ihm im rein behavioristischen Sinne wirken: „Ich geh einfach da hin, mach das ganz kurz und dann geh ich und dann hab ich das hinter mir. […] Ich mach immer meine Sachen, was ich machen muss, und was ich nicht machen muss, mach ich nicht.“ Das klang nicht danach, dass er durch die Strafe zur Einsicht in was auch immer gekommen wäre. Bei Herrn U. war zum Interviewzeitpunkt offen, welchen Einfluss die Sanktion, die damals aktuell wirksam war, auf ihn haben würde, ob er also künftig die vorgeschriebene Anzahl von Bewerbungen rechtzeitig vorlegen würde. Mein Eindruck war jedoch, dass er das tun würde, um weitere Sanktionen zu vermeiden. Dass seine beiden kleinen Töchter keine Not leiden müssen, war ihm ein großes Anliegen.

3.4.5 Resümee zu den Auswirkungen von Sanktionen auf die Lebenslage und die Verhaltensdispositionen der Sanktionierten

Die Möglichkeiten der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, die Einbu-ßen an Leistungen zur Existenzsicherung durch alternative Einkommen oder Subsistenzmittel zu kompensieren, waren sehr begrenzt. Nur sechs beziehungs-weise drei von ihnen konnten auf die finanzielle oder in Naturalien bestehende Unterstützung von Angehörigen beziehungsweise Freunden oder Freundinnen zurückgreifen. Jeweils drei Gesprächspartner hatten die Möglichkeit, sich durch geringfügige so genannte Schwarzarbeit etwas zu verdienen, oder auf Ersparnisse

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zurückzugreifen. Drei andere Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner, die alle jünger als 25 Jahre waren, erlagen der Versuchung, sich durch Diebstähle beziehungsweise die Beteiligung an einem Einbruch ein alternatives Einkommen zu verschaffen.

Überwiegend haben die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner die Ein-kommenseinbußen durch eine weitere Reduktion ihrer Ausgaben kompensiert. Sie gingen noch seltener aus dem Haus als sonst, kauften noch weniger oder noch schlechtere Lebensmittel als gewöhnlich, sie zahlten Telefon-, Strom-, andere Rechnungen und gegebenenfalls den Eigenanteil an der Miete nicht und/oder fuhren schwarz.

Diese und andere Arten der Ausgabenreduktion führten dazu, dass sich die Betreffenden sozial noch stärker isolierten, als sie es ohnehin waren, dass sie sich verschuldeten und mangelhaft ernährten.

In einem Fall führten die Auswirkungen der Sanktionen auf die Lebenssitu-ation des Gesprächspartners zu einer sehr schwerwiegenden und langwierigen psychosomatischen Erkrankung; in einem anderen Fall führte die Sanktion zur Obdachlosigkeit.

Auch die „erzieherischen“ Wirkungen von Sanktionen auf das Verhalten und die Verhaltensdispositionen der Sanktionierten entsprechen kaum den Annah-men „aktivierender“ Arbeitsmarktpolitik.

Die Verhaltensdispositionen von vier, höchstens fünf Interviewpartnerinnen bzw. Inteviewpartnern scheinen durch die Sanktionen in der vom SGB II-Träger intendierten Richtung beeinflusst worden zu sein. Aber nur in einem Fall war die Änderung der Verhaltensdisposition mit Einverständnis mit der behördlichen Anforderung verbunden. Frau St. hatte keine Einwände gegen den Ein-Euro-Job, den sie inzwischen ausübte. In den anderen Fällen war die von den Gesprächs-partnerinnen und Gesprächspartnern bekundete, jedoch noch nicht praktisch um-gesetzte Änderung ihrer Verhaltensdisposition ausschließlich durch das Interesse, künftige Sanktionen zu vermeiden, motiviert, keineswegs von der Einsicht in die Recht- und/oder Zweckmäßigkeit der behördlichen Anforderung.

Dem einen Fall, in dem eine dem Aktivierungspostulat entsprechende verhal-tenssteuernde Wirkung einer Sanktion erkennbar ist, stehen mindestens drei Fälle gegenüber, in denen die Sanktionen offenbar eher lähmend gewirkt haben und die Risikobereitschaft der Betroffenen, sich auf Arbeits- oder Ausbildungsangebote einzulassen, reduziert haben.

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In der weit überwiegenden Zahl der Fälle ist eine verhaltenssteuernde Wir-kung von Sanktionen auf die Sanktionierten nicht erfolgt oder nicht erkennbar. In einigen Fällen war eine solche Wirkung schon deshalb nicht möglich, weil die sanktionierten Verhaltensweisen nicht Ausdruck der Weigerung oder der anhal-tenden Unfähigkeit waren, die behördlichen Anforderungen zu erfüllen, sondern aus einer akzidentiellen Situationskonstellation folgten. In den meisten Fällen hatten die Sanktionen deshalb keine verhaltenssteuernde Wirkung, weil das sank-tionierte Verhalten aus Motiven und/oder Kompetenzdefiziten folgte, die offenbar stärker waren als die Strafangst der Betroffenen. In manchen Fällen scheinen die Behördenmitarbeiter vor der Stärke dieser Motive und/oder Kompetenzdefizite resigniert zu haben, so dass sie ihr Anforderungsverhalten änderten. Jedenfalls wurde an die Sanktionierten keine gleichartige Erwartung mehr gerichtet wie die, für deren Nicht-Erfüllung sie zuvor bestraft worden waren.

In anderen Fällen erduldeten die Sanktionierten die Wiederholung von Sank-tionen, weil die Überforderung durch bestimmte Verhaltenserwartungen fortbe-stand.

3.4.6 Die Bestimmungen des § 31 SGB II als ständige Bedrohung und Entmündigung aller ALG II-Beziehenden

Während sich – vom Gesetzgeber intendierte - Auswirkungen von Sanktionen auf die Verhaltensdispositionen und das Verhalten der Sanktionierten also nur in sehr wenigen Fällen und in diesen wenigen Fällen hauptsächlich als Verstärkung resignativer Gefügigkeit feststellen lassen, bestehen kaum Zweifel daran, dass die allgegenwärtigen, mit jedem behördlichen Schreiben transportierten Sanktionsdro-hungen das Verhalten der nicht sanktionierten ALG II-Bezieherinnen und -Bezie-her stark beeinflussen. Die Sanktionsdrohungen verstärken die Ohnmachtsgefühle und Existenzängste, unter der die meisten Erwerbslosen ohnehin leiden, massiv. Sie machen die Menschen willfährig, nicht aktiv und handlungsfähig.

Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle konstatiert: „Die Hauptwirkung der Sanktionen besteht jedoch vermutlich darin, eine allgemeine Atmosphäre des Drucks zu erzeugen, in der die Konzessionsbereitschaft von Arbeitslosen gegen-über potenziellen Arbeitgebern erhöht wird.“93

Ob es zur – in ihren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und das Sozial-versicherungssystem sehr fragwürdigen – Erhöhung der Konzessionsbereitschaft

93 Institut für Wirtschaftsforschung Halle 2009, S. 5.

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von Erwerbslosen gegenüber potentiellen Arbeitgebern tatsächlich der Sankti-onsdrohungen bedarf, scheint mir zweifelhaft. Da tun die völlig unzureichenden Leistungen des SGB II zur Sicherung von Lebensunterhalt, Wohnung und Einkom-men im Alter einerseits und die hohe normative Erwerbsorientierung der meisten Erwerbslosen94 andererseits schon ihr Werk.

Mehr als gegenüber potentiellen Arbeitgebern, von denen es zu wenige gibt, machen die Sanktionsdrohungen die Bedrohten gefügig gegenüber den „Akti-vierungsmaßnahmen“ der SGB II-Träger. Wegen der Sanktionsdrohungen sind Erwerbs lose genötigt, ihr Urteilsvermögen in Bezug auf die Qualität und den Nutzen solcher Maßnahmen nicht etwa zu entwickeln, sondern außer Kraft zu setzen. Damit bewirken Sanktionen das Gegenteil einer Stärkung individueller Autonomie, von der Carsten G. Ullrich annimmt, sie gelte auch bei „[…] Befür-wortern aktivierender Sozialpolitikkonzepte im Allgemeinen als zentrales Güte-kriterium einer erfolgreichen Sozialpolitik […]“95. Die Gefügigkeit der Erwerbs-losen gegenüber den Aktivierungsmaßnahmen scheint dem aktivierenden Staat, zu dessen Merkmalen beschäftigungspolitische Passivität und große Sparsamkeit bei der Förderung zukunftsorientierter beruflicher Bildung der Erwerbslosen gehört, aber offenbar notwendig, um die Aktivierungsfassade wenig stens durch monatlich ausgewiesene „Aktivierungsanteile“ und „Aktivierungsquoten“ in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit aufrecht erhalten zu können. Mit den Sanktions-drohungen gegenüber Erwerbslosen hat sich der aktivierende Staat bereits stark in Richtung eines „totalitären Aktivierungsstaates“96 fortentwickelt. Dass soziale Kontrolle, die von der Arbeitsverwaltung ausgeübt wird, tatsächlich „[…]heut-zutage nicht […] primär autoritär“97 erfolgt, wie Olaf Behrend meint, entspricht nicht der Wahrnehmung der Kontrollierten.

94 Bescherer u.a. 2008, S. 24.95 Ullrich 2004, S. 145.96 Ullrich 2004, S. 156.97 Behrend 2008, S.16.

171

4 Fazit

In Verhaltensweisen, die nach § 31 SGB sanktioniert werden, drückt sich nicht mangelnde Bereitschaft aus, durch Erwerbsarbeit die eigene Existenz zu sichern. Um die Ursachen sanktionierten Verhaltens zu erschließen, ist es notwendig, ei-nerseits die jeweils konkreten Anforderungen, die durch das Verhalten nicht erfüllt wurden, andererseits die Motive der Handelnden in ihrer Differenziertheit und ihre Handlungsmöglichkeiten zu analysieren. Eine solche zweiseitige Analyse zeigt, dass die vielfältigen Motive, die behindernden Lebensumstände und/oder die Kompetenzdefizite, die der Erfüllung bestimmter Anforderungen entgegen-stehen, sich nicht in Begriffen wie „Inaktivität“, mangelnde Eigenverantwortung oder mangelnde Arbeitsbereitschaft erfassen lassen.

Selbst in den wenigen Fällen, in denen das - in der Regel nicht monokausal erklärbare - sanktionierte Verhalten überwiegend auf das Fehlen einer Motivation, die behördlichen Erwartungen zu erfüllen, zurückzuführen ist, drückt sich darin nicht mangelnde Bereitschaft zur Erwerbsarbeit aus, sondern aus Erfahrung re-sultierende fehlende Hoffnung, dass die Erfüllung der behördlichen Erwartungen zur Verbesserung der eigenen Arbeitsmarktchancen beitragen könnte.

In der Art der behördlichen Erwartungen, die nicht erfüllt wurden, und in der Bewertung des erwartungswidrigen Verhaltens offenbaren sich vielfältige Formen von Kommunikationsstörungen zwischen Klienten und Behördenmitarbeitern. In zahlreichen Fällen haben die Behördenmitarbeitern vermutlich nur eine vage Vorstellung von den konkreten Anforderungen, vor die sich die Klienten durch die ihnen auferlegten Verpflichtungen gestellt sahen. Gleichzeitig haben die Mit-arbeiter und Mitarbeiterinnen zu wenig Zeit, häufig nicht die Qualifikation und insbesondere nicht den Freiraum, um in der Kommunikation mit den Klienten deren Motive, Probleme und Lebensumstände kennenzulernen und zu berück-sichtigen. Dazu stehen sie selbst vor viel zu vielen auf andere Zwecke und Ziele gerichteten behördlichen und politischen Anforderungen.

Sanktionen nach § 31 SGB II, die ja immer in einer weiteren Kürzung oder gar im Entzug der ohnehin spärlichen materiellen Existenzsicherung bestehen, haben vielfältige negative Auswirkungen auf die Lebenslage der Betroffenen. Unter an-derem verstärken sie häufig sozialen Rückzug und Isolation. Im Zusammenwirken mit weiteren ungünstigen Situationskonstellationen, die bei der Verhängung von Sanktionen regelmäßig nicht berücksichtigt werden, können Sanktionen auch in

172

die Obdachlosigkeit, zu schwerwiegenden psychosomatischen Erkrankungen oder zu strafrechtlich sanktionierten Versuchen führen, alternative Einkommensquellen zu erschließen.

In den meisten untersuchten Fällen bewirkten die Sanktionen nicht, dass sich die Sanktionierten künftig so verhielten, wie es zuvor von ihnen erwartet wurde. In einigen Fällen war eine solche Wirkung schon deshalb nicht möglich, weil die sanktionierten Verhaltensweisen aus einer akzidentiellen Situationskonstellation folgten, die mit großer Wahrscheinlich so nicht mehr eintritt. Überwiegend hatten die Sanktionen deshalb keine verhaltenssteuernde Wirkung, weil das sanktionierte Verhalten aus Motiven und/oder Kompetenzdefiziten folgte, die offenbar stärker waren als die Strafangst der Betroffenen. In einigen Fällen haben die Behör-denmitarbeiter darauf verzichtet, den Sanktionierten erneut eine Verpflichtung aufzuerlegen, die der nicht erfüllten Verpflichtung entsprochen hätte. In anderen Fällen erduldeten die Sanktionierten die Wiederholung von Sanktionen, weil die Überforderung durch bestimmte Verhaltenserwartungen fortbestand.

In einigen Fällen hatten die Sanktionen das Gegenteil einer aktivierenden, nämlich eine lähmende Wirkung auf das Verhalten der Betroffenen. In wenigen Fällen erhöhten die Sanktionen die resignative Anpassungsbereitschaft an behörd-liche Erwartungen, die jedoch keine Hoffnungen auf verbesserte Arbeitsmarkt-chancen wecken.

173

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178

179

6 Anhang:

6.1 § 31 SGB II im Wortlaut

§ 31 Absenkung und Wegfall des Arbeitslosengeldes II und des befristeten Zu-schlages

(1) 1Das Arbeitslosengeld II wird unter Wegfall des Zuschlags nach § 24 in einer ersten Stufe um 30 vom Hundert der für den erwerbsfähigen Hilfebedürf-tigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung abgesenkt, wenn 1. der erwerbsfähige Hilfebedürftige sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen

weigert, a) eine ihm angebotene Eingliederungsvereinbarung abzuschließen,b) in der Eingliederungsvereinbarung festgelegte Pflichten zu erfüllen, ins-

besondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen,c) eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit, eine mit einem

Beschäftigungszuschuss nach § 16a geförderte Arbeit, ein zumutbares An-gebot nach § 15a oder eine sonstige in der Eingliederungsvereinbarung vereinbarte Maßnahme aufzunehmen oder fortzuführen, oder

d) zumutbare Arbeit nach § 16 Abs. 3 Satz 2 auszuführen,2. der erwerbsfähige Hilfebedürftige trotz Belehrung über die Rechtsfolgen eine

zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit abgebrochen oder Anlass für den Abbruch gegeben hat.

2Dies gilt nicht, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige einen wichtigen Grund für sein Verhalten nachweist.

(2) Kommt der erwerbsfähige Hilfebedürftige trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen einer Aufforderung des zuständigen Trägers, sich bei ihr zu melden oder bei einem ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin zu erscheinen, nicht nach und weist er keinen wichtigen Grund für sein Verhalten nach, wird das Arbeitslosengeld II unter Wegfall des Zuschlags nach § 24 in einer ersten Stufe um 10 vom Hundert der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung abgesenkt.

(3) 1Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung nach Absatz 1 wird das Arbeitslosengeld II um 60 vom Hundert der für den erwerbsfähigen Hilfebe-dürftigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung gemindert. 2Bei jeder weiteren

180

wiederholten Pflichtverletzung nach Absatz 1 wird das Arbeitslosengeld II um 100 vom Hundert gemindert. 3Bei wiederholter Pflichtverletzung nach Absatz 2 wird das Arbeitslosengeld II um den Vomhundertsatz gemindert, der sich aus der Summe des in Absatz 2 genannten Vomhundertsatzes und dem der jeweils vorangegangenen Absenkung nach Absatz 2 zugrunde liegenden Vomhundertsatz ergibt. 4Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn der Beginn des vorangegangenen Sanktionszeitraums länger als ein Jahr zurückliegt. 5Bei Minde-rung des Arbeitslosengeldes II nach Satz 2 kann der Träger unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls die Minderung auf 60 vom Hundert der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung begrenz-en, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige sich nachträglich bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen. 6Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 vom Hundert der nach § 20 maßgebenden Regelleistung kann der zuständige Träger in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. 7Der zuständige Träger soll Leistungen nach Satz 6 erbringen, wenn der Hilfebedürftige mit minderjährigen Kindern in Bedarfs-gemeinschaft lebt.

(4) Die Absätze 1 bis 3 gelten entsprechend 1. bei einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, der nach Vollendung des 18. Le-

bensjahres sein Einkommen oder Vermögen in der Absicht vermindert hat, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung des Arbeitslosengeldes II herbeizuführen,

2. bei einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, der trotz Belehrung über die Rechtsfolgen sein unwirtschaftliches Verhalten fortsetzt,

3. bei einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, a) dessen Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht oder erloschen ist, weil die

Agentur für Arbeit den Eintritt einer Sperrzeit oder das Erlöschen des An-spruchs nach den Vorschriften des Dritten Buches festgestellt hat oder

b) der die in dem Dritten Buch genannten Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit erfüllt, die das Ruhen oder Erlöschen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld begründen.

(5) 1Bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die das 15. Lebensjahr, jedoch noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, wird das Arbeitslosengeld II unter den in den Absätzen 1 und 4 genannten Voraussetzungen auf die Leistungen nach § 22 beschränkt; die nach § 22 Abs. 1 angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung sollen an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte gezahlt wer-

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den. 2Bei wiederholter Pflichtverletzung nach Absatz 1 oder 4 wird das Arbeits-losengeld II um 100 vom Hundert gemindert. 3Bei wiederholter Pflichtverletzung nach Absatz 2 wird das Arbeitslosengeld II um den Vomhundertsatz gemindert, der sich aus der Summe des in Absatz 2 genannten Vomhundertsatzes und dem der jeweils vorangegangenen Absenkung nach Absatz 2 zugrunde liegenden Vom-hundertsatz ergibt. 4Absatz 3 Satz 4 gilt entsprechend. 5Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II nach Satz 2 kann der Träger unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls Leistungen für Unterkunft und Heizung erbringen, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige sich nachträglich bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen. 6Die Agentur für Arbeit kann Leistungen nach Absatz 3 Satz 6 an den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen erbringen.

(6) 1Absenkung und Wegfall treten mit Wirkung des Kalendermonats ein, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes, der die Absenkung oder den Wegfall der Leistung feststellt, folgt; in den Fällen von Absatz 4 Nr. 3 Buchstabe a treten Absenkung und Wegfall mit Beginn der Sperrzeit oder dem Erlöschen des Anspruchs nach dem Dritten Buch ein. 2Absenkung und Wegfall dauern drei Mo-nate. 3Bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die das 15. Lebensjahr, jedoch noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, kann der Träger die Absenkung und den Wegfall der Regelleistung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auf sechs Wochen verkürzen. 4Während der Absenkung oder des Wegfalls der Leistung besteht kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des Zwölften Buches.

6.2 Interviewleitfaden

1. Angaben zur Person (Alter, Wohnort, Staatsangehörigkeit, Familien-/Wohn-situation) und zum für die Sanktion zuständigen SGB II-Träger?

2. Für welche Unterlassung(en) bzw. Handlung(en) sieht sich der/die Gesprächspartner/-in bestraft?

3. Wann, in welcher Höhe und für wie lange erfolgte(n) die Leistungskür-zung(en)?

4. Wie lange kennt/kannte der/die Gesprächspartner/-in den/die sanktionierende/n pAp schon? Wie viele persönliche Gespräche haben/hatten vor der Sanktion stattgefunden?

182

5. Wie hat/hatte sich der/die Gesprächspartner/-in in den der Sanktion vorange-gangenen Gesprächen gefühlt?

6. Wie hat der/die Gesprächspartner/-in von der „Verpflichtung“, für deren Nicht-Erfüllung er bestraft wurde, erfahren?

7. Wie hat der/die Gesprächspartner/-in die Anhörung (nach § 31 Abs. 1 Satz 2) erlebt?

8. Worin sieht der/die Gesprächspartner/-in die Gründe dafür, dass er/sie die an ihn/sie gerichteten Erwartungen nicht erfüllen konnte/wollte?

9. Hat der/die Gesprächspartner/-in versucht, sich gegen die Sanktion zu weh-ren?

10. Wurde dem/der Gesprächspartner/-in nach der Sanktion noch mal eine ähn-liche Verpflichtung auferlegt wie die, der er/sie nicht nachgekommen ist? Wie ist der/die Gesprächspartner/-in damit umgegangen?

11. Wie sieht der/die Gesprächspartner/-in seine/ihre berufliche Situation? (Schul-bildung, Berufsausbildung, berufliche Erfahrungen und Brüche, Hindernisse seiner/ihrer „Beschäftigungsfähigkeit“)

12. Welche Förderung seiner/ihrer beruflichen Chancen würde der/die Gesprächs-partner/-in sich wünschen?

13. Hatte der/die Gesprächspartner/-in in der sanktionsträchtigen Situation eine/n Gesprächspartner, mit dem er/sie sich beraten konnte? Wenn ja, wer war der Gesprächspartner? Worin bestand die Beratung?

14. Waren ihm/ihr die in § 31 SGB II vorgesehenen Konsequenzen seines/ihres Verhaltens bewusst?

15. Was hat der/die Gesprächspartner/-in getan/was plant der/die Gesprächspartner/-in, um die Kürzung oder Streichung der Leistung zu kompensieren?

16. Was möchte der/die Gesprächspartner/-in am Ende des Gesprächs noch sagen?

6.3 Auswertungsraster

1. aktuelle Lebenssituation: •Alter, •Wohnsituation, •Partnerschaft/Kinder, •bisherigeDauerdesALGII-Bezugs,

183

•weitereInformationenzuraktuellenLebenssituation2. Lebensgeschichte: •woundbeiwemaufgewachsen, •Schule, •Ausbildung(en), •Berufstätigkeiten, •ZeitenderArbeitslosigkeit, •weitereInformationenzurLebensgeschichte3. aktuelle soziale Beziehungen: •BeziehungenzurHerkunftsfamilie, •BeziehungenzuFreundenundBekannten, •KontaktzuErwerbslosengruppen/-beratungsstellen •weitereInformationenzudenaktuellensozialenBeziehungen4. Motivlage, allgemein: •Wünsche,Interessen, •QuellendesSelbstwertgefühls, •Kränkungen,Ängste, •weitereInformationenzurallgemeinenMotivlage5, Motivlage, beruflich •beruflicheWünscheundInteressen, •beruflicheQuellendesSelbstwertgefühls, •inAusbildungen/BerufstätigkeitenerfahreneKränkungen, •inAusbildungen/BerufstätigkeitenerworbeneVersagensängste, •FörderungswünscheanSGBII-Träger, •weitereInformationenzurberuflichenMotivlage6. Interaktion mit/Wahrnehmung von SGB II-Träger •IntensitätundArtdesKontaktes/vonKontaktversuchen, •wiefühltsichGPinderBehördebehandelt, •ProblemeinleistungsrechtlichenAngelegenheiten, •weitereInformationenzurInteraktionmit/Wahrnehmungvon

SGB II-Träger7. Interaktion mit/Wahrnehmung von pAp/Arbeitsvermittler •KontinuitätoderWechselvonpAp/AV •IntensitätundArtdesKontaktes •wiefühltsichGPvonpAp/AVbehandelt, •AnhörungvorSanktionimpersönlichenGesprächerfolgt?

184

•weitereInformationenzurInteraktionmit/WahrnehmungvonpAp/AV8. nicht erfüllte Anforderung •offiziellerSanktionsanlass, •fürGPbelastendeoderunerträglicheAspektederkonkretenAnforderung, •weitereInformationenzurnichterfülltenAnforderung,9. Interaktion mit/Wahrnehmung von für Sanktionsursache relevantem Be-

schäftigungs-/Maßnahmeträger/Arbeitgeber •vorwelcheAnforderungengestellt, •wiebehandeltgefühlt, •weitereInformationenzurInteraktionmit/WahrnehmungvonBT/MT/AG10. Antizipation der Sanktion?11. Versuch der Gegenwehr? •Widersprucheingelegt? •Widersprucherfolgreich/erfolglos? •Klageeingereicht/EinstweiligeAnordnungbeantragt? •Klage/Antragerfolgreich/erfolglos?12. Sanktionshöhe, -bewältigung und –auswirkung •Sanktionshöhe, •materielleUnterstützungdurchweninwelcherForm, •VerzichtaufwelcheAusgaben, •ArtenderalternativenEinkommens-oderBargeldbeschaffung, •Zahlungsrückständeentstanden? •sonstigeSanktionsauswirkungen, •künftigeErfüllunggleichartigerAnforderungen? •BereitschaftzurkünftigenErfüllunggleichartigerAnforderungen? •sonstigeInformationenzuSanktionshöhe,-bewältigung,-auswirkung13. für Forschungsfrage belanglose Gesprächsabschnitte

185

edition der Hans-Böckler-StiftungBisher erschienene Reihentitel ab Band 210

Bestellnr. ISBN Preis / € Hermann Groß

Betriebs- und Arbeitszeitmanagement in tarif- gebundenen und nicht tarifgebundenen Betrieben 13210 978-3-86593-091-0 10,00

Thorsten Ludwig, Jochen Tholen

Schiffbau in Europa 13211 978-3-86593-092-1 30,00 Stephan Ricken

Verbriefung von Krediten und Forderungen in Deutschland 13213 978-3-86593-094-1 16,00

Judith Aust, Volker Baethge-Kinsky, Till Müller-Schoell, Alexandra Wagner (Hrsg.)

Über Hartz hinaus 13214 978-3-86593-096-5 25,00 Oliver Pfirrmann

Stand und Perspektiven der Beschäftigung in der Nanotechnologie in Deutschland 13215 978-3-86593-097-2 10,00

Ulrich Zachert

Verfahren und Kosten von Betriebsverlagerungen in ausgewählten Europäischen Ländern 13216 978-3-86593-098-9 10,00

Hans-Joachim Voth

Transparency and Fairness in The European Capital Market 13217 978-3-86593-099-6 12,00

Klaus Maack, Judith Beile, Stefan Schott, Eckhard Voß Zukunft der Süßwarenindustrie 13218 978-3-86593-100-9 15,00 Wolfgang Schroeder, Dorothea Keudel

Strategische Akteure in drei Welten. Die deutschen Gewerkschaften im Spiegel der neueren Forschung 13219 978-3-86593-107-8 12,00

Ralf-Peter Hayen, Manuela Maschke (Hsg.)

Boombranche Zeitarbeit – Neue Herausforderungen für betriebliche Akteure 13220 978-3-86593-106-1 10,00

Peter Thomas Ein Bündnis für Arbeit und Umwelt zur integralen energetischen Gebäudemodernisierung 13221 978-3-86593-108-5 15,00 Wolfgang Schroeder Zur Reform der sozialen Selbstverwaltung in der Gesetzlichen Krankenversicherung – Kasseler Konzept 13222 978-3-86593-109-2 12,00 Rolf Dobischat, Marcell Fischell, Anna Rosendahl Auswirkungen der Studienreform durch die Einführung des Bachelorabschlusses auf das Berufsbildungssystems 13223 978-3-86593-110-8 15,00

186

Lutz Bellmann, Alexander Kühl Expansion der Leiharbeit Matthias Kemm, Christian Sandig, Judith Schuberth Fallstudien zu Leiharbeit in deutschen Betrieben 13224 978-3-86593-113-9 20,00 Henry Schäfer, Beate Frank Derivate Finanzinstrumente im Jahresabschluss nach HGB und IFRS 13225 978-3-86593-114-6 18,00 Tobias Wolters Leiharbeit – Arbeitnehmer-Überlassungsgesetz (AÜG) 13226 978-3-86593-110-8 15,00 Klaus Löbbe Die Chemiefaserindustrie am Standort Deutschland 13227 978-3-86593-116-0 30,00 Siegfried Roth Innovationsfähigkeit im globalen Hyperwettbewerb – Zum Bedarf strategischer Neuausrichtung der Automobilzulieferindustrie 13229 978-3-86593-118-4 18,00 Hans-Erich Müller Autozulieferer: Partner auch in der Krise? 13230 978-3-86593-120-7 10,00 Judith Beile, Ina Drescher-Bonny, Klaus Maack Zukunft des Backgewerbes 13231 978-3-86593-121-4 15,00 Ulrich Zachert Demografischer Wandel und Beschäftigungssicherung im Betrieb und Unternehmen 13232 978-3-86593-122-1 12,00 Gerd Busse, Hartmut Seifert Tarifliche und betriebliche Regelungen zur beruflichen Weiterbildung 13233 978-3-86593-123-8 15,00 Wolfgang Böttcher, Heinz-Hermann Krüger Evaluation der Qualität der Promotionskollegs der Hans-Böckler-Stiftung 13234 978-3-86593-124-5 25,00 Winfried Heidemann, Michaela Kuhnhenne (Hrsg.) Zukunft der Berufsausbildung 13235 978-3-86593-125-2 18,00 Werner Voß, Norbert in der Weide Beschäftigungsentwicklung der DAX-30- Unternehmen in den Jahren 2000 – 2006 13236 978-3-86593-126-9 22,00 Markus Sendel-Müller Aktienrückkäufe und Effizienz der Aufsichtsratsarbeit 13237 978-3-86593-128-3 29,00 Svenja Pfahl, Stefan Reuyß Das neue Elterngeld 13239 978-3-86593-132-0 28,00

Bestellnr. ISBN Preis / €

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Setzkasten GmbHKreuzbergstraße 5640489 DüsseldorfTelefax 0211-408 00 90 40E-Mail [email protected]

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Über die Hans-Böckler-StiftungDie Hans-Böckler-Stiftung ist das Mitbestimmungs-, Forschungs- undStudienförderungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Gegründet wurde sie1977 aus der Stiftung Mitbestimmung und der Hans-Böckler-Gesellschaft. DieStiftung wirbt für Mitbestimmung als Gestaltungsprinzip einer demokratischenGesellschaft und setzt sich dafür ein, die Möglichkeiten der Mitbestimmung zu erwei-tern.

Mitbestimmungsförderung und -beratungDie Stiftung informiert und berät Mitglieder von Betriebs- und Personalräten sowieVertreterinnen und Vertreter von Beschäftigten in Aufsichtsräten. Diese können sichmit Fragen zu Wirtschaft und Recht, Personal- und Sozialwesen oder Aus- undWeiterbildung an die Stiftung wenden. Die Expertinnen und Experten beraten auch,wenn es um neue Techniken oder den betrieblichen Arbeits- und Umweltschutz geht.

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI)Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung forscht zu Themen, die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vonBedeutung sind. Globalisierung, Beschäftigung und institutioneller Wandel, Arbeit,Verteilung und soziale Sicherung sowie Arbeitsbeziehungen und Tarifpolitik sind dieSchwerpunkte. Das WSI-Tarifarchiv bietet umfangreiche Dokumentationen und fun-dierte Auswertungen zu allen Aspekten der Tarifpolitik.

Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)Das Ziel des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in derHans-Böckler-Stiftung ist es, gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge zu erforschenund für die wirtschaftspolitische Beratung einzusetzen. Daneben stellt das IMK aufder Basis seiner Forschungs- und Beratungsarbeiten regelmäßigKonjunkturprognosen vor.

ForschungsförderungDie Stiftung vergibt Forschungsaufträge zu Mitbestimmung, Strukturpolitik,Arbeitsgesellschaft, Öffentlicher Sektor und Sozialstaat. Im Mittelpunkt stehenThemen, die für Beschäftigte von Interesse sind.

StudienförderungAls zweitgrößtes Studienförderungswerk der Bundesrepublik trägt die Stiftung dazubei, soziale Ungleichheit im Bildungswesen zu überwinden. Sie fördert gewerkschaft-lich und gesellschaftspolitisch engagierte Studierende und Promovierende mitStipendien, Bildungsangeboten und der Vermittlung von Praktika. Insbesondereunterstützt sie Absolventinnen und Absolventen des zweiten Bildungsweges.

ÖffentlichkeitsarbeitMit dem 14tägig erscheinenden Infodienst „Böckler Impuls“ begleitet die Stiftung dieaktuellen politischen Debatten in den Themenfeldern Arbeit, Wirtschaft und Soziales.Das Magazin „Mitbestimmung“ und die „WSI-Mitteilungen“ informieren monatlichüber Themen aus Arbeitswelt und Wissenschaft. Mit der Homepagewww.boeckler.de bietet die Stiftung einen schnellen Zugang zu ihrenVeranstaltungen, Publikationen, Beratungsangeboten und Forschungsergebnissen.

Hans-Böckler-StiftungHans-Böckler-Straße 39 Telefon: 02 11/77 78-040476 Düsseldorf Telefax: 02 11/77 78-225

� www.boeckler.de

187239139

Über die Hans-Böckler-StiftungDie Hans-Böckler-Stiftung ist das Mitbestimmungs-, Forschungs- undStudienförderungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Gegründet wurde sie1977 aus der Stiftung Mitbestimmung und der Hans-Böckler-Gesellschaft. DieStiftung wirbt für Mitbestimmung als Gestaltungsprinzip einer demokratischenGesellschaft und setzt sich dafür ein, die Möglichkeiten der Mitbestimmung zu erwei-tern.

Mitbestimmungsförderung und -beratungDie Stiftung informiert und berät Mitglieder von Betriebs- und Personalräten sowieVertreterinnen und Vertreter von Beschäftigten in Aufsichtsräten. Diese können sichmit Fragen zu Wirtschaft und Recht, Personal- und Sozialwesen oder Aus- undWeiterbildung an die Stiftung wenden. Die Expertinnen und Experten beraten auch,wenn es um neue Techniken oder den betrieblichen Arbeits- und Umweltschutz geht.

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI)Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung forscht zu Themen, die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vonBedeutung sind. Globalisierung, Beschäftigung und institutioneller Wandel, Arbeit,Verteilung und soziale Sicherung sowie Arbeitsbeziehungen und Tarifpolitik sind dieSchwerpunkte. Das WSI-Tarifarchiv bietet umfangreiche Dokumentationen und fun-dierte Auswertungen zu allen Aspekten der Tarifpolitik.

Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)Das Ziel des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in derHans-Böckler-Stiftung ist es, gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge zu erforschenund für die wirtschaftspolitische Beratung einzusetzen. Daneben stellt das IMK aufder Basis seiner Forschungs- und Beratungsarbeiten regelmäßigKonjunkturprognosen vor.

ForschungsförderungDie Stiftung vergibt Forschungsaufträge zu Mitbestimmung, Strukturpolitik,Arbeitsgesellschaft, Öffentlicher Sektor und Sozialstaat. Im Mittelpunkt stehenThemen, die für Beschäftigte von Interesse sind.

StudienförderungAls zweitgrößtes Studienförderungswerk der Bundesrepublik trägt die Stiftung dazubei, soziale Ungleichheit im Bildungswesen zu überwinden. Sie fördert gewerkschaft-lich und gesellschaftspolitisch engagierte Studierende und Promovierende mitStipendien, Bildungsangeboten und der Vermittlung von Praktika. Insbesondereunterstützt sie Absolventinnen und Absolventen des zweiten Bildungsweges.

ÖffentlichkeitsarbeitMit dem 14tägig erscheinenden Infodienst „Böckler Impuls“ begleitet die Stiftung dieaktuellen politischen Debatten in den Themenfeldern Arbeit, Wirtschaft und Soziales.Das Magazin „Mitbestimmung“ und die „WSI-Mitteilungen“ informieren monatlichüber Themen aus Arbeitswelt und Wissenschaft. Mit der Homepagewww.boeckler.de bietet die Stiftung einen schnellen Zugang zu ihrenVeranstaltungen, Publikationen, Beratungsangeboten und Forschungsergebnissen.

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