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3. Wie kann’s gehen? – Inklusive Didaktik Inklusion im Unterricht steht und fällt mit einer angemessenen Didaktik und Methodik. Diese kann keine Sonder-Didaktik, dies muss folgerichtig die Didaktik einer Allgemeinen Pädagogik sein. Denn es geht um die Bildung aller Kinder. Für eine allgemeine inklusive Didaktik grundlegend ist die über 370 Jahre alte pansophische Idee von Johann Amos Come- nius (1592–1670) die er in seiner »Panpaedia« pädagogisch durchdekliniert hat. Sie gipfelt zusammenfassend in dem Satz: »Eine vollkommen ihrem Zweck entsprechende Schule nenne ich die, die in Wahrheit eine Menschen-Werkstatt ist (. . . ), wo alle in allem allseitig (omnes omnia omnino) unterrichtet werden.« Dieser dreigliedrige Grund-Satz findet sich in der »Großen Didaktik« (Didacta magna, 1638) von Comenius, jedoch erst in der Druckfassung von 1657 (Schaller 2004, 53). Dabei geht Come- nius nicht vom Wissensbegriff, sondern vom Weisheitsbegriff aus. Weisheit (sapientia) ist – darauf weist die Wurzel »sap« hin – ein unmit- telbares Schmecken und Riechen, ein unmittel- bares Merken (vgl. Schaller 2004, 34; Goßmann/ Scheilke 1992, 126ff). Die in der Lehrerbildung seit den 80er Jahren bis heute prägende Didaktik liegt in der geisteswissenschaftlichen Traditionslinie von Johann Amos Comenius. Es ist die kritisch- konstruktive Didaktik von Wolfgang Klafki. Sie gründet in seiner kategorialen Bildungstheorie. Auch sie hat eine Relevanz für die Leitidee der Inklusion. Denn seine allgemeine Didaktik ist für jedes Kind an jeder Schule konzipiert. Sie ist in der Lage, verschiedene Methoden zu inte- grieren, und kritisiert den Versuch zu homoge- nisieren. Obgleich Klafki das Phänomen der Heterogenität und das Anliegen der Inklusion nicht eigens ins Auge fasst, ist seine didaktische Grundlegung den Herausforderungen einer Schule für alle gewachsen (vgl. Platte 2005, 167f). Da die Realisierung von Inklusion auf eine passgenaue inklusive Didaktik angewiesen ist, könnte hier ein ergebnisreiches Wissenschafts- feld vermutet werden. Dies ist jedoch nicht der Fall. Dennoch findet sich in der entwicklungslo- gischen Didaktik von Georg Feuser ein beach- tenswerter Ansatz. Sein Verdienst ist die Wei- terentwicklung von Klafkis Didaktik in Rich- tung Inklusion. Seine Didaktik in der philoso- phischen Tradition des Materialismus basiert auf einer Persönlichkeitstheorie und einer Ent- wicklungspsychologie. Mit ihr vollzieht er einen Perspektivenwechsel von der Stoff- und Inhalts- orientierung zur Person- und Entwicklungs- orientierung auf der Grundlage einer nicht selektierenden und segregierenden Allgemeinen Pädagogik (vgl. Platte 2005, 185). Er beschreibt seine integrative bzw. inklusive Didaktik als »eine Allgemeine (kindzentrierte und basale) Pädagogik in der ALLE KINDER UND SCHÜ- LER in KOOPERATION miteinander AUF IH- REM jeweiligen ENTWICKLUNGSNSVEAU nach Maßgabe ihrer momentanen Wahrneh- mungs-, Denk-, und Handlungskompetenzen in Orientierung auf die ›nächste Zone ihrer Ent- wicklung‹ an und mit einem ›GEMEINSAMEN GEGENSTAND‹ spielen, lernen und arbeiten.« (Feuser 2005, 173f, Hervorhebungen im Ori- ginal) Oder kurz gefasst: ALLE KOOPERIEREN am GEMEINSAMEN GEGENSTAND. Seine didaktische Schlüssel-Idee ist der gemein- same Gegenstand, mit dem sich alle kooperativ beschäftigen. Dieser Gegenstand ist jedoch nicht gegenständlich zu verstehen. Er konstituiert sich in der doppelten Erschließung der Objekt- und Subjektseite sowie den Begriffen des Fun- damentalen und Elementaren (vgl. Klafki). Diesen komplexen Zusammenhang verdeutlicht Feuser am Bild eines Baumes (siehe S. 31). Die Kooperation am »Gemeinsamen Gegen- stand« kann in ihrer didaktischen Struktur mit einem Baum verglichen werden. Sein Stamm steht für die äußere thematische Struktur eines Themas, an dem alle SuS gemeinsam arbeiten. Die Wurzeln entsprechen dem jeweils möglichen Erkenntnisstand der Wissenschaft und der Welt. Die Äste und die Zweige stellen die Viel- falt der Handlungsmöglichkeiten in der Beschäf- tigung mit dem »Gemeinsamen Gegenstand« dar. Die Astansätze entsprechen den sinnlich konkreten Handlungsmöglichkeiten. Sie erstre- 3. Wie kann’s gehen? – Inklusive Didaktik 30 (c) Calwer Verlag, Stuttgart 2012 Wolfhard Schweiker

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3. Wie kann’s gehen? –Inklusive Didaktik

Inklusion im Unterricht steht und fällt miteiner angemessenen Didaktik und Methodik.Diese kann keine Sonder-Didaktik, dies mussfolgerichtig die Didaktik einer AllgemeinenPädagogik sein. Denn es geht um die Bildungaller Kinder. Für eine allgemeine inklusiveDidaktik grundlegend ist die über 370 Jahrealte pansophische Idee von Johann Amos Come-nius (1592–1670) die er in seiner »Panpaedia«pädagogisch durchdekliniert hat. Sie gipfeltzusammenfassend in dem Satz:

»Eine vollkommen ihrem Zweck entsprechendeSchule nenne ich die, die in Wahrheit eineMenschen-Werkstatt ist (. . . ), wo alle in allemallseitig (omnes omnia omnino) unterrichtetwerden.«

Dieser dreigliedrige Grund-Satz findet sich inder »Großen Didaktik« (Didacta magna, 1638)von Comenius, jedoch erst in der Druckfassungvon 1657 (Schaller 2004, 53). Dabei geht Come-nius nicht vom Wissensbegriff, sondern vomWeisheitsbegriff aus. Weisheit (sapientia) ist –darauf weist die Wurzel »sap« hin – ein unmit-telbares Schmecken und Riechen, ein unmittel-bares Merken (vgl. Schaller 2004, 34; Goßmann/Scheilke 1992, 126ff).

Die in der Lehrerbildung seit den 80erJahren bis heute prägende Didaktik liegt in dergeisteswissenschaftlichen Traditionslinie vonJohann Amos Comenius. Es ist die kritisch-konstruktive Didaktik von Wolfgang Klafki. Siegründet in seiner kategorialen Bildungstheorie.Auch sie hat eine Relevanz für die Leitidee derInklusion. Denn seine allgemeine Didaktik istfür jedes Kind an jeder Schule konzipiert. Sieist in der Lage, verschiedene Methoden zu inte-grieren, und kritisiert den Versuch zu homoge-nisieren. Obgleich Klafki das Phänomen derHeterogenität und das Anliegen der Inklusionnicht eigens ins Auge fasst, ist seine didaktischeGrundlegung den Herausforderungen einerSchule für alle gewachsen (vgl. Platte 2005,167f).

Da die Realisierung von Inklusion auf einepassgenaue inklusive Didaktik angewiesen ist,könnte hier ein ergebnisreiches Wissenschafts-feld vermutet werden. Dies ist jedoch nicht derFall. Dennoch findet sich in der entwicklungslo-gischen Didaktik von Georg Feuser ein beach-

tenswerter Ansatz. Sein Verdienst ist die Wei-terentwicklung von Klafkis Didaktik in Rich-tung Inklusion. Seine Didaktik in der philoso-phischen Tradition des Materialismus basiertauf einer Persönlichkeitstheorie und einer Ent-wicklungspsychologie. Mit ihr vollzieht er einenPerspektivenwechsel von der Stoff- und Inhalts-orientierung zur Person- und Entwicklungs-orientierung auf der Grundlage einer nichtselektierenden und segregierenden AllgemeinenPädagogik (vgl. Platte 2005, 185). Er beschreibtseine integrative bzw. inklusive Didaktik als

»eine Allgemeine (kindzentrierte und basale)Pädagogik in der ALLE KINDER UND SCHÜ-LER in KOOPERATION miteinander AUF IH-REM jeweiligen ENTWICKLUNGSNSVEAUnach Maßgabe ihrer momentanen Wahrneh-mungs-, Denk-, und Handlungskompetenzen inOrientierung auf die ›nächste Zone ihrer Ent-wicklung‹ an und mit einem ›GEMEINSAMENGEGENSTAND‹ spielen, lernen und arbeiten.«(Feuser 2005, 173f, Hervorhebungen im Ori-ginal)

Oder kurz gefasst:

ALLE KOOPERIEREN am GEMEINSAMENGEGENSTAND.

Seine didaktische Schlüssel-Idee ist der gemein-same Gegenstand, mit dem sich alle kooperativbeschäftigen. Dieser Gegenstand ist jedoch nichtgegenständlich zu verstehen. Er konstituiertsich in der doppelten Erschließung der Objekt-und Subjektseite sowie den Begriffen des Fun-damentalen und Elementaren (vgl. Klafki).Diesen komplexen Zusammenhang verdeutlichtFeuser am Bild eines Baumes (siehe S. 31).

Die Kooperation am »Gemeinsamen Gegen-stand« kann in ihrer didaktischen Struktur miteinem Baum verglichen werden. Sein Stammsteht für die äußere thematische Struktur einesThemas, an dem alle SuS gemeinsam arbeiten.Die Wurzeln entsprechen dem jeweils möglichenErkenntnisstand der Wissenschaft und derWelt. Die Äste und die Zweige stellen die Viel-falt derHandlungsmöglichkeiten in derBeschäf-tigung mit dem »Gemeinsamen Gegenstand«dar. Die Astansätze entsprechen den sinnlichkonkreten Handlungsmöglichkeiten. Sie erstre-

3. Wie kann’s gehen? – Inklusive Didaktik30

(c) Calwer Verlag, Stuttgart 2012

Wolfhard Schweiker

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cken sich bis zu den Astspit-

Abb.: Die didaktische Struktur einer Allgemeinen integrativen Didaktik(Feuser 2005, 179)

zen, in denen sich die ab-strakt-logischen und symbo-lischen Zugänge von Sprache,Schrift oder Formeln wider-spiegeln. In dieser ausdiffe-renzierten Form wird derGemeinsame Gegenstand füralle Mädchen und Jungen aufallen Entwicklungsniveaussubjektiv erfahrbar und er-fassbar (vgl. Feuser 2005,178ff bzw. 2002, 287).

Die didaktische Analyseerfolgt in den drei Schritten:

Sachstrukturanalyse,TätigkeitsstrukturanalyseHandlungsstrukturanalyse

(Platte 2005, 188f).Dabei werden drei didak-

tische Prinzipien befolgt:IndividualisierungInnere DifferenzierungKooperation

Die folgenden Ausführungen entfalten diese fürdie inklusive Pädagogik zentralen Prinzipienund ergänzen sie durch drei religionspädagogi-sche Prinzipien, die für das inklusive Lernenvon besonderer Bedeutung sind:

ElementarisierungHandlungsorientierungGanzheitlichkeit

3.1 Individualisierung

Individualisierung sowie die individuelle Diag-nostik und Förderung bilden das unterscheiden-de Wissenschaftsprofil der Sonderpädagogikund das Qualifikationsprofil von Sonderpädago-ginnen und Sonderpädagogen. Das in den För-derschulen längst etablierte Prinzip der In-dividualisierung muss nun auch Eingang in dengemeinsamen Unterricht und in die Praxis derallgemeinen Schule finden. Denn es gilt: Allesind verschieden. Darum müssen im Kontexteiner allgemeinen inklusiven Pädagogik auchalle individuell verschieden wahrgenommen undgefördert werden.

Prinzip der Individualisierung: Für jede Schüle-rin und jeden Schüler das Richtige!

3.1.1 Individuelle Förderdiagnostik

In der inklusiven Schulpädagogik hat jedesKind das Recht, individuell wahrgenommen undin seinem Lernen differenziert unterstützt zuwerden. Eine individuelle Diagnostik ist nichtmehr länger ein Privileg von SuS mit einem be-sonderen Förderbedarf. Und umgekehrt istkeine »Diagnose« zu haben nicht mehr längerein Vorzug von SuS ohne Behinderung. DieseAusweitung zu einer unterrichtsbezogenenDiagnostik führt nicht zu einer Qualitätsminde-rung für SuS mit besonderem Förderbedarf,sondern zu einer Verbesserung der individuellenFörderung für alle. Die sog. Förderdiagnostik istdie diagnostische Schule der Inklusionspädago-gik. Die Kennzeichen der Förderdiagnose alsTeildisziplin der Psychologie sind:

entwicklungsorientiert statt defizitorientiertnicht nur kind-, sondern auch institutionsbe-zogen (vgl. Kapitel 2.2.1)Informationserhebung für die Förderung,statt Selektionsdiagnostik für die Zuweisungkontinuierliche Längsschnittdiagnostik stattTestdiagnostik im Querschnittmultidisziplinär statt mono-professional (sie-he Interdisziplinarität Kapitel 2.2.2)transparent für alle, nicht nur für die Leis-tungsträger von Fördermaßnahmen

3.1 Individualisierung 31

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Förderdiagnostik Testdiagnostik

Methoden Sensible, qualitative Erhebungsinstrumente, dieauch geringfügige Veränderungen erheben kön-nen, flexibel eingesetzt werden und die päda-gogische Arbeit begleiten (Längsschnitt)

Standardisierte Testverfahren mit festgelegtenDurchführungs- bzw. Auswertungsanweisun-gen, die für den gelegentlichen Einsatz konzi-piert sind (Querschnitt)

Aufgaben Informationen zusammentragen, die für die pä-dagogische Arbeit wichtig sind.

Kinder, Jugendliche und Erwachsene und Insti-tutionen vergleichbar machen.

Mindest-standards

Die diagnostische Arbeit muss auf regelmäßi-ger Dokumentation basieren. Sie sollte vor al-lem darauf ausgerichtet sein, pädagogischeHandlungsmöglichkeiten zu erschließen. DieKlienten müssen in unterschiedlichen Situatio-nen beobachtet werden. Ein regelmäßiger (do-kumentierter) Austausch mit anderen Beobach-tern ist unverzichtbar.

Die Instrumente müssen geeicht sein (Eich-stichproben mit zumindest mehr als 500 Teil-nehmern). Die Eichung darf nicht zu alt sein (5bis maximal 10 Jahre). Es müssen nicht nurProzentränge, sondern zumindest auch T-Werte zur Verfügung gestellt werden. Das In-strument muss so genau messen, dass diag-nostische Aussagen überhaupt möglich sind(kleiner Standardmessfehler).

Abb.: Aufgaben und Standards von Förder- und Testdiagnostik (Tabelle in Eberwein / Mand 2008, 96)

Förderdiagnostik bedarf im Unterschied zurTestdiagnostik einer regelmäßigen Erhebungvon Daten. Denn Informationen über die Lern-entwicklung sind nicht nur einmal erforderlich,sondern werden ständig benötigt, um passge-naue Lernangebote zu gestalten (vgl. Eberwein /Mand 2008, 93ff).

Das Maß unserer Arbeit ist nicht das stärksteund nicht das schwächste Kind – das Maß istjedes einzelne Kind.

Die Förderschwerpunkte nach den Kategoriender Kultusministerkonferenz (1994, 6f) sind:

Emotionale und soziale Entwicklung (E)Lernen (L)Sprache (Spr)Sehen: blind und sehbehindert (Seh)Hören: gehörlos und schwerhörig (H)Kranke (Kr)Geistige Entwicklung (G)Körperliche und motorische Entwicklung (Kö)Autistisches Verhalten (A)

Aus diesen Förderschwerpunkten leitet sich derName »Förderschulen« ab. Dieser Begriff wirdjedoch nicht bundesweit einheitlich verwendet.So wird z. B. in Baden-Württemberg von Son-derschulen gesprochen, während Förderschulenausschließlich die Schulen mit dem Förder-schwerpunkt Lernen bezeichnen.

3.1.2 Instrumente der Förderdiagnostik

Die prozessorientierte Förderdiagnostik findetüberwiegend im Unterricht statt. Das zentraleErhebungsinstrument ist die Dokumentation.

Lerntagebücher, Wochenpläne, Schülerportfolio,Kreativprodukte, Bild-, Text und Tondateiensowie Beobachtungs- und Gedächtnisprotokollegeben regelmäßig Auskunft über den Entwick-lungsstand jeder einzelnen Schülerin und jedeseinzelnen Schülers (siehe Dokumentationsfor-men unter 5.7). Freiarbeits- und Kooperations-phasen bieten Lehrkräften viele Gelegenheiten,zu beobachten, sich Notizen zu machen sowieDokumentationen zu sichten und auszuwerten.

3.1.3 Individuelles Lernen und Fördern

Kinder und Jugendliche mit einem diagnosti-zierten Förderbedarf an der allgemeinen Schulehaben einen Anspruch auf Förderstunden durcheine sonderpädagogische Fachkraft. Diese wirdi.d.R. von einer Förderschule abgeordnet undleistet die Förderstunden im Rahmen des sog.mobilen sonderpädagogischen Dienstes (MSD).Die Höhe der Förderstundenzahl ist pro Schüleri.d.R. so hoch, wie sie theoretisch pro Schüler aneiner Förderschule sein würde. Näheres regelndie Schulgesetze und Schulverordnungen derBundesländer.

Die sonderpädagogischenFachkräfte des MSDbeteiligen sich – im Unterschied zu den Assisten-ten/innen bzw. Schulbegleiter/innen – an derErteilungdesUnterrichts.Dadurchkannggf. dasUnterrichten nach dem Zwei-Pädagogen-Prinzip(Team-Teaching) praktiziert werden.

Die Förderdiagnostik zielt im Kontext desjeweiligen Bildungsplans auf ein an den einzel-nen SuS orientiertes Lernen. Individuelle Lern-und Entwicklungspläne (ILEP) gehören zumklassischen Unterrichtsinstrument an Förder-schulen und inklusiven Schulen. Sie können

3. Wie kann’s gehen? – Inklusive Didaktik32

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schriftlich oder auch kognitiv festgehalten wer-den. Form und Grad der Ausarbeitung orientie-ren sich am individuellen Lernbedarf.

Wichtige Grundsätze bei der individuellenLernplanung sind:

Einbeziehung aller Fachkräfte, der Elternund der Schülerin bzw. des SchülersFestlegung auf eine überschaubare, reduzier-te Anzahl von kurz- und langfristigen ZielenRegelmäßige Überprüfung und Fortschrei-bung der individuellen LernpläneVerbindlichkeit für alle durch gegenseitigesEinverständnis (Stein/Orthmann-Bless 2009,132f)

Die individuellen Lernpläne bestimmen nicht inerster Linie den gemeinsamen Lerngegenstand.Dieser erschließt sich primär über die Bildungs-plan- und Schülerorientierung (siehe Kapitel2.2.1). Die individuellen Lernpläne geben jedochAufschluss, wie die jeweilige Gestaltung derinneren Differenzierung und die Kooperations-formen am gemeinsamen Gegenstand gestaltetwerden müssen. Auf Feusers Baummodell bezo-gen bedeutet dies: Sie bestimmen maßgeblichdie Gestalt der Äste, Zweige und Blätter amBaum des Lernens.

Die konkrete Lernförderung in einer Pädago-gik der Vielfalt findet auf vielfältige Weise

statt. Die wichtigsten Grundformen sind dieLernunterstützung in der

unterrichts-begleitenden intensivierten Lern-zeitunterrichts-ersetzendenspezifischenLernzeitunterrichts-ergänzenden zusätzlichen Lern-zeit

Alle drei Grundformen haben auf dem Hinter-grund des individuellen Förderbedarfs ihre je-weils eigene Berechtigung. Das Prioritätsprinzipist jedoch: Vorrang der begleitenden vor derergänzenden Förderung. Das heißt: Vorranghaben i.d.R. die auf den gemeinsamen Unter-richt bezogenen Förderkonzepte. Als Grund-lagenwerk der schulischen Lernunterstützungempfehlen sich Handbücher der schulischenSonderpädagogik (Opp / Theunissen 2009 oderArnold et al. 2008). In ihnen werden auchFormen der Behinderung, ihre Ursachen undKonzepte der Förderung beschrieben. DieBeschreibung unterschiedlicher Behinderungs-arten kann hier nicht geleistet werden. Zu denzentralen Förderschwerpunkten werden unter6.4. die Links zu den wichtigsten Fachportalenangegeben. Die prozentuale Verteilung der zehnFörderschwerpunkte auf die Schülerschaft anFörderschulen in Deutschland ist folgender-maßen:

Abb.:FörderschulbesuchsquotenachFörderschwerpunkten2008/09 (Bildungsbericht2010,251;vgl.Tab.D2–2A)

3.1 Individualisierung 33

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3.2 Innere Differenzierung

Damit Individualisierung gelingt und alle SuSdas ihnen Gemäße erhalten, bedarf es derinneren Differenzierung bzw. der Binnendiffe-renzierung. Im Unterschied zur äußeren Diffe-renzierung, die SuS in unterschiedlichen Schu-len und sog. homogenen Klassen räumlich sepa-riert, wird bei der inneren Differenzierung dieDifferenzierung innerhalb der bestehendenLerngruppe so vollzogen, dass gemeinsamesLernen trotz aller Unterschiede ermöglichtwird. Dies klingt nach einer Überforderung.Darum sollte zuerst einmal darauf geachtetwerden, dass sich der Grad der Individualisie-rung und der Binnendifferenzierung an derMachbarkeit orientiert. Pragmatisch muss ent-schieden werden, ob die Differenzierung stärkerindividualisierend oder gruppenadaptierendverwirklicht werden soll.

3.2.1 Vielfalt-Konzept »Büfett statt Eintopf«

Das Prinzip der inneren Differenzierung imUnterricht kann mit einem kulinarischen Bildverdeutlicht werden: Im Unterricht wird keinEintopf serviert, den alle SuS in gleichen Por-tionen verspeisen, sondern ein leckeres Büfettzubereitet, von dem die Mädchen und Jungen

sich nach ihrem Geschmack, ihrem Hunger,ihrem Diätbedarf, ihren Gelüsten und ihremGesundeitsbedürfnis individuell die Mahlzeitzusammenstellen können, die sie mögen undbrauchen. Diese kunstvoll arrangierten kaltenund warmen Büfettspeisen sind nicht nur einCatering-Service der LuL, sondern auch derSuS selbst. Die SuS helfen bei der Zubereitungund Dekoration des »Lernbüfetts«. Sie unter-stützen sich gegenseitig beim Bedienen, beimAuswählen und beim gemeinsamen Verzehr derLeckereien (vgl. Lehrerentlastung und Koopera-tives Lernen Kapitel 3.3).

Die Grundidee ist nicht das Lernen imGleichschritt, gestärkt durch das Essen des Ein-heitsbreies: Alle gleichaltrigen Kinder habenbeim gleichen Lehrer mit dem gleichen Lehrmit-tel im gleichen Tempo das gleiche Ziel zurgleichen Zeit gleich gut zu erreichen.

Die Grundidee ist die Bildung in Vielfalt aneinem differenzierten Lernbüfett: Auf vielfäl-tigen Wegen mit vielfältigen Menschen an viel-fältigen Orten zu vielfältigen Zeiten mit viel-fältigen Materialien in vielfältigen Schritten hinvielfältigen Zielen am gemeinsamen Gegenstandkooperierend.

Kurz gesagt: Es wird ein Weg beschrittenvom G7- zum V7-Lernen. Die innere Differen-zierung wird auf verschiedenen Ebenen prak-tiziert. Die Differenzierungsebenen werden inder Literatur unterschiedlich benannt.

Ebenen derDifferenzierung

Formen möglicher Differenzierungen

Lernziele bzw. angestrebteKompetenzen

zielgleich, zieldifferentNah-, Mittel-, FernzielMinimal-, Mittel-, HöchstzielSach-, Personal-, Sozial-, Methodenkompetenz

Grundbedürfnisse nach(Lernausgangslage)

Physiologische Befriedigung, Sicherheit, Zugehörigkeit- und Liebe, Geltung,Selbstverwirklichung (Bedürfnispyramide nach A. Maslow)

Motivation extrinsisch (z. B. Noten), intrinsisch (z. B. Neugier)Sachinteresse, Eigeninteresse, Beziehungsinteresse, Zwang

Stoffumfang und Zeit vorgegeben, selbstbestimmt, mitbestimmt, vereinbartTagesplan, Wochenplan, Freiarbeit, Stationenlernen, Projektunterricht, Wahl-unterricht (s. u. Methodenkompendium)

Lernformen Basal-perzeptiv, konkret-handelnd, anschaulich-modellhaft, abstrakt-begrifflich

Methoden input-, prozess-, output-orientiertdarstellend, erklärend, experimentell, entdeckend, spielerischzum Kennenlernen, sich wahrnehmen, interagieren, kommunizieren, sich bewegen,gestalten, Inhalte lernen, Ergebnisse sichern, Rückmeldung geben (s. u. Metho-densammlung)

Medien visuell, akustisch, haptisch (greifen), olfaktorisch (riechen), (schmecken)

Sozial- und Beteiligungs-formen

Einzel-, Partner-, Gruppen-, PlenararbeitSchülervortrag, Lehrervortrag, Expertenvortrag, Team-Vortrag, Unterrichtsgesprächstill, rezipierend, agierend, forschend, interagierend

Gruppenbildung heterogen und homogen nach verschiedenen Differenzmerkmalen

Abb. Formen der inneren Differenzierung

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Heterogene und homogene Gruppenbildung

Binnendifferenziertes inklusivesLernen schließtdie zeitlich begrenzte Bildung von sog. homoge-nen Gruppen nicht aus, sondern ein. Wichtigist, in heterogenen Gruppen den Reichtum derVielfalt zu nutzen sowie phasenweise denReichtum von Gemeinsamkeiten zu teilen. Son-dergruppen haben zeitweise ihre Berechtigung.Die Aufteilung nach Jungen und Mädchen bie-tet die Chance der geschlechterspezifischenFörderung. Die Unterteilung ermöglichen Un-terschiedliches:

nach Ethnie oder Bekenntnis: Eine Besin-nung auf die eigenen Wurzelnnach Interessen: Die Steigerung der Lern-motivationnach Begabung oder Beeinträchtigung: Diesolidarische Bestärkung der gemeinsamenHerausforderungen.

3.2.2 Vorbereitete Lernumgebung und Freiarbeit

Als Vorzeige-Konzept des individualisierten undbinnendifferenzierten Unterrichts gilt die Frei-arbeit. Sie wird mit einer vorbereiteten Lernum-gebung gestaltet, in der die Mädchen und Jun-gen nach vorgegebenen, selbst bestimmten odervereinbarten Aufgabestellungen tätig werden.Sie haben dabei unterschiedliche Freiheiten:organisatorisch – zeitlich (wann), räumlich (wo),kooperativ (mit wem), methodisch (wie), in-haltlich (was) –, sozial (Regeln in der Klasse),persönlich (welche Werte) und bei der Bewer-tung.

Ausgearbeitete Konzepte der Freiarbeit fin-den sich in der Pädagogik nach Célestin Frei-net, Maria Montessori und Peter Peterson.Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Kon-zepte und Methoden der Reformpädagogik imdeutschsprachigen Raum die reichhaltigstenAnsatzpunkte für eine inklusive Pädagogikbieten.

3.3 Kooperation

Individualisierung und innere Differenzierungdürfen nicht in die Vereinzelung führen. Daswürde der Idee des gemeinsamen Unterrichtswidersprechen. Das Ende wäre eine exzessiveIndividualisierung mit eins zu eins betreutenSuS und überforderten LuL. Vielmehr solltendie Formen der inneren Differenzierung Voraus-

setzungen dafür schaffen, dass ein dialektischesVerhältnis von Gleichheit und Differenz, vonIndividualisierung und Kooperation, von ein-samer und gemeinsamer Tätigkeit ermöglichtwird. Individualisierung und Kooperation sindin einen sich ergänzenden komplementärenZusammenhang zu bringen.

»Individualität ist das, was dich von der Weltabsondert. Liebe ist das, was dich mit ihr ver-bindet. Je stärker die Individualität, desto stär-ker erfordert sie Liebe.«

(Walther Rathenau)

Abb.: Zusammenhang von Individualisierung, innererDifferenzierung und Kooperation

»Individualität und Gemeinschaft sind keineGegensätze, sondern bedingen sich gegen-seitig.« (Josef Sudbrack)

Kooperatives Lernen bedeutet, dass sich SuSgegenseitig unterstützen und gemeinsam zuErgebnissen kommen. Bei den Mädchen undJungen wird dadurch ein hohes Aktivierungs-potenzial erreicht. Gleichzeitig werden Lehr-kräfte entlastet, die im traditionellen Unterrichtzu Zweidrittel der Zeit die alleinigen Akteureim Klassenzimmer sind. Mit kooperativen undindividualisierten Unterrichtsformen wird alsoweniger gelehrt und mehr gelernt. Sie sindalltagstauglich und schaffen Lehrerentlastung.Kooperation ermöglicht eine zurückhaltendeLehrperson, die Zeit für die Beobachtung undBegleitung hat (vgl. Kapitel 3.1). Mit der gegen-seitigen Unterstützung der SuS bekommt dieeinseitige lehrerzentrierte Förderung ein zwei-tes Standbein.

Das kooperative Lernen schult im Miteinan-der der Verschiedenen wichtige soziale Kom-petenzen. Es ist eine zentrale Stütze der Schü-lerinklusion. Zum einen fördert es die Verant-wortung der Gruppe, gemeinsam die Gruppen-ziele zu erreichen, und zum anderen unterstütztes die individuelle Verantwortung jedes Grup-penmitglieds, seinen Anteil an der gemeinsa-

3.3 Kooperation 35

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men Arbeit zu leisten. Dies fördert den Bezie-hungsaufbau unter den SuS und trägt zur Ent-stehung von Freundschaften bei. Beide Ebenender Verantwortlichkeit müssen im kooperativenUnterricht integriert werden.

Bei der Schülerkooperation wird niemand anden Rand des Lerngeschehens gedrängt. Jedeeinzelne Person wird auf ihre Weise gebraucht.Dafür sorgen die kooperativen Aufgabestellun-gen und die unterschiedlichen Rollenübernah-men der SuS. Die SuS müssen nicht nur an deninhaltlichen Aufgaben arbeiten, sondern auchzur Gruppensteuerung beitragen. Nach demKonzept der »positiven Abhängigkeit« sind sieauf die Zuarbeit der anderen Gruppenmitgliederangewiesen. Das von SuS mit Behinderung be-sonders stark empfundene Angewiesensein aufandere wird für alle zum Lernprinzip erklärt.Je nach persönlichen Möglichkeiten sind sieRegel-, Zeit- oder Fahrplanwächter, Gesprächs-leiter, Lernberater oder Kontrolleure. Im inklu-

siven RU kann nach Bedarf auch die Rolle desUnterstützers oder der Assistentin dazukom-men. Dabei zielt der inklusionsfördernde Unter-richt immer auch auf eine konsequente Er-weiterung der Lern- und Methodenkompetenz.Dies geschieht u. a. in Teamtrainings, in denenKooperationsregeln geklärt und Handlungsrou-tinen erworben werden.

Eine wichtige Voraussetzung für das koope-rative Lernen ist, dass die Gruppenbildungnicht nach Sympathie und Neigung erfolgt. DieVorteile der Zufallsgruppe liegen auf der Hand.Abgezählt oder ausgelost ist schnell. Zudemwird das Zufallsprinzip von den SuS als »ge-recht« empfunden und von ihnen i.d.R. akzep-tiert. Es ermöglicht auch, dass die Mädchen undJungen lernen, mit unterschiedlichen Partnernregelgebunden zusammenzuarbeiten und dabeiauch Vorurteile abzubauen. Etwaige Ausgren-zungstendenzen in der Klasse werden mini-miert. Auch dies entlastet die Lehrkräfte.

Prämissen

Regelwächter

Zeitwächter

Fahrplanwächter

TeamtrainingZufallsgruppenRegelklärungFeedbackphasenDefensive Lehrer

Gesprächsleiter

Lernberater

Kontrolleure

Abb.: Die Schüler als Helfer und Miterzieher (Heinz Klippert 2009, 21)

Je nachdem, wie die Heterogenität in der Klassegestaltet ist, muss die Mischung bei der Grup-penbildung mehr oder weniger stark gesteuertwerden. In Kooperationsklassen kann es z. B.sinnvoll sein, dass so gelost wird, dass in jedeKleingruppe proportional gleich viele Mitgliederaus der einen und aus der anderen Klassekommen. Bei einem großen Begabungsspektrumsollte die Zusammensetzung so gewählt werden,dass die unterschiedlichen Rollen eingenommenund die unterschiedlichen Aufgaben gemeinsambewältigt werden können. Dabei gilt das Prin-zip: Von unten nach oben. Die Aufgabenstellungund Gruppenbildung muss vom schwächstenGlied aus geplant werden.

Das kooperative Lernen weist eine großeMethodenvielfalt auf. Eine Auswahl der Zugän-ge, die sich für den inklusiven RU besonderseignen, findet sich im Methodenteil unterGruppenpuzzle, Gruppenanalyse und Doppel-kreis oder in Klippert (2010). Im Folgendenwerden die wichtigsten Formen des kooperati-ven Lernens kurz beschrieben.

Kooperative Lernformen

Es gibt Personen, die aufgrund ihrer besonderenBedürfnislage in bestimmten Situationen aufUnterstützung angewiesen sind. Die Unterstüt-zung kann durch gegenseitige Hilfe, personelleAssistenz oder spezielle Hilfsmittel erfolgen.Das entscheidende pädagogische Prinzip ist dieHilfe zur Selbsthilfe: »Hilf mir, es selbst zu tun«(Maria Montessori).

Die Unterstützung von SuS untereinander istneben der professionellen Assistenz und För-derung von herausragender Bedeutung. Hier istzu prüfen, wie Win-Win-Situationen hergestelltund wie durch eine gegenseitige Schülerunter-stützung »Eins-zu-eins-Assistenzen« vermiedenbzw. geöffnet werden können. UnterschiedlicheFormen der Schülerunterstützung dienen nichtnur der Lernaktivierung der Mädchen undJungen, sondern auch der Lehrerentlastung(siehe kooperatives Lernen Kapitel 3.3).

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Buddy-KonzeptBeim »buddy«-Konzept arbeiten immer jeweilszwei SuS im Zweierteam zusammen, die sich inihrer Bedürfnislage ergänzen. Sie werden für-einander zu Kompagnos, d. h. Weggefährten.Der eine versucht die Bedürfnisse des anderenwahrzunehmen und ihm einen Zugang zum Ler-nen in der Gruppe zu eröffnen und umgekehrt.Die Zusammensetzung kann wöchentlich oder jenach Befindlichkeiten in größeren Abständenwechseln.

PatenschaftenBei dieser Form der Mitschüler-Unterstützungübernehmen einzelne SuS, die aufgrund ihrerLern- oder Persönlichkeitsentwicklung dazuwillens und fähig sind, für andere eine beglei-tende Patenschaft. Auf diese Weise werden siefür den anderen zum Lernmodell. Die freiwilligeeinseitige Patenschaft wird gemeinsam verein-bart und zeitlich sinnvoll begrenzt. Sie kannunterschiedliche Schwerpunkte wie z. B. Lern-unterstützung, Assistenz oder Lernen durchLehren haben.

Mitschüler-assistiertes Lernen (Peer Tutoring)Das Mitschüler-Tutoring kann klassenweitpraktiziert werden. Dabei leiten sich jeweilszwei SuS gegenseitig beim Lernen an. EinSchüler führt in die Aufgabenstellung und dasUnterrichtsmaterial ein, begleitet die Erar-beitung und überprüft die Ergebnisse. Nach derHälfte der Arbeitsphase werden die Rollen ge-tauscht. Die Paare bleiben für einen etwaslängeren Zeitraum zusammen, dann wird inner-halb der Klasse gewechselt. Diese Form derZusammenarbeit eignet sich besonders gut fürFreiarbeitsphasen oder Stationenlernen.

Kooperatives NetzwerkIm kooperativen Netzwerk werden heterogeneKleingruppen von drei bis fünf Personen gebil-det, die über mehrere Monate stabil bleiben. Sieunterstützen sich gegenseitig im gesamten Un-terricht. Sie kooperieren in den Phasen derPartner- und Gruppenarbeit und helfen einan-der bei Schwierigkeiten in der Einzelarbeit.

Lernen durch LehrenLernen durch Lehren geht davon aus, dass dieLehrvorbereitung und -durchführung intensiveund nachhaltige Lernerfolge ermöglicht. Werandere etwas lehren kann, kann und kennt dasGelernte wirklich. Nach einer kurzen Vorberei-tungsphase werden die einzelnen Kleingruppen(maximal drei Lerner) gebeten, die von ihnendidaktisierten Inhalte an die Gesamtgruppe mit

entsprechenden lern-aktivierenden Verfahren zuvermitteln. Dies schließt sowohl die Einführungdes neuen Themas als auch die Einübung unddie Lernerfolgskontrolle (Evaluation) ein. DiesesVerfahren fördert besonders die Ausbildung vonEmpathie und von Gruppensensibilität (sieheGruppenpuzzle, Lernspirale, Kapitel 5.6).

Abb. Bausteine eines inklusiven RU

3.4 Elementarisierung

Auf die grundlegenden didaktischen Grundprin-zipien »Individualisierung, innere Differenzie-rung, Kooperation« der inklusiven Pädagogik fol-gen nun noch drei zentrale fachdidaktische Prin-zipien der Religionspädagogik. Die Elementari-sierung ist für den zentralen Prozess der innerenDifferenzierung von entscheidender Bedeutung.

Beim religionspädagogischen Konzept derElementarisierung folgen wir dem Ansatz derTübinger Schule (Nipkow 2002, Schweitzer2003), da er im Unterschied zum Erlanger oderKölner Ansatz didaktisch ausgerichtet ist. DasElementarisierungskonzept knüpft an diekritisch-konstruktive Didaktik von Klafki an,der dem »Problem des Elementaren« nachgegan-gen ist, und basiert auf dem bildungstheoreti-schen Grundsatz der »wechselseitigen Erschlie-ßung« von Person und Sache.

Elementarisierung kann in Kurzformel defi-niert werden als »das Bemühen, Grundlegendesdidaktisch zur Geltung zu bringen« (Schnitzler2007, 42).

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Das »Grundlegende« hat im lateinischen ele-mentum zwei Bedeutungen: Grundstoff und An-fangsgründe. Dies macht deutlich, dass es beider Elementarisierung nie nur um eine sach-bezogene Vereinfachung und Konzentrationgehen kann. Sie zielt nicht nur auf das Grund-legende der zu vermittelnden Sache (Grund-stoff), sondern auch auf das grundlegend Be-deutsame für die lernende Person (Anfangs-gründe). Zentral ist also zum einen, dass Ele-mentarisierung keine Reduktion darstellt. Siebeschneidet nicht das Ganze, um es zu verklei-nern und es zu vereinfachen. Vielmehr bringtsie das Ganze in ein Konzentrat, das einemBrühwürfel vergleichbar alles Wesentlicheenthält und sobald es aufgelöst wird – als»Suppe« – wohltuend genießbar ist. Zum ande-ren beschränkt sich Elementarisierung nachdem Tübinger Modell weder auf den Lernstoff(Sache), noch auf die Person. Sie ist ein mehrdi-mensionales Konzept, das fünf zentrale Per-spektiven berücksichtigt, die in der Unterrichts-praxis ineinander verwoben sind:

3.4.1 Elementare Strukturen

Hier geht es um die Strukturen des Inhalts,d. h. um die elementaren Gegenstandsstruk-turen theologischer Texte und Inhalte. Der»Sache Kern« (Schweitzer) wird durch wissen-schaftlich anerkannte Methoden der Exegeseoder systematischen Theologie ermittelt – undda diese im theologischen Feld niemals ein-deutig sind – von der Lehrkraft sinnvoll verant-wortet. Am Beispiel der Theodizee geht es umdie elementare Sachstruktur des Trilemmas:Wenn Gott Allmacht und Liebe verkörpert,kann er das Böse nicht zulassen.

3.4.2 Elementare Erfahrungen

Während die Strukturen von der Sache aus-gehen, gehen die elementaren Erfahrungen vonder Person aus. Im Sinne eines erfahrungsorien-tierten Unterrichts wird nach den grundlegen-den Erfahrungen der SuS gefragt: Was sindsubjektiv authentische Erfahrungen der SuS?Es wird nach dem lebens- und erfahrungs-bedeutsamen Sitz im Leben der Mädchen undJungen gefragt oder auch nach dem »Sitz« einerSache in ihrem Leben. Um die elementareRelevanz des gemeinsamen Gegenstands fürden Einzelnen zu erschließen, eignen sich bio-graphische, ästhetisch kreative und spielerischeZugänge (siehe Kapitel 5.5). Am Beispiel der

Theodizee könnte die elementare Erfahrungeines Kindes sein: »Meine Mutter wurde voneinem Betrunkenen überfahren. Wie konnteGott das zulassen?«

3.4.3 Elementare Zugänge

Die dritte Perspektive richtet das Augenmerkauf die Weltzugänge von Kindern und Jugend-lichen und vertieft somit die zweite Perspektive.Sie fragt: Was sind die individuellen Wahrneh-mungs-, Denk- und Handlungsformen der Mäd-chen und Jungen in ihrem jeweiligen Alter? Umdie grundlegenden Zugänge zu bestimmen, wirdauf sozial- und entwicklungspsychologische Er-kenntnisse zurückgegriffen, auch im Feld derGlaubensentwicklung (vgl. Fowler 1991). BeimTheodizeebeispiel könnte die Lösung des betrof-fenen Kindes sein, dass der betrunkene Fahrerwie eine Marionette vom Teufel gesteuert wur-de. Sie entspricht dem elementaren (kognitiven)Zugang der dualistischen Denkstruktur desKindes. Unter »elementare Zugänge« könnenauch die vier grundlegenden Zugangs- und An-eignungsformen verstanden werden, mit denensich Kinder- und Jugendliche ihre Welt erschlie-ßen (siehe Kapitel 3.6).

3.4.4 Elementare Wahrheiten

Die vierte Perspektive fragt nach dem gewiss-machenden Wahren. Hier zeigt sich, dass derdualistische Lösungsweg des Kindes nicht derelementaren Wahrheit des Alten und Neuen Tes-taments entspricht. Dort findet sich kein Teufelals göttliche Gegenmacht und auch im Hiobbuchist der Satan nur eine fiktive literarische Gestaltin Gottes Hofstaat. Auf der anderen Seite istdiese dualistische Vorstellung eine »wahre«Überzeugung dieses Kindes. Beide Wahrheitengilt es, miteinander ins Gespräch zu bringen.

3.4.5 Elementare Lernformen

Die fünfte – von Friedrich Schweitzer ergänztePerspektive – fragt nach den elementaren Lern-formen: Wie müssen die grundlegenden Formenund Wege der Aneignung aussehen, damit sichalle Mädchen und Jungen mit Hilfe elementar-religiöser Inhalte auf dem Hintergrund ihrerelementaren Erfahrungen und Zugänge elemen-tare Wahrheiten erschließen können? Im Feldder religiösen Bildung könnten dies z.B. reli-gionspädagogischeUnterrichtskonzepte sein (vgl.

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Kapitel 4).WelcheMethodenundKonzepte inderjeweiligenUnterrichtssituationwirklich»elemen-tar« sind, muss im konkreten Fall die Zusam-menschau der vier Perspektiven der Elementari-

sierung erweisen. Da könnte es z.B. sein, dass imTheodizeebeispiel die Methode des Standbildesoder ein bibliodramatischer Zugang für die Ele-mentarisierung hilfreich werden könnte.

Abb. Elementarisierungsmodell nach K. E. Nipkow (Schnitzler 2007, 163)

3.5 Handlungsorientierung

Die Wurzeln des handlungsorientierten Unter-richts reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück.Schon Johann Amos Comenius (1592–1670)forderte die Einbeziehung aller Sinne beimLernen. Reformpädagogen wie Maria Montes-sori, Célestin Freinet, Georg Kerschensteiner,Berthold Otto und Peter Petersen gelten alsWegbereiter des handlungsorientierten Unter-richts. Neben die Kopfarbeit tritt gleichberech-tigt die Handarbeit.

Handlungsorientiert meint jedoch nicht, dassder Unterricht auf materielle (oder geistige)Handlungsprodukte abzielt, sondern dass sichdas Lernen im Handlungsprozess vollzieht(Learning by doing) und unter anderem dieHandlungsfähigkeit zum Ziel hat. Heinz Mühl(1979) hat auf der Grundlage von BertholdOttos Gesamtunterricht und John DeweysProjektunterricht einen handlungsbezogenenUnterricht für SuS mit dem Förderschwerpunktgeistige Entwicklung konzipiert. Sein Ziel istnicht das Handlungsprodukt, sondern dieHandlungsfähigkeit der SuS und die Förderung

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ihres selbständigen Handelns. Diese praktischeKompetenz soll möglichst in realen, lebensbe-deutsamen Handlungssituationen erlernt wer-den. Als viertes Ziel neben der Hinführung zueinem sinnerfüllten Leben (1), der Lebenstüch-tigung und Lebensorientierung (2) und der»Hinführung zur Ich-Fähigkeit (3) nennt Mühldie Eingliederung in die Gesellschaft (1979, 63).Auch wenn hier SuS mit Behinderung einseitigintegrativ handlungsfähig gemacht werden sol-len, um in der Gesellschaft dabei sein zu kön-nen, wird doch deutlich, dass Handlungsfähig-keit auch ein Schlüsselbegriff der inklusivenPädagogik ist. Alle sollen handlungsfähigerwerden, eben auch im Umgang mit dem Anders-Sein der Anderen.

Die Handlungsorientierung hat längst auch denRU erreicht. Im erfahrungsorientierten Ansatz(vgl. Kp. 2.2.1.1) wurde sie bereits von Anfangan konzeptionell mitgedacht. Und seit Beginnder 2000-er Jahre werden nun unterschiedlichehandlungsorientierte Zugänge im RU wie litur-gisches, diakonisches, mystagogisches, basalesoder ästhetisches Lernen unter dem weitenUmbrella-Begriff des Performativen RU zusam-mengefasst und als ein neues didaktischesPrinzip kontrovers diskutiert (vgl. Kalloch et al.2009, 327ff).

Performativer RU geht von der Beobachtungdes Traditionsabbruchs aus. Schulischer RUkann nicht mehr damit rechnen, dass SuS reli-giös bzw. kirchlich sozialisiert sind. Sie könnendaher auch nicht mehr auf ein religiöses Erfah-rungsreservoir zurückgreifen. Damit kann derRU ihre religiösen Erfahrungen auch nichtmehr reflektierend bearbeiten. Das Konzept desPerformativen RU versucht deshalb, das Erfah-rungsreservoir, das nicht mehr vorausgesetztwerden kann, im schulischen Rahmen anzubah-nen.

Im Kontext des inklusiven RU ist der perfor-mative Zugang weniger aufgrund des Tradi-tionsbruches und der fehlenden religiösen Vor-erfahrung attraktiv, sondern aufgrund seinesganzheitlichen,handlungsorientiertenAnsatzes.Auf dem Hintergrund des Unterrichtsprinzips»von unten nach oben« und der Perspektive desschwächsten Gliedes ist performatives Unter-richten im Sinne eines handelnden Vollzugs vonReligion im RU unverzichtbar. Denn dort, woReligion aufgrund kognitiver Einschränkungennicht reflektiert werden kann, kann sie prak-tiziert werden: Statt eines Redens über Religionwird religiös geredet oder gehandelt.

Doch wie kann und darf Religion im RUpraktiziert werden? Und wo liegen die Grenzen?

Beim performativen RU kreist der kritische Dis-kurs um den Begriff des Probehandelns. Dabeitreten zwei Traditionslinien des performativeAnsatzes zutage (vgl. Roose o. J.): Zum einen dieVorstellung von der Performativität. Sie gehtauf die Sprechakttheorie von John Austin zu-rück (»How to do things with words?«) und ver-steht performativ als Sprachhandlung in religiö-sem Vollzug. Und zum anderen die in der Weltdes Theaters und der Kunst beheimatete Perfor-manz. Sie versteht performativ als Aufführungoder Inszenierung aus glaubender Grundhal-tung. Dabei schlüpfen die Akteure in eine Rolle,mit der sie sich identifizieren und eine religiöse»performance« erleben. Dieses Als-ob-Probehan-deln auf der Bühne des RU steht jedoch in derGefahr einer fehlenden Aufrichtigkeit und einermangelnden Authentizität. Die Performativitätim Sinne der Sprechakttheorie ist dagegen ech-tes, authentisches Handeln. Mit ihr kann dasProbehandeln im RU als ›Handeln in der Probe‹verstanden werden. Religiöses Handeln wirdschon praktiziert und zugleich noch eingeübt.Wie in der Chorprobe wird schon »echt« gesun-gen, aber auch immer wieder unterbrochen, wie-derholt, reflektiert und verfeinert.

Dass im schulischen Kontext des konfessio-nellen RU nicht jede religiöse Handlung einge-übt werden kann, liegt auf der Hand. Die Gren-zen sind in dreifacher Hinsicht zu verantwortenund einzuhalten:

von der Seite der Schule: Begrenzung durchden allgemeinen Bildungsauftrag und denBildungsplan (z. B. keine Mission)von der Seite der Religionsgemeinschaft:Begrenzung durch die religiöse und kirchli-che Tradition (z. B. kein Sedermahl, keineTaufe etc.)von der Seite der SuS: Begrenzung durch diereligiöse Sozialisation und den pädagogischenGrundsatz, die Mädchen und Jungen dort ab-zuholen und zu begleiten, wo sie stehen (z. B.keine religiöse Überwältigung, kein subtilesÜberstülpen)

Zu bedenken ist auch, dass im RU SuS trotz ge-wisser Befreiungsmöglichkeiten einer Teilnah-mepflicht unterliegen. Ihre Glaubenszustim-mung kann nicht selbstverständlich vorausge-setzt werden. Das Einverständnis zum Einübenreligiöser Handlungen wie Singen, Meditieren,Beten, Segnen oder Rituale vollziehen (vgl.Kapitel 5.3) muss jeweils im Unterricht von denSuS neu eingeholt bzw. angemessen rückversi-chert werden. Die Lehrkraft kann die Zustim-mung der SuS, religiöses Handeln einzuüben,nicht einfach aufgrund ihres Verzichts auf eine

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Teilnahmebefreiung am RU lediglich »anneh-men« oder voraussetzen. Bei SuS mit einerschweren geistigen Behinderung muss die Zu-stimmung immer wieder in non-verbaler Kom-munikation, z. B. mit Hilfe der Körperspracheüberprüft und in Abstimmung mit den Elterneingeholt werden.

3.6 Vielfältige Aneignungsformen

Gemeinsames Lernen wird erleichtert, wenn dergemeinsame Lerngegenstand von LuL auf viel-fältige Weise zugänglich gemacht wird (Zugangs-formen). Nachhaltiges Lernen wird gefördert,wenn sich SuS eine Kompetenz auf vielfältigeWeise aneignen können (Aneignungsformen).Folglich orientieren sich die Zugangsformen derLuL an den Aneignungsformen der SuS. DieAngebote der LuL entsprechen dabei den vielfäl-tigen Aneignungsmöglichkeiten der SuS. Siebereiten das Lernen am gemeinsamen Gegen-stand so vor, dass Mädchen und Jungen dieganze Vielfalt ihrer Aneignungs-, Verarbeitungs-undHandlungsmöglichkeitennutzenkönnen,umsich nützliche Kompetenzen zu erwerben. Dasheißt: Die Unterrichtsgestaltung ermöglicht einganzheitliches Lernen mit allen Sinnen undTätigkeitsformen. Oder wie Johann HeinrichPestalozzi (1746–1827) sagen würde: Ein Ler-nen mit Kopf, Herz und Hand.

Die Neurobiologie bestätigt: Bildungsgegen-stände, die über verschiedene Sinne erworbenwerden, aktivieren im Gehirn größere Teile.Informationen aus verschiedenen Eingangs-kanälen werden auch in unterschiedlichenRegionen des Gehirns abgelegt. Dadurch las-sen sie sich leichter wiederfinden und aktivie-ren. Zudem beugt die Nutzung verschiedenerAneignungsformen der geistigen Ermüdung vorund erhöht die Aufmerksamkeit.

Die »Arbeitshilfe Religion inklusiv« orientiertsich an den vier grundlegenden Aneignungs-und Zugangsformen von SuS. Sie sind für denBildungsplan mit dem Förderschwerpunkt geis-tige Entwicklung in Baden-Württemberg leitend(Bildungsplan 2009, 14f). Diese vier Aneig-nungsformen folgen keinem bestimmten wissen-schaftlichen Konzept. Sie verstehen sich alsgleichwertige Lernformen, die vom Lebensalterund von der Lernausgangslage der Mädchenund Jungen unabhängig sind.

Abb.: Zugangs- und Aneignungsformen

3.6.1 Basal-perzeptiv

Die grundlegenden (= basalen) Aneignungsfor-men der menschlichen Wahrnehmung (= perzep-tiv) sind die fünf Sinne: Fühlen, Schmecken,Sehen, Riechen und Hören. Über diese fünfbasalen Eingangskanäle nimmt der Mensch dieWelt und sich selbst wahr. Durch Formen derSinnesbehinderung können die fünf basalenWahrnehmungsformen eingeschränkt, zugleichaber auch geschärft werden. So sind Tastsinnund Hörsinn von blinden Menschen in der Regelüberdurchschnittlich ausgeprägt. Der Nahsinndes Fühlens kann auf dreifache Weise weiterunterteilt werden. »Gefühlt werden« kann überdie Haut (somatisch), über die Knochen (vibra-torisch) und über die Bewegung des eigenenKörpers durch das Vestibulärsystem im In-nenohr (vestibulär). Auch die Bewegung ist einebasale Möglichkeit, sich die Welt anzueignen.Durch sie können die Formen der Sinneswahr-nehmung und die folgenden Formen der Aneig-nung um ein Vielfaches erweitert und berei-chert werden. Der Bewegungssinn wird nichtselten als sechster Sinn bezeichnet. Vom siebtenSinn wird sprichwörtlich gesprochen. Zu diesemintuitiven Sinn gehört auch der Sinn fürsReligiöse bzw. der »Sinn und Geschmack fürsUnendliche« (Schleiermacher) oder der »Symbol-sinn« für das Transzendente bzw. Göttliche(Halbfas). In unserem westlichen Kulturkreiswird oft das Herz oder die Seele als Ort desreligiösen Sinnesorgans angegeben. Wie alleSinne ist auch der religiöse Sinn auf die leibli-chen Eingangskanäle des Lernens angewiesen(Lernen durch Wahrnehmen).

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Exkurs: Religiös-basales LernenDie basalen Sinne der somatischen, vibratori-schen und vestibulären Empfindung sind im RUnoch kaum im Blick. Gerade im Kontext desinklusiven RU, der auch SuS beteiligen möchte,die auf basale Zugänge angewiesen sind, bedarfes in diesem Feld der leiborientierten Religions-pädagogik weiterer Entwicklungen (vgl. Schwei-ker 2005, 2009). Denn eine inklusive Pädagigikduldet keine Restgruppe. Auch SuS mit kom-plexer bzw. schwer mehrfacher Behinderungmüssen inkludiert werden können.

Basal verweist auf grundlegende anthropolo-gische Strukturen. Die menschliche Entwicklungnimmt ihren Ausgangspunkt in der befruch-teten Eizelle, die sich in drei Keimblätterentfaltet. »Aus dem einen der drei Keimblätter,dem Ektoderm, entsteht u.a. nach und nach dieHaut und das Nervensystem. Damit ist dieHaut untrennbar mit dem Nervensystem undsomit mit den Möglichkeiten der Wahrnehmungverbunden. Die basale Wahrnehmung ist somitdie Keimzelle des menschlichen Erlebens. Nachden struktur-genetischen Erkenntnissen vonJean Piaget bilden die somatischen Reflexsche-mata die Grundstruktur der kognitiven Ent-wicklung. Fühlen, Spüren und Greifen bildensomit die Grundlage für das Be-greifen. Ent-wicklungspsychologisch gründen die Kognitio-nen nach Piaget in den sensorischen und moto-rischen Erfahrungen der pränatalen und früh-kindlichen Lebensphase.

Auch die Glaubensentwicklung nimmt in denbasalen Erfahrungen der Mutter-Kind-Bezie-hung ihren Anfang (Fowler 1991). Im engenHautkontakt zur Mutter, zum Vater und zu Pri-märpersonen entfaltet sich das, was in derdeutschen Sprache mit Ur-Vertrauen übersetztwurde. Erik Erikson bezeichnete es zutreffenderals basales Vertrauen (basic trust). Es ist derfruchtbare Boden, in dem das GottvertrauenWurzel schlagen, auf dem der Glaube gedeihenund stehen kann. In theologischer Hinsichtgründen die basalen anthropologischen Struk-turen in der Gottebenbildlichkeit.

Die basalen Funktionen werden im Konzeptder basalen Stimulation nach Fröhlich in densomatischen, vestibulären und vibratorischenWahrnehmungsbereich eingeteilt (Bienstein/Fröhlich 2003, 41–64).

Der somatische Bereich verfügt über dasgrößte Sinnesorgan, die Haut. Sie bildet dieKontaktfläche zur Außenwelt. Über die Erfah-rungen der Haut und der Muskeln entwickeltder Mensch ein inneres Körperbild. LangeBewegungslosigkeit, ein erhöhter Muskeltonus,der Verlust eines Körperteils oder neurologische

Ausfälle können das Körperbild stark beein-trächtigen. Gezielte Berührungsangebote imBereich des ganzen Haut- und Muskelkörperskönnen das Wohlbefinden und das Körperbildpositiv verändern. Berührungen zwischenMenschen, seien sie auch indirekt über einMedium vermittelt, stellen immer einen Aus-tausch dar. Darum wird in der basalen Stimula-tion auch vom somatischen oder basalen Dialog(siehe Kapitel 5.4, S. 77) gesprochen.

Dass die vibratorische Erfahrung eineneigenständigen Sinnesbereich darstellt, ist unskaum bewusst. Es gehört jedoch zur frühenmenschlichen Grunderfahrung, dass äußereSchwingungen durch unsere Knochen undGelenke bis ins Innere auf den ganzen Körperübertragen werden. Vibrationen werden insbe-sondere durch das Stehen, Gehen und Sprechenständig durch die Eigentätigkeit ausgelöst. Siegeben Hinweise auf die Beschaffenheit desUntergrundes und der Kohärenz des eigenenKörpers. Schwerste Beeinträchtigungen des Be-wegungsapparats, insbesondere wenn sie zurImmobilität führen, reduzieren diese Erfahrun-gen und Erkenntnisse erheblich. Werden sol-chen Menschen vibratorische Anregungen mitder Hand oder von Körper zu Körper ermög-licht, beginnen viele von ihnen nach innen zulauschen und auf das Neue aufmerksam zuwerden.

Im vestibulären Erfahrungsbereich sindAnregungen nur über Bewegung möglich. DasVestibulärsystem im Innenohr informiert unsüber die Lage des Körpers im Raum, überDrehung und Beschleunigung. Es sichert dasGleichgewicht und koordiniert die visuelleWahrnehmung. Die Unterversorgung des Ves-tibulärsystems kann sich bei Menschen, die sichüberwiegend in liegender Position befinden,negativ auf die räumliche Orientierung aus-wirken. Der Raum kann zunehmend zweidimen-sional flächig, einer Tapete ähnlich, erlebtwerden. Erfahrungen mit Schwerkraft undRaumlage gehören zu den sensorischen Grund-bedürfnissen in der Entwicklung der Menschen.

In seiner vorgeburtlichen Entwicklung nimmtder Mensch seine Wirklichkeit vornehmlichsomatisch, vestibulär und vibratorisch wahr.Diese drei Wahrnehmungsbereiche sind dieersten und grundlegenden Zugänge der Sinnes-erfahrung. Sie werden zu Recht als basal be-zeichnet. Auf ihnen fußen die Formen derolfaktorischen, oralen, auditiven, taktilen undvisuellen Sinneserfassung, die im Konzept desbasalen Unterrichts selbstverständlich ein-geschlossen und von großer Bedeutung sind(Bienstein / Fröhlich 2003, 41).

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Abb. Wahrnehmungspyramide: Von den basalen Nah-sinnen zu den Fernsinnen

Wie existenziell basale Erfahrungen sind, wirdin den Grenzsituationen des Lebens besondersdeutlich. In ihnen ist der Mensch auf dasElementare, das Einfache zurückgeworfen: DasWiegen des Neugeborenen im Arm, der Kopf ander Brust der vertrauten Person, die zärtlicheBerührung der Hand beim Sterben. Wo Worteversagen, redet der Körper weiter. Die Sprachedes Tröstens ist basal. Wenn in solchen Lagenetwas trägt, dann u.a. diese fundamentale Formder Kommunikation. Sie wird über kulturelleGrenzen hinweg universal verstanden.

3.6.2 Konkret-handelnd

Bei der basal perzeptiven Aneignungsform ginges um die empfangende, mit allen Sinnen auf-nehmende Aneignung von Welt. Nun geht esum die konkret-handelnde Aneignung, die miteiner aktiv einwirkenden Tätigkeit verbundenist. Dafür steht das Piktogramm der Hand, diesich tätig mit der Welt auseinandersetzt. DieWelt wird durch gezielte, äußerlich erkennbareAktivitäten erschlossen. Dies geschieht durchdie Entdeckung von vielfältigen, in der Weltund unserer Kultur vorhandenen Wirkungenund Effekten, die Wiederholung der entspre-chenden Aktivitäten oder das forschende Erkun-den von Gegenständen, Symbolen Pflanzen,Tieren und Menschen. Mit »konkret« ist ge-meint, dass die handelnden, erkundenden undforschenden Tätigkeiten auf etwas konkretGegebenes in der Welt bezogen sind. Mit einerkonkreten Tätigkeit können praktische Fähig-

keiten erlernt werden, mit einem Gegenstandadäquat umzugehen oder Rituale angemessenauszuüben. Durch interaktive Handlungen mitanderen können Sozialkompetenzen erworbenoder wertorientierte Verhaltensweisen gegen-über Mensch, Tier und Schöpfung eingeübt wer-den (Lernen durch Tun).

3.6.3 Anschaulich-modellhaft

Die anschauliche-modellhafte Aneignungmeint,dass SuS sich ein »Bild« von der Welt machenoder Bilder bzw. Modelle von der Welt benut-zen, um mit der Wirklichkeit besser zurechtzu-kommen. Das »sich ein Bild machen« schließtauch die Meinungs-Bildung ein. Sie ist eineForm der persönlichen An-eig-nung. SuS ma-chen sich eine eigene Vorstellung von Ereignis-sen, Personen, Gegenständen und Zusammen-hängen. Dies kann durch Rollenspiele, kreativeAusdrucksformen, die freie Gestaltung vonBodenbildern oder Standbildern und vielesmehr unterstützt werden. In diesen freienProzessen hin zu anschaulichen Vorstellungenwerden SuS herausgefordert zu deuten bzw. zutheologisieren. Von besonderer Bedeutung ist,dass Mädchen und Jungen unterstützt werden,ein eigenes, positives, wirklichkeitsnahes Selbst-bild und ermutigende Gottesvorstellungen zuentwickeln. Auch die Entwicklung einer Visionvon der eigenen Zukunft oder der Zukunft derWelt kann ein wichtiger »anschaulich-modell-hafter« Bildungsprozess sein.

Anschauungen nicht nur zu entwickeln,sondern auch zu nutzen meint, dass SuS an-schauliche Darstellungen oder Modelle verste-hen und auf die Wirklichkeit anwenden können.Sie lernen mit Hilfe von Modellen, Aufgaben zubewältigen, Probleme zu lösen und sich in derWelt zu orientieren. Das Lernen am Modell,seien es nun Vorbilder wie Jesus, biblischePersonen, Stars oder auch die LuL, ist für denErwerb von psycho-sozialen Fähigkeiten vonzentraler Bedeutung (Lernen durch Abbild undVorbild).

3.6.4 Abstrakt-begrifflich

Die »abstrakt-begriffliche« Aneignung be-schreibt, dass Objekte, Informationen undSachverhalte nicht nur basal-perzeptiv, kon-kret-handelnd und anschaulich-modellhaft, er-fasst werden, sondern auch in einer Form, dievon konkreter Wahrnehmung, Handlung undAnschauung abstrahiert. Im Extremfall ist es

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die Erkenntnis durch das Denken, zum Beispielohne bewusste Sinneswahrnehmung, mit »ge-bundenen Armen« und »geschlossenen Augen«.Dieses Denken setzt jedoch Begriffe und innereBilder voraus. Entwicklungspsychologisch bautes auf der sensorischen (prä-operational) undder tätigen Form des Denkens (konkret-opera-tional) auf. Diese Aneignungsform vollzieht sichbegrifflich mit Hilfe von Symbolen und Zeichenohne eine konkrete Anschauung. Die klassischeForm ist die Textarbeit, im RU insbesonderedas Lesen von biblischen Geschichten und dasAufschreiben eigener Gedanken. Erkenntnissewerden auf gedanklichem Wege gewonnen (Ler-nen durch Begriffe und Begreifen).

Seit Piaget ist bekannt, dass das kognitiveBegreifen das physische Begreifen der Dingevoraussetzt. Mit dieser letzten Form der Aneig-nung schließt sich der Kreis. Alle vier Aneig-nungsformen bedingen sich gegenseitig. Sie sindallen SuS zugänglich zu machen. Die basal-perzeptiven Aneignungsformen gelten auch denkognitiv leistungsfähigen SuS und die abstrakt-begrifflichen auch – soweit sie daran partizipie-ren können – den SuS mit komplexer Behinge-rung. Inklusives Lernen bedarf der Vielfalt anAneignungsformen.

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