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4 ARCHIVAR 63. Jahrgang Heft 01 Februar 2010 EDITORIAL 5 AUFSÄTZE 6 R. Dässler / K. Schwarz · Archivierung und dauerhafte Nutzung von Datenbankinhalten aus Fachverfahren 6 Chr. Keitel · Digitale Archivierung beim Landesarchiv Baden-Württemberg 19 St. Schwalm · Elektronisch signierte Dokumente im Zwischen- und Endarchiv 27 Ch. Vancoppenolle · Der Fonds der unter Zwangsverwaltung gestellten Bestände 35 ARCHIVTHEORIE UND PRAXIS 44 Das Archivwesen der Russischen Föderation. Ergebnisse und Probleme • Das Archivwesen Weißrusslands. Voraussetzungen • „Was hat der Mensch dem Menschen größeres zu geben, als Wahrheit?“ Zur Gründung des Reichsarchivs vor 90 Jahren in Potsdam • Erschließungs- informationen im Internet. Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Präsentation im Netz • Die Ver-Messung der Welt – zur Lagerung und Restaurierung von Karten in Archiven • Mikro- historie aus lokalen und regionalen Archiven. 69. Fachtagung rheinland-pfälzischer und saar- ländischer Archivarinnen und Archivare am 11. Mai 2009 • 6. Bayerischer Archivtag 2009 in Kaufbeuren: Kompetenzzentrum Archiv. Die Archive in der vernetzten Welt • 4. Workshop „Archive von unten“ • Documentary Heritage Management in the Digital Age: Beauty and the Beast. The 20th Bi-Annual East and Southern Africa Region Branch of the International Coun- cil on Archives (ESARBICA) General Conference in Windhoek • 5. Nationaler Aktionstag der Allianz für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts • Auch für Archivare von Interesse... – Bericht über den 61. Deutschen Genealogentag • 19. Internationaler Archivtag des „IIAS“ in Triest LITERATURBERICHTE 78 MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES LANDESARCHIVS NRW 96 Das Archivierungsmodell „Justiz“ des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen. Work in progress: Konzept und Stand der Archivierungsmodelle im Landes- archiv NRW 96 Ein Jahr Personenstandsgesetz (PStG) – Erfahrungen aus NRW 102 Neuauflage der Beständeübersicht in der Abteilung Westfalen des Landes- archivs NRW 105 „Archives and Libraries: From Memory of the Past to the Web“. Internationale Tagung in Cagliari 25./26.11.2009 107 MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES VdA 109 Archive im Digitalen Zeitalter – 79. Deutscher Archivtag 2009 109 Gemeinsame Arbeitssitzung 113 Berichte zu den Sitzung der Fachgruppen 115 Berichte der Arbeitskreise in der Mitgliederversammlung 121 „Dem Verborgenen auf der Spur“ 125 PERSONALNACHRICHTEN 126 NACHRUFE 130 KURZINFORMATIONEN UND VERSCHIEDENES 131 VORSCHAU/IMPRESSUM 132 INHALT

4 INHALT · den Fortschritten, die in den letzten fünf bis zehn Jahren auf dem Weg von der Theorie zur Praxis digitaler Archi-vierung gemacht wurden. Die Zahl der Archive, die tatsächlich

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ARCHIVAR 63. Jahrgang Heft 01 Februar 2010

EDITORIAL 5

AUFSÄTZE 6

R. Dässler / K. Schwarz · Archivierung und dauerhafte Nutzung vonDatenbankinhalten aus Fachverfahren 6

Chr. Keitel · Digitale Archivierung beim Landesarchiv Baden-Württemberg 19

St. Schwalm · Elektronisch signierte Dokumente im Zwischen- und Endarchiv 27

Ch. Vancoppenolle · Der Fonds der unter Zwangsverwaltung gestelltenBestände 35

ARCHIVTHEORIE UND PRAXIS 44Das Archivwesen der Russischen Föderation. Ergebnisse und Probleme • Das ArchivwesenWeißrusslands. Voraussetzungen • „Was hat der Mensch dem Menschen größeres zu geben,als Wahrheit?“ Zur Gründung des Reichsarchivs vor 90 Jahren in Potsdam • Erschließungs-informationen im Internet. Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Präsentation im Netz •Die Ver-Messung der Welt – zur Lagerung und Restaurierung von Karten in Archiven • Mikro-historie aus lokalen und regionalen Archiven. 69. Fachtagung rheinland-pfälzischer und saar-ländischer Archivarinnen und Archivare am 11. Mai 2009 • 6. Bayerischer Archivtag 2009 inKaufbeuren: Kompetenzzentrum Archiv. Die Archive in der vernetzten Welt • 4. Workshop„Archive von unten“ • Documentary Heritage Management in the Digital Age: Beauty and theBeast. The 20th Bi-Annual East and Southern Africa Region Branch of the International Coun-cil on Archives (ESARBICA) General Conference in Windhoek • 5. Nationaler Aktionstag derAllianz für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts • Auch für Archivare von Interesse... –Bericht über den 61. Deutschen Genealogentag • 19. Internationaler Archivtag des „IIAS“ inTriest

LITERATURBERICHTE 78

MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES LANDESARCHIVS NRW 96

Das Archivierungsmodell „Justiz“ des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen.Work in progress: Konzept und Stand der Archivierungsmodelle im Landes-archiv NRW 96

Ein Jahr Personenstandsgesetz (PStG) – Erfahrungen aus NRW 102

Neuauflage der Beständeübersicht in der Abteilung Westfalen des Landes-archivs NRW 105

„Archives and Libraries: From Memory of the Past to the Web“.Internationale Tagung in Cagliari 25./26.11.2009 107

MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES VdA 109

Archive im Digitalen Zeitalter – 79. Deutscher Archivtag 2009 109

Gemeinsame Arbeitssitzung 113

Berichte zu den Sitzung der Fachgruppen 115

Berichte der Arbeitskreise in der Mitgliederversammlung 121

„Dem Verborgenen auf der Spur“ 125

PERSONALNACHRICHTEN 126

NACHRUFE 130

KURZINFORMATIONEN UND VERSCHIEDENES 131

VORSCHAU/IMPRESSUM 132

INHALT

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ARCHIVAR 63. Jahrgang Heft 01 Februar 2010

EDITORIALLLiieebbee LLeesseerriinnnneenn uunndd LLeesseerr,, lliieebbee KKoolllleeggiinnnneenn uunndd KKoolllleeggeenn,,

Die Entscheidung für ein Themenheft zur „digitalen Archivierung“ bedarf eigentlich keiner besonderen Rechtfer-tigung. Die dauerhafte Sicherung und Zugänglichmachung elektronischer Unterlagen ist eine der dringendstenAufgaben der Archive. Über die Entwicklung von Konzepten für die digitale Langzeitarchivierung wird seit späte-stens Mitte der 1990er Jahre in der Fachgemeinschaft intensiv diskutiert. Neben zahlreichen Handreichungen undDarstellungen liegt mittlerweile mit dem OAIS-Referenzmodell ein Standard vor, der (erstaunlich schnell) weltweitals verbindliche Grundlage für die digitale Archivierung Akzeptanz gefunden hat. Die Archive stehen nunmehr vorder großen Aufgabe, diesen Standard in funktionierende Verfahren und technische Systeme umzusetzen. DieBeiträge des vorliegenden Heftes illustrieren exemplarisch den aktuellen Stand dieser Entwicklung. Sie zeugen vonden Fortschritten, die in den letzten fünf bis zehn Jahren auf dem Weg von der Theorie zur Praxis digitaler Archi-vierung gemacht wurden. Die Zahl der Archive, die tatsächlich in der Lage sind, digitale Unterlagen zu überneh-men, nimmt zu; ebenso wächst die Bandbreite digitaler Archivlösungen, die inzwischen auch disparate undkomplexe Daten aus Verwaltungssystemen und -anwendungen übernehmen können. Allerdings sind die Problemenach wie vor groß. Die Beispiele aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg und das von der FH Potsdam initiier-te Projekt zur Datenbankarchivierung zeigen, dass große technische, aber auch finanzielle und personelle Ressour-cen für den Aufbau und den Betrieb der vorerst meist prototypischen Archivierungssysteme nötig sind. Schon jetztist absehbar, dass die Aufwände der Archive in erheblichem Maße noch ansteigen werden, sobald sich die Da-tenmengen im Echtbetrieb der Systeme vervielfachen. Und dabei hält gleichzeitig in den Verwaltungen der Trendzur Intensivierung und Ausdifferenzierung elektronischer Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten(nicht zuletzt im Zeichen von Web 2.0) weiter an. Technische Grenzen, die zu einer Verlangsamung der Entwick-lung führen könnten, sind bis auf Weiteres nicht absehbar. Angesichts dieser Entwicklung muss insbesondere derPolitik klar sein, dass die Archive mit ihrer gegenwärtigen Ausstattung kaum eine Chance haben, die Archivierungdigitaler Unterlagen in großem Stil und auf dem zu Recht angestrebten hohen fachlichen Niveau zu leisten. Siebrauchen mehr und auch informationstechnisch geschultes Personal; und sie müssen darüber hinaus ihre Kompe-tenzen und Kapazitäten in den Kernaufgaben der Bewertung und Erschließung an die Bedingungen einer sichverstetigenden elektronischen Informationsexplosion anpassen. Dabei werden für die Archive einige Aufgaben, dieaus der analogen Schriftgutproduktion resultieren – wie die Bewertung –, noch viele Jahrzehnte zu erledigen sein,andere – wie die Bestandserhaltung von Papier und Pergament – überhaupt nicht wegfallen.

Wir hoffen, dass das vorliegende Themenheft aktuelle und anregende Einblicke in die Ansätze der elektronischenLangzeitarchivierung bietet; das Thema wird sicher auch weiterhin im „Archivar“ einen besonderen Stellenwertbesitzen.

Jenseits des Themenschwerpunkts haben wir wieder versucht, über ein möglichst breites Spektrum neuer Ent-wicklungen, Projekte und Tagungen im Archivwesen zu informieren. In loser Anknüpfung an die Tradition derAuslandsberichte enthält das Heft mit den Beiträgen von Hermann Schreyer und Ragna Boden einen kleinenosteuropäischen „Nebenschwerpunkt“; er skizziert die gegenwärtige Situation des russischen und weißrussischenArchivwesens in einer Spannung zwischen Öffnung und kritischer Selbstreflexion einerseits und Tendenzen zueiner nationalen Abschottung andererseits. Der Blick über den deutschen Tellerrand ist sowohl für den internatio-nalen Austausch der archivischen Fachgemeinschaft als auch für die Nutzer von Archiven wichtig und hilfreich.Die Zeitschrift „Archivar“ wird weiterhin bemüht sein, eine internationale Perspektive zu pflegen, nicht zuletztauch durch Berichte über ausländische Tagungen und Archivliteratur.

Schließlich noch ein praktischer Hinweis in eigener Sache: Wiederholt erreichen die Redaktion Anfragen nachdem Jahresinhaltsverzeichnis des „Archivar“. Dieses Jahresinhaltsverzeichnis erscheint seit 2008 nicht mehr ingedruckter Form. Es wird aber weiterhin erstellt und kann über die Internetseite der Zeitschrift(www.archive.nrw.de/archivar/) als PDF-Datei heruntergeladen und ausgedruckt werden.

Herzlichst, Andreas Pilger in Verbindung mit Michael Diefenbacher,

Clemens Rehm, Wilfried Reininghaus, Ulrich Soénius und Martina Wiech

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ARCHIVIERUNG UNDDAUERHAFTE NUTZUNGVON DATENBANKINHALTENAUS FACHVERFAHREN –EINE NEUEHERAUSFORDERUNG FÜRDIE DIGITALEARCHIVIERUNG

von Rolf Dässler und Karin Schwarz

Der Einsatz von Informationstechnologien in der öffentlichenVerwaltung und den Wirtschaftsunternehmen erfolgt bekanntlichin größerem Umfang seit den 1960er Jahren. E-Government-Initiativen auf allen Verwaltungsebenen führten in den vergan-genen Jahren dazu, dass die elektronische Datenverarbeitung inihren verschiedensten Formen mittlerweile zum Büroalltaggehört. Auch wenn die elektronische Akte bisher in vielenBehörden und Unternehmen noch nicht real ist und die Nachvoll-ziehbarkeit des Verwaltungshandelns über die Papierakte gesi-chert zu sein scheint, existiert eine große Zahl fachspezifischerIT-Anwendungen, die das Verwaltungshandeln durch eine teilau-tomatisierte Sachbearbeitung erleichtern sollen. Registratur- undInformationssysteme, elektronische Register, Buchungs-und andere Systeme unterstützen den Bearbeitungsprozess einerspezifischen fachlichen Aufgabe und werden unter dem Begriffder Fachverfahren1 subsumiert. Die informationstechnischeGrundlage dieser Fachverfahren bilden Datenbanksysteme, die imVergleich zu den herkömmlichen Quellentypen der Urkunden,Amtsbücher und Akten einen neuen Dokumenttyp darstellen.Ursprünglich für die Verwaltung von kaufmännischen Datenentwickelt, bilden Datenbanksysteme heute die Dateninfra-struktur der modernen Informationsgesellschaft. Datenbanksys-teme sind nicht nur die Grundlage für die meisten Geschäftspro-zesse, sondern auch für vielfältige Webanwendungen (z. B. DMS,

CMS). Relationale Datenbanken bilden, oft unsichtbar für denNutzer, die Datenbasis für die meisten heute verfügbaren Infor-mationssysteme. Sie unterscheiden sich von anderen statischenDokumenttypen durch ihren ausschließlich digitalen und dyna-mischen Charakter und beeinflussen bisherige Geschäftsgängeund interne Verwaltungsabläufe ebenso wie auch die Methodender Archivierung von der Übernahme bis hin zur Nutzung.Angesichts des Alters und der Fülle von Fachverfahren ist es ander Zeit, sich aus archivfachlicher und informationstechnologi-scher Sicht den Datenbanken als eine archivwürdige Quelleumfassend zu nähern, bestehende Erfahrungen und Lösungsan-sätze zu nutzen und nachhaltige Verfahren zur Datenbankarchi-vierung zu entwickeln. Für innovative und praxisrelevanteLösungen muss dabei die archivfachliche Betrachtung des Doku-menttyps Datenbank an erster Stelle stehen. Ähnlich wie eineUrkunden- und Amtsbuchlehre oder Aktenkunde wird künftigeine Datenbankkunde nötig sein, um die Auswirkungen diesesDokumenttyps auf das Verwaltungshandeln und die Archivie-rungsstrategien zu beschreiben und vorteilhaft für Archivare undBenutzer in Handlungsstrategien umsetzen zu können.Der Artikel befasst sich mit grundsätzlichen Anforderungen anden archivischen Umgang mit Datenbanken, insbesondere mitden Methoden der Bewertung und dauerhaften Erhaltung der inden Datenbanken gespeicherten Informationen.

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ARCHIVWÜRDIGKEIT VON FACH-VERFAHREN UND FACHINFORMATIONS-SYSTEMEN

Das deutsche Archivwesen beschäftigt sich seit Mitte der 1990erJahre eingehender mit der Archivierung von Fachverfahren. Die1997 vom EDV-Ausschuss der Archivreferentenkonferenz erarbei-teten Hilfsmittel brachten im Ergebnis u. a. eine Klassifizierungder IT-Verfahren mit, die sich am Verwendungszweck für dieVerwaltung orientiert und Bewertungsvorschläge ableitet.2

Danach werden die IT-Verfahren in Registratursysteme, Systemezur IT-unterstützten und IT-gestützten Sachbearbeitung sowie inInformationssysteme eingeteilt, wobei den Informationssystemendie höchste Archivwürdigkeit zugesprochen wurde. Einge-schränkt wird diese Klassifikation durch die Tatsache, dass letzt-lich keine klare Zuordnung der Systeme erfolgen kann, da Misch-formen inzwischen üblich sind. Bei der Feststellung der Archiv-würdigkeit von Fachverfahren ist allein die Klassifizierung nachdiesem Schema nicht ausreichend und es müssen daher mehrereAspekte zum Tragen kommen.

1. Verbindung zwischen Fachverfahren und AkteDer Transfer von Daten aus Fachverfahren in die Akte bildet einwesentliches Kriterium für die Archivwürdigkeit wegen derRechtsverbindlichkeit der Akte und dem Bewertungsgrundsatz,Redundanzen zu vermeiden. Weiterhin wird der Akte der blei-bende Wert beigemessen – gleich, ob in papierner oder elektroni-scher Form. Die Koordinierungs- und Beratungsstelle der Bundes-regierung für Informationstechnik in der Bundesverwaltung(KBSt) stellte jedoch 2004 fest, dass in der Praxis nicht alleInhalte des Fachverfahrens in die Akte gelangen und eine vollstän-dige Information über den Bearbeitungsprozess nur in Verbin-dung von Fachverfahren und Akte möglich ist.3 Ziel des Erweite-rungsmoduls Fachverfahrensintegration des DOMEA-Konzeptswar es daher, Lösungen für die Kommunikation zwischen Fach-verfahren und Akte zu schaffen, um Hybridakten zu vermeiden.Die Schnittstelle zwischen den IT-Systemen Fachverfahren undVorgangsbearbeitungssystem bildet ein Hilfsmittel für die Bewer-tungsentscheidung. Bei der Datenübertragung wird zumeistXDOMEA als Datenaustauschstandard zur Übertragung vonMeta- und Primärdaten genutzt, welcher in seiner zweiten Versiondie Verbindung zwischen Fachverfahren und elektronischer Akteberücksichtigt.4 Sind die Systeme von den Herstellern so entwi-ckelt, dass sie den Empfehlungen des Erweiterungsmoduls Fach-verfahrensintegration und der Schnittstelle XDOMEA folgen, sosind auch die Voraussetzungen für die Vollständigkeit der elektro-nischen Akte gegeben. In der Regel werden die Inhalte der Fach-verfahren in solchen Fällen als kassabel eingestuft.Bei älteren Systemen könnten die genannten Voraussetzungenmitunter nicht gegeben sein. Übernahmen von Altakten in neueSysteme werden wegen fehlender Exportschnittstellen, verbundenmit hohem Programmieraufwand, evtl. nicht durchgeführt. DieAlt-Daten gehen verloren oder werden mit ihren Speichermedienbei den IT-Verwaltungen aufbewahrt.5 Systemwechsel stellendaher den spätesten Zeitpunkt dar, an dem die Archive eineBewertung vornehmen müssen.6 Liegen Hybridakten vor, sind dieelektronischen Teile der archivwürdigen Akte zu übernehmen.7

Dies zeigt, wie wichtig die archivische Vorfeldarbeit bei derEinführung von IT-Systemen ist, die zudem auf die Einhaltungder DOMEA-Grundsätze bestehen sollte.8

2. Verwaltungswissen und Ergebnisse desVerwaltungshandelns

Die Abfragemöglichkeiten von Datenbanken führen letztlichdazu, dass Verwaltungswissen und die Ergebnisse aus demVerwaltungshandeln von den Fachverfahren organisiert undstrukturiert werden. Den Fachverfahren kommt dann die Funk-tion eines umfassenden, wenn nicht sogar primären, Arbeitsmit-tels zu, während die Akten nur noch der rechtlichen Nachweis-funktion dienen. Dies ist insbesondere bei elektronischen Regis-tern, personen- und objektbezogenen Übersichten in Listenformund generell bei der Verwaltung von Stammdaten9 der Fall. Dadie Fachverfahren das Datenmaterial enthalten, auf deren Basisdas Verwaltungshandeln beruht, liegt es nahe, das zugrundeliegende Datenmaterial aus der Datenbank zu archivieren. Geradebei Statistiken hat sich seit längerem der Grundsatz bewährt, dieDaten in den Datenbanken für archivwürdig zu erklären undnicht allein den statistischen Auswertungsergebnissen in denAkten einen bleibenden Wert zuzuschreiben.10

1 Frühere Bezeichnungen sprechen auch von Büroautomatisierungssystemen.2 Vgl. Bohl, Peter/Müller-Boysen, Carsten: Klassifikation der EDV-Anwendun-

gen in der Verwaltung, in: Der Archivar 50(1997), Sp. 333-340; Hebig [Stahl-berg], Ilka: Bewertung und Archivierung von IT-Anwendungen in der Verwal-tung, in: Brandenburgische Archive. Mitteilungen aus dem Archivwesen desLandes Brandenburg 11(1998), S. 15-18, hier: S. 15. Diese Klassifikation findetsich auch in ähnlicher Form bei der KBSt wieder, vgl. Anm. 3.

3 Koordinierungs- und Beratungsstelle der Bundesregierung für Informations-technik in der Bundesverwaltung (KBSt): DOMEA-Konzept. Erweiterungs-modul zum DOMEA-Organisationskonzept 2.0. Fachverfahrensintegrationo. O. Oktober 2004, S. 11-12.

4 Arbeitsgruppe xdomea des Kooperationsausschuss Automatisierte Datenver-arbeitung Bund/Länder/Kommunaler Bereich (KoopA ADV): xdomea 2.1.0Spezifikation, o. O. 2009 [gültig seit 18. 9. 2009]. Die Vorgänger-Version xdo-mea 1.0 ist seit 31. 5. 2005 gültig.

5 Die Lesbarkeit kann jedoch ohne Erhalt der IT-Anwendung und weitererHard- und Softwareumgebungen nicht gewährleistet werden. Solche Objektesind bei der Anbietung an die Archive als zwangsläufig nicht archivfähig ein-zustufen bzw. deren Archivierungsaufwand nur bei sehr bedeutendem blei-benden Wert gerechtfertigt.

6 Vgl. hierzu auch Lang, Rolf/Naumann, Kai: Bei Umzug Übernahme – Bewer-tung und Ablieferung elektronischer Unterlagen im Rahmen von Systemmi-grationen. Vortrag im Rahmen der 12. Tagung des AK Archivierung von Unter-lagen aus digitalen Systemen vom 22. 4. 2008, online: Homepage Landesar-chiv Baden-Württemberg: www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media. php/120/50218/Bei_Umzug_Ueberna hme01.pdf [Zugriff: 6. 12. 2009]. Präsentations-folien hierzu unter: Homepage Bundesarchiv: www.bundesarchiv.de/imperia/md/content/abteilungen/abtb/bbea/lang_naumann.pdf [Zugriff: 6. 12. 2009].

7 Vgl. hierzu etwa: Worm, Peter: Handreichung für die Archivierung von digita-len Daten aus Kommunalverwaltungen, Version 0.3, Stand 12. 7. 2007, S. 2.online unter: Homepage des LWL-Archivamt für Westfalen, www.lwl.org/waa-download/pdf/Handbuch_Archivierung_von_Fachverfahren_Vers_0_3.pdf [Zugriff: 4. 12. 2009].

8 Die Gesetzesvorlage für die Novellierung des Archivgesetzes in Nordrhein-Westfalen bestimmt die Mitwirkung des Landesarchivs bei der Festlegung vonAustauschformaten und bezieht dies auf den Zeitpunkt der Planung von IT-Systemen. § 3, Abs. 4 und 5 Gesetzentwurf ArchivG NRW. Drucksache14/10028 v. 27. 10. 2009, online abrufbar über die Homepage des LandtagNRW, www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD14-10028. pdf [Zugriff: 14. 12. 2009]

9 Unter Stammdaten versteht man Grunddaten, deren Änderung nicht inAbhängigkeit vom Vorgang durchgeführt wird und die von daher über einenlängeren Zeitraum unverändert bleiben, wohingegen Bewegungsdaten dyna-misch und daher vorgangsbezogen sind.

10 Zur Diskussion um die statistischen Daten vgl. bspw. Keitel, Christian: Diearchivische Bewertung elektronischer Statistiken. Vortrag auf der 5. Tagungdes AK Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen vom 5. 3. 2001,online unter: Homepage Landesarchiv Baden-Württemberg: www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/47171/keitel_elektronische_statistiken.pdf[Zugriff: 4. 12. 2009].

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3. RetrievalfunktionenDie Fachverfahren sichern die Auffindbarkeit von Informationenund Dokumenten. Ebenso wie Erschließungsdatenbanken sindFachverfahren technisch für benutzerspezifische Abfragen vonInformationen ausgelegt und können die Suchergebnisse für denAnwender bedarfsgerecht zusammenstellen – eine Funktion, dieein papiernes Findmittel nicht erfüllen kann. Die elektronischenErschließungsdaten in den Archiven z. B. werden daher durchwegals archivwürdig erachtet und nicht allein die ausgedrucktenFindbücher.11

4. Individuelle Auswertungsmöglichkeiten für denBenutzer

Der Datenbestand in den Datenbanken bildet für den künftigenBenutzer einen Datenpool, auf welchen er mit eigenen Auswer-tungsmethoden zugreifen und auf dessen Grundlage er miteigenen Abfragen zu neuen Erkenntnissen gelangen kann. Auchwenn die betreffenden Daten in den Akten vorhanden sind, wirdman es künftig zu schätzen wissen, diese Daten in einer auswert-baren Form als Datensammlung nutzen zu können. Die Überliefe-rung in statischen, d. h. starren Dokumenten der papiernen wieelektronischen Akte haben diesen Vorzug nicht.12 Das britischeNationalarchiv verfolgt mit seinem National Digital Archive ofDataset (NDAD) diesen Ansatz und stellt bereits zahlreiche archi-vierte Datenbanken über das Internet zur Verfügung.13

Das Bewertungskriterium der Auswertungsoffenheit rechtfertigtauch redundante Datenhaltungen oder großzügigere Kassationenvon Papierakten.14 Dies ist v. a. dann gegeben, wenn die Vollzäh-ligkeit der Grundinformationen überlieferungswürdig ist und einstatistisches, die Grundgesamtheit verzerrendes Auswahlverfahrendamit abgewendet werden kann.15

5. Fachverfahren als Ordnungsmittel vonDokumenten

Fachverfahren, die gegenüber den Akten vorzugsweise von denSachbearbeitern genutzt werden, können die Funktion einesOrdnungsmittels übernehmen. Da das Fachverfahren dieOrdnung der Dokumente virtuell und für den Bearbeiter sichtbarherstellt, kann die physische Ablage der einzelnen Dokumentevernachlässigt sein. Im Bereich von Beschlussorganen der Länderund Kommunen werden Informationssysteme eingesetzt (Ratsin-formationssysteme, Parlamentsdokumentationen), die Doku-mente zu einer bestimmten Sitzung oder einem Vorgang virtuellzusammen stellen. Sie greifen dabei mitunter elektronisch aufverschiedene Dateiordner zu, in denen die Dokumente nachDokumenttypen wie Beschlussvorlage, Protokoll und Einladung,also nicht vorgangsbezogen, sortiert sind. Bei der Anbietung andas Archiv bleibt diese physische Ordnung bestehen – gleich obals elektronischer oder papierner Ordner. Ohne die gleichzeitigeÜbernahme des Informationssystems geht die vorgangsbezogeneOrdnung verloren und müsste über aufwändige archivischeErschließungsarbeit wiederhergestellt werden.16 Eine nicht nach-vollziehbare physische Ablage kann auf dieser Tatsache beruhenund stärkt die Gründe für eine Übernahme der Ordnungsfunk-tion des Fachverfahrens.

6. Nachnutzbarkeit in den archivischenArbeitsprozessen

Daten aus Fachverfahren können als Metadaten für die digitaleArchivierung oder die Erschließung verwendet werden, indem sie

aus dem System abgefragt und exportiert werden. Insbesonderedie Überführung von Daten aus Registratursystemen in dieErschließungsdatenbank ist denkbar.17 Inwiefern die gängigenArchivprogramme den Datenimport aus fremden Systemen intechnischer und informationsstruktureller Hinsicht bewerkstel-ligen können, ist von Fall zu Fall zu berücksichtigen. Maßgeblichfür dieses Vorgehen bleibt, dass es sich hierbei um keine Archivie-rung von Daten handelt, da die Überführung von Archivgut inErschließungsdatenbanken archivischen Grundsätzen zuwiderläuft und in etwa vergleichbar wäre mit dem Einlegen voneinzelnen Aktenschriftstücken in Findbücher. Datenbankenkönnen daher statistische Auswahlmethoden der Bewertungebenso unterstützen wie die Abfrage von Akten nach inhaltlichenBewertungskriterien.

DATENBANKARCHIVIERUNG IMVERGLEICH ZU ANDEREN ARCHIVIE-RUNGSPROZESSENDie Datenbankarchivierung hat zum Ziel, die Datenbankinhaltein einer systemunabhängigen und lesbaren Form unter Wahrungder Authentizität und Integrität dauerhaft zu erhalten. Hierbeiunterscheidet sich die Datenbankarchivierung strikt von derSicherung von Datenbankinhalten, die weder die Dauerhaftigkeitder Aufbewahrung noch die Systemunabhängigkeit und nachhal-tige Lesbarkeit erfüllen kann. Für die dauerhafte Erhaltung vonDatenbankinhalten gibt es zwei Ansätze: den Erhalt derursprünglichen Systemumgebung der Datenverwaltung durchEmulation oder der migrative Ansatz, d. h. die Übernahme derDaten aus den Datenbanksystemen in ein digitales Archiv mitanschließender digitaler Bestandserhaltung. Auf Grund fehlenderLösungsansätze wird der emulative Archivierungsansatz indiesem Artikel nicht weiter verfolgt und nur die Migration vonDaten aus Datenbanken in ein digitales Archiv betrachtet.Obwohl Datenbanksysteme im Vergleich zu anderen Softwareum-gebungen sehr langfristig betrieben werden, führen System-wechsel und die Überlastung der Datenbanksysteme durch wach-sende Datenmengen zur Anforderung, Datenbestände aus denDatenbanksystemen herauszunehmen. Dies geschieht v. a. beiSystemwechseln oder durch automatisierte Datenlöschungen inden laufenden Systemen. Gleichwohl besteht für die Datenbank-inhalte ebenso eine Anbietungspflicht gegenüber den öffentlich-rechtlichen Archiven wie bei den Akten. Die Löschungsvor-schriften in Gesetzen zur Registerführung berücksichtigen diesoftmals nicht. Das Bundesdatenschutzgesetz verweist hingegenauf die Anbietungspflicht auch bei personenbezogenen Daten.18

Die Archive werden bei der Datenbankarchivierung die Über-nahme aus laufenden Systemen propagieren müssen, um Daten-vernichtungen vorzubeugen. Hierbei muss bei Löschungsvor-schriften insbesondere der Register auf Löschungsfristen bzw. aufLöschungsgewohnheiten oder -automatisierung geachtet undmüssen Aussonderungsintervalle festgelegt werden.19

Die Bewertung von Datenbankinhalten kann dabei wesentlichnäher an ihrem Entstehungszeitpunkt liegen als dies bei Akten derFall ist und somit die Bewertung unter der Maßgabe der Archiv-reife vor neue Herausforderungen stellen.

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DIE SPEZIFIK VON DATENBANKENDatenbanksysteme verwalten Daten in einer internen logischenStruktur (Datenmodell), die den Grundsätzen der Datenmodellie-rung aus der Informatik folgt. Die Daten sind zwar lesbar bildenselbst aber noch keine Informationen ab. Diese werden erst dyna-misch durch sogenannte nutzerspezifische Sichten auf einenDatenbestand erzeugt. Dies geschieht mit Hilfe von interaktivenDatenbankabfragen, die überwiegend als Programmschnittstellenentwickelt werden (Abbildung 1). Das erzeugte Informationsob-jekt ist eine spezifische Nutzersicht auf den Datenbestand inForm von Ergebnislisten, Tabellen, Dokumenten oder Grafiken.Die Verwaltung und Organisation von Datenbeständen in einemDatenbanksystem sind dabei vergleichbar mit dem Abstellen einesFahrzeuges in einer Garage, das, bevor es abgestellt wird, in seinekleinstmöglichen Einzelteile zerlegt und dann in speziell gekenn-zeichnete Schubladen gelegt wird (Abbildung 2). Die Ablage inden Schubladen wird so vorgenommen, dass Objekte mit glei-chen Objekteigenschaften in dieselbe Schublade einsortiertwerden. Die Anordnung der Objekte in den Schubladen und dieAnordnung der Schubladen sind dabei nicht von Belang. JedesMal bevor das Fahrzeug benutzt wird, muss es zunächst aus allen

Abbildung 1: Bereitstellung von Informationen aus einer Datenbank

Abbildung 2: Veranschaulichung der Verwaltung von Daten in einem Daten-banksystem

seinen Einzelteilen wieder zusammengebaut werden. Dazu benö-tigt man eine Bauanleitung, die aber in der Regel nicht mit in denSchubladen abgelegt ist oder sogar gänzlich fehlt. Die Bauanlei-tung enthält Angaben darüber, welche Einzelteile benötigt werdenund wie sie grundlegend miteinander verbunden werden müssen,damit das Fahrzeug funktionstüchtig ist. Dabei sind Modellmodi-fikationen durchaus möglich. Oft sind auch die Schubladen nichtausreichend beschriftet. Um bestimmte Bauteile wieder zu finden,benötigt man daher auch eine genaue Beschreibung der Schub-laden und ihrer Inhalte. Zudem ist auch möglich, je nach Bedarfverschiedene Variationen des Fahrzeugs zusammen zu bauen.Übertragen auf ein relationales Datenbanksystem repräsentierendie Schubladen Relationen (Tabellen) und deren Attribute (Tabel-lenspalten bzw. Datenfelder) und das zusammengebaute Fahrzeugeine nutzerspezifische Sicht auf einen Datenbestand, die durchdie Montage (Datenbankabfrage) auf der Grundlage einer Bauan-leitung realisiert wird. Der Bauplan symbolisiert dagegen daszugrunde liegende relationale Datenmodell. Aus unserem Beispielergeben sich folgende Konsequenzen für die Arbeit mit Daten-banken: Zum einen entstehen nutzbare Informationen (funkti-onstüchtiges Fahrzeug) erst zum Zeitpunkt einer Anforderungdurch den Nutzer. Das Ergebnis einer Datenbankabfrage istdadurch nicht von vornherein festgelegt, sondern ergibt sichdynamisch aus der Nutzerinteraktion. In unserem Modell ist esbeispielsweise auch möglich, aus den verfügbaren Einzelteilen beiBedarf ein Einrad zusammenzubauen. Zum anderen ist eineRekonstruktion sinnvoller Informationen aus der Datenbank nurmit Hilfe der Datenbankabfrage (Bauanleitung) möglich, diewiederum die Kenntnis des zugrundeliegenden relationalenEntwicklungsmodells (Bauplan) voraussetzt. Ist dagegen dieBauanleitung verloren gegangen, kann die Information (Fahrzeug)

11 Vgl. bspw. die Bewertungsliste zu den Fachverfahren aus dem Stadtarchiv Bie-lefeld und dem Kreisarchiv Gütersloh, Zugriff über die Homepage des LWL-Archivamtes für Westfalen unter: http://www.lwl.org/LWL/Kultur/Archi-vamt/Archiv_IT/Elektronische_Fachverfahren/ [Zugriff: 7. 12. 2009]. DieBewertungslisten stammen aus dem Jahr 2006.

12 Vgl. dazu auch die Ausführungen zu den statistischen Daten. Es kann ange-nommen werden, dass die künftigen Benutzer der „digital born generation“von archivierten Datenbanken erwarten, dass eine programmierte Abfragedurchführbar ist.

13 http://www.ndad.nationalarchives.gov.uk/access/ [Zugriff: 12. 12. 2009].14 Vgl. hierzu Ernst, Katharina: Einleitende Bemerkungen zur Bewertung von

Unterlagen aus digitalen Systemen, in: dies. (Hg.): Erfahrungen mit der Über-nahme digitaler Daten. Bewertung, Übernahme, Aufbereitung, Speicherung,Datenmanagement. Elfte Tagung des Arbeitskreises „Archivierung aus digita-len Systemen“ v. 20./21. März 2007, Stuttgart 2007, S. 3-5, hier: S. 4.

15 Vgl. Keitel, Christian/Lang, Rolf/Naumann, Kai: Handlungsfähige Archive:Erfahrungen mit der Bewertung und Übernahme digitaler Unterlagen, in:ebd., S. 10-13, hier: S. 13.

16 Diese Erfahrung hat das Stadtarchiv Potsdam seit Einführung des Ratsinfor-mationssystems gemacht und auch verschiedene andere Ratsinformationssys-teme zeigten, dass die Dateistruktur den Dokumenttypen folgt.

17 Mit der Qualität von Registraturdaten für die Erschließung beschäftigte sich2006 eine Transferarbeit an der Archivschule Marburg und dem SächsischenHauptstaatsarchiv Dresden: „Metadaten aus elektronischen Bürosystemen –Eine Grundlage für die archivische Erschließung“. Angabe auf der Homepageder Archivschule Marburg unter: http://www.archivschule.de/ausbildung/liste-der-transferprojekte/ [Zugriff: 14. 12. 2009].

18 Bundesdatenschutzgesetz §20 (Berechtigung, Löschung, Sperrung von Daten;Widerspruchsrecht), Abs. 9.

19 Hierzu nimmt bspw. die Verwaltungsvorschrift zum NiedersächsischenArchivgesetz. Runderlass der Staatskanzlei v. 24. 10. 2006 Stellung. Zu § 3(2),Satz 1 NArchG wird bestimmt, dass das Archiv einen Stichtag festlegen kann,an welchem kopierte Daten übergeben werden. Text abrufbar unter: Hayek,Hans-Jürgen (Hg.): Homepage Schule und Recht in Niedersachsen. Gesetze,Verordnungen, Erlasse und Kommentare. unter: http://www.schure.de/22560/vv-narchg.htm [Zugriff: 12. 12. 2009].

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nicht mehr rekonstruiert werden. Die strukturierte Ablage derDaten in einer internen Datenstruktur (Schubladen) ist dabeiausschließlich für die Verwaltung der Daten von Bedeutung, nichtaber für die Wiederherstellung der Datenbankinformation.Datenbanksysteme sind daher Instrumente zur Verwaltung voneinzelnen Daten (Einzelteilen), die erst durch eine sinnvolleVerknüpfung den Rang eines Informationsobjektes erlangen.

STRUKTUR VON INFORMATIONS-ANWENDUNGENDatenbanksysteme werden auf der Grundlage ihres internenDatenmodells klassifiziert, wobei das relationale Datenmodellderzeit die überragende Praxisrelevanz hat. Demgegenüber sindandere Datenmodelle vernachlässigbar. Betrachtet man heute diegrundlegende Struktur von Informationsanwendungen, so kannman drei Ebenen unterscheiden: das Dateiverwaltungssystem, dasDatenbanksystem und das Informationssystem (Abbildung 3).Das Datenbanksystem verwaltet dabei selbstständig die Ablageder Daten in Dateien durch Zugriff auf ein Dateiverwaltungs-system, in der Regel das Betriebssystem eines Rechners. DasDatenbanksystem legt die Daten in strukturierter Form ab,hierauf greift das Informationssystem zu. Das Informationssystembereitet die Daten zur Nutzung auf und realisiert die Mensch-Maschine-Kommunikation.

Abbildung 3: Grundsätzliche Architektur von Datenbank-basierten Informati-onsanwendungen

Diese Struktur hat enorme Vorteile: Neben der Datenverwaltungermöglichen Datenbanksysteme die Verwaltung von Benutzungs-rechten sowie die Gewährleistung der Konsistenz und Integritätder gespeicherten Daten. Darüber hinaus verfügen Datenbanksys-teme über spezifische Werkzeuge zur Informationssuche, Infor-mationsverwaltung sowie Pflege, Strukturierung und Sicherungeines Datenbestandes. Das Informationssystem kommuniziert inder Regel über eine Anwendungsprogrammschnittstelle mit demDatenbanksystem. Es handelt sich dabei um Rechnerprogramme,die Daten aus dem Datenbanksystem anfordern und für dieweitere Nutzung in den Informationssystemen bereitstellen.Obwohl die Datenbankabfrage in der standardisierten Abfrage-sprache für objekt-relationale Datenbanken SQL20 formuliertwird, ist sie Bestandteil eines Maschinenprogrammes und daher

nicht systemunabhängig lesbar und archivierbar. Wird dieseProgrammschnittstelle im Fall einer Archivierung jedoch nicht inirgendeiner Form gesichert, fehlt letztlich die Bauanleitung für dieInformationen.

VERSCHIEDENE SICHTEN AUF DENDATENBESTANDDatenbanksysteme unterscheiden drei verschiedene Sichten aufeinen Datenbestand: eine interne, eine konzeptionelle und eineexterne Sicht (Abbildung 4).

1. interne SichtDie interne Sicht betrifft die physische Organisation der Datenauf den Datenträgern, die vom Datenbanksystem selbstständigund unsichtbar für den Anwender durchgeführt wird.

2. konzeptionelle SichtAuf der konzeptionellen Ebene definiert der Datenbankentwicklerdas Datenmodell – die logische Struktur der Datenverwaltung.Bei Verwendung des relationalen Datenmodells reicht es aus,einzelne Tabellen zu definieren. Abbildung 5 zeigt das relationaleDatenmodell eines fiktiven Melderegisters, das Personendaten,Adressdaten und Ausweisdaten enthält. Das Datenmodell defi-niert dabei Tabellen, Tabellenspalten und Beziehungen zwischenden Tabellen. Optional können auf dieser Ebene auch die Tabel-lenverknüpfungen definiert werden. Diese Festlegungen habenjedoch nur Einfluss auf die Überprüfung der referenziellen Inte-grität des Datenbestandes. Die Verknüpfung von Tabellen in einerDatenbankabfrage kann auch unabhängig von diesen Festle-gungen erfolgen, was u. U. dazu führen kann, dass Daten ausunterschiedlichen Tabellen falsch verknüpft werden.Bei komplexeren Tabellenbeziehungen benötigt man zusätzlicheTabellen, in unserem Beispiel für die Beziehungen zwischenPersonen (Eltern, Kind, Partner etc.) oder zwischen Personen undderen gegenwärtigen bzw. früheren Adressen.Nur Datenbankabfragen, die auf der Grundlage des konzeptio-nellen Modells entwickelt werden, liefern richtige Informationen

Abbildung 4: Sichten auf den Datenbestand eines Datenbanksystems

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Abbildung 5: Relationales Datenmodell (konzeptionelle Sicht) für ein fiktives Melderegister

aus einem Datenbestand. In der Praxis kommt es häufig vor, dassdas konzeptionelle Datenmodell nicht in der Datenbank – inForm von Schlüsselattributen – gespeichert wird. Werden keineSchlüsselattribute definiert, ist später keine Rekonstruktion deslogischen Datenmodells aus dem Datenbanksystem heraus mehrmöglich.

20 SQL = Structured Query Language, standardisierte Skriptsprache vor allemzur maschinellen Kommunikation mit einem Datenbanksystem. Alle Daten-bankoperationen können mit Hilfe einer SQL-Programmschnittstelle ausge-führt werden.

Abbildung 6: Beispiel für eine externe, nutzerspezifische Sicht – Ausweisdaten

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3. externe SichtDie externe Sicht ist die nutzerspezifische Sicht auf den Datenbe-stand, die durch eine Datenbankabfrage erzeugt wird (Abbildung4). In der Regel übernehmen Anwendungsprogramme die unmit-telbare Datenkommunikation mit der Datenbank. Eine Sicht wirdin der Hauptsache durch die Auswahl von bestimmten Datenfel-dern (Projektion) und Datensätzen (Selektion) sowie durch dieVerknüpfung von Daten aus unterschiedlichen Tabellen erzeugt.Im Ergebnis liefert das Datenbanksystem eine virtuelle Ergebnis-tabelle, die in dieser Form nicht in der Datenbank gespeichertwird. Prinzipiell ist es auch möglich, die Datenbankabfragen alsSichten in der Datenbank zu speichern (Views). Abbildung 6 zeigteine SQL-Datenbankabfrage, die als Ergebnis eine virtuelleTabelle mit Daten erzeugt, die beispielsweise in einem Ausweisdo-kument enthalten sind. Die Daten stammen dabei aus den dreiTabellen Person, Anschrift und Ausweis, die dazu miteinanderverknüpft worden sind.Wie wichtig die Kenntnis des konzeptionellen Datenmodells istzeigt Abbildung 7. Durch eine falsche Zuordnung von Schlüssel-attributen wurden Daten aus unterschiedlichen Tabellen falschverknüpft. Da die Datenbankabfrage syntaktisch richtig ist,würde der Anwender die fehlerhafte Verknüpfung der Daten u. U.gar nicht bemerken.Eine wesentliche Funktionalität von Datenbanksystemen bestehtin der Sicherung und Wiederherstellung von gespeicherten Daten.Die Datensicherung umfasst dabei die relationale Datenstruktur,die in den Tabellen gespeicherten Daten und die in der Daten-bank gespeicherten Sichten auf den Datenbestand. Als Ausgabe-formate werden heute SQL-Befehlsskripte oder systemspezifischeXML-Formate (nur für Daten und Strukturdaten) benutzt.

Abbildung 7: Beispiel für falsche Informationen durch falsche Tabellenverknüpfung

Obwohl SQL eine standardisierte Abfragesprache ist, unter-scheiden sich die SQL-Dialekte verschiedener Anbieter zum Teilbeträchtlich. Auch die XML-Exportformate sind nicht standardi-siert und unterscheiden sich von Datenbankanbieter zu Daten-bankanbieter.

GEGENSTAND DER ARCHIVIERUNG VONDATENBANKINHALTENDie archivische Überlieferungsbildung bezog sich bei denherkömmlichen Unterlagen stets auf einzelne Informationsob-jekte als kleinste Einheit und nicht auf einzelne Daten, die zueinem solchen noch zusammengefügt werden müssen. Zu denGrundsätzen der Archivierung gehört es, diese Informationsob-jekte als Einheit zu erhalten und auch deren inhaltlichen Kontextdurch den Erhalt der Struktur der Akte bzw. des Vorgangs undderen Entstehungszusammenhang zu bewahren. 21 Die Eigen-schaft der Datenbank bringt es mit sich, dass wir zwischen Datenin einer konzeptionellen Struktur und Informationsobjekten aufder Grundlage dieser Daten unterscheiden müssen. Letztereentstehen erst durch die nutzerspezifische Sicht auf die Daten-bank, jener Sicht, die für das Verwaltungshandeln relevant war.Gegenstand der Archivierung kann daher nur die nutzerspezifi-sche Sicht auf den in einer Datenbank verwalteten Datenbestandsein. Weder die interne noch die konzeptionelle Sicht sind für einespätere Wiederverwendung des Datenbestandes geeignet. Wederdie Gesamtheit der Daten aus der Datenbank noch die Gesamt-heit der Tabellen in einem Datenmodell bilden daher ein Informa-tionsobjekt. Dies unterscheidet die Datenbankarchivierung

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wesentlich von der Datenbanksicherung, welche auf der Ebeneder konzeptionellen Sicht die Datenbestände erhält.Die Datenbanken erzeugen jedoch nicht nur eine einzige Sicht,sondern beliebig viele Sichten. Davon werden die einen als stati-sche Dokumente, bspw. in Form von Grafiken oder Tabellen,andere jedoch nur als quasi-flüchtiges Abfrageergebnis in Formvon Ergebnistabellen erstellt, die nach Verlassen der Sicht nichtvom Datenbanksystem gespeichert werden.Im Zusammenhang mit einer Archivierung von Datenbankin-halten können weitere Probleme auftauchen, für die es bisher nochkeine Lösungsansätze gibt. So kann ein Datenbanksystem proble-matische Datentypen enthalten, beispielsweise unstrukturierteBinärdaten (Bitströme), die sich nicht direkt in ein Archivformatübernehmen lassen. Der Datenbestand in einer Datenbank kannauch durch interne Programmroutinen, sogenannte gespeicherteProzeduren und Funktionen sowie Trigger verändert werden. DieseRoutinen könnten nur zusammen mit der Datenbank-Systemum-gebung, d. h. durch eine Emulationsstrategie archiviert werden.Problematisch ist außerdem, dass Datenbankfragen (Sichten) undDatenstrukturinformationen (Schlüsseldefinitionen) in der Daten-bank gespeichert werden können, aber nicht müssen.Sofern die Datenbanken eine etablierte, nicht-proprietäre Abfra-gesprache verwenden, kann auch eine archivspezifische Sicht aufden Datenbestand erzeugt werden. Auf diese Weise bewertet derArchivar einzelne Datenfelder, stellt deren Archivwürdigkeit festund setzt sie zu neuen Sichten zusammen, die aus der Datenbankexportiert und in ein archivfähiges Format gebracht werden. ImErgebnis entsteht ein Gefüge von Daten, welches in dieser Artnicht dem Verwaltungshandeln zugrunde gelegen hat, sondernvom Archivar neu kreiert worden ist.22 Er enthält überlieferteDaten, aber keine überlieferten Verwaltungsdokumente. Die„Dokumentenkomposition“ ist dabei eine neue Archivierungsme-thode, bei der es grundsätzlich zu überdenken gilt, inwiefern sieÜberlieferung bildet oder Historie erschafft. Zwischen derKomplettüberlieferung eines Datenbestandes und der Teilarchivie-

rung einzelner Daten steht immer noch das in der Verwaltungerstellte Informationsobjekt als Überlieferungseinheit für dieArchivierung. Es besteht vielmehr die Anforderung die Informati-onsobjekte, bspw. durch die Identifizierung verschiedener Formenvon Sichten, zu definieren und diese zu bewerten.Tabelle 1 zeigt die Anhängigkeit zwischen Erhaltungskriterienund Gegenstand der Archivierung.Für die Archivierung von Datenbankinhalten wird im Folgendenv. a. die Archivierung von Informationsobjekten und dieKomplettarchivierung der Datenbank im Fokus stehen. DieAbfrage von Daten für ein Erschließungsprogramm fällt dabeinicht unter die Datenbankarchivierung. Die Archivierung vonstatischen Verwaltungsunterlagen, die auf der Grundlage derDatenbank erzeugten werden, kann sich an der Archivierung vonUnterlagen aus Dokumentenmanagementsystemen orientieren.

REFERENZMODELL ZUR AUTOMATI-SIERTEN ÜBERNAHME VON DATEN-BANKINHALTENBasierend auf den bisherigen internationalen Projekten zurDatenbankarchivierung wurde an der FH Potsdam ein OAIS-konformes Referenzmodell zur Archivierung von Datenbankin-

21 Wie Michael Wettengel bereits für die Archivierung arbeitsmarktstatistischerUnterlagen konstatierte, wird der Archivar ohne klar definierte Bewertungs-grundsätze „Gefahr laufen, in den Bits und Bytes unterzugehen“. Vgl. Wetten-gel, Michael: Bewertung arbeitsmarktstatistischer Unterlagen. Vortrag auf der4. Sitzung des AK Bewertung im VdA – Verband deutscher Archivarinnen undArchivare am 11. 3. 2003. [ohne Seitenangabe, Kap. 3 Bewertungsgrundsätze]Zugriff seit 15. 12. 2009 nur noch im Mitgliederbereich des VdA zugänglich.

22 Hierzu bspw. Keitel/Lang/Naumann: Handlungsfähige Archive (Anm. 15), S.13 und Anm. 17.

Tabelle 1:Bestimmung des Gegenstands nachErhaltungskriterien

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halten entwickelt. Auf der Grundlage dieses Modells kann eineprototypische Archivlösung für ein digitales Archiv erstelltwerden. Dieses Referenzmodell kann Inhalte und Sichten ausDatenbanksystemen, die im Rahmen dieses Artikels als archiv-fähig eingestuft wurden, vollständig und automatisiert in eindigitales Archiv übernehmen.Den Ausgangspunkt des Archivierungskonzeptes bilden ein relatio-nales Datenbanksystem (RDBS) und das Backup der darin enthal-tenen Datenbanken. Eine Datenbank stellt dabei das Informations-objekt der Archivierung dar. Übernommen werden sowohl dieDatenbankstruktur, die Daten und die an das System gestelltenAbfragen. Darüber hinaus werden verschiedene Metadaten berück-sichtigt. Zusätzlich werden die Feldbeschreibungen archiviert.Unter Verwendung des OAIS-Standards werden Informationspa-kete verwendet: Einlieferungspakete (SIP), Archivpakete (AIP) undAuslieferungspakete (DIP). Prinzipiell bestehen die Informations-pakete aus Inhaltsinformationen und den dazugehörigen Meta-daten. Die Inhaltsdaten werden in allen drei Paketen durch dieDatenbankstrukturdaten, die Datenbankdaten und die Abfragengebildet. Die Metadaten liegen in Form der Feldbeschreibung undweiteren archivrelevanten Zusatzinformationen vor. Das Einliefe-rungspaket SIP entsteht als Ergebnis der Vorübernahme und wirdan den Übernahmeprozess übergeben (Abbildung 8).

Abbildung 8: Datenbankarchivierung: Übernahmeprozess und SIP23

Die Datenbankstruktur und die Datenbankdaten liegen, abhängigvom möglichen Datenbankexport, in einem systemspezifischenXML- oder SQL- Format vor. Die Angaben zur Datenbank-struktur bilden die strukturellen Repräsentationsinformationendes Informationspaketes und beinhalten Beschreibungen dervorhandenen Tabellen, Tabellenspalten sowie der Primär- undFremdschlüssel. Die Datenbankabfragen sind in einem Protokolldes Datenbanksystems enthalten, das im Einlieferungspaket alsTextdatei vorliegt. Sowohl die Feldbeschreibungen als auch dieergänzenden Metadaten können in unterschiedlichen digitalenFormaten oder in nicht-elektronischer Form geliefert werden. Beiden ergänzenden Metadaten handelt es sich vorwiegend umbeschreibende Kontextinformationen, die Angaben zur institutio-nellen und organisatorischen Einordnung, zum Inhalt, Zweckund zur Bedeutung der Datenbank umfassen. Sie werden durchtechnische und rechtliche Informationen ergänzt.Entscheidend für die Archivierung ist der Aufbau und Inhalt desArchivpaketes AIP, das im Archivspeicher dauerhaft und unverän-derbar abgelegt wird (Abbildung 9).Aus Gründen der Lesbarkeit und Interpretierbarkeit der Datenwird das XML-Format für alle im AIP abgelegten Daten und

Abbildung 9: Datenbankarchivierung: Archivierungsprozess und AIP

Metadaten verwendet. Zusätzlich werden alle Daten in einemstandardisierten Containerformat, z.B. METS abgelegt. Diebeschreibenden Metadaten werden in die Datenverwaltungkopiert und das Archivpaket im Archivspeicher abgelegt. Für dieSicherung der Abfragen wird ein XML-basiertes sprachunabhän-giges Archivformat verwendet, das durch ein im Rahmen einerDiplomarbeit an der FH Potsdam entwickeltes XML-Schemabeschrieben wird.24

Das Auslieferungspaket DIP wird auf der Grundlage von Nutze-ranforderungen generiert und für die weitere Nutzung bereitge-stellt. Das Paket ist in seinem Aufbau an den Nutzerbedürfnissenorientiert und kann aufgrund der gewählten Archivierungsfor-mate flexibel gestaltet werden. Datenbankstruktur, Datenbank-daten und Abfragen sind nicht an ein bestimmtes Ausgabeformatoder eine bestimmte Abfragesprache gebunden. In dem konkretenBeispiel werden Datenbankstruktur, Datenbankdaten, Abfragenund Feldbeschreibungen im SQL-Format bereitgestellt (Abbil-dung 10).

Abbildung 10: Datenbankarchivierung: Bereitstellungsprozess (SQL-Sicht) und DIP

Die Feldbeschreibungen werden mit Hilfe von SQL-Spaltenbe-zeichnungen, Aliasnamen oder Kommentarspalten umgesetzt.Abfragen werden in Datenbanksichten transformiert. Es wirdausschließlich standardkonformes SQL verwendet. In unseremBereitstellungsbeispiel ist es möglich, die archivierte Datenbankvollständig in ein zukünftiges SQL-konformes relationales Daten-banksystem einzuspielen und somit die ursprüngliche Benutzungzu rekonstruieren.

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modell für die Datenbankarchivierung. Im Rahmen diesesProjektes wurde ein spezielles XML-Schema zur Archivierung derDatenbankstruktur und der Datenbankinhalte entwickelt, das alsDBML33 (Data Base Modelling Language) bezeichnet wird.In SIARD werden dagegen verschiedene Archivformate: CSV(Comma-Separated Values) für Datenfeldinhalte, Standard- SQL(Structured Query Language) für die Datenstruktur bzw. Sichtenund XML für beschreibende Metadaten verwendet. SIARD legteinen besonderen Schwerpunkt auf die Standardisierung derSQL-Dialekte, die verschiedene Datenbanksysteme erzeugen,bevor ein standardisiertes SQL-Skript im Archivinformations-paket abgelegt wird. Dieser Aufwand ist vor allem deshalb erfor-derlich, da SIARD als Archivformat für die Datenbankstrukturenund Sichten SQL benutzt. Legt man die Daten und Strukturdatendagegen, wie im RODA-Projekt, im XML-Format ab, ist esmöglich, Programme zur Übernahme von Datenbanken ausunterschiedlichsten Datenbanksystemen in ein XML-Schema(beispielsweise Altova Database Spy) zu benutzen. Zudem stellendie in SIARD betrachten Datenbanksysteme bereits eine XML-Export-Schnittstelle zur Verfügung.

ARCHIVIERUNGSSTRATEGIENCharakteristisch für relationale Datenbanken sind zum einen dasSichtenmodell und zum anderen die Automatisierung und interneStrukturierung des Datenbestandes zur Datenverwaltung.Entscheidend für die Archivierung ist die externe, nutzungsab-hängige Sicht auf einen Datenbestand. Nur sie erzeugt das archi-vierbare Informationsobjekt. Die Sicherung der internen, konzep-tionellen Sicht (Datenbank-Backup) kann dagegen zu einemVerlust der Authentizität des Informationsobjekts führen.Prinzipiell kann man zwei Strategien zur Archivierung von Infor-mationen aus Datenbanken unterscheiden: die Archivierungausgewählter nutzerspezifischer Sichten in Form von statischenelektronischen Dokumenten (z. B. Tabellen, Grafiken, Textdoku-mente) oder die Archivierung des Datenbestandes einer Daten-bank und der Datenbankfunktionalität. Erst im zweiten Fall kann

23 In den Abbildungen werden die Inhaltsdaten als Rechtecke und die Metadatendurch Rechtecke mit abgerundeten Ecken symbolisiert.

24 Glöde, Julia: Archivierung relationaler Datenbanken auf der Grundlage vonXML-Konzeption eines OAIS-konformen Archivierungsmodells und Ent-wicklung eines neuen Ansatzes zur Archivierung von Datenbankabfragen,Diplomarbeit FH Potsdam, 2009.

25 Die Unternehmen sind nach den Grundsätzen zum Datenzugriff und zurPrüfbarkeit digitaler Unterlagen (GDPdU) und den Grundsätzen ordnungs-mäßiger DV-gestützter Buchführungssysteme (GoBS) zur Aufbewahrung vonsteuerrelevanten „digital born documents“ in weiterhin digitaler Form ver-pflichtet und müssen den Finanzämtern die Daten ggf. in lesbarer, aber auchauswertbarer Form zur Verfügung stellen. Da auch innerhalb der Aufbewah-rungsfrist von 10 Jahren Systemwechsel anstehen, sind hier Methoden derDatenbankarchivierung gefragt.

26 Keitel, Christian: Erste Erfahrungen mit der Langzeitarchivierung von Daten-banken. Ein Werkstattbericht, in: Hering, Rainer/Schäfer, Udo (Hg.): Digita-les Verwalten – Digitales Archivieren, Hamburg 2004, S. 71-81.

27 http://roda.di.uminho.pt/?locale=en#home.28 http://www.fedora-commons.org/.29 http://www.bar.admin.ch/dienstleistungen/00823/00825/index.html?lang=

de.30 http://www.csp-sw.de/de/inhalt.php?kategorie=c114_L_sungen_CHRONOS.31 http://h71028.www7.hp.com/enterprise/w1/en/software/information-mana-

gement-g overnance-ediscovery-database-archiving.html.32 http://conferences.idealliance.org/extreme/html/2007/Ramalho01/EML200

7Ramalho01.html.33 http://inforum.org.pt/INForum2009/docs/full/paper_79.pdf.

STAND UND BEWERTUNG DER PROJEKTEUND ANWENDUNGSPROGRAMME ZURDATENBANKARCHIVIERUNG

Die langfristige Aufbewahrung von Inhalten, die in Datenbankengespeichert sind, gewinnt im Unternehmensumfeld und imBereich der öffentlichen Verwaltung zunehmend an Bedeutung.Die Ursachen für das gewachsene Interesse an Methoden derDatenbankarchivierung in der Wirtschaft liegen zum einen in derÜberlastung der operationalen Datenverwaltungssysteme undzum anderen in Compliance- Anforderungen zur revisionssi-cheren Aufbewahrung elektronischer Unterlagen und der Einhal-tung von Aufbewahrungsfristen.25 Im Bereich der öffentlichenVerwaltung sind aus Sicht der IT vor allem Systemwechselausschlagegebend für eine systemunabhängige langfristige Aufbe-wahrung von Datenbankanwendungen und Daten aus Informati-onssystemen. Auch im Zusammenhang mit dem Aufbau von digi-talen Archiven auf Landes- bzw. Bundesebene wird zunehmendüber die Übernahme von Datenbankinhalten nachgedacht. Ineinigen Ländern, wie beispielsweise in Baden-Württemberg,werden bereits ausgewählte Sichten auf Datenbestände in Daten-bankensystemen archiviert.26 Im Rahmen größerer nationalerLangzeitarchivierungsprojekte, wie RODA27 (Repository ofAuthentic Digital Objects), das auf der Open-Source-SoftwareFEDORA28 (Flexible Extensible Digital Object Repository Archi-tecture) basierende digitale Archiv der portugiesischen Regierungbzw. ARELDA (Archivierung elektronischer, digitaler Daten undAkten) des schweizerischen Bundesarchivs, aus dem die Daten-bankarchivierungs-Softwarelösung SIARD29 (Software Indepen-dent Archiving of Relational Databases) hervorgegangen ist,wurden bereits OAIS-konforme Archivlösungen für die Über-nahme von relationalen Datenbanken entwickelt.Softwareanbieter, wie HP, IBM oder CSP bieten kommerzielleLösungen für die Archivierung relationaler Datenbanksysteme an,die im Wesentlichen über einen längeren Zeitraum versionierteDatenbank-Backups in einem spezifischen Archivformat revisi-onssicher speichern. Die Vorteile solcher Archivlösungen wie zumBespiel das System CHRONOS30 der Firma CSP oder der HPArchiving Software31 liegen auf der Hand: die Verschlankung derProduktivdatenbanken, die Verkürzung der Datensicherung- undWiederherstellungszeiten und die langfristige Verfügbarkeit derDaten ohne das Vorhandensein der ursprünglichen Datenbank-systeme. Die Daten werden aus den Datenbanksystemen ähnlichwie bei einem Datenbank-Backup automatisch kopiert. DerNachteil ist, dass die Datenbanken nicht auf ihre Archivfähigkeithin überprüft werden, sondern nur die tatsächlich in der Daten-bank vorhandenen Daten in das Archiv übernommen werden. Dakeine Information über die Datenbankstruktur aus den Anwen-dungsprogrammschnittstellen übernommen werden kann, ist dieRekonstruktion der Datenbankfunktionalität nur dann möglich,wenn die Daten in ihrer ursprünglichen Systemumgebung wieder-hergestellt werden. Die kommerziellen, sogenannten Datenbank-archivlösungen haben zwar Merkmale einer OAIS-konformenArchivierung, wie lesbare und teilweise auch systemunabhängigeArchivierungsformate, sind aber vom Charakter her eher Daten-banksicherungssysteme, die mehr mit einer Datawarehouse-Lösung als mit einer Archivlösung vergleichbar sind.Das im Zusammenhang mit dem RODA-Projekt entwickelteOAIS-konforme Modell32 für die digitale Archivierung von relatio-nalen Datenbanken eignet sich dagegen schon besser als Referenz-

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Tabelle 2: Vor- und Nachteile der beiden Methodenzur Archivierung von Datenbankinhalten

man im eigentlichen Sinne von einer Datenbankarchivierungsprechen. Die Vor- und Nachteile beider Methoden sind in Tabelle2 zusammengefasst.Für die Datenbankarchivierung müssen darüber hinaus Kriterienfür die Archivfähigkeit von Datenbankanwendungen definiertwerden. Zu den Minimalanforderungen gehören:1. das Vorhandensein einer relationalen Datenbank2. das Vorliegen von Feldbeschreibungen3. das Vorliegen einer Beschreibung der Art und Weise der

Datenverknüpfungen, entweder durch Schlüsseldefinitionen,Datenbanksichten (Views) oder die Analyse der Suchfunktio-nalität

4. Möglichkeit der Analyse der Datenbankfunktionalität durchAbfragen, Suchoberflächen oder Dokumentationen

ERFASSUNG UND BEWERTUNG VONFACHVERFAHRENDie vorangegangenen Erkenntnisse haben Einfluss auf dieArchivwürdigkeit und -fähigkeit von Fachverfahren. Der Erfas-sung von Fachverfahren obliegt die Aufgabe, möglichst frühzeitigdiejenigen Informationen einzuholen, aus denen auf den blei-benden Wert des Verfahrens geschlossen werden kann. Angesichtsder enormen Fülle verschiedener Verfahren34 ist nicht nur eineeffiziente Erfassung, sondern eine ebenso effiziente Bewertung,z.B. auf der Basis einer Listenbewertung sinnvoll. Erfahrungenmit der Erfassung von Fachverfahren zeigen, dass diese umfang-reich sein können35 und die Ansprechpartner hierfür sorgfältigausgesucht sein müssen36 . Nützliche Informationen liefern dabei

nicht nur die anwendenden Behörden, sondern in jedem Fall auchdie IT-Stellen.So wie sich Anbietungslisten für Akten im archivischen Arbeits-umfeld bereits etabliert haben und Teil von Registraturverord-nungen geworden sind, so wenig bestehen solche für Fachver-fahren. Archive, die bereits Fachverfahren bewertet haben, greifenhier zumeist auf Listen aus der Verwaltung zurück, die fürverwaltungsinterne Zwecke geführt werden. Die Archive könnenzunächst Listen aus den IT-Stellen verwenden, die in der Regelden besten Überblick über alle angewandten IT-Verfahren habenund auch Auskunft darüber geben können, wie lange eineAnwendung bereits im Einsatz ist bzw. ob Systemwechsel schondurchgeführt wurden oder zu erwarten sind. Zusätzlich haltendie Datenschutzbeauftragten Verfahrenslisten vor, die auf Antragvon Jedermann einsehbar sind, sich jedoch ausschließlich aufDatenbanken mit personenbezogenen Daten beschränken.37 ZurFührung des Verzeichnisses sind nicht nur die Behörden, sondern

34 Das Stadtarchiv Bielefeld listet insgesamt 226 verschiedene Verfahren (Stand2006), das Kreisarchiv Gütersloh 273 (Stand 2006) auf. Der Landkreis Pots-dam-Mittelmark verzeichnet 85 IT-Anwendungen (Stand: 2008). Auf derEbene der Länder mögen dies noch wesentlich mehr sein.

35 Vgl. Hinweise von Katharina Ernst in: dies.: Einleitende Bemerkungen (Anm.14), S. 3.

36 So erste Erfahrungen im Landesarchiv Baden-Württemberg. Vgl. Keitel/Lang/Naumann: Handlungsfähige Archive (Anm. 15), S. 10 und 11.

37 Formulare für die Verfahrensverzeichnisse findet man bspw. über die Gesell-schaft für Datenschutz und Datensicherung e. V. (GDD e. V.): AK „BDSG2001“ der GDD e.V.: Das Verfahrensverzeichnis für Jedermann, online unterHomepage der GDD e.V., https://www.gdd.de/nachrichten/arbeitshilfen/verfahrensverzeichnis.pdf [2004], [Zugriff: 12. 12. 2009].

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Tabelle 3: Vorschlag für eine im Archiv geführte Fachverfahrensliste

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auch die Unternehmen verpflichtet, sie sollen die personenbezo-gene Datenspeicherung nach innen und außen transparentermachen. Für die Bewertung interessante Angaben sind: solche zurZweckbestimmung der Datenerhebung, zu den betroffenen Perso-nengruppen, zum Datentransfer an andere Stellen sowieLöschungsregeln und –fristen. Zusätzliche Angaben zu den Fach-verfahren kann der Archivar auch über die Internetseiten derHersteller erfahren.Für eine einheitliche, archivbezogene Erfassung von Fachver-fahren, die kontinuierlich aktualisiert werden kann, ist jedoch eineigens erstelltes Verzeichnis der Fachverfahren sinnvoll. Vereinzeltkonnten sich schon archivische Formen für Erfassungslisten vonFachverfahren bereits herausbilden.38 Die Angaben der inTabelle 3 enthalten Vorschläge für ein Fachverfahrensverzeichnisstammen aus einem Projekt an der FH Potsdam.Die Liste zeigt, dass die IT-Referate einen großen Anteil bei derErfassung von Fachverfahren haben und die Zusammenarbeit mitihnen von großer Wichtigkeit für die Archivierung von Daten-bankinhalten ist. Die Liste dient der Abfrage und kann ebenso alsInterviewleitfaden genutzt werden. Aus ihren Angaben lassen sichneben der Archivwürdigkeit auch die Archivierungsobjekte undbestimmte Archivierungsstrategien ableiten.Die vorgeschlagene Fachverfahrensliste lässt abschließendeBewertungsentscheidungen zu und vermeidet eine Datenbankau-topsie bzw. zeitaufwändige Behördenbesuche. Für archivwürdigbefundene Datenbankinhalte werden dann in Zusammenarbeitmit den Behörden und IT-Referaten in Abhängigkeit von Archiv-würdigkeit und -fähigkeit näher spezifiziert. Hierbei ist die Festle-gung der „Bewertungstiefe“ von Bedeutung, die möglichst auf derEbene der nutzerspezifischen Sichten erfolgen sollte. Kassationenund die alleinige Übernahmen auf Ebene der Datenfelder oderTabellen hingegen können die Datenbankstruktur bzw. die Über-lieferungseinheit zerstören.

DATABASE ARCHIVING - A CONCEPTUAL ANDPROTOTYPICAL SOLUTION, DEVELOPED BY THEFH POTSDAM

Today a growing amount of relevant information for archiving isstored in the public administrations in databases. Databases repre-sent a new type of digital objects, which are characterized by theirdynamic and interactive behavior. According to the OAIS model theinformation object is generated by a particular view of the datastored in the database, while the representation information is a

Prof. Dr. Rolf DässlerFH PotsdamFachbereich InformationswissenschaftenFriedrich-Ebert-Str. 414467 PotsdamTel. +49 (0)331 580 1512E-Mail: [email protected]

Dr. Karin SchwarzFH PotsdamFachbereich InformationswissenschaftenFriedrich-Ebert-Str. 414467 PotsdamTel. +49 (0)331 580 1528E-Mail: [email protected]

specific database query. The long-term preservation of the integrityand authenticity of these information objects in a system-indepen-dent and readable format and is an important new challenge for thepreservation of digital information. The goal of database archiving istherefore the preservation of information objects, instead of a simpledatabase backup.This article describes migration strategies for the archiving of data-base applications and the advantages and disadvantages of variouspreservation approaches. We discuss the characteristics of relationaldatabases and present a reference model for the automatic transferand storage of both digital data and the representation information.Our model is compliant with the OAIS framework for digital preser-vation. In addition, we present criteria for the appraisal of databaseapplications and a metadata catalog for the acquisition of informa-tion objects from database applications.

38 Vgl. bspw. die Empfehlungen der regionalen Arbeitskreise Ostwestfalen-Lippeund Münsterland auf der Homepage des LWL Archivamt für Westfalen unter:www.lwl.org/LWL/Kultur/Archivamt/Archiv_IT/Elektronische_Fachverfahren/ [Zugriff: 12. 12. 2009].

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ARCHIVAR 63. Jahrgang Heft 01 Februar 2010

DIGITALE ARCHIVIERUNGBEIM LANDESARCHIVBADEN-WÜRTTEMBERGvon Christian Keitel

Das Landesarchiv Baden-Württemberg hat sich in den letztenJahren mit wachsender Intensität der Archivierung digitalerUnterlagen zugewandt. An dieser Stelle sollen die bisherigenErgebnisse mitgeteilt werden. Dabei werden die einzelnenEntwicklungsstränge durch ein 2006–2008 entwickeltes Metada-tenkonzept zusammengehalten. Das Konzept erlaubt es, die unter-schiedlichen konzeptionellen und praktischen Überlegungen inein gemeinsames Bild zu integrieren. Durch den Begriff derRepräsentationen wird es außerdem möglich, konventionelle unddigitale Unterlagen in einem einheitlichen System nachzuweisenund zu verwalten.

ERSTE SCHRITTEÜber elektronischen Unterlagen diskutierte die baden-württem-bergische Archivverwaltung erstmals 1974.1 Viele der damalsentwickelten Vorstellungen haben ihre Gültigkeit bis heute nichtverloren. Unter anderem sei die rechtliche Zuständigkeit derArchivverwaltung für diese neuen Unterlagen zu begründen. 1987konnte ein erster Erfolg verzeichnet werden: Das Landesarchivge-setz erklärte, dass maschinenlesbaren Unterlagen ebenso wiekonventionelle Unterlagen anzubieten seien. Eine zweite Etappewar 1998 mit dem Entscheid des Landesbeauftragten für Daten-schutz erreicht, dass die vom Statistischen Landesamt erhobenenBundesstatistiken (d. h. Statistiken, die auf einem Bundesgesetzberuhen) ebenfalls ohne Ausnahme anbietungspflichtig seien.Parallel dazu wirkte die Landesarchivdirektion dabei mit, dass diein der Landesverwaltung geltenden Aussonderungsbestim-mungen nun auch die digitalen Unterlagen einschlossen. Die1998 erlassene „Verwaltungsvorschrift Schriftgut“ sah auch einePflicht zur Beteiligung der Landesarchivverwaltung bei derEinführung neuer Systeme vor.2

In diesen Neuerungen schlägt sich nicht zuletzt das seit den1990er Jahren gestiegene Interesse der Landesarchivdirektionnieder. Im Jahr 2000 wurde zudem ein Archivassessor damitbeauftragt, in zwei Jahren mit 50 % seiner Arbeitszeit eineKonzeption zur Archivierung elektronischer Unterlagen zuerstellen.3 Eine der Aufgaben war es, Vorschläge für die künftigeOrganisation der digitalen Archivierung zu machen. Konntendenn in allen Archiven Kapazitäten für die Archivierung digitalerUnterlagen aufgebaut werden? Angesichts der sehr spezifischen

Anforderungen, die die Archivierung digitaler Daten einfordert,war diese Option nicht umsetzbar. Es erschien aussichtslos, dienotwendigen Ressourcen zeitgleich sechsmal in der Archivverwal-tung aufzubauen. Auf der anderen Seite war völlig klar, dass diesechs Staatsarchive auch weiterhin alle Unterlagen der ihnengegenüber anbietungspflichtigen Stellen bewerten sollten.Schließlich sollten die von einer Stelle übernommenen Unterlagenunabhängig von ihrer analogen oder digitalen Verfasstheitgemeinsam im Lesesaal des zuständigen Staatsarchivs vorgelegtwerden können. Das Dilemma aus zentraler Aufbereitung undSpeicherung einerseits und dezentraler Bewertung und Benut-zung andererseits wurde konzeptionell durch ein für alle Staatsar-chive zugängliches Intranet aufgelöst.4 Damit war es möglich, dieweitere Ausgestaltung der digitalen Archivierung arbeitsteiliganzugehen. Im Jahr 2003 wurde im Staatsarchiv Ludwigsburgeine halbe Stelle geschaffen, die sich fortan der Übernahme undArchivierung digitaler Unterlagen widmete.Diese Entwicklungen wurden seit den 1980er Jahren vonStimmen begleitet, die die Erfolgsaussichten der digitalen Archi-vierung zunehmend skeptisch beurteilten. Beispielsweisebestimmt das Landesarchivgesetz, dass die neuartigen Unterlagenvon den Archivaren nur nach Vereinbarung mit der abgebendenBehörde übernommen werden sollten. In der Begründung zumGesetzestext wird das Ziel formuliert, „dass sowohl aus Gründendes Datenschutzes als auch aus Wirtschaftlichkeitserwägungen in

1 Protokoll der Tagung „Automation in der öffentlichen Verwaltung und diestaatlichen Archive“. Veranstaltet von der Staatlichen ArchivverwaltungBaden-Württemberg am 15. und 16. Oktober 1974 in Stuttgart, masch.schftl.

2 Gemeinsame Verwaltungsvorschrift der Ministerien über die Verwaltung desSchriftguts der Behörden, Dienststellen und sonstigen Einrichtungen desLandes (VwVSchriftgut), GABl. vom 29. Juli 1998, Nr. 10, S. 354–356.

3 Christian Keitel, Die Archivierung elektronischer Unterlagen in der baden-württembergischen Archivverwaltung. Eine Konzeption, 2002,http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/25/keitel_elektroni-sche_konz.pdf, Abruf 1. 12. 2009. Die Konzeption wurde vor ihrer Veröffentli-chung in der Landesarchivdirektion diskutiert und den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern der Archivverwaltung vorgestellt. Die Kommentare wurden indie Veröffentlichung eingearbeitet.

4 Christian Keitel, Zugänglichkeit contra Sicherheit? Digitale Archivalien zwi-schen Offline-Speicherung und Online-Benutzung, 2002, http://www.landes-archiv-bw.de/sixcms/media.php/25/zugaenglichkeit%20con-tra%20sicherheit.pdf , Abruf 1. 12. 2009. Auch ders., Die Archivierung elektro-nischer Unterlagen... (wie Anm. 3).

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der Regel nicht alle angebotenen gleichförmigen Unterlagen über-nommen werden“.5 Vergleichbare Befürchtungen schienen beiden Papierunterlagen nicht angebracht. Hatte 1974 noch die gutmögliche Finanzier- und Umsetzbarkeit des Vorhabens im Vorder-grund gestanden, so rückten nun die Bedenken ins Blickfeld. Inden 1990er Jahren schienen sich die Befürchtungen immer mehrzu bestätigen. Auch nach der Wende zum neuen Jahrzehnt bedeu-tete die Beschäftigung mit dem Thema vor allem eines: Zunächstmusste den zahlreichen Bedenken begegnet werden, die Aufgabesei zu groß, nicht finanzierbar oder schlicht außerhalb jederUmsetzungsmöglichkeit durch die Archive.

Ende 2005 stellte der baden-württembergische Landtag dannGelder für ein auf drei Jahre angelegtes Projekt bereit, mit demdie Grundlagen für die digitale Archivierung im LandesarchivBaden-Württemberg gelegt werden sollten.6 Trotz aller Vorar-beiten musste bei der Planung des Projekts festgestellt werden,dass das Landesarchiv bei der digitalen Archivierung weitgehendhandlungsunfähig war. Zwar konnten seit 2002 einige Statistikenvom statistischen Landesamt übernommen werden.7 StabileVerfahren, die eine Übernahme, Aufbereitung und Archivierungvon digitalen Unterlagen in größerem Umfang erlaubt hätten,waren jedoch noch nicht entwickelt. Übernahme und Archivie-rung waren daher die Bereiche, in denen die Handlungsfähigkeitdes Landesarchiv vorrangig hergestellt werden musste. Siestanden im Mittelpunkt des Projekts „Konzeption für ein digitalesLandesarchiv“.

ARCHIVIERUNGAnfang 2006 wurden ein Informatiker und ein Archivar einge-stellt und die Projektarbeit begonnen.8 Im Staatsarchiv Ludwigs-burg wurde ein Produktivsystem auf Festplattenbasis mit einerSpeicherkapazität von knapp 5 Terrabyte eingerichtet. Kopien derDaten werden seitdem auf zwei baugleiche Systeme in Stuttgartund zeitweise auch in Karlsruhe überspielt. Wie oben skizziert,sollten die Staatsarchive auf das Archivierungssystem zugreifenkönnen. Das System sollte daher im Browser aufrufbar sein.

Der Aufbau eines digitalen Archivs kann auf zwei unterschiedli-chen Wegen erfolgen, die sich vor allem in der Reihenfolge der zuunternehmenden Schritte unterscheiden. Eine Möglichkeit ist es,zunächst Metadatenkonzept und Archivierungssystem nur füreine Objektart aufzubauen. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt inder Möglichkeit, System und Konzept exakt an die Anforderungendieser Objektart (z. B. elektronische Akten) anzupassen. Fürandere Objektarten muss dieses System erweitert oder verändertwerden. 2006 standen in Baden-Württemberg jedoch schonverschiedene Objektarten zur Übernahme an. Archivierungs-system und Metadatenkonzept sollten daher von Anfang an füralle denkbaren digitalen Objektarten ausgelegt sein. Die so zuerzielende Handlungsfähigkeit wurde höher gewichtet als die mitdieser Option verbundenen Nachteile (umfangreichere konzeptio-nelle Vorarbeiten und zunächst geringere Anpassung an dieAnforderungen einer speziellen Objektart).

Aus der Papierarchivierung sind in manchen Archiven Über-nahmen bekannt, die auch nach vielen Jahren noch unerschlossenin einer Ecke des Magazins liegen. Bei der digitalen Archivierungist ähnliches kaum denkbar, da Informationen, die bei der Über-nahme noch leicht verfügbar sind, bereits nach kurzer Zeit nichtmehr rekonstruiert werden können. Ohne diese Metadaten isteine Erhaltung und Benutzung digitaler Archivalien nicht

möglich. Vermieden werden sollte daher die Übernahme von digi-talen Unterlagen (Primärdaten) mit der Absicht, diese später erstdurch Metadaten zu beschreiben. Das Archivierungssystem solltealso die Aufnahme neu übernommener Objekte sehr leicht undohne großen Aufwand möglich machen. Es sollte nur wenigAnlass bieten, diese Aufgabe auf später zu verschieben. EinigeMetadaten waren daher bereits bei der erstmaligen Speicherungder übernommenen Unterlagen anzugeben, die Zahl der Pflicht-felder war aber möglichst niedrig zu halten.9

Eine frühzeitige Aufnahme ins System unmittelbar nach der Über-nahme bedeutete jedoch, dass es möglich sein sollte, im Zuge derAufbereitung, d. h. bei der Erstellung der Archivierungspakete,weitere Metadaten ins System einzugeben. Das System solltedaher auch diesen Aufbereitungsbereich umfassen. Ein eigenerabgetrennter Aufbereitungsbereich, wie dies in manchen Vorstel-lungen anderer digitaler Archive vorgesehen ist, wurde für dasArchivierungssystem nicht konzipiert. Stattdessen arbeitet dasSystem mit den Elementen „Status“ und „Version“. Während derErstellung des Archivierungspaketes steht der Status auf „In Bear-beitung“. Nach Abschluss dieser Arbeiten wird er auf „abge-schlossen“ gestellt und das Archivierungspaket „eingefroren“.Wenn nun dennoch Metadaten ergänzt werden sollen, wird diealte Datei nicht mehr überschrieben. Stattdessen wird eine neueVersion der Datei erstellt. Diese Differenzierung macht einerseitseine Aufbereitung der Archivierungspakete möglich, andererseitsverhindert sie, dass ein Archivmitarbeiter spurlos und irreversibeldigitale Archivalien verändern kann.10

Die im Archivierungssystem vorgesehene Metadatenerhebungsorgte dafür, dass parallel zum technischen System ein logischesMetadatenkonzept entwickelt werden musste. Dieses Konzeptkann die teilweise sehr unterschiedlichen Vorgaben, Überle-gungen und Systeme aus den verschiedenen Bereichen der digi-talen Archivierung integrieren, da diese stets auf Metadatenzurückgreifen müssen. Es erscheint daher nicht übertrieben, inden Metadaten den konzeptionellen Kern der digitalen Archivie-rung beim Landesarchiv Baden-Württemberg zu sehen, an denalle bisher nur lose verbundenen Einzelteile andocken konnten.Ausgangspunkt des Metadatenkonzepts war die Überlegung,konventionelle und digitale Archivalien zusammen nachzuweisen.Benutzer und Archivare sollten auf der Suche nach Unterlagennur in einem System recherchieren müssen. Konzeptionell bedeu-tete dies, konventionelle und digitale Archivalien in denselbenFindbüchern nachzuweisen. Technisch war die Folge, dass dasgeplante Archivierungssystem mittel- und langfristig in das imLandesarchiv Baden-Württemberg eingesetzte Nachweissystem(MIDOSA21) integriert bzw. mit dessen Bestandteilen scopeAr-chiv und OLF 21 verbunden werden sollte. Sollte nicht sogar nachdem Prinzip „eines für alle“ ein System angestrebt werden, dassowohl den Nachweis aller Archivalien als auch die Archivierungdigitaler Unterlagen ermöglichte? Hierfür unterschieden sich dieAnforderungen an die beiden Aufgaben dann doch zu stark.Geplant wurde daher mit zwei unterschiedlichen Systemen. Fürdie Dauer des Projekts schien es auch nicht möglich, einerseitsdas Archivierungssystem aufzubauen und dieses zugleich in diebestehenden Komponenten von MIDOSA21 zu integrieren. Ange-strebt wurde daher ein Stand-Alone-System mit der Aussicht aufeine spätere Integration in MIDOSA21.Während der Konzeption des Archivierungssystems wiederholtesich die bei der Systemarchitektur des Landesarchivs geführteDiskussion ein weiteres Mal. Das System sollte einerseits demArchivar eine komfortable Verwaltung der Archivalien ermögli-

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chen. Hier lag eine Datenbanklösung nahe. Auf der anderen Seitesollte ebenso wie in allen anderen Bereichen der digitalen Archi-vierung die Zahl der Abhängigkeiten möglichst gering gehaltenwerden. Für die Aufgabe der Archivierung schien daher ein Datei-system besser geeignet zu sein als eine Datenbank. Sollte dasArchivierungssystem nicht mehr verwendbar sein, wärendennoch alle Archivierungspakete vorhanden und aufrufbar. Fürdie Speicherung in einer Datenbank gilt dies nicht. Verwaltungs-aufgaben und Sicherungsaufgaben erforderten also unterschied-liche Softwarelösungen. Als Anforderung wurde daher definiert,dass zentrale, das System steuernde Metadaten in einer Daten-bank, diese und alle anderen Metadaten sowie die Primärdaten ineinem Dateisystem abgelegt werden sollten.

Mit den genannten Anforderungen ging die Projektgruppe daran,die verfügbaren Archivierungssysteme zu testen. 2006 war keinspeziell für Archive entwickeltes System erhältlich. Die für Biblio-theken entwickelten Systeme wie FEDORA, DAITTS oder DSpaceerfüllten die genannten Anforderungen nicht oder hätten aufwän-dige Nachprogrammierungen erfordert. Nach den Tests wurdedaher beschlossen, eine Eigenentwicklung anzustreben. Im Rück-blick erscheint dieses Vorgehen auch aus einem anderen Grundgerechtfertigt. Die Eigenentwicklung des Systems machte esmöglich, in einem iterativen Prozess konzeptionelle Anforde-rungen und technische Umsetzung so zu entwickeln, dass sie sichwechselseitig voranbrachten. Im Juni 2006 nahm das DigitaleMagazin DIMAG seinen Betrieb auf. Die genannten Anforde-rungen werden erfüllt. Ende 2009 speichert DIMAG etwa 17.000digitale Archivalien und über 57 Millionen Datensätze. Archiviertwerden unter anderem Textdokumente, digitale Bestandteile vonHybridakten, polizeiliche Ermittlungsunterlagen, Daten auseinem frühen Registraturverwaltungssystem, von den Behördengescannte Unterlagen, Daten aus Fachverfahren und Geoinforma-tionssystemen, digitale Fotos und statistische Mikrodaten.

METADATENDIMAG verwaltet drei verschiedene Gruppen von Metadaten:MD5-Werte, Protokolldaten und übrige Metadaten.11 Für die ersteGruppe ermittelt das System von jeder Datei einen elektronischenFingerabdruck in Form eines MD5-Hashwertes und speichertdiesen mit demselben Dateinamen (und anderer Dateierweite-rung) im Dateisystem ab. Nach jeder Veränderung der Datei (z. B.Erweiterung der Metadaten) wird der veränderte Fingerabdruckin die MD5-Datei gespeichert. Der Fingerabdruck wird bei jedemAufruf einer Datei neu ermittelt und mit dem gespeichertenFingerabdruck verglichen. Dasselbe Verfahren ist allen Prozessenzur Datensicherung auf den beiden externen Servern vorge-schaltet. Es verhindert, dass unmittelbar im Dateisystem verän-derte Dateien ebenso wenig wie aufgrund eines Festplattendefektsbeschädigte Dateien auf die Sicherungsserver gespielt und dortvorhandene unversehrte Dateien überschrieben werden.

Die bisherigen Erfahrungen legen es nahe, dass auch in Zukunftmit jeder neuen Computergeneration die Verarbeitbarkeit ältererDateiformate und Softwareprogramme schwinden wird. DenArchiven bleibt daher nur die Möglichkeit, entweder überspezielle Programme (Emulatoren) künftigen Rechnern einVerständnis der heutigen Software zu ermöglichen oder die altenErscheinungsformen regelmäßig in aktuellere Formen zu über-tragen. Das Landesarchiv folgt wie die meisten digitalen Archivedem zuletzt genannten Ansatz (Migrationsstrategie). Heutige

Software wird dabei nicht archiviert. Für die Beschreibung derdigitalen Archivalien bedeutet dies, dass manche Bestandteilemöglichst alle Zeitläufe überdauern sollten (Informationen, daseigentliche Ziel der Archivierung) und andere Bestandteile regel-mäßig hinzukommen. Diese Erscheinungsformen der Informa-tionen werden in Anlehnung an den PREMIS-Standard12 „Reprä-sentationen“ genannt. Die Repräsentation fungiert bei digitalenArchivalien wie ein gedachter Container, der eine beliebige Zahlan Dateien umfasst. Sobald eine in der Repräsentation gespei-cherte Datei aufgrund ihres Dateiformats in der Gefahr steht, inwenigen Jahren nicht mehr von dann gängigen Computernverstanden zu werden, muss eine neue Repräsentation mitDateien in neuen Dateiformaten erstellt werden. Auch in dieserneuen Repräsentation soll sich die zu erhaltende Information inihren wesentlichen Teilen unverändert ausprägen.13

Einträge zu Tektonik und Klassifikation, zum Archivale, zurRepräsentation und zu den einzelnen Dateien können als struktu-rierte Metadaten verstanden werden. Stets wird eine inhaltlichabgegrenzte Informationseinheit in einem nur dafür reserviertenFeld erfasst. Darüber hinaus übernimmt ein Digitales Archiv oftnoch eine Vielzahl weiterer Angaben, die in einer unstruktu-rierten Form vorliegen. Handbücher mit ihren vielfältigen Infor-mationen sind nur ein Beispiel für diese Art von Metadaten. DieseForm von Metadaten wird in DIMAG nicht weiter strukturiert.Im Metadatenkonzept wird sie mit dem Begriff der Dokumenta-tion umschrieben. Eine grundsätzliche Unterscheidung kannjedoch gemacht werden. Manche Dokumentation bezieht sich aufsehr viele digitale Archivalien. Diese Dokumentation wird zentralin einem besonderen „Bereich“ des digitalen Magazins abgelegt.Sie kann daher auch relativ einfach erweitert werden, was beieiner physischen Speicherung in den Archivierungspaketen nichtder Fall wäre. Die Beschreibungen von Dateiformaten, die imArchiv verwendeten Metadatenkonzepte oder einschlägige Anwei-sungen, wie in bestimmten Fällen (z. B. bei Migrationen) zuverfahren ist, sind Beispiele für diesen Dokumentationstyp. Dieauf ein einzelnes digitales Archivale bezogene Dokumentationwird dagegen in eigenen Dateien als Bestandteil der Repräsenta-tionen gespeichert. 2006 war außerdem noch erlaubt, auf jeder

5 LArchG § 3 Abs. 2. Gesetzentwurf der Landesregierung (10. 7. 1986), in: Her-mann Banasch (Bearb.), Archivrecht in Baden-Württemberg, Stuttgart 1990, S.101–125, hier S. 108.

6 Nach einer einjährigen Verlängerung endete das Projekt im Dezember 2009.7 Christian Keitel, Baden-württembergische Archivverwaltung beginnt mit der

elektronischen Archivierung. Volkszählung 1970 als erstes digitales Archivaleim Staatsarchiv Ludwigsburg archiviert, Der Archivar 57 (2004), S. 315.

8 Das Projektteam bestand aus Rolf Lang (Informatiker), Dr. Kai Naumann(Archivar) und dem Verfasser (Projektleiter).

9 Christian Keitel, Ways to Deal with Complexity, Beitrag zur iPRES-Konferenzan der British Library, 2008, http://www.bl.uk/ipres2008/presentati-ons_day2/45_Keitel.pdf, Abruf 1. 12. 2009.

10 Zahlreiche Sicherheitsprobleme in IT-Unternehmen gehen auf ein gewolltesoder unbeabsichtigtes Fehlverhalten der Mitarbeiter zurück.

11 Metadaten für die Archivierung digitaler Unterlagen, 2008, http://www.lan-desarchiv-bw.de/sixcms/media.php/25/konzeption_metadaten10.pdf, Abruf1. 12. 2009, Kai Naumann, Christian Keitel und Rolf Lang, One for Many: AMetadata Concept for Mixed Digital Content at a State Archive, The Interna-tional Journal of Digital Curation 2 Vol. 4 (2009), S. 80-92,http://www.ijdc.net/index.php/ijdc/article/viewFile/120/123, Abruf 1. 12.2009.

12 Vgl. Preservation Metadata: Implementation Strategies (PREMIS),http://www.loc.gov/standards/premis/, Abruf 1. 12. 2009.

13 Mit dem Repräsentationmodell sollen im Landesarchiv Baden-Württembergauch die Erscheinungsformen konventioneller Archivalien (Original, Mikro-film, Scans) beschrieben werden. Bei konventionellen Repräsentationen wirdkein Container, sondern unmittelbar der Datenträger nachgewiesen.

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Beschreibungsebene von Tektonik und Klassifikation eine sepa-rate Dokumentationsdatei zu erstellen. Der Vorteil großer Flexibi-lität brachte jedoch das Problem mit sich, außerhalb der Reprä-sentationen Dateien verwalten zu müssen, die nicht eine überge-ordnete Tektonikebene repräsentierten. Im Jahr 2007 beschlossdas Projektteam daher, künftig auf separate, außerhalb der Reprä-sentationen geführte Dokumentationsdateien zu verzichten.

Mit der Definition der einzelnen Beschreibungsebenen war esmöglich, die Bestandteile eines digitalen Archivales zielgenauanzusprechen. Sowohl für die konzeptionelle Weiterentwicklungals auch für den Anschluss von DIMAG an MIDOSA21 war damiteine wesentliche Vorarbeit geleistet. Die einzelnen Bestandteilesollten aber nicht nur für Menschen verstehbar klassifiziert sein,sie sollten auch von Maschinen eindeutig identifiziert werdenkönnen. Diese Identifikation muss über sehr lange Zeiträumezuverlässig funktionieren. Das Landesarchiv entwickelte daher einSystem persistenter archivischer Identifikatoren.14 Diese AIDswerden von dem System, in dem ein Datensatz neu erstellt wird,vergeben und in die Metadaten eingetragen. Sie bleiben durch denganzen Lebenslauf der Archivalien unverändert. Da sie in dieMetadaten geschrieben werden, haben auch eine Abgabe an einanderes Archiv oder die Überführung des Datensatzes in einNachfolgesystem keine Auswirkungen auf die AIDs. Die AIDbesteht aus zwei Teilen. Ein erster Teil enthält eine eindeutigeKennnummer für das erstellende System. Der zweite Teil enthälteine Kennnummer, die innerhalb des Erstellungssystemseindeutig ist.

Digitale Bestandserhaltung bedeutet, dass die Daten relativ häufigzum Erhalt der Information aktiv bearbeitet oder verändertwerden. Diese Prozesse müssen für jedes einzelne Archivale nach-vollziehbar in Protokollen beschrieben werden. Als Dateiformatbot sich ebenso wie bei den strukturierten Metadaten XML an.Zu jedem digitalen Objekt wird ein Protokoll erstellt. In diesesProtokoll werden auch alle wesentlichen Prozesse eingetragen, diesich auf die zugehörenden Repräsentationen oder Dateienbeziehen. Für alle zu protokollierenden Prozesse oberhalb derArchivalienebene wurde ein Protokoll auf der obersten Ebene desDateisystems eingerichtet. Beide Protokolltypen enthalten nurfünf Felder: Prozessende und –ausführender, Bezug (Strukturein-trag, digitales Objekt, Repräsentation oder Datei), Prozess undNähere Angaben. Die Protokolle sollen die digitalen Archivaliendurch ihre gesamte Lebenszeit hindurch begleiten und folglichnicht mit überflüssigen Informationen aufgebläht werden.Backup-Prozesse und Benutzungen werden daher nicht protokol-liert. Festgehalten werden die Prozesse der Einstellung in dasDIMAG, einer Status-Änderung, einer Änderung der Metadaten(sofern der Status auf abgeschlossen steht) und einer Migration.In diesen Fällen erstellt DIMAG das Protokoll automatisch. DerArchivar kann diese und auch alle schon vorgenommenenEinträge nicht verändern. Er ist aber bei einem Neueintrag in derLage, eine Notiz hinzuzufügen, um das eigene Handeln nachvoll-ziehbar zu machen. Eine Notiz kann auch einen selbständigenEintrag im Protokoll darstellen.

BEWERTUNG UND ÜBERNAHMENach mehreren exemplarischen Bewertungsprojekten in denJahren 2003 bis 2005 war klar, dass sich in den Behörden einegroße Menge archivreifer und teilweise auch archivwürdiger digi-taler Unterlagen finden lässt.15 Klar war auch, dass es nicht ausrei-

chen würde, sich nur auf die Beteiligung des Landesarchivs beider Einführung neuer Systeme zu verlassen. Zu selten konntedieser Schritt erfolgreich begangen werden. Stattdessen musste einSet unterschiedlicher Verfahren entwickelt werden, die eine Über-nahme auch in den Fällen erlauben, in denen das Landesarchivnicht bei der Systemeinführung beteiligt worden war.Die Methoden zu Bewertung und Übernahme sollten in demProjekt „Konzeption für ein digitales Landesarchiv“ anhanddieser Daten und nicht mit Hilfe von Spieldaten gewonnenwerden. Zunächst konnte die Übernahme, Aufbereitung undArchivierung der Daten nicht ohne Verluste hinausgeschobenwerden. Als das Projektteam Ende 2006 beispielsweise die Stra-ßenbauverwaltung besuchte, erklärte diese, man habe die Rechnermit der alten (bereits auf der Tagung 1974 vorgestellten) Straßen-datenbank nur wegen des angekündigten Besuchs noch nichtabgeschaltet und verschrottet. Für die Echtdaten sprachaußerdem, dass sich die Projektgruppe 2006 erst eine Übersichtüber die möglichen Probleme erarbeiten musste. Spieldatenbringen es mit sich, dass sie manchmal die praxisrelevantenProbleme nicht enthalten und in anderen Fällen Fragen nahelegen, die in der Praxis gar nicht auftreten würden.Sowohl die Bewertung als auch die Übernahme digitaler Objektekonnten gut in Form einzelner Teilprojekte organisiert werden.Bei der Bewertung war es wichtig, die Kompetenz der für dieabgebende Stelle zuständigen Kolleginnen und Kollegen einerseitsund das Wissen um technische Systeme und die Archivierbarkeitdigital gespeicherter Information andererseits gegenseitig abzu-stimmen. Besonders hoch ist der Abstimmungsbedarf bei denFachverfahren, da die Daten aus ihrer Umgebung extrahiertwerden müssen. Bei der Bewertung dieser Verfahren hat sich dieArbeit in Teams mit jeweils einem Vertreter des zuständigenArchivs und der Projektgruppe sehr bewährt.Wer hatte nun den Export der Daten aus den Fachverfahren zuleisten? Viele Archive sehen darin zurecht eine Aufgabe der abge-benden Stellen. Andererseits waren die Techniker dieser Stellenaufgrund fehlender eigener Kenntnisse teilweise nicht in der Lage,für die Archivierung geeignete Datenexporte herzustellen. Im Laufedes Projekts traten als Fehler unter anderem auf: Export derfalschen Datenbank (viele Daten liegen in mehreren fast identischenVersionen eines Fachverfahrens vor), unvollständiger Export derDatensätze, Weglassen oder Beschneiden einzelner Felder,Weglassen einzelner Zeichen (häufig Umlaute) oder Einfügen vonZeichen, die nicht zum vereinbarten Zeichenformat gehörten (in derRegel UTF-8 oder ASCII). Auch bei der Übernahme bewährte essich daher, mit der abgebenden Stelle ein gemeinsames Übernahme-projekt zu vereinbaren, in dem IT-Vertreter der abgebenden Stellemit einem IT-Fachmann des Landesarchivs zusammen in ein biszwei Wochen den Export der Daten besorgten. Verglichen mit denFällen, in denen die abgebende Stelle den Export alleine zu leistenhatte, war die Zahl der bei der Projektvariante zu überwindendenWiderstände weitaus geringer.Nach den bisher gemachten Erfahrungen liegt das zentraleProblem bei der Übernahme von Daten aus Fachverfahren in derÜbersetzung der archivarischen Bewertung in die zugrundelie-genden Datenstrukturen. In der Regel hat nämlich der Archivarseine Bewertung anhand der Datensichten vorgenommen, die sichauch dem Benutzer in der Behörde bieten. Gespeichert werden dieDaten in einer davon unabhängigen und daher oft anders struk-turierten Datenbank. Aus ihr müssen die zu archivierenden Datenextrahiert werden. Wie lassen sich also die Benutzersichten aufdie Datenbankschicht übertragen? Das hierfür erforderliche Wissen

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liegt zum Teil bei den Herstellern des Programms und zum Teil beiden Behörden, manche Informationen lassen sich auch indirekterschließen. Auch die Verteilung des für eine Übernahme notwen-digen Wissens legt daher ein kooperatives Vorgehen nahe.

DIGITALE ARCHIVALIENWann ist ein Archivale ein digitales Archivale? Als Arbeitshypotheseging das Projektteam davon aus, dass immer dann von digitalenArchivalien die Rede sein sollte, wenn diese in digitaler Form vomLandesarchiv übernommen wurden. In anderen Worten liegt demLandesarchiv bei einem Verlust der Daten nichts mehr vor, was eineWiedergewinnung der Information ermöglichen würde. Glaubwür-digkeitsuntersuchungen können sich aus demselben Grund nichtauf ein analoges Original beziehen. Digital übernommene Archiva-lien erfordern daher eine höhere Datensicherheit und andereProzesse zum Erhalt der Authentizität als vom Archiv vorgenom-mene Scans von ihren analogen Geschwistern.16 Unwesentlich ist beidieser Definition jedoch, ob die digitalen Archivalien in der abge-benden Stelle in digitaler Form entstanden sind oder zunächst aufPapier vorlagen, dann aber noch vor der Anbietung digitalisiertwurden.Übernommene digitale Archivalien werden grundsätzlich als Reprä-sentation 1 abgelegt. Dies geschieht auch dann, wenn die darinverwendeten Dateiformate aller Wahrscheinlichkeit nach nur einegeringe Eignung zur Archivierung besitzen. In diesen Fällen wirdunmittelbar nach der Übernahme eine zweite Repräsentation mitbesser geeigneten Dateiformaten erstellt. Drei Gründe sprechen fürden Erhalt der übernommenen Dateien als Repräsentation 1:Zunächst könnten die archivischen Bearbeiter bei einer MigrationFehler machen. Wenn diese erst nach einiger Zeit auffallen, bestehtzumindest die theoretische Möglichkeit, die Migration noch einmalneu aufzusetzen. Zweitens könnte sich in Zukunft die Emulations-strategie doch noch durchsetzen. Bei einer auf Emulatoren basie-renden Benutzung wäre die erste Repräsentation den migriertenNachfolge-Repräsentationen vorzuziehen. Schließlich könnten dieBenutzer die Authentizität der migrierten Repräsentationen anzwei-feln. Auch in diesem Fall könnte das Archiv die erste Repräsentationvorlegen. Es wäre dann Aufgabe des Benutzers, sie in seinemComputer anzeigen zu lassen. Vorgesehen ist daher, neben der aktu-ellen Repräsentation zumindest auch die erste Repräsentationdauerhaft zu erhalten.17 Darüber hinaus besteht derzeit keineNotwendigkeit, andere Repräsentationen zu löschen. Dies erscheintauch zumindest für die Zeit, in der die digitale Archivierung nochin den Kinderschuhen steckt, wenig ratsam.

AUTHENTIZITÄTViele Bereiche der digitalen Archivierung können vorerst zurückge-stellt und in einer späteren Phase entwickelt werden. Anforderungen,die die spätere Glaubwürdigkeit und Authentizität der digitalen Archi-valien betreffen, können dies nicht. Vom Beginn seiner Zuständigkeitan hat ein digitales Archiv dafür zu sorgen, dass alles unternommenwird, um spätere Zweifel an der Authentizität der archivierten Datenerst gar nicht aufkommen zu lassen. Das Problem selbst wurdesowohl in der Konzeption 2002 als auch im Nestor-Kriterienkatalog„Vertrauenswürdige digitale Langzeitarchive“ beschrieben18. ImProjekt stellte sich dann die Frage nach möglichen Umsetzungen.Diese beziehen sich teilweise auf das gesamte Archivierungssystem,teilweise auf die einzelnen Archivalien.

Die physische Unversehrtheit der Archivalien erhält DIMAGdurch die oben beschriebenen Hashwerte. Lese- und Schreib-rechte können differenziert einzelnen Personen zugewiesenwerden. Die Regelungen zum Status sorgen dafür, dass bei „abge-schlossenen“ Archivalien Änderungen zwar möglich sind, ältereVersionen aber immer noch vorgehalten werden. Nur Administra-toren sind in der Lage, archivierte Daten unter Umgehung desDIMAG zu ändern. Nicht erlaubte Änderungen führen jedoch mithoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass der betroffene Teilbereichinkonsistent wird und die Änderungen auffallen.Die in der digitalen Bestandserhaltung vorgenommenen Aktivi-täten schlagen sich in dem Bereich „Dokumentation“ und in denProtokollen nieder. Der Lebensweg der einzelnen Archivalien solldadurch auch in fernerer Zukunft noch nachvollziehbar sein.19 ImIdealfall sollte dieses Protokoll von der Entstehung in der Behördebis zu seiner Benutzung im Archiv alle wesentlichen Prozessenachweisen. Für die erste Zeit im Lebenszyklus des Dokumentsliegt die Verantwortung hierfür bei den abgebenden Stellen. MitBeginn der Bewertung ist es auch dem Archiv möglich, entspre-chende Aufzeichnungen vorzunehmen. Die vom Landesarchiventwickelte Software IngestList ermöglicht es, bereits in der abge-benden Stelle erste Einträge in das Protokoll zu machen unddieses dann in DIMAG weiterzuführen. Außerdem löst IngestListein weiteres Problem der digitalen Archivierung. Grundsätzlich istjeder Transfer – aus einer Datenbank in Dateien, von einemDatenträger auf einen anderen, von der Behörde zum Archiv –mit Unsicherheiten behaftet. Wurde tatsächlich all das über-tragen, was zu übertragen war? IngestList erhebt daher von denDateien vor und nach einem Transfer zahlreiche Kenndaten undvergleicht diese. Die Software ermöglicht außerdem die Abfrageund den Export von Datenbanktabellen. Die Zahl der Zeilen undFelder der Datenbank kann ebenfalls gespeichert werden undspäter mit den Werten der exportierten Dateien verglichen

14 Die von den Bibliotheken entwickelten persistenten Identifikatoren wie URN,DOI oder PURL wurden für andere Zwecke entwickelt und erfüllen die archi-vischen Anforderungen nur zum Teil.

15 Zu den bei digitalen Unterlagen anzuwendenden erweiterten Bewertungsmo-tiven und veränderten Auswahlmöglichkeiten vgl. Christian Keitel, Rolf Langund Kai Naumann, Handlungsfähige Archive: Erfahrungen mit der Bewer-tung und Übernahme digitaler Unterlagen, in: Katharina Ernst (Hg.): Erfah-rungen mit der Übernahme digitaler Daten. Elfte Tagung des AK „Archivie-rung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ vom 20./21. März 2007, Stutt-gart/Leipzig 2007, S. 10-14 sowie Albrecht Ernst u.a., Überlieferungsbildungbei personenbezogenen Unterlagen, in: Archivar 61 (2008), S. 275–278.

16 Unabhängig davon können archivische Scans, sofern dies gewünscht wird,natürlich mit denselben Prozessen erhalten werden wie genuin digitale Archi-valien. Das Archiv muss sich fragen, ob Scans und digitale Archivalien günsti-ger in einem gemeinsamen System mit durchgehend hohen Anforderungenoder in zwei Systemen mit unterschiedlichen Anforderungen erhalten werdenkönnen.

17 Alternativ hierzu kann überlegt werden, stets das „Original“, also die Informa-tion in ihrer ersten Ausprägung zu übernehmen. Relevant wird der Unter-schied zum oben beschriebenen Verfahren, wenn in der abgebenden Stellebereits eine Migration stattgefunden hat. Auf der einen Seite steht hier derVorteil, die Information zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu sichern. Ande-rerseits liegen diese „Originale“ in vielen Fällen gar nicht mehr vor. Auch wür-den die Archive bei diesem Vorgehen kaum mehr von den abgebenden Stellendie Migration in ein archivierungsfähiges Format und die Bestätigung vonderen Glaubwürdigkeit verlangen können.

18 Kriterienkatalog vertrauenswürdige digitale Langzeitarchive, hrsg. von dernestor-Arbeitsgruppe Vertrauenswürdige Archive – Zertifizierung, nestor-Materialien 8, Version 2, Frankfurt/Main 2008, http://files.d-nb.de/nestor/materialien/nestor_mat_08.pdf, Abruf 1. 12. 2009. Keitel, Die Archivierungelektronischer Unterlagen ... (wie Anm. 3).

19 Dokumentation ist neben Angemessenheit, Transparenz und Messbarkeiteine von vier Grundprinzipien bei der Anwendung des nestor Kriterienkata-logs (s.o. Anm. 18).

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werden. Die Ergebnisse aller Vergleiche können im Protokoll fest-gehalten werden.

WEBARCHIVIERUNGArchive sollten sich aus verschiedenen Gründen mit der Archivie-rung von Internetseiten befassen. Zunächst können Internetseitenals integraler Teil der behördlichen Schriftgutproduktionverstanden werden. Organigramme werden beispielsweise beivielen Behörden nur noch im Internet veröffentlicht. Zweitenszeigen Internetseiten auch das Selbstverständnis der Behörden.Drittens entwickeln sie sich immer weiter weg von einer digitalenKopie der auf Papier gedruckten Faltblättern und Informations-broschüren hin zu einer Plattform, auf der die Bürgerinnen undBürger nicht nur rezipieren, sondern sich auch aktiv einbringenkönnen. Diese Eingaben sind dann teilweise selbst auf der Inter-netseite der Behörde zu sehen.20 Viertens dokumentieren dieInternetseiten wie kaum etwas anderes die Entwicklung der Infor-mationsgesellschaft. Fünftens schließlich scheint die Archivierungdes Internets sich technisch noch komplexer als die restliche digi-tale Archivierung zu gestalten. Archivwürdige Internetseiten

Validierungsprozess in IngestList

sollten daher in mehreren Einrichtungen aufbewahrt werden, umdie Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass wenigstens eine Erhal-tungsstrategie bzw. eine Einrichtung erfolgreich sein wird.Das Landesarchiv Baden-Württemberg beteiligt sich seit März2006 an dem von den beiden Landesbibliotheken und demBibliotheksservice-Zentrum Baden-Württemberg initiiertenProjekt Baden-Württembergisches Online-Archiv.21 Sein Schwer-punkt liegt dabei auf Internetseiten von Behörden. Diese lassensich unterteilen in Seiten zu einem Thema (z. B. Wirtschaftskri-minalität) und Seiten, die sich unmittelbar auf die Behördenbeziehen. Bislang wurden 64 Internetseiten archiviert.

GEODATENARCHIVIERUNGBereits 1997 hatte Udo Schäfer auf die Herausforderungen hinge-wiesen, die sich für die Archive aus dem Aufbau umfassenderGeoinformationssysteme (GIS) ergeben.22 Dennoch erbrachtenmehrere Gespräche zwischen Umwelt- und Archivverwaltungkeine weiterführenden Ergebnisse. Über die Archivierung dieserDaten konnte erst geredet werden, wenn eine Archivierungsmög-lichkeit bestand. Auch war die Definition archivischer Anforde-

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rungen für die Systeme selbst, wie dies für elektronische Akten imDOMEA-Standard geschehen war, ohne eigene Archivierungser-fahrungen nicht möglich. Zudem erschien es fraglich, ob sich einsolches Vorhaben angesichts der Komplexität und Entwicklungs-dynamik dieser Systeme überhaupt realisieren ließe. Das Archivie-rungssystem DIMAG war daher eine wesentliche Voraussetzungdafür, dass Umweltverwaltung (LUBW) und Landesarchiv imHerbst 2006 die Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppezur „Archivierung von Daten aus dem Umweltinformations-system Baden-Württemberg“ vereinbaren konnten.23

Die Arbeitsgruppe verständigte sich zunächst über eine gemein-same Sicht auf die Materie und damit über eine gemeinsameTerminologie. Die durch eine Migration der Geodaten entste-henden Informationsverluste (Präsentationsebene, implizite undexplizite Links) wurden beschrieben. Eingehend wurde über diefür die Archivierung geeigneten Dateiformate diskutiert. FürMetadaten wird XML verwendet, Sachdaten werden, solange siein tabellarischer Form vorliegen, im Format CSV abgelegt. Wiesieht es aber mit den Geodaten im engeren Sinne aus, mit denInformationen also, aus denen das Kartenbild generiert werdensoll? Die Vertreter des Landesarchivs favorisierten hier anfangsmehrheitlich das TIFF-Fomat. TIFF ist ein anerkanntes, nichtproprietäres Bildformat, es ermöglicht die unmittelbare Ausgabe

Dateien einer Geodaten-Repräsentation in DIMAG

eines Kartenbildes mit einfachen technischen Mitteln. Nichtmöglich ist es bei dieser Lösung, innerhalb der Sachdaten nureine Teilmenge zu definieren und diese dann anzeigen zu lassen(z. B. nur bestimmte Flüsse, Seen oder Straßen). Um diese Optionzu erhalten, plädierten die Vertreter der LUBW für den Erhalt desin dem GIS-System geführten Vektorformats. Verwendet wird beider LUBW derzeit das Format ESRI/Shape. Hiermit hattenwiederum die Archivare ihre Probleme. Proprietäre Formate sind

20 Vgl. z. B. die von der Seite www.service-bw.de archivierten Seiten,http://la.boa-bw.de/result.do?index=21&id=316, Abruf 1. 12. 2009.

21 Kai Naumann, Websites für die Nachwelt. Das Landesarchiv rettet Web-Auf-tritte vor dem digitalen Vergessen, in: Archivnachrichten 35 (2007), S. 27. Dievon den Teilnehmern übernommenen Webseiten werden einheitlich beimBibliotheksservicezentrum gespeichert. Eine Speicherung im DIMAG wäremöglich.

22 Udo Schäfer, Geographische Informationssysteme in der LandesverwaltungBaden-Württemberg aus archivischer Perspektive, in: Nicole Bickhoff undUdo Schäfer (Hrsg.), Archivierung elektronischer Unterlagen, Stuttgart 1999,S. 113-129.

23 Mitglieder der Arbeitsgruppe sind von Seiten der Umweltverwaltung: Dr.Andree Keitel, Manfred Müller (beide LUBW), Herr Elmar Schelkle (MLR),Dr. Klaus-Peter Schulz und Wolfgang Uhrig (beide UM). Von Seiten des Lan-desarchivs: Dr. Thomas Fritz, Dr. Christian Keitel (Leitung), Rolf Lang, Dr. KaiNaumann, Dr. Jürgen Treffeisen und Dr. Franz-Josef Ziwes.

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unter anderem meist nicht so langlebig wie freie Formate. Auchsind sie in der Regel nicht so gut dokumentiert. Eine möglicheAlternative wäre das freie und durch die internationale Standardi-sierungsorganisation ISO normierte GML-Format gewesen.Dieses Format schied jedoch 2007 wegen zu geringer Verbreitung(wer weiß, ob es sich auch durchsetzen wird) und teilweise nochunklarer oder wenig differenzierter Metadatendefinition aus. DieArbeitsgruppe einigte sich schließlich auf ein zweistufigesVerfahren. Zunächst wurden Geodaten im ESRI/Shape-Formatübernommen, dem derzeit eine weite Verbreitung und damit einestandardähnliche Funktion zukommt. Diese Entscheidung solljedoch bereits 2011/2012 überprüft werden. Sollte GML sich zudiesem Zeitpunkt durchgesetzt haben, wird die LUBW dasLandesarchiv dabei unterstützen, bereits übernommene Geodatenvom ESRI/Shape-Format in GML zu migrieren.Vom Landesarchiv wurden zunächst verschiedene Objektarten inPilotprojekten übernommen (u. a. Altlastenkataster und Biotop-kartierung, Wasserschutzgebiete, Brunnen und Quellen). Zwarwurden dabei die wesentlichen konzeptionellen Probleme klar.Allerdings kann dieser Aufwand auf Dauer nicht betriebenwerden. Es werden daher verschiedene Möglichkeiten zu einerrationellen Übernahme diskutiert.Der geeignete Übernahmezeitpunkt hängt von einer Vielzahl unter-schiedlicher Faktoren ab. Genannt werden können u. a. die Kapazi-täten der fachlich und technisch Verantwortlichen, die Vollständig-keit der Daten, anstehende Veränderungen der Datenqualität undanstehende Veränderungen der Metadaten. Zu bedenken ist auch,dass unterschiedliche Objektarten zumeist nur dann von künftigenArchivbenutzern sinnvoll gemeinsam ausgewertet werden können,wenn sie auch zur selben Zeit ins Archiv gekommen sind. EineAutobahnkarte aus dem Jahr 1990 korreliert nur noch bedingt miteiner Darstellung der übrigen Straßen aus dem Jahr 2020. WeitereDiskussionspunkte waren die Qualität der Daten sowie deren Vali-dierung. Zumeist kann beobachtet werden, dass Daten aus demVerwaltungsvollzug eine höhere Qualität besitzen als Daten, dieaufgrund von Berichtspflichten zusammengestellt wurden. Für dieValidierung der Daten wird das oben beschriebene ProgrammIngestList eingesetzt.

AUF DEM WEG ZUM DIGITALEN LANDES-ARCHIVWie kann ein ganzes Landesarchiv in die neue Aufgabe der digi-talen Archivierung hineinwachsen? Mit den Kolleginnen undKollegen wurden 2007 und 2008 auf zwei internen Veranstal-tungen die zentralen Ergebnisse des Projekts diskutiert. Auch inden nächsten Jahren sollen sie in die neuen Entwicklungen einbe-zogen werden. Organisatorisch wurde 2009 das bislang im Staats-archiv Ludwigsburg angesiedelte Projektteam aufgelöst. EinArchivar blieb in Ludwigsburg, um weiterhin die Übernahme,Aufbereitung und Archivierung der digitalen Unterlagen vorzu-nehmen. Der Informatiker wurde dem Referat „Informations- undKommunikationstechnologie, elektronische Dienste“ zugeordnet.Für Grundsatzfragen des Bereichs wurde in der Abteilung 2 dasReferat „Überlieferungsbildung digital, Erschließung“ einge-richtet. Das Landesarchiv hat eine Konzeption für die Veranke-rung der digitalen Archivierung als Daueraufgabe entwickelt undentsprechende Ressourcenanforderungen gestellt.Strategisch wurde mit dem Papier „Das Landesarchiv in der digi-talen Welt“ ein wichtiger Eckpunkt markiert. Einschlägige

Ratgeber, die die Einführung der digitalen Archivierung unter-stützen sollen, heben als eines der ersten dringlichen Ziele dieSelbstverpflichtung der archivierenden Einrichtung hervor; siemuss die digitale Archivierung angemessen und dauerhaft durch-führen wollen. Das Landesarchiv Baden-Württemberg hat sich2008 eine solche „Policy“ gegeben, die neben der digitalen Archi-vierung auch andere, durch die fortwährende Digitalisierung allerarchivischen Bereiche entstehenden Herausforderungen benennt.24

Entscheidend für den Erfolg der digitalen Archivierung ist dieAkzeptanz durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Nurwenn sie die Aufgabe mittragen, kann aus der digitalen Archivie-rung eine Erfolgsgeschichte werden. Einen guten Gradmesserbilden hier die Diskussionen in der „AG Überlieferungsbildung“über jene Bereiche der Landesverwaltung, in denen digitaleUnterlagen eine echte Alternative für die konventionelle Überliefe-rung darstellen, da beide dieselbe Information abbilden. In vielenFällen sind nach wie vor die Papierakten zu überliefern. Immeröfter entscheiden die Kolleginnen und Kollegen sich aber ausGründen des Aufwands oder der Benutzungsmöglichkeitenzugunsten der digitalen Version.Digitale Unterlagen bieten keinen Grund mehr für pessimistischeoder euphorische Zukunftsvisionen, sie werden ebenso nüchternwie ihre konventionellen Geschwister bewertet, übernommen undarchiviert. Sicher, bis zur vollständigen Gleichstellung der beidenBereiche ist noch ein gutes Stück Weges zu gehen. Sackgassen,Irrtümer und Fehlentwicklungen können auch in Zukunft nichtausgeschlossen werden, wenn eine so umfassende Aufgabe wie diedigitale Archivierung aufgenommen werden soll.25 Auch kann dieAufgabe nicht ohne zusätzliche Mittel geleistet werden. Hier ist diePolitik gefordert. Dennoch erscheint es möglich, mit einer gewissenGelassenheit auf die anstehenden Aufgaben zu blicken.

DIGITAL ARCHIVING AT THE LANDESARCHIVBADEN-WÜRTTEMBERG

The article outlines the activities of the Landesarchiv Baden-Würt-temberg in the area of digital archiving. It traces the assumptionsand decisions since the first discussions in 1974. Major results are therepository software DIMAG, the tool IngestList and the concepts onselection, metadata and authenticity. The experiences in the archi-ving of databases, websites and geodata are described. The Landes-archiv preserves currently almost 17.000 digital records.

24 Robert Kretzschmar, Das Landesarchiv in der digitalen Welt. Einführung undTextabdruck, in: Archivar 61 (2008, H. 1), S. 14–19. Zur Rolle einer Policys. Nestor Kriterienkatalog (wie Anm. 18).

25 Ein Beispiel: 2001 vereinbarte die Archivverwaltung von der Steuerverwaltungin Anlehnung an den damals gültigen DOMEA 1.0 Standard den Ausdruck derdigitalen Bestandteile von Hybridakten. Heute sind sowohl der Nachweishybrider Unterlagen als auch ihre Archivierung gut vorstellbar. Das Landesar-chiv hat daher neue Gespräche mit der Steuerverwaltung aufgenommen mitdem Ziel, diese Unterlagen in der bestehenden hybriden Form zu übernehmenund zu archivieren.

Dr. Christian Keitel

Landesarchiv Baden-Württemberg

Abt. Fachprogramme und Bildungsarbeit

Eugenstraße 7

70182 Stuttgart

Tel.: 0711/212-4276

E-Mail: [email protected]

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ELEKTRONISCHSIGNIERTE DOKUMENTEIM ZWISCHEN-UND ENDARCHIVvon Steffen Schwalm

Die Nutzung elektronischer Unterlagen zur Aufgabenerfüllungbildet mittlerweile den Standard in der öffentlichen Verwaltungund in Unternehmen. Ein zentrales Problem bildet dabei dieSicherstellung einer vollständigen Aktenführung resp. ordnungs-gemäßen Schriftgutverwaltung. Formal ist die Papierakteführend, praktisch befinden sich aktenrelevante Unterlagenjedoch nicht nur in dieser Papierakte, sondern ebenso auf persön-lichen wie auf Organisationslaufwerken oder im E-Mail-Postfach.Im Ergebnis ist die Aktenvollständigkeit nicht mehr gegeben, wasneben mangelnder Rechtskonformität auch die Transparenz undNachvollziehbarkeit der Verwaltung gefährdet. Die auf Bundes-.Landes- und kommunaler Ebene erfolgende Einführung vonDokumentenmanagement-/Vorgangsbearbeitungssystemen(DMS/VBS) schafft hier Abhilfe, in dem diese Einführungspro-jekte die technische Entwicklung der zunehmenden elektroni-schen Bearbeitung aufnehmen und gleichzeitig die Umsetzungeiner ordnungsgemäßen Schriftgutverwaltung mit einer vollstän-digen E-Akte, einem medienbruchfreien Geschäftsgang unddamit Rechtssicherheit für die Behörden ermöglichen. Unab-hängig von der aus verschiedenen Gründen teilweise schlep-penden Einführung der Verfahren, die zum Teil darauf beruht,dass DMS/VBS-Projekte bis heute fälschlicherweise als IT-Projekte betrachtet werden,1 stellt sich für die Einführung der E-Akte sowie insbesondere der IT-gestützten Vorgangsbearbeitungeine weitere Herausforderung: der Umgang mit der elektroni-schen Signatur.Die elektronische Signatur stellt keinen Hinderungsgrund für dieEinführung der E-Akte dar. Deren Einführung und Nutzung sindohne zusätzliche rechtliche Rahmenbedingungen grundsätzlichmöglich.2 Die Nutzung der elektronischen Signatur birgt jedochdie Chance auf rechtssichere nahezu vollständig elektronischeProzesse. So besitzt speziell die qualifizierte elektronischeSignatur maßgebliche Bedeutung im Kontext elektronischerUnterschriften sowie der Gerichtsfestigkeit digitaler Unterlagen.Auch im Bereich eines sicheren E-Mail-Verkehrs spielt die elektro-nische Signatur eine zentrale Rolle. Der elektronische Rechtsver-kehr ist ohne Signatur nicht mehr denkbar, insofern gewinnt dieelektronische Signatur im E-Government sowie bei der Einfüh-

rung und Nutzung von DMS/VBS erheblich an Bedeutung.Gleichzeitig stellt sich jedoch das Problem der langfristigenAufbewahrung elektronisch signierter Unterlagen im Rahmen dergeltenden Aufbewahrungsfristen sowie der Aussonderung gegen-über dem zuständigen Archiv. Insofern werden die Archive, sei esin der Behördenberatung/archivischen Vorfeldarbeit, imZwischenarchiv (soweit vorhanden) oder im Rahmen der Ausson-derung zukünftig zunehmend mit elektronisch signierten Unter-lagen konfrontiert.Dieser Aufsatz widmet sich basierend auf einer Darstellung derrechtlichen und technischen Grundlagen der elektronischenSignatur sowie deren Bedeutung im Kontext der E-Akte, denAnforderungen an die rechts- und beweissichere Langzeitspeiche-rung in einem elektronischen Zwischenarchiv sowie der Ausson-derung elektronisch signierter Unterlagen aus DMS/VBS ansEndarchiv.

RECHTLICHE UND TECHNISCHE GRUND-LAGEN DER ELEKTRONISCHENSIGNATURDie elektronische Signatur und deren grundlegende Anwendungwerden durch das Signaturgesetz (SigG)3 sowie die Signaturver-ordnung4 geregelt. Das SigG unterscheidet in § 2 die folgendenSignaturarten:• Nr. 1 elektronische Signaturen:

1 DMS/VBS-Projekte stellen erfahrungsgemäß zu ca. 70 % Organisationspro-jekte dar.

2 Vgl. auch Bericht: Ausschließlich elektronische Speicherung von Behörden-schriftgut. Aspekte elektronischer Aktenführung und Vorgangsbearbeitung.Arbeitsgruppe des Unterausschusses „Allgemeine Verwaltungsorganisation“des Arbeitskreises VI der IMK vom 23. 01. 2008. Magdeburg 2008.

3 Signaturgesetz vom 16. Mai 2001 (BGBl. I S. 876), zuletzt geändert durch Arti-kel 4 des Gesetzes vom 26. Februar 2007 (BGBl. I S. 179).

4 Signaturverordnung vom 16. November 2001 (BGBl. I S. 3074), zuletzt geän-dert durch Artikel 9 Abs. 18 des Gesetzes vom 23. November 2007 (BGBl. IS. 2631).

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– „elektronische Signaturen [sind] Daten in elektronischerForm, die anderen elektronischen Daten beigefügt oderlogisch mit ihnen verknüpft sind und die zur Authentifizie-rung dienen“

• Nr. 2: fortgeschrittene elektronische Signatur– „fortgeschrittene elektronische Signaturen [sind] elektroni-

sche Signaturen nach Nummer 1, die

° ausschließlich dem Signaturschlüssel-Inhaber zugeordnetsind,

° die Identifizierung des Signaturschlüssel-Inhabers ermög-lichen,

° mit Mitteln erzeugt werden, die der Signaturschlüssel-Inhaber unter seiner alleinigen Kontrolle halten kann, und

° mit den Daten, auf die sie sich beziehen, so verknüpftsind, dass eine nachträgliche Veränderung der Datenerkannt werden kann“

• Nr. 3: qualifizierte elektronische Signatur– „qualifizierte elektronische Signaturen [sind] elektronische

Signaturen nach Nummer 2, die

° auf einem zum Zeitpunkt ihrer Erzeugung gültigen quali-fizierten Zertifikat beruhen und

° mit einer sicheren Signaturerstellungseinheit erzeugtwerden“5

Zur Erzeugung fortgeschrittener und qualifizierter elektronischerSignaturen kommt ein asymmetrisches Verschlüsselungsverfahrenzum Einsatz, was bedeutet, dass zur Signaturerzeugung eingeheimer Schlüssel (Private Key bzw. Signaturschlüssel), zurSignaturprüfung ein öffentlicher Schlüssel (Public Key bzw. Signa-turprüfschlüssel) benutzt wird. Als Signaturschlüssel-Inhabergelten natürliche Personen, die einen Signaturschlüssel besitzen.Dieser wird auf der Signaturkarte, die zur Erzeugung qualifi-zierter elektronischer Signaturen genutzt wird, abgelegt. Eshandelt sich faktisch um die Personen, auf die die Signaturkartenausgestellt werden. Die Signaturprüfschlüssel sind durch elektro-nische Bescheinigungen, die Zertifikate, Personen zugeordnet, beider qualifizierten elektronischen Signatur grundsätzlich natürli-chen Personen. Qualifizierte elektronische Signaturen beruhenzwingend auf qualifizierten Zertifikaten. Durch diese, von einem

sog. Trust Center oder Zertifizierungsdiensteanbieter (ZDA)herausgegebenen Zertifikate wird ein öffentlicher Schlüssel(Signaturprüfschlüssel) eines asymmetrischen Schlüsselpaares(Geheimer Schlüssel und öffentlicher Schlüssel) einer zuvor vomZDA geprüften natürlichen Person zugeordnet. Das Zertifikatwird in einem Verzeichnisdienst des ZDA hinterlegt und steht sofür die Signaturprüfung zur Verfügung. Ein solches Trust Centermuss spezifische Anforderungen, so u. a. den Nachweis der Fach-kunde, erfüllen und bei der Bundesnetzagentur mindestens ange-zeigt sein6. Soweit sich ein ZDA einer freiwilligen Akkreditierungdurch die Bundesnetzagentur unterzieht, wird von einem akkredi-tierten ZDA gesprochen. Die Forderung nach einem gültigenZertifikat zum Zeitpunkt der Signaturerzeugung sowie die Forde-rung einer sicheren Signaturerstellungseinheit gelten für einfachewie fortgeschrittene elektronische Signaturen nicht.Die Erzeugung fortgeschrittener und qualifizierter elektronischerSignatur bedarf 1. einer Signaturanwendungskomponente, die auseiner Hashkomponente und der Signaturkomponente besteht,wobei beide Teile vom Signaturschlüssel-Inhaber, faktisch demSignaturerzeuger, unter seiner alleinigen Kontrolle gehaltenwerden müssen sowie 2. einer Signaturerstellungseinheit, die beiqualifizierten elektronischen Signaturen faktisch der Signatur-karte (einschließlich einer 6-stelligen PIN) entspricht. In derUmsetzung bedeutet dies verfahrenstechnisch die Bildung einesHashwerts über dem zu signierenden Dokument. Durch Eingabeder sechsstelligen PIN im Kartenleser wird der Private Key freige-schaltet und mit dem in der Signaturerstellungseinheit enthal-tenen privaten Schlüssel des Signaturschlüssel-Inhabers dieVerschlüsselung des Hashwerts und damit die Anbringung derelektronischen Signatur vorgenommen. Insofern wird derHashwert als Repräsentation des Dokuments verschlüsselt, nichtdas Dokument selbst. Der Hashwert stellt eine eindeutige Prüf-summe für einen bestimmten Bitstrom – eine oder mehrereDateien dar und sichert die Integrität des Dokuments. DieVerschlüsselung des Hashwerts mittels des über ein qualifiziertesZertifikat eindeutig einer natürlichen Person zugeordneten Signa-turschlüssels sichert die Authentizität.Die nachfolgende Graphik verdeutlicht die Erstellung:

Funktionsweise derelektronischen Signatur.Quelle: INFORA GmbH

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Für die Signaturerstellung sind folgende Arten zu unterscheiden:• ins Dokument eingebundene Signatur (embedded signature)• Signaturcontainer (Dokument und Signatur in einem XML-

Container)• Dokument und Signatur in verschiedenen Dateien (attached

signature)Die Art der Signaturanbringung hat Auswirkungen auf die Lang-zeitspeicherung7. Daneben kann die Anbringung der qualifi-zierten elektronischen Signatur als Einzel- oder Massensignaturerfolgen. Zur Signaturerstellung enthält das SigG entsprechendeRegelungen.8 Bei der Signaturprüfung wird der Hashwert desbetreffenden Dokuments neu erzeugt. In einem zweiten Schrittwird die Entschlüsselung des Hashwerts des gesendeten Doku-ments mit dem öffentlichen Schlüssel des Empfängers unterVerwendung einer marktüblichen Prüfsoftware vorgenommen.Liegt Gleichheit vor, so wurde das Dokument nicht verändert.Zudem erfolgt eine Onlineabfrage beim ZDA, ob die vorhandenequalifizierte elektronische Signatur auf einem zum Zeitpunkt derErstellung gültigen Zertifikat beruhte und dieses auch auf denangegebenen Aussteller ausgestellt war. Dazu erfolgt ein Zugriffauf das im Verzeichnisdienst des ZDA hinterlegte Zertifikat. Istdie Prüfung erfolgreich, ist auch die Authentizität des Dokumentsmathematisch eindeutig nachgewiesen.9 Zur Nutzung der qualifi-zierten elektronischen Signatur ist für jeden Mitarbeiter, der dieseanwendet, eine eigene Signaturkarte zu beschaffen. Zudem mussdas der qualifizierten elektronischen Signatur zugrunde liegendeZertifikat die erlassende (beim elektronischen Verwaltungsakt)resp. unterschreibende Behörde erkennen lassen.10 Hierfürbestehen verschiedene Möglichkeiten, die Skrobotz nachvoll-ziehbar beschreibt.11

RECHTLICHE BEDEUTUNG DER ELEK-TRONISCHEN SIGNATUR IN DER E-AKTEUND IT-GESTÜTZTEN VORGANGSBEAR-BEITUNGDie Verwaltung unterliegt gemäß Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz demRechtsstaatsprinzip und damit der Bindung an Recht und Gesetz.Daraus folgt die Verpflichtung zur Nachvollziehbarkeit undTransparenz der behördlichen Aufgabenerfüllung und Entschei-dungen. Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgern die Grundprinzi-pien der öffentlichen Verwaltung, wobei im Kontext der Schrift-gutverwaltung resp. der Nutzung von DMS/VBS besondershervorzuheben sind:• Prinzip der Regelgebundenheit des Verwaltungshandelns• Prinzip der AktenmäßigkeitDemnach muss sich das Verwaltungshandeln an Recht undGesetz halten. Zudem muss der Stand einer Sache jederzeit ausden Akten ersichtlich sein, was bedeutet, dass Akten vollständigzu führen sind, d. h.:• vollständig in Papierform oder• vollständig elektronischEs dürfen keine Schriftstücke unbemerkt entfernt oder verändertwerden. Die Einführung der elektronischen Akte bedingt grund-sätzlich keine zusätzlichen rechtlichen Regelungen.12 Die Nach-vollziehbarkeit und Transparenz behördlicher Aufgabenerfüllungund Entscheidungsprozesse sind für den gesamten Lebenszykluszu gewährleisten. Damit muss eine ordnungsgemäße Schriftgut-verwaltung insbesondere die:

• Authentizität• Integrität• Verlässlichkeit bzw. Nachprüfbarkeit• Vollständigkeit• Verkehrsfähigkeit (Fähigkeit zum Datenaustausch)• Aussonderung und Kassationder betreffenden Akten, Vorgänge und Dokumente von derEntstehung, Bearbeitung, Langzeitspeicherung bis zur Aussonde-rung sicherstellen. Diese Bedingungen gelten medienunabhängigund insoweit auch für elektronische Unterlagen. In ihrer Aufga-benerfüllung unterliegt die öffentliche Verwaltung grundsätzlichdem Prinzip der Formfreiheit. Eingeschränkt wird die Formfrei-heit durch das Schriftformerfordernis, der Forderung nach einereigenhändigen Unterschrift sowie den Ausschluss der elektroni-schen Form. Durch verschiedene Rechtsvorschriften, so insbeson-dere das Formvorschriftenanpassungsgesetz sowie das 3. Verwal-tungsverfahrensänderungsgesetz, besitzt die qualifizierte elektro-nische Signatur eine Funktionsäquivalenz zur eigenhändigenUnterschrift. Dies bedeutet faktisch eine Gleichstellung zur hand-schriftlichen Unterschrift, die grundsätzlich die folgenden Funk-tionen besitzt:• Abschlussfunktion• Vollendung einer Erklärung – hebt sich vom Entwurf ab• Identitätsfunktion

° Unterschrift macht die Identität des Ausstellers kenntlich• Echtheitsfunktion

° Dokument stammt vom Aussteller• Warnfunktion

° Schutz des Unterzeichners vor Übereilung• Beweisfunktion (Urkundenbeweis)

° Erleichtert die Beweisführung im Streitfall (§§ 371a ff. ZPO)

Die qualifizierte elektronische Signatur ermöglicht es somit, dieseFunktionen auch in der elektronischen Welt zu erfüllen. So weistdiese bspw. bei erfolgreicher Signaturprüfung eindeutig denAussteller eines Dokuments und damit die Echtheit des betref-fenden Dokuments sowie die Integrität des Dokuments nach.Wurde das Dokument verändert, so ändert sich der Hashwert,womit die Signaturprüfung ungültig wäre. Gemäß einschlägigenRechtsgrundlagen so bspw. § 3a VwVfG ist damit nur diemindestens qualifizierte elektronische Signatur geeignet, beste-hende Schriftformerfordernisse elektronisch zu erfüllen. Dieseverlangen, dass ein Dokument handschriftlich zu unterschreibenist und damit eine eindeutige Zuordnung zum Aussteller besitzt.Trotz bestehender Rechte- und Zugriffskonzepte in DMS/VBSoder Authentifizierungen durch fortgeschrittene elektronischeSignaturen ist eine mathematisch eindeutige und der eigenhän-

5 Vgl. § 2 SigG.6 Für Anforderungen an ZDA vgl. §§ 4-14 SigG i. V. m. § 24 SigV.7 Das in der Technischen Richtlinie des BSI zur vertrauenswürdigen Langzeit-

speicherung enthaltene ArchiSafe-Modul zur Sicherung elektronisch signier-ter Dokumente bedingt faktisch die Nutzung von Signaturcontainern odereingebetteten Signaturen. Vgl. auch: ArchiSafe Fachkonzept. Physikalisch-Technische Bundesanstalt, Braunschweig 2005.

8 Vgl. insbesondere §§ 2, 15, 17 SigG.9 Vgl. Grundlagen der elektronischen Signatur. BSI (Hrsg.), Bonn 2006 i. V. m.

Leitfaden elektronische Signatur. Signature Perfect KG, SigLab 2006.10 Zum elektronischen Verwaltungsakt vgl. auch § 37 VwVfG.11 Vgl. Skrobotz, Jan: Das elektronische Verwaltungsverfahren. Die elektroni-

sche Signatur im E-Government. Berlin 2005 S. 290 ff.12 Vgl. auch „Elektronische Speicherung von Behördenschriftgut“ der Arbeits-

gruppe des Unterausschusses „Allgemeine Verwaltungsorganisation“ desArbeitskreises VI der IMK vom 23.01.2008. i. V. m. § 10 VwVfG.

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digen Unterschrift gleichgestellte elektronische Erfüllung einesSchriftformerfordernisses nur durch die qualifizierte elektroni-sche Signatur möglich.13 Bei der Konzeption und Einführung vonDMS/VBS sollten insofern grundsätzlich bestehende Formerfor-dernisse erfragt werden. Soll ein vollständig elektronischerGeschäftsgang realisiert werden, so sind diese Formerfordernissezu beachten und zur Erfüllung von Schriftformerfordernissen diequalifizierte elektronische Signatur einzusetzen. Ein Ausschlussder elektronischen Form kann durch die qualifizierte elektroni-sche Signatur nicht ersetzt werden. Hier sind, auch wenn die E-Akte vollständig geführt wird, die papiernen Originale zwingendparallel in der sog. „Papierrestakte“ aufzubewahren.14 Hinzukommt, dass bspw. Beglaubigungen elektronischer Abschriftendigital nur mittels einer qualifizierten elektronischen Signatur mitAnbieterakkreditierung realisiert werden können.15 Neben derErfüllung von Schriftformerfordernissen besitzt die qualifizierteelektronische Signatur Bedeutung beim Scannen papierner Unter-lagen für deren Übernahme ins DMS/VBS. Soweit ersetzendgescannt wird, was rechtlich in ausgewählten Bereichen möglichist,16 wird die Anbringung der qualifizierten elektronischenSignatur auf dem Scan empfohlen.17 Hinzuzufügen ist, dassausschließlich elektronische Originale, die mit mindestens quali-fizierter elektronischer Signatur versehen sind, den Beweiserleich-terungen nach § 371a ZPO18 , bei öffentlichen elektronischenOriginalen mit qualifizierter elektronischer Signatur sogar derBeweislastumkehr nach § 437 ZPO unterliegen.19 Nun könnte dieLösung sein, alle beweisrelevanten Dokumente, sowie diejenigendie der Schriftform unterliegen, auszudrucken. Bei Ausgangs-schreiben mag dies zukünftig noch die Regel sein. Hier sei jedochan die zahlreichen verwaltungsinternen Schriftformerfordernisseoder die Gerichtsfestigkeit erinnert. Alle ausgedruckten Doku-mente sind nicht nur aufzubewahren mit Verweis und Beziehungzur entsprechenden vollständigen E-Akte, sie stellen zudemKopien der elektronischen Originale dar – ein, soweit nicht jederzur Beweissicherung notwendige Ausdruck mit einem amtlichenBeglaubigungsvermerk20 versehen wird, in Bezug auf die Gerichts-festigkeit durchaus heikler Punkt. Die Aufbewahrung papiernerUnterlagen kostet zudem jährlich zwischen ca. 35 und 50,- C= /laufenden Meter und mehr, womit sich die Kostenfrage diesesVorgehens stellt, zumal die Zukunft eher elektronische Geschäfts-prozesse bringen wird. Als Empfehlung gilt hier, vor Einführungeines DMS/VBS potenziell beweisrelevante Dokumente bzw. dieentsprechenden Akten und Vorgänge zu identifizieren, um denorganisatorischen wie technischen Aufwand für die Signatur zubegrenzen, zumal umfängliche Auswirkungen auf die Komple-xität der langfristigen Aufbewahrung bestehen. Zudem sollten,dies als Hinweis für die Behördenberatung der Archive, vorEinführung bestehende verwaltungsinterne Schriftformerforder-nisse überprüft und soweit möglich beseitigt werden. Hinter-grund ist, dass im DMS/VBS ohnehin alle Handlungen protokol-liert und zum einen dem Nutzer per Rechte- und Zugriffskonzeptzugewiesen sowie zum anderen die Bearbeitungs- und Protokoll-informationen eindeutig am Vorgang gespeichert werden. ZumTeil enthalten DMS/VBS gerade für Zeichnungsfunktionengrundständig bereits technisch fortgeschrittene Signaturen (z. B.OpenText DOMEA), was den Nachweis noch erhöht. Ein solchesVorgehen wurde beispielsweise im Land Berlin bei der Neufas-sung der GGO im Hinblick auf den Einsatz von DMS/VBSgewählt. Ziel sollte es insofern sein, die Menge der zu signie-renden Dokumente soweit möglich zu begrenzen. Die rechts- undbeweissichere Aufbewahrung elektronischer Unterlagen im

Rahmen der geltenden Aufbewahrungsfristen umfasst einen ausder Papierwelt faktisch unbekannten Aufwand – die langfristigeErhaltung bestehender qualifizierter elektronischer Signaturen imRahmen einer rechts- und beweissicheren Langzeitspeicherung.

LANGZEITSPEICHERUNG ELEKTRONISCHSIGNIERTER UNTERLAGENDie Langzeitspeicherung umfasst die rechts- und beweissichereAufbewahrung elektronischer Unterlagen im Rahmen dergeltenden Aufbewahrungsfristen. Dabei sind elektronische Akten,Vorgänge und Dokumente im Aktenzusammenhang aufzube-wahren. Die Langzeitspeicherung als Teil der Schriftgutverwal-tung unterliegt den gleichen Anforderungen. Diese sind somit biszum Ablauf der Fristen zwischen 2 und 100 Jahren oder dauerndzu erfüllen. Für elektronisch signierte Unterlagen ist insbesondere§ 6 SigG i. V. m. § 17 SigV zu beachten. Demnach sind Daten, diemit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen sind, vorAblauf der Sicherheitseignung der der Signatur zugrundelie-genden Verschlüsselungsalgorithmen und Parameter neu zusignieren. Diese neue Signatur muss sowohl alle bestehendenSignaturen einschließen als auch mindestens das gleiche Signatur-niveau der bestehenden umfassen und einen qualifizierten Zeit-stempel tragen. Den Ablauf der Sicherheitseignung gibt dieBundesnetzagentur bekannt. Dieser ist jedoch von der aufbewah-renden Stelle zu überwachen. Grundsätzlich obliegt die Aufbe-wahrung elektronischer Akten den aktenführenden Stellen. Fürdie öffentliche Verwaltung ergibt sich die Verpflichtung zur Über-signierung sowohl aus Art. 20 Abs. 3 GG als auch aus §§ 29 und37 VwVfG.21 Das Verwaltungshandeln ist danach transparent undnachvollziehbar zu machen; die Schriftgutverwaltung mussentsprechend dem Gebot der Aktenmäßigkeit ordnungsgemäßsein und die Authentizität und Integrität der Dokumente in dervollständigen E-Akte verbürgen, und das für die gesamte Dauerder Nutzung, mithin bis zur Abgabe der Akte ans Archiv bzw. biszu ihrer Vernichtung, soweit eine Bewertung als nicht archiv-würdig erfolgte. Behördliches Schriftgut muss damit bis zumAblauf der geltenden Aufbewahrungsfristen unter Erhaltung derAuthentizität, Integrität, Verlässlichkeit (Prüfbarkeit), Verkehrsfä-higkeit etc. jederzeit verfügbar verwahrt werden. Bei elektronischsignierten Unterlagen ist dies nur unter Durchführung der Über-signierung möglich. Erfolgt die Einrichtung eines Zwischenar-chivs durch das zuständige Archiv, so dient dieses der Entlastungder Registraturen der aktenführenden Stellen und der Aufbewah-rung von Unterlagen bis zum Ablauf der geltenden Aufbewah-rungsfristen. In der elektronischen Welt übernimmt in diesemFall das zuständige Archiv mit dem Zwischenarchiv die Langzeit-speicherung im Auftrag der aktenführenden Stellen. Die akten-führenden Stellen können die verwahrten Unterlagen dabei jeder-zeit ausleihen. Praktisch heißt dies, dass das Archiv faktisch alsinterner Dienstleister gegenüber den Registraturbildnern auftrittund die Langzeitspeicherung für diese übernimmt. Die imZwischenarchiv befindlichen Akten bleiben weiterhin Eigentumder aktenführenden Stellen und werden vom Archiv unter Einhal-tung der bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen alsverwaltungsinterne Dienstleistung faktisch im Sinne eines SharedService Centers aufbewahrt und bereitgestellt. Die Unterlagenunterliegen insofern weiterhin, bis zum Ablauf der geltendenAufbewahrungsfristen den für die aktenführenden Stellengeltenden Rechtsgrundlagen so auch, soweit sich keine rechtlichen

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Änderungen ergeben, der Forderung nach Neusignierung beste-hender qualifizierter elektronischer Signaturen gemäß § 6 SigGund § 17 SigV. Es handelt sich noch nicht um Archivgut im Sinneder Archivgesetze. Die Aufbewahrungsfristen dienen einer Vorhal-tung der Unterlagen für den Fall, dass diese für die Aufgabener-füllung wieder benötigt werden sowie zur Beweissicherung. Umsowohl bestehende Schriftformerfordernisse bis zur Aussonde-rung zu erfüllen als auch die Gerichtsfestigkeit, d. h. die Nutzungder Beweiserleichterungen nach § 371a ZPO für elektronischentstandene Dokumente resp. eine möglichst hohe Beweissicher-heit für gescannte Dokumente zu gewährleisten, müssen für diegesamte Dauer der geltenden Aufbewahrungsfristen bestehendequalifizierte elektronische Signaturen erneuert werden, soweit dieSicherheitseignung der Verschlüsselungs- und Hashalgorithmen,die der Signatur zugrunde liegen, abnimmt.22 Läuft die Sicher-heitseignung der bestehenden qualifizierten elektronischen Signa-turen ab, ohne dass eine Neusignierung der betreffenden Doku-mente erfolgt, so ist die Sicherheit der betreffenden Signaturennicht mehr gegeben. Erfolgt keine Neusignierung, so unterliegtdie betreffende Signatur einem erhöhten Sicherheitsrisiko bzw.der Gefahr der Fälschung. Die Übersignierung sichert faktisch dieIntegrität der Signatur.23 Zudem sind die Beweiserleichterungennach § 371a ZPO nicht mehr gegeben24 oder die Erreichung einesmöglichst hohen Beweiswerts bei gescannten Dokumenten verun-möglicht. Die betreffenden Dokumente würden dann der freienBeweiswürdigung des Richters nach § 286 ZPO unterliegen. EinAuslassen der Neusignierung kann für die betreffende Behördeinsofern nachhaltige rechtliche Folgen nach sich ziehen. Vertrau-enswürdige digitale Langzeitspeicher müssen die Übersignierungnach § 17 SigV ermöglichen.25 Die Neusignierung erfolgt derge-stalt, dass die qualifizierte elektronische Signatur des betref-fenden Dokuments mit einem qualifizierten Zeitstempel versehenwird, der eine qualifizierte elektronische Signatur enthält. Liegteine qualifizierte elektronische Signatur mit Anbieterakkreditie-rung vor, so muss auch ein solcher Zeitstempel verwendetwerden. Der Zeitstempel bescheinigt, dass bestimmte Daten, zumZeitpunkt der Übersignierung der Signatur vorgelegen haben.Praktisch erfolgt die Neusignierung des Hashwerts, der das Doku-ment repräsentiert, was bedeutet, dass solange die Hashalgo-rithmen ihre Sicherheitseignung besitzen die Neusignierungmittels Zeitstempel einschließlich mindestens qualifizierter elek-tronischer Signatur26 ausreicht.27 Um eine effiziente Neusignie-rung einer Vielzahl von Dokumenten im Aktenzusammenhang zuermöglichen, hat sich das ArchiSafe-Konzept etabliert, das denArchiSig-Standard integriert. Ein validiertes und prüfbares Systemzur Erhaltung elektronisch signierter Unterlagen wurde mit derTechnischen Richtlinie (TR) 03125 des BSI definiert.28 Nach dieserRichtlinie sollen zukünftig konkrete Produkte auf Konformitätgeprüft werden, was den Behörden und dem Archiv im Zwischen-archiv eine hohe Sicherheit in der rechts- und beweissicherenErhaltung signierter Unterlagen ermöglicht. Praktisch läuft dasVerfahren zur Langzeitspeicherung elektronisch signierter Unter-lagen wie folgt ab: Der abgeschlossene Vorgang29 wird durch dasUrsprungssystem (z. B. ein DMS/VBS) als XDOMEA 2.0-konformes XML-Datenobjekt dem XML-Adapter des Langzeit-speichers übergeben. Das Datenpaket enthält die Metadaten desVorgangs in XDOMEA 2.0 sowie die Primärdaten vorzugsweiseim Dateiformat PDF/A. Zwecks Zugriff auf die an das elektroni-sche Zwischenarchiv übergebenen Vorgänge werden die Meta-daten redundant im DMS/VBS vorgehalten. Durch den XML-Adapter wird aus dem Vorgang ein Archivdatenobjekt erzeugt.

Dieses stellt ein weiteres XML-Datenpaket, nach der TR des BSIein sog. XAIP-Objekt, dar, das dann den Vorgang mit seinenMeta- und Primärdaten enthält. Vom XML-Adapter, der funk-tional beispielsweise Teil eines Konvertierungsdienstes sein kann,wird das Archivdatenobjekt an eine ArchiSafe-konforme Middle-ware übergeben. Diese nimmt, im Verbund mit einer VirtuellenPoststelle30 eine Signaturprüfung vor und holt die für künftigeSignaturprüfungen notwendigen Verifikationsdaten ein und legtsowohl das Prüfprotokoll als auch die Verifikationsdaten in einemeigenen Signaturdatenblock im Archivdatenobjekt ab. Danebenwird gemäß ArchiSafe ein Zeitstempel eingeholt und ebenfalls inden Container integriert. In einem nächsten Schritt wird dasArchivdatenobjekt an ein ArchiSig-konformes Modul übergeben.Dieses erzeugt eine eindeutige ID für das Archivdatenobjekt, dieder gezielten Wiederauffindung nach Ablage im Langzeitspeicherdient. In der Folge wird ein eindeutiger Fingerabdruck – derHashwert über dem abzulegenden Vorgang erzeugt. Das Archiv-datenobjekt selbst wird im Langzeitspeicher (elektronischesZwischenarchiv) abgelegt und die ID über die ArchiSafe-konforme Middleware an das DMS/VBS zurückgeliefert unddient in der Folge dem Zugriff auf den langzeitgespeichertenVorgang. Entweder direkt nach Erzeugung des Hashwerts odernachgelagert beispielsweise am Ende eines Tages wird vomArchiSig-Modul über alle neu eingegangenen Archivdatenobjekte

13 Vgl. Skrobotz 2005, S. 192 ff. i. V. m. § 3a VwVfG.14 Vgl. Bericht „Elektronische Speicherung von Behördenschriftgut“ der

Arbeitsgruppe des Unterausschusses „Allgemeine Verwaltungsorganisation„des Arbeitskreises VI der IMK vom 23. 01. 2008. i. V. m. Skrobotz 2005,S. 107 ff.

15 Vgl. § 33 Abs. 4 VwVfG.16 Beispielsweise im Bereich der Sozialversicherungen gemäß §§ 110a ff. SGB IV.17 Vgl. Roßnagel, Alexander: Scannen von Papierdokumenten. Anforderungen,

Trends und Empfehlungen. Baden-Baden 2007 i. V. m. Handlungsleitfadenzum Scannen von Papierdokumenten. Bundesministerium für Wirtschaft undTechnologie (Hrsg.), Berlin 2008.

18 Im Verwaltungsgerichtsverfahren ist gemäß VwGO bezüglich der Anerken-nung von Unterlagen als Beweisdokumente die Zivilprozessordnung äquiva-lent anzuwenden (vgl. insbesondere § 98 VwGO).

19 Bedingung ist daneben eine erfolgreiche Signaturprüfung; bei gescanntenDokumenten ermöglicht die unmittelbare Anbringung einer qualifiziertenelektronischen Signatur nach Meinung der Fachliteratur einen erhöhtenBeweiswert im Vergleich zu unsignierten Scans, ohne jedoch die Erleichterun-gen nach § 371a ZPO zu erreichen.

20 Vgl. Roßnagel, Alexander u. a.: Eine Beweisführung von Format. Die Transfor-mation signierter Dokumente auf dem Prüfstand. In: Computer und Recht,Heft 9/2008, S. 607-612, hier S. 609, i. V. m. Kopp, Ferdinand O. und Ramsauer,Ulrich: Verwaltungsverfahrensgesetz. Kommentar. München 2008, S. 537 ff.

21 Vgl. Roßnagel, Alexander u. a.: Handlungsleitfaden zur Aufbewahrung elek-tronischer und elektronisch signierter Dokumente. Bundesministerium fürWirtschaft und Technologie (Hrsg.), Berlin 2007, S. 15 ff. i. V. m. Roßnagel,Scannen von Papierdokumenten (Anm. 17), S. 90 ff. i. V. m. Skrobotz 2005,S. 300 ff.

22 Vgl. Roßnagel, Alexander: Langfristige Aufbewahrung elektronischer Doku-mente. Anforderungen und Trends. Baden-Baden 2007 i. V. m. Handlungsleit-faden zur Aufbewahrung elektronischer und elektronisch signierter Doku-mente. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.), Berlin2007.

23 Vgl. Roßnagel, Scannen von Papierdokumenten (Anm. 17), S. 64 ff.24 Vgl. ebd., S. 76 ff.25 Vgl.BSI Technische Richtlinie 03125. Vertrauenswürdige digitale Langzeitspei-

cherung. Bonn 2009.26 Technisch umfassen qualifizierte Zeitstempel heute qualifizierte elektroni-

sche Signaturen.27 Vgl. Roßnagel, Scannen von Papierdokumenten (Anm. 17), S. 62 ff.28 Vgl. BSI Technische Richtlinie 2009 (für Bundesbehörden gilt die TR faktisch

verbindlich, darüber hinaus besteht empfehlender Charakter).29 Nach DOMEA®-Konzept werden in der E-Akte i. d. R. Vorgänge langzeitge-

speichert.30 E-Government-Basiskomponente zur Erzeugung und Prüfung sowie zum

Empfang qualifizierter elektronischer Signaturen, Erzeugung, Empfang, ggf.Prüfung fortgeschrittener elektronischer Signaturen sowie Einholung vonZeitstempeln.

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(Vorgänge) ein gemeinsamer sog. Merkle-Hashbaum erzeugt. DerHashbaum wird an der Spitze mit einem mindestens qualifiziertenZeitstempel verschlossen. Sind im Baum qualifizierte elektronischeSignaturen mit Anbieterakkreditierung enthalten, so muss auchder Zeitstempel ein solcher mit Anbieterakkreditierung sein. Dieserinitiale Archivzeitstempel31 muss mindestens eine qualifizierteelektronische Signatur32 tragen, was technisch heutzutage Standardist. Der Hashbaum enthält faktisch nur die Hashwerte der imLangzeitspeicher befindlichen Archivdatenobjekte. Der Hashrepräsentiert als mathematisch eindeutige und einmalige Prüf-summe unikat ein digitales Objekt und ist damit mit diesemuntrennbar verbunden. Läuft nun die Sicherheitseignung der denjeweiligen Signaturen zugrunde liegenden Verschlüsselungsalgo-rithmen ab, wird lediglich der Archivzeitstempel an der Spitze desHashbaums erneuert. Hintergrund ist, dass die signierten elektro-nischen Dokumente in den langzeitgespeicherten Vorgängen durchHashwerte repräsentiert werden. Bereits bei der Signierung wirdnicht das Dokument, sondern der Hashwert verschlüsselt. DiesemPrinzip folgend ist es ausreichend, den Zeitstempel an der Spitzedes Hashbaums, der sich auf die darunter liegenden Hashwerteresp. Datenobjekte eindeutig bezieht,33 zu erneuern. Wichtig ist,dass der neue Zeitstempel alle Signaturen einschließt, was mit demHashbaum gegeben ist und mindestens dieselbe Signaturstufebesitzt wie die in den Archivdatenobjekten enthaltenen. Ist somitin den Archivdatenobjekten (Vorgängen) eine qualifizierte elektro-nische Signatur mit Anbieterakkreditierung enthalten, so mussauch der Archivzeitstempel bei der Signaturerneuerung ein solchermit Anbieterakkreditierung sein. Da die Übersignierung nur einSicherungsmittel bestehender qualifizierter elektronischer Signa-turen ist, muss der Archivzeitstempel auch keine persönlicheSignatur enthalten. Der bei der Übersignierung verwendete Zeit-stempel schließt den Hashwert des ursprünglichen Archivzeitstem-pels ein. Im Falle eines Gerichtsverfahrens wären damit sowohl dasArchivdatenobjekt (Vorgang) einschließlich des sog. reduziertenArchivzeitstempels, d. h. alle Hashwerte bis zur Baumspitze sowieder Zeitstempel, der ggf. weitere umschließt, sofern bereits Über-signierungen erfolgten, vorzulegen.34 Läuft die Sicherheitseignungder Hashalgorithmen ab, so ist der Hashbaum neu aufzubauen.Ein Hashbaum kann eine Vielzahl von Archivdatenobjekten reprä-sentieren.35 Ein Beispiel des Hashbaums zeigt die nachstehendeGraphik:

Eine häufig gestellte Frage ist, wie oft überzusignieren ist. Grund-sätzlich hat dies bei Ablauf der Sicherheitseignung der Verschlüs-selungsalgorithmen qualifizierter elektronischer Signaturen zuerfolgen. Ein weiterer Punkt, der vielfach angeführt wird, sind dieAufbewahrungsfristen der für eine Signaturprüfung notwendigenVerifikationsdaten oder die Gültigkeit des zugrunde liegendenqualifizierten Zertifikats beim Trust Center. Für die Gültigkeit derZertifikate ist zu sagen, dass die qualifizierte elektronischeSignatur bei Anbringung auf einem gültigen Zertifikat beruhenmuss. Dies wird bei der Signaturprüfung geprüft, insofern sindzur Signaturprüfung die Verifikationsdaten notwendig. Bei quali-fizierten elektronischen Signaturen, also solchen von angezeigtenZDA, werden diese Daten 5 Jahre vom ZDA aufbewahrt. Beidessen Betriebseinstellung erfolgt keine Aufbewahrung durchandere Institutionen beispielsweise die Bundesnetzagentur.Anders ist dies bei qualifizierten elektronischen Signaturen mitAnbieterakkreditierung. Hier werden die Verifikationsdaten 30Jahre vom ZDA aufbewahrt und bei dessen Betriebseinstellungerfolgt die Aufbewahrung durch die Bundesnetzagentur. OhneVerifikationsdaten sind qualifizierte elektronische Signaturennicht prüfbar und damit kein eindeutiger Authentizitätsnachweissowie die Inanspruchnahme der Beweiserleichterungen nach §§371a ff. ZPO möglich.36 Damit dient die frühzeitige Einholung derVerifikationsdaten und damit die Sicherung der Prüfbarkeit derSignaturen faktisch der Authentizitätssicherung, denn diese istnur mit einer erfolgreichen Signaturprüfung gegeben. Insofern istentweder bereits bei Signaturanbringung zu entscheiden, ob einequalifizierte, damit jedoch auch teurere, elektronische Signaturmit Anbieterakkreditierung verwendet wird. Unabhängig davonsollten die zur Signaturprüfung notwendigen Verifikationsdatenspätestens nach Ablauf der Transferzeit, bei Übergabe des Doku-ments (im Vorgangszusammenhang) eingeholt und mit demVorgang eindeutig verbunden werden. Dies wird durch die Archi-Safe-konforme Middleware sichergestellt.37 Neben der Übersignie-rung ist für die langfristige Erhaltung elektronisch signierterUnterlagen im Zwischenarchiv die Transformationsproblematikzu betrachten. Eine Transformation auf ein anderes Dateiformatzur Langzeiterhaltung der digitalen Unterlagen zieht die Verände-rung des Bitstroms der Datei nach sich, auf den sich der signatur-immanente Hashwert bezieht. Verändert sich jedoch der Bitstrom,so ist die Prüfung des Hashwerts, der der Sicherung der Integritätdes Dokuments dient, und damit auch die Signaturprüfungnegativ. Dies impliziert die Verwendung eines standardisiertenVerfahrens zur sicheren Transformation, wie dies durch TransiDocgegeben ist. Dabei wird die Transformation anhand eines defi-nierten Regelsatzes in einem sicheren Transformationssystemdurchgeführt. Ein solches System realisiert eine automatischeUmwandlung, befindet sich zudem in einer sicheren Umgebungoder stellt ein abgeschlossenes System ohne Webzugang dar. Vorder eigentlichen Umwandlung erfolgt eine Signaturprüfung,deren Ergebnis dem Transformationsvermerk beigefügt wird.Danach werden die Signaturdaten extrahiert und die Datenum-wandlung durchgeführt. Im nächsten Schritt wird die Konvertie-rung dahin gehend geprüft, ob Datenverluste auftraten oderVeränderungen in den Inhalten erfolgten. Im Folgenden findeteine Prüfung der gesamten Transformation entsprechend demRegelsatz statt. Alle im Rahmen der Transformation stattfin-denden Prozesse, das Ergebnis der Signaturprüfung, die verwen-dete Hard- und Software oder der Nachweis der Übereinstim-mung von Ausgangs- und Zieldokument wird im Transformati-onsbericht festgehalten und dieser mit einer qualifizierten elektro-

Funktionsweise desHashbaums.Quelle: INFORA GmbH

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nischen Signatur mit Anbieterakkreditierung vorzugsweise auchmit einem entsprechenden Zeitstempel versehen.38 Nach derTransformation entspricht der Rechtsstatus des umgewandeltenObjekts dem des Ausgangsobjekts. Sowohl die Übersignierung alsauch die Transformation ersetzen nicht die Verwendung von Soft-ware- und Speichersystemen zur elektronischen Langzeitspeiche-rung im Zwischenarchiv, die durch system- und ggf. datenträger-bezogene Maßnahmen zum Beispiel unerlaubte Zugriffe, Verän-derungen oder Löschungen ausschließen. Die Übersignierungund Transformation sind neben weiteren Maßnahmen für dierechts- und beweissichere Aufbewahrung im Rahmen dergeltenden Aufbewahrungsfristen essenziell.39 Als Grundlage zurDefinition der Anforderungen an ein derartig vertrauenswürdigesZwischenarchiv können die TR03125 des BSI, der Kriterienkatalogaus NESTOR oder der Handlungsleitfaden des Bundesministe-riums für Wirtschaft und Technologie dienen.40 Danebenempfiehlt sich im Kontext der Vertrauenswürdigkeit ein Blick inden britischen Standard DRAMBORA des Digital CurationCenter41 sowie in die beim Center of Research Libraries(USA/Kanada) entstandene TRAC-List42. Diese beschriebenenAnforderungen und Verfahren sind für die Dauer der geltendenAufbewahrungsfristen zu erfüllen – entweder durch die Behördeselbst in einer elektronischen Altregistratur oder dem Archiv imZwischenarchiv. Die jeweils eingesetzten IT-Verfahren zur Lang-zeitspeicherung sowie die Ursprungsverfahren müssen insoferndie notwendigen Funktionen zur Gewährleistung der Rechts- undBeweissicherheit umfassen. Diese Anforderungen wären insofernbeim Aufbau einer elektronischen Langzeitspeicherung sowohl inder Ausprägung Zwischenarchiv (Durchführung durch Archiv) alsauch in der Ausprägung elektronische Altregistratur (Durchfüh-rung durch Behörde) zu beachten.

AUSSONDERUNG UND ÜBERNAHMEELEKTRONISCH SIGNIERTER UNTER-LAGENGemäß dem geltenden Archivrecht haben die aktenführendenStellen aus Legislative, Exekutive und Judikative alle Unterlagen,die sie für die laufende Aufgabenerfüllung nicht mehr benötigendem zuständigen staatlichen Archiv zur Übernahme anzubieten.Dies erfolgt praktisch nach Ablauf der geltenden Aufbewahrungs-fristen im Rahmen der Aussonderung. Demgemäß sind imZwischenarchiv befindliche Akten und Vorgänge nach Ablauf derAufbewahrungsfristen ebenfalls auszusondern. Die Aussonde-rung elektronischer Akten und Vorgänge erfolgt in der öffentli-chen Verwaltung in der Mehrheit nach dem zweistufigen odervierstufigen Aussonderungsverfahren nach dem DOMEA®-Konzept.43 Das Verfahren wird im Folgenden nur kursorischdargestellt und ist tatsächlich deutlich komplexer. Um denUmgang mit elektronischen Signaturen – dem Fokus desAufsatzes – verständlich darzustellen, erscheint diese kursorischeBeschreibung ausreichend. Die Vorbewertung nach demDOMEA®-Konzept erfolgt durch das Archiv während derlaufenden Aufbewahrungsfristen im DMS/VBS. Ausgesondertwerden ausschließlich vollständige Akten und Vorgänge. Das elek-tronische Archiv wird mehrheitlich nach dem in ISO 14721normierten OAIS-Modell (Open Archival Information System)44

aufgebaut. Die Anforderungen an die dem Archiv zu übergebendeAussonderungsdatei, nach OAIS dem SIP (Submission Informa-

tion Package), werden vom Archiv definiert. Dies bedeutet, dassnach Ablauf der geltenden Aufbewahrungsfristen die im elektro-nischen Zwischenarchiv befindlichen XAIP-konformen Archivda-tenobjekte abzurufen sind. Der Abruf erfolgt beim zweistufigenAussonderungsverfahren unter Rückgriff auf bestehende Bewer-tungsvermerke, womit bereits eine Vorselektion der Vorgängegegeben ist. Noch zu bewertende Vorgänge werden vom Archivbewertet und danach ausgelesen. Beim vierstufigen Verfahrenerfolgt der Abruf durch Einlesen des Bewertungsverzeichnisses.Als archivwürdig bewertete Vorgänge werden in der Folge in derAussonderungsdatei, dem SIP nach OAIS, an das Endarchiv über-geben. Soweit in den archivwürdigen Vorgängen qualifizierte elek-tronische Signaturen enthalten sind, werden diese vorzugsweisegemäß DOMEA®-Aussonderungskonzept45 direkt vor Übergabeder Aussonderungsdatei ans Endarchiv geprüft und über diePrüfungsergebnisse ein Beglaubigungsvermerk angelegt. Damitbestätigt die abgebende Stelle die Gültigkeit der Signatur zumZeitpunkt der Übergabe ans Endarchiv. Die Informationen zurSignatur, wie beispielsweise signierende Person, der ZDA, der dasZertifikat ausstellte, usw. werden als Metadaten mit dem Vorgangübergeben. Die Signaturen selbst werden damit aufgelöst, jedochüber die Metadaten des Dokuments im Vorgang ausreichenddokumentiert. Im Ergebnis enthält das digitale Endarchiv keineDokumente mit elektronischen Signaturen.46 Da die qualifizierteelektronische Signatur rechtlich das elektronische Pendant zureigenhändigen Unterschrift darstellt, bedeutet dies faktisch derenphysische Entfernung. Technisch ist diese Auflösung nicht zwin-gend notwendig, da die Signatur die Lesbarkeit des Dokumentsnicht verhindert. Die Erhaltung der Signatur impliziert jedocheinen vergleichsweise hohen technischen Aufwand, wie dies imKapitel „Langzeitspeicherung elektronisch signierter Unterlagen“

31 Zeitstempel gemäß ERS-Standard.32 Ggf. mit Anbieterakkreditierung.33 Die Hashwerte des Hashbaums sind mathematisch eindeutig miteinander ver-

knüpft, insofern bezieht sich der Zeitstempel an der Spitze eindeutig auf dieHashwerte, die die Archivdatenobjekte mathematisch eindeutig repräsentie-ren und damit auf die Signaturen der Archivdatenobjekte.

34 Archivdatenobjekt + Hashwerte + Archivzeitstempel gelten als Beweisdoku-ment.

35 Vgl. BSI Technische Richtlinie 2009; Roßnagel, Scannen von Papierdokumen-ten (Anm. 17); Handlungsleitfaden zur Aufbewahrung elektronischer undelektronisch signierter Dokumente Berlin 2007.

36 Vgl. Roßnagel, Scannen von Papierdokumenten (Anm. 17), S. 69 ff.37 Vgl. BSI Technische Richtlinie 2009.38 Vgl. Roßnagel, Alexander u. a., Beweisführung von Format (Anm. 20) i. V. m. §

33 VwVfG.39 Vgl. Handlungsleitfaden zur Aufbewahrung elektronischer und elektronisch

signierter Dokumente. Berlin 2007.40 Vgl. Kriterienkatalog vertrauenswürdige digitale Langzeitarchive. Hg. v. der

NESTOR-Arbeitsgruppe Vertrauenswürdige Archive – Zertifizierung. Version2. Frankfurt am Main 2008 i. V. m. Handlungsleitfaden zur Aufbewahrungelektronischer und elektronisch signierter Dokumente. Berlin 2007.

41 Vgl. www.dcc.ac.uk/tools/drambora/.42 Vgl. www.crl.edu/sites/default/files/attachments/pages/trac_0.pdf.43 Vgl. DOMEA®-Organisationskonzept 2.1. Hg. v. der Koordinierungs- und

Beratungsstelle der Bundesregierung für Informationstechnik. Berlin 2005.Das Aussonderungsverfahren wird verkürzt dargestellt, da der Fokus des Auf-satzes auf der Betrachtung elektronischer Signaturen und dem unterschiedli-chen Umgang mit diesen im Zwischen- und Endarchiv liegt.

44 Vgl. Reference Model for an Open Archival Information System (OAIS). CCDS2002 i. V. m. Borghoff, Uwe: Langzeitarchivierung. Methoden zur Erhaltungdigitaler Dokumente. Heidelberg 2003.

45 Vgl. DOMEA®-Konzept Organisationskonzept 2.0. Erweiterungsmodul zumOrganisationskonzept 2.0. Aussonderung und Archivierung elektronischerAkten. Berlin 2004.

46 Für nähere Informationen zur elektronischen Aussonderung vgl. u. a.: Aus-sonderung digitaler Unterlagen und deren Archivierung im Bundesarchiv. EinLeitfaden. Version 1.0. Bundesarchiv 2009.

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dargestellt wurde. Abgesehen davon wird die Signatur imRahmen der Auflösung ausreichend dokumentiert. Zudem ist dieÜbersignierung im Archiv schlichtweg nicht notwendig. NachÜbernahme, sprich in der Archivierung nach Archivgesetz,befinden sich die Vorgänge in der Hoheit, dem Eigentum desArchivs. Dieses verwahrt nicht mehr im Auftrag der aktenfüh-renden Stellen deren Unterlagen, sondern archiviert eigene Unter-lagen mit bleibendem Wert in eigener Zuständigkeit und Hoheit.Das Archiv gilt gemäß dem jahrhundertealten Grundsatz des „IusArchivi“ aus sich selbst heraus als vertrauenswürdig und beweis-kräftig für die Verwahrung archivierter Unterlagen. Sinn undZweck der Archivierung ist die dauerhafte Erhaltung und Nutz-barmachung von Unterlagen mit bleibendem Wert in der Hoheitdes Archivs, im Gegensatz zur Verwahrung im Zwischenarchiv imAuftrag der aktenführenden Stellen, wo eine langfristige rechts-und beweissichere Aufbewahrung realisiert wird – der Zweck derArchivierung ist insoweit ein anderer als bei der Langzeitspeiche-rung. Insofern wechselt bei Übernahme in die Hoheit des Archivsim Rahmen der Aussonderung der Rechtsstatus der betreffendenVorgänge.47 Archivgut kann zwar weiterhin potenziell als Teil vonGerichtsverfahren genutzt werden, nur ist dies i. d. R. der Ausnah-mefall, da die unmittelbare Rechtswirkung spätestens mit Ablaufder Aufbewahrungsfristen48 als abgeschlossen gilt. Die Fristendienen gerade der Rechts- und Beweissicherung. Sobald dieAnbietung erfolgt, werden die Unterlagen für die laufende Aufga-benerfüllung und damit faktisch auch die unmittelbare Rechts-und Beweissicherung nicht mehr benötigt. Die Archive gelten wiebeschrieben als „trusted custodian“ – vertrauenswürdigeVerwahrer. Diese unbestreitbare Authentizität von Archivgutergibt sich aus einer durchgängigen Überlieferungskette von derEntstehung bis zum Archiv sowie der Sicherung der Authentizitätim Sinne einer ordnungsgemäßen Schriftgutverwaltung bis zurAnbietung und Übernahme. Somit ergibt sich für die vorarchivi-schen Teile des Lebenszyklus elektronischer Unterlagen, auchsolcher aus DMS/VBS, die Aufgabe, deren Authentizität durcheine ordnungsgemäße Schriftgutverwaltung zu gewährleisten, dieauch eine Übersignierung umfasst – eine Aufgabe, die auch Teilder Behördenberatung wäre. Reicht die Überlieferungskette voll-ständig bis ins Archiv, so ist die Authentizität des Archivgutsebenfalls gegeben.49 Für die Sicherung der Authentizität, Inte-grität, Lesbarkeit etc. digitalen Archivguts wären zudem IT-Verfahren einzusetzen, die mindestens den Anforderungen desNESTOR-Kriterienkatalogs für vertrauenswürdige digitale Lang-zeitarchive genügen. Im Endarchiv sind Verwahrung und Erhal-tung elektronischer Signaturen insofern nicht notwendig – selbst-verständlich jedoch die Erhaltung der Dokumente selbst. In derGesamtschau ist es wünschenswert, wenn sich die Archive noch

mehr als bisher in den einschlägigen Gremien beteiligen, um diebestehenden Normen, Standards und Best Practices im archiv-fachlichen Sinn mit- und fortzuentwickeln.

THE SAFE CUSTODY OF DIGITAL SIGNATURED DOCU-MENTS IN RECORD CENTRES AND ARCHIVES

Today it‘s usual to use records management systems in the publicadministration and companies. One of the most important requestsfor these information systems is to support the conformance of legalcomliance. Especially in Germany the digital signature has an enor-mous relevance for legal compliance and the using of digital docu-ments as evidence in a lawsuit. The conformance of these requestsrequires that digital signatures have to be saved for the whole reten-tion period of the signatured documents. The essay describes profes-sional and legal needs to save digital signatured documents in arecords centre and an archive and show the relationship and diffe-rences between both one. The content includes also informationabout trustworthiness and records management needs in thiscontext.

47 Vgl. Roßnagel, Scannen von Papierdokumenten (Anm. 17), S. 38 ff.48 I. d. R. nach 30 Jahren.49 Vgl. Kappelhoff, Bernd: Authentizität bewahren – Transformationen in der

Archivpraxis. Vortrag gehalten auf der Fachkonferenz „Rechtssichere elektro-nische Archivierung“ im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologiein Berlin am 13. 12. 2007. Tagungsdokumentation zur Fachkonferenz „Rechts-sichere elektronische Archivierung“. Berlin 2007 i. V. m. Keitel, Christian:Authentizität aus Sicht der Archive. Vortrag gehalten auf der 1. Jahrestagung E-Akte am 19. 11. 2009 in Berlin. Tagungsdokumentation zur 1. Jahrestagung E-Akte. Berlin 2009.

Steffen SchwalmINFORA GmbHCicerostraße 21, 10709 BerlinTel. 030-8936 58-0, FAX 030-89 09 33 26GSM: 0160 90 974 756E-Mail: [email protected]

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ARCHIVAR 63. Jahrgang Heft 01 Februar 2010

DER FONDS DER UNTERZWANGSVERWALTUNGGESTELLTEN BESTÄNDE.EINE KREATIVEUMSETZUNG DESKONTEXTMODELLS

von Chantal Vancoppenolle

Die wechselvolle Geschichte der unter Zwangsverwaltunggestellten Archive – in Belgien Sequesterarchive genannt – nahtsich ihrem Ende. Mit Sequesterarchiven sind die Archive der deut-schen Betriebe und Unternehmen gemeint, die nach dem ErstenWeltkrieg beschlagnahmt und unter Sequester gestellt wurden.Als G. Kurgan-van Hentenryk vor fünfzehn Jahren bedauerte,dass die Sequesterarchive nicht zugänglich waren, obwohl sie imArchivführer von H. Coppejans-Desmedt1 aufgeführt werden, wardies für das Staatsarchiv der Anlass, im Rahmen eines Projektesdie Erschließung dieses Sequesterfonds2 in Angriff zu nehmen.Ich wurde damit beauftragt, einen Bericht über die Bedeutungder Sequesterarchive für die Erforschung des finanziellen SektorsBrüssels im Zeitraum von 1870 bis 1918 zu erstellen, dem Haupt-forschungsthema von G. Kurgan-van Hentenryk. Diesen als„ungeliebt“ verschrienen Beständen zu einer neuen Daseinsbe-rechtigung zu verhelfen, erschien mir erst als eine unmöglicheAufgabe, doch möchte ich mit dem vorliegenden Beitragbeweisen, dass es sich gelohnt hat, diese Bestände der Vergessen-heit und, im wörtlichen Sinne, dem Staub zu entreißen. An demProjekt haben sieben Jahre lang sieben Personen – allerdingsnicht zeitgleich – gearbeitet. Ihre Hauptaufgabe bestand darin,diese Bestände der Forschung zugänglich zu machen.3

Erst stellte sich die Frage, in einer Masse von anderthalb Kilome-tern eine für Forscher brauchbare Struktur zu erkennen. Dabeiwar mir das Kontextmodell sehr hilfreich.4 Dieses Modell stelltArchive in ihrem Kontext dar, der ihnen ihre Bedeutung gibt. Esbietet die Gewähr, in der Masse der Archive den Überblick nichtzu verlieren. Nachstehend möchte ich auf drei verschiedene Artenvon Kontexten eingehen: den Entstehungs-, den Verwaltungs-sowie den Gebrauchskontext. Es gibt gewiss noch andereKontexte, aber die drei genannten sind die wichtigsten. Sie bildenden Interpretationsrahmen für die Forschung und für dieEntwicklung eines unterstützenden Instrumentariums.

ENTSTEHUNGSKONTEXTDer Entstehungskontext bezieht sich auf die Umgebung, in derArchive erstellt werden. Zwei Ebenen sind zu beachten: die desArchivfonds als Ganzes und die Ebene des einzelnen Archivbild-ners. Auf der Ebene des Archivfonds handelt es sich um eineGruppe von deutschen Betrieben und Unternehmen, derenArchive in der Zeit von 1870 bis 1918 entstanden sind. Der indivi-duelle Archivbildner ist das jeweilige Unternehmen oder derjeweilige Unternehmer mit einem eigenen funktionellen Kontext,das heißt mit einem eigenen Ziel und eigenen Aktivitäten. AufLetztere werde ich in diesem Aufsatz nicht weiter eingehen.Die Suche nach einem gemeinsamen Entstehungskontext fürdiese Sequesterarchive kann als weit hergeholt erscheinen, denn,was ist ihnen gemeinsam, außer der Tatsache, dass sie alle nachdem Ersten Weltkrieg beschlagnahmt wurden? Und trotzdem istes der Untersuchung dienlich, wenn es gelingt, den Entstehungs-kontext all dieser Bestände auf einen gemeinsamen Nenner zubringen. Gibt es im genannten Zeitraum bestimmte Entwick-lungen in der belgischen Hauptstadt, die man bei allen Betrieben,

1 H. Coppejans-Desmedt, Gids van de bedrijfsarchieven bewaard in de openbaredepots van België, Brüssel 1975.

2 Ich benutzte den Begriff „Fonds“ im Sinne einer Gruppe gleichartiger oder ver-wandter Archivbestände, die auf eine gleiche Art und Weise in das Staatsarchivgelangten.

3 Dieses mehrjährige Forschungsprojekt wurde vom Wissenschaftsministeriumunterstützt.

4 S. J. Horsman, F. C. J. Ketelaar und T. H. S. M. Thomassen, Context. Interpreta-tiekaders in de archivistiek (Stichting Archiefpublicaties Jaarboek 2000), DenHaag 2000; C. Vancoppenolle, Die Sequesterbestände deutscher Unternehmenim Generalstaatsarchiv in Brüssel. Zehn Auslegungen des Kontextmodells, in:Archiv und Wirtschaft. Zeitschrift für das Archivwesen der Wirtschaft 35, 2002,Nr. 2, S. 74-81; dies., Een toepassing van het contextmodel. Het fonds van sek-westerarchieven herontdekt, in: Archievenblad 105, Dezember 2001, Nr. 10, S.22-25.

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die diese Sequesterarchive erstellt haben, erkennen kann? Nach-folgend stelle ich zwei Entstehungskontexte kurz vor.

Brüssel als internationales FinanzzentrumEinen ersten Interpretationsrahmen boten die Forschungsergeb-nisse einer Arbeit über das Bankwesen, die in den neunzigerJahren des letzten Jahrhunderts veröffentlicht worden sind.5 Sieoffenbarten uns die Existenz von belgischen Finanzgruppen, dieüber die Landesgrenzen schauten. Von der Anwesenheit auswär-tigen Kapitals in Belgien war dabei nicht die Rede. Bei M.T. Bitschdagegen lesen wir: „Avec le triomphe du cosmopolitisme financier,la Belgique devient le point d'ancrage de bon nombre de sociétésfortement marquées par l'internationalisation des capitaux ce quipermet à Bruxelles de devenir une place financière d'une réelleimportance derrière Londres, Paris, Berlin“.6

Seit 1870 hatte Brüssel sich zum Zentrum eines internationalenKapitalmarktes entwickelt und zu einem Ort der Begegnung vonKapital und Geschäftsleuten aus den Nachbarländern. Primärwaren für das fieberhafte Treiben auf dem Kapitalmarkt die fünfMilliarden französische Franc verantwortlich, die Frankreich alsVerlierer des deutsch-französischen Krieges der siegreichen Machtzu zahlen hatte. Abgesehen von der enormen Höhe dieser Summeund der knappen Zahlungsfrist war es für diese Wiedergutma-chungszahlungen kennzeichnend, dass die unterschiedlichstenZahlungsmittel verwendet wurden. Nur Scheine der Banque deFrance oder französische Wechsel wurden nicht akzeptiert. NebenGold und Silber nahm Deutschland auch Scheine der Bank ofEngland, der Preußischen Bank, der niederländischen Bank undder belgischen Nationalbank, ebenso wie Wechsel ersten Rangesvon England, Preußen, den Niederlanden und Belgien. Da dieRegierung vor allem ausländische Devisen und Wechsel brauchte,sahen die Banken sich dazu gezwungen, über ein breit gefächertesNetz von Korrespondenten Anleihen im Ausland zu fördern. Diesführte nicht nur zu einer starken Zunahme der Anzahl der Banken(u. a. wegen der Beteiligung französischer und deutscher Banken),sondern auch zu einem erheblichen Anstieg spekulativer Gewinne,wodurch Kapitalausfuhr und internationale Kapitalbewegungenerneut anstiegen. Auf der Suche nach rentableren Investitionenversuchten sowohl alteingesessene als auch neue Banken,möglichst viel internationales Kapital heranzuziehen. DiesesKapital wurde angelegt in den neuen europäischen und amerikani-schen Wachstumszonen oder in den schwächeren Staaten Nord-Afrikas und Asiens, die sich einem Modernisierungsprozess nichtentziehen wollten.7

Ein zweites Element bildete das neue Aktiengesetz von 1873. Deräußerst liberale Charakter dieses Gesetzes führte zu einer erhebli-chen Zunahme der Anzahl der Aktiengesellschaften in Belgien. ImBankfach stieg ihre Zahl von sechs im Jahre 1865 auf 56 im Jahre1890 und 68 am Vorabend des Ersten Weltkrieges.8

Ein dritter Faktor war das offene Börsenklima. Brüssel hatte einesehr dynamische Börse (Kapital war reichlich vorhanden) undprofitierte von erheblichen fiskalischen Begünstigungen. So eröff-nete die Börsenreform von 1867 quasi jedem die Möglichkeit, eineWechselstube zu eröffnen, was dazu führte, dass deren Anzahlanstieg von 28 im Jahr 1867 über annähernd 200 im Jahr 1870 auffast 800 am Ende des 19. Jahrhunderts und 900 im Jahr 1914.9

In diesem Kontext wurde am 13. November 1871 die Bank vonBrüssel aus der Taufe gehoben. Unter den Gründern springt eineGruppe Bankiers aus Frankfurt ins Auge, die nahezu 45 % desKapitals gestellt hatten. Sie hofften, sich mit dieser neuen Bankeinen Zugang zum französischen Markt zu verschaffen. Die Brüs-

seler Bank wollte durch Teilhaberschaften einen europäischen Kursverfolgen. So war sie u. a. beteiligt an der Errichtung des Rotter-damsche Handelsvereniging und lieferte Kapital für die Errichtunganderer europäischer Finanzinstitute. In Deutschland war die BankMitbegründer der Steinkohlebergbaugesellschaft Dahlbusch.10

Während die belgischen Banken nach 1900 mehr und mehr in dieInternationalisierung des Kapitalmarktes involviert waren, stiegauch die Anzahl der ausländischen Banken, die in Belgienvordrangen. 1899 hielten ausländische Banken 27,4 Millionenbelgische Franken in Aktien und damit 19 % der durch die Bankenbei der Ausgabe von Wertpapieren eingetragenen Gesamtsummevon insgesamt 140,3 Mio. Franken. Dieser Anteil stieg 1911 auf 50,2Millionen bei einer Gesamtsumme von 134,3 Millionen, also 37 %.Wichtigstes Beispiel bildete wohl 1910 die Errichtung einer Filialeder Deutschen Bank in Brüssel. Auf französischer Seite gibt es dieBeispiele der Banque de Paris et des Pays-Bas, Crédit lyonnais, desComptoir national d'escompte de Paris sowie der Société générale(Paris). 11

Hinzu kam der Anteil der Banken nach belgischem Recht wie dieBanque Internationale de Bruxelles und die Banque Centrale Anver-soise, die mit deutschem Kapital errichtet wurden und derenleitende Funktionäre Mitglieder der deutschen Gemeinschaft inAntwerpen und Brüssel waren (mehr dazu später). Eine Minder-heit der belgischen Öffentlichkeit betrachtete die wachsende deut-sche Einflussnahme argwöhnisch. Es war von einer invasion alle-mande die Rede. Nach dem Krieg verließen die meisten Deutschendas Land; ihre Anteile an belgischen Betrieben wurden aufgelöst.Eine Betriebsaktivität, die bislang nicht genannt wurde, die aberebenfalls von dieser Freiheit für ausländische Unternehmen inBelgien profitierte, war das Versicherungswesen. In Belgienbrauchte man keinerlei Genehmigung für die Gründung einerneuen Gesellschaft, und die erforderlichen Formalitätenbeschränkten sich auf die Veröffentlichung der Statuten im belgi-schen Staatsblatt.12

Vor dem Krieg arbeiteten deutsche Versicherungsgesellschaftenvöllig frei in Belgien. Über 10.000 Belgier waren für eine Gesamt-summe von 120 Millionen Franken bei diesen deutschen Gesell-schaften versichert.13 Von den 564 Gesellschaften in Belgien warenweniger als die Hälfte, nämlich 227, in belgischen Händen.Außerdem waren die ausländischen Gesellschaften viel bedeu-tender.14

Diese Überlegenheit wurde vor allem deutlich in der Branche derTransportversicherungen. 1916 waren alle elf in dieser Branchetätigen Gesellschaften in nicht-belgischer und hauptsächlich indeutscher Hand. Durch die zunehmenden industriellen Aktivitätenwuchs auch die Zahl der Brandversicherungen: Die 45 belgischenBrandversicherungsgesellschaften bildeten fast ein Drittel dergesamten in Belgien in diesem Sektor tätigen Betriebe. Die insge-samt 14 deutschen Firmen hatten in dieser Branche zwar einenerheblichen Anteil, jedoch einen kleineren als die 45 englischenUnternehmen. Um die Jahrhundertwende stieg die Anzahl derGesellschaften, die auf dem belgischen Lebensversicherungsmarkttätig waren, kontinuierlich. Durch die Erhöhung des Lebensstan-dards setzten Lebensversicherungen sich bei immer breiterenBevölkerungsschichten durch. Auch hier herrschte der Anteilausländischer Firmen vor.15

Das industrielle Gesicht BrüsselsEin zweiter Interpretationsrahmen erschloss sich beim Studiumder Fachliteratur: Nicht so bekannt ist, dass Brüssel am Ende des19. Jahrhunderts das wichtigste industrielle Zentrum Belgiens

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war.16 Durch den eher geringen Umfang der Betriebe, durch dasIneinandergreifen von Industriezonen und Wohngebieten, durchden Fortbestand vieler handwerklicher Betriebe und solcher, diedurch Heim- und Handarbeit geprägt waren, sowie durch dieauffallende Entfaltung des Dienstleistungssektors wurde diesemAspekt lange Zeit wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Die fachüber-greifende Forschung über städtische Transformationsprozesse ander niederländischsprachigen Freien Universität Brüssel (VrijeUniversiteit Brussel, VUB) und die von Brüsseler Unternehmer-kreise an der französischen Abteilung der Freien UniversitätBrüssel (Université libre de Bruxelles, ULB) in Auftrag gegebeneArbeit haben allerdings dazu geführt, dass das Bild der belgischenHauptstadt allmählich revidiert wurde.17 Sowohl durch die Zahlder dort beschäftigten Personen als auch durch die Diversität derProduktionsaktivitäten zeichnete Brüssel sich als industriellesWachstumszentrum aus. Diese Entwicklung vollzog sich allerdingsnicht problemlos, und nach 1870 erlebte die Stadt einen tiefgrei-fenden Wandlungsprozess hinsichtlich der industriellen Aktivitätenund Niederlassungen.Mit der Überwölbung des Flusses Zenne und der Anlage vonzentralen Alleen im Zeitraum 1867 bis 1876 wurden die Gerbereien,Brauereien, Färbereien und sonstige kleine Industrien, die sich anden Ufern des Flusses angesiedelt hatten, in den Norden und denWesten des Stadtzentrums, in die unmittelbare Nähe der Kanal- undGleisverbindungen, zurückgedrängt. Dadurch wurde im Stadtzen-trum Raum frei für Handelshäuser – von denen sich einige zu Groß-kaufhäusern entwickeln sollten – für Gasthäuser, Hotels undRestaurants. Brüssel verwandelte sich in eine kommerzielle undmoderne Hauptstadt. Die Börse, angelegt wie ein Palast, stellte diesymbolische Krönung dieser Wandlung dar.Viele Spinnereien und Webereien wurden geschlossen, dafür abernur wenige Stellen in Fabriken geschaffen. Immer mehr Leuteverdienten ihr tägliches Brot mit der Anfertigung von Kleidern inHeimarbeit oder in kleinen Ateliers. Um 1900 war Brüssel zumZentrum der belgischen Kleidungsproduktion geworden.Im alten Stadtzentrum waren auch die wichtigsten Luxusindus-trien angesiedelt. Neben der Kleidungsindustrie handelte es sichdabei um die Lebensmittelindustrie mit Schokolade und Kondito-reien, die Schmuckherstellung sowie Kunst- und Edelschmieden.Weitere Luxusartikel waren Regenschirme, Brieftaschen, Musikin-strumente und Lederhandschuhe. Auch der Sektor der Verlage undDruckereien zusammen mit der Papier- und Kartonindustrie wargut vertreten und – ebenso wie der Möbel- und Bausektor –vorwiegend in der Brüsseler Altstadt angesiedelt. Die Bedeutungder letztgenannten Betriebe spiegelt sich in der Blüte des ArtNouveau, der belgischen Ausprägung des Jugendstils.Auch die Anzahl und die Vielfalt der Ateliers und Fabriken, diesich außerhalb des Zentrums ansiedelten, waren typisch für dieWandlung, die sich während dieser Periode vollzog. Die Bedeutungdes Kanals, der Brüssel über die Rupel mit der Schelde und demAntwerpener Hafen verband und der nach 1838 in südliche Rich-tung durchgezogen wurde nach Charleroi und zum wallonischenIndustriebecken, ist nicht zu unterschätzen.18 Gießereien, Seile-reien, Sägereien, Ateliers für Maschinenbau, Seifenfabriken,Zuckerfabriken, chemische Industrie usw. standen Modell für dasneue industrielle Bild Brüssels. In der Nähe der Schlachthäuserwurde die Bearbeitung von Tierhäuten und Leder in einer moder-neren Form weitergeführt. Hier reihten sich Gerbereien, Lederlap-penfabriken, Lederwarenbetriebe, Kerzenfabriken oder Ateliers, dieden Hutmachern Pelze lieferten, aneinander.Im Brüsseler Wandlungsprozess spielten Ausländer eine bedeu-

tende Rolle. Mit Ausländern sind im 19. Jahrhundert hauptsächlichImmigranten aus den Nachbarländern gemeint. 20 bis 30 % davonwaren Deutsche. Vor allem Brüssel, Lüttich und Antwerpen übteneine große Anziehungskraft auf deutsche Auswanderer aus. Diedeutschen Bevölkerungsgruppen in diesen drei Städten waren sogroß, dass von deutschen Kolonien die Rede war. Wie groß diedeutsche Gemeinschaft in Brüssel damals genau war, ist schwereinzuschätzen. Bei der Zählung im Jahre 1890 lebten in Brüsselund Umgebung schätzungsweise 10.300 Personen deutscher Natio-nalität. 1910 war diese Zahl auf 14.800 angestiegen. Die wirklicheZahl dürfte wesentlich höher gewesen sein. Die meisten Deutschenwohnten in der Stadt Brüssel selbst oder in Schaarbeek, Elsene,Sint-Gillis und Sint-Joost-ten-Node.19

Was zog die deutschen Immigranten nach Brüssel? Die Histori-kerin Sophie De Schaepdrijver beantwortet diese Frage. Durch dasbreite Spektrum des Arbeitsangebots hatte der Brüsseler Arbeits-markt einen typisch hauptstädtischen Charakter. Die politische,unternehmerische und vermögende Oberklasse konzentrierte sichmehr und mehr in der Hauptstadt; dadurch stieg die Nachfragenach Luxusprodukten und Dienstleistungen und es wurde zuneh-mend im Bausektor investiert. Ausländische Einwanderer wurdendurch die besseren und lukrativeren Berufe gelockt. Im Bank- undVersicherungswesen spielten vor allem deutsche jüdische Familieneine wichtige Rolle. Die Anwesenheit von Banken und Handels-

5 Ich werde hier nicht alle Forschungsresultate auflisten; dies würde den Rahmendieses Artikels sprengen. Ich verweise auf den Artikel von E. Buyst und Y. Segers,Bankgeschiedenis in België tijdens de twintigste eeuw. Een historiografischoverzicht, in: De lokroep van het bedrijf. Handelaars, ondernemers en hunsamenleving van de zestiende tot de twintigste eeuw. Liber Amicorum RolandBaetens (Bijdragen tot de Geschiedenis, 84, 1-3), 2001, S. 29-42. Vor wenigen Jah-ren erschienen: E. Buyst, I. Maes, W. Pluym und M. Daneel, De Bank, de franken de euro. Anderhalve eeuw Nationale Bank van België, Tielt 2005.

6 M. T. Bitsch, La Belgique entre la France et l'Allemagne. 1905-1914, Paris 1994,S. 179.

7 H. Van der Wee, De bank in Europa. 25 eeuwen bankgeschiedenis, Antwerpen1991, S. X.

8 E. Buyst, I. Cassiers, H. Houtman-De Smedt, G. Kurgan-van Hentenryk, M. vanMeerten, G. Vanthemsche, H. van der Wee (coörd.), De Generale Bank. 1822-1997, Tielt 1997, S. 598.

9 G. de Clercq (Hrsg.), Ter beurze: geschiedenis van de aandelenhandel in België:1300-1990, Brügge 1992, S. 193-203.

10 J.-M. Moitroux (Hrsg.), Een bank in de geschiedenis. Van de Bank van Brüsselen de Bank Lambert tot de BBL (1871-1996), Brüssel 1995. Das Archiv der Direk-tion der Charbonnages Dahlbusch wird ebenfalls im Generalstaatsarchiv inBrüssel aufbewahrt.

11 H. Houtman-De Smedt, In de stroom van de tijd. Beknopte geschiedenis vaneen meer dan honderdjarige. De Antwerpse S.A. Banque de Commerce – N.V.Handelsbank, 1893-1899, in De lokroep van het bedrijf (Anm. 5), S. 135-136.

12 R. Brion und J.-L. Moreau, Van AG tot Fortis: 175 jaar verzekering in België,Antwerpen 1999, S. 136.

13 L'Allemagne et les finances belges, in Revue Belge des Livres. Documents etarchives de la guerre 1914-1918, August-Oktober 1933, S. 222; Siehe auch L.-J.Mahieu, Le Procès de l'état belge contre les compagnies allemandes d'assurancesur la vie, in: Revue de Droit international et de Législation comparée 6, 1925, S.X. Siehe auch Recueil Financier 1913.

14 Der Belfried, Leipzig, November 1916, S. 214-215.15 R. Brion/ J.-L. Moreau (Anm. 12), S. 136-146.16 Über die Brüsseler Industrie siehe: M. de Beule, Bruxelles une ville industrielle

méconnue, Brüssel 1994 (Les dossiers de La Fonderie I). Die Publikationen vonLa Fonderie beschäftigen sich mit der Stadt Brüssel in all ihren industriellenund sonstigen Facetten.

17 An der VUB gibt es das Zentrum BRUT, an der ULB die ForschungsgruppeGroupe d'histoire du patronat (GHP), die die Geschichte des Patronatserforscht.

18 S. de Caigny, New Economic Geography als bedrijfshistorische invalshoek: detransformatie van de kanaalzone ten noorden van Brüssel tot een industriege-bied in het interbellum, in: Belgisch Tijdschrift voor Nieuwste Geschiedenis2003, 3-4, S. 538-540.

19 K. Carrein, De sekwesterarchieven na Wereldoorlog I: beschouwingen over hetontstaan, het beheer en de aanwending voor (bedrijfs)historisch onderzoek vaneen unieke verzameling bedrijfsarchieven, in: Belgisch Tijdschrift voorNieuwste Geschiedenis, 2003, 3-4, S. 425-436.

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häusern zog auch viele deutsche Angestellte an. Eine Konzentra-tion von ausländischen, darunter auch deutschen besser geschultenund besser bezahlten Handwerkern fand sich auch in der Brancheder Luxusindustrie. Im Metallsektor arbeiteten sie nur selten alsSchmiede oder Klempner, häufig hingegen als Mechaniker.20

Obwohl die deutschen Fabriken während der wilhelminischenZeit in voller Blüte standen, versuchten nur ganz wenige nachBelgien zu expandieren. Dank den deutsch-belgischen Handelsver-trägen hatten sie, auch ohne Nebenhäuser in Belgien, bequemZugang zum belgischen Markt. In Brüssel gab es einigeAusnahmen: Siemens-Schuckert und Siemens-Halske, Papier- undMöbelfabrik Soennecken, Maschinenbauer Seck, Kaufhaus Tietz,Fahr-, Motorrad- und Maschinenbauer Dürkopp sowie der Fabri-kant von Eisenbahnmaterial Orenstein & Koppel hatten wohlFilialen in Brüssel errichtet. Ferner gab es einige Unternehmer undGeschäftsleute, die sich in Brüssel niederließen, nachdem sie dorteine Zeit lang als Vertreter, Praktikanten oder Angestellte gearbeitetoder bereits in Deutschland ein Geschäft geführt hatten und genü-gend Erfahrung gesammelt hatten, um in Brüssel mit einem neuenBetrieb zu starten. Einigen gelang es, ihren Betrieb zu einemgroßen erfolgreichen Unternehmen aufzubauen, so zum Beispieldem Inhaber der Zuckerraffinerie C. Gräffe, dem MaschinenbauerGebrüder Hegenscheidt und dem Chemiefabrikanten R. Oehme.21

Die Bedeutung und Ausstrahlung der Antwerpener Kolonie solltedie Brüsseler Kolonie allerdings nie erreichen.

DER VERWALTUNGSKONTEXTDarunter versteht man die Umgebung, in der Archive geführtwerden. Er verweist auch auf die Strukturierung der Archivalien.Was den Sequesterfonds angeht, ist vor allem die Frage nach demWeg von Interesse, den die Archive zurückgelegt haben, nachdemsie unter Zwangsverwaltung gestellt wurden, ebenso wie die Frage,wie sie in das Staatsarchiv gelangt sind.22

Das SequesterverfahrenAm Tag nach dem Waffenstillstand wurde im Belgischen Staats-blatt das Gesetz über das Melden und die Zwangsverwaltung derGüter und Werte von Staatsangehörigen „feindlicher Nationen“veröffentlicht.23 Die Überführung in die Zwangsverwaltungerfolgte in verschiedenen Etappen. Feindliche Güter mussten demStaatsanwalt des Gerichtsbezirks gemeldet werden, in dem dienatürlichen Personen Ihren Wohnsitz hatten oder die Güter sichbefanden. Im Brüsseler Rathaus wurde ein gesondertes Meldebüroeingerichtet. Handelsvertreter, Makler, Möbelverwahrer undPersonen, die im finanziellen Dienstleistungssektor tätig waren,wurden angehalten, ihre Güter anzugeben.24 Bei Nicht-Anmeldungdrohte eine Gefängnisstrafe. In manchen Fällen warteten dieBehörden nicht einmal die Anmeldung ab und beauftragten diePolizei damit, bestimmte Gebäude, in denen zum Beispiel Möbelgelagert waren, zu durchsuchen und deutsche Güter zu beschlag-nahmen.25 Nicht alle Deutschen hatten tatenlos zugesehen undabgewartet. Die meisten waren im Sog der sich zurückziehendenTruppen nach Deutschland geflüchtet. Andere hielten sich vorü-bergehend in den Niederlanden auf.In einer zweiten Phase beauftragte der Staatsanwalt den Präsi-denten des Gerichts Erster Instanz damit, einen Zwangsverwalter,genannt „Sequester“, zu ernennen. Der Staatsanwalt tat dies vonRechts wegen oder infolge einer bei ihm eingegangenen Meldung.Ab Ende November 1918 überschlugen sich die Ernennungen vonZwangsverwaltern. Das Gericht ging dabei sehr durchdacht vor.

Alle Güter und Werte deutscher Staatsangehöriger, die sich auchnur im Geringsten einen Namen (und Kapital) in der belgischenBetriebswelt gemacht hatten, oder zur Brüsseler Oberschichtgerechnet werden konnten, stellte die Justiz sofort unter Zwangs-verwaltung. Bekannte Namen wie Deutsche Bank, Tietz, Allianz,Siemens, AEG, Victoria, Germania, Gendebien, Menkes, Atlas,Soennecken, Seck usw. kamen innerhalb weniger Tage auf dieListe.26 Für jeden einzelnen feindlichen Besitz wurde jeweils einZwangsverwalter ernannt.Bei den Zwangsverwaltern handelte es sich meistens um Notareoder Anwälte. Ihre Aufgabe war es, die beschlagnahmten Güter zubewahren und die Belange der Betroffenen zu „schützen“. UmMissbrauch vorzubeugen, hatte der Gesetzgeber die Aufsicht überdie Zwangsverwaltungen den Staatsanwälten anvertraut. Diesenwar regelmäßig Bericht zu erstatten. In einem Rundbrief forderteder Oberstaatsanwalt von den Zwangsverwaltern einen dreimonat-lichen Bericht. Welche Berichte oder welche Informationen dieZwangsverwalter dem Staatsanwalt zu übergeben hatten, wurdeallerdings nicht spezifiziert.27 Es stellte sich sehr schnell heraus,dass wegen der enormen Zahl der Akten, eine methodische undgezielte Aufsicht durch die Staatsanwaltschaft unmöglich war.Außerdem lieferten die Zwangsverwalter kaum Berichte ab undblieben gesetzliche Bestimmungen über die Form dieser Berichteaus. In der Praxis blieb diese Aufsicht dadurch folgenlos.28

Laut Artikel 13 des Sequestergesetzes konnte der Zwangsverwalter– vorausgesetzt, dass eine besondere Bevollmächtigung vorlag – dieErlaubnis erhalten, den Betrieb einer Firma aufrechtzuerhalten.Der Vorteil, so hatte der Gesetzgeber geurteilt, war dabei, dass eineEntwertung der Kaufware oder der Verfall von bestimmten Warenvermieden werden konnte, dass belgische Personalmitglieder ihreArbeitsstelle noch eine Weile behielten und dass die Produkte, dieauf den Markt gebracht wurden, den Wiederaufbau der belgischenWirtschaft stützen konnten.29 Schulden gegenüber Belgiernkonnten beglichen und Verträge erfüllt werden. Der Zwangsver-walter konnte allerdings nicht die Aufgaben des Unternehmersübernehmen. Um nicht in Konkurrenz zu treten mit den belgi-schen Firmen, war es ihm zum Beispiel nicht erlaubt, die Vorräteeiner Firma aufzufüllen oder Rohstoffe anzukaufen. Früher oderspäter musste dies zu einer Stockung bzw. zu einer Wertverringe-rung der Firma führen. Dann blieb nur die teilweise oderkomplette Liquidation.Mit dem Vertrag von Versailles vom 28. Juni 1919 erhielt die belgi-sche Regierung die von ihr erwarteten Mittel, um die unterZwangsverwaltung gestellten Güter zu versilbern. Artikel 297 desVertrags bestimmte, dass deutsche Güter in Belgien zu Gunstender belgischen Staatskasse veräußert werden durften und bekräf-tigte die Maßnahmen, die die Regierung mit Bezug auf die Deut-schen und die von ihnen kontrollierten Betriebe getroffen hatte.Der Erlös der Verkäufe sollte zu Gunsten Deutschlands alsKürzung auf die Wiedergutmachungszahlungen, die das Land zuzahlen hatte, verrechnet werden. Es dauerte allerdings bis zum 17.November 1921, bevor über das Gesetz zur Zwangsverwaltung undLiquidation von Gütern deutscher Unternehmen abgestimmtwurde.30 Darüber, dass deutsche Güter in Belgien liquidiert werdenkonnten, waren sich alle einig.Nach englischem Vorbild geschah die Liquidation fortan in engerZusammenarbeit mit der Domänenverwaltung des Finanzministe-riums.31 Diese Vorgehensweise war auf Vorbehalte der BrüsselerRechtsanwaltschaft zurückzuführen. Diese war nicht damit einver-standen, dass der Zwangsverwalter, der bereits eine ziemlich heikleRolle zu spielen hatte, zusätzlich die Rolle des Liquidators über-

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nahm. Letztlich wurde die Aufgabe des Zwangsverwalters bei derLiquidation auf eine beratende Rolle beschränkt. Er ergriff aller-dings auch die Initiative zur Liquidation, indem er das GerichtErster Instanz über seine Absicht informierte. Danach bestimmteder Präsident noch den Mindestpreis, die der öffentliche Verkaufder Güter einzubringen hatte (Artikel 11). Nach der Niederlegungihres Mandates mussten die Zwangsverwalter und Liquidatorenihre Kosten bei der Staatsanwaltschaft einreichen und Rechen-schaft über ihre Tätigkeit ablegen.Im Rahmen der Revision der deutschen Reparationszahlungen undder Friedenskonferenz vom 7. Juni 1929 in Paris schlossen Belgienund Deutschland am 13. Juli 1929 ein Abkommen. Darin verpflich-tete sich Deutschland, 37 Jahreszahlungen von 115 Mio. Mark zuzahlen.32 Mit Blick auf die Sequesterpraxis ist festzuhalten: DerErlös der liquidierten Güter verblieb Belgien. Das Land sah aber abdem 7. Juni 1929 von dem Recht ab, das ihm durch Artikel 297 bdes Versailler Vertrages zufiel. Das bedeutete, dass die Güter denBetreffenden im Zustand, in dem sie vorgefunden worden waren,zurückzugeben waren und dass bei schwebenden Verfahren dieZwangsverwaltung aufgehoben wurde.33 Die Liquidation derbeschlagnahmten Güter brachte der belgischen Staatskasse insge-samt 683.000.000.000 Franken ein.34

Die Geschichte der SequesterarchiveDer Fonds der Sequesterbestände stellt innerhalb des General-staatsarchivs in Brüssel eine Besonderheit dar. Die Art und Weise,wie diese Archive in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts indas Staatsarchiv gelangt sind, bildet einen Teil des Verwaltungs-kontextes des Fonds. Auch nach ihrer Übergabe an das Staatsarchivkannten die Bestände noch eine bewegte Geschichte. Zunächstbestand Interesse für diese Bestände, und der spätere Generalar-chivar E. Sabbe erstellte verschiedene Zugänge. Durch diverseUmstände aber, u. a. durch interne Umzüge, wurden die einzelnenBestände später durcheinander gebracht und sogar vermischt, wasdann zu schwerwiegenden Identifizierungsproblemen führte.Bis zum Zeitpunkt, zu dem der Gesetzgeber die Liquidation derunter Zwangsverwaltung gestellten Güter verordnete, hatte sichkeiner um das Schicksal und den Verbleib dieser Archive geküm-mert. Unter dem Motto des Gesetzes vom 10. November 1918„aufbewahren und kennen“ waren diese Archive in einen Winter-schlaf versetzt worden. Das Gesetz vom 17. November 1921 holtesie aus diesem Zustand heraus. Nicht nur verloren die Zwangsver-walter durch den Verkauf der Betriebsräumlichkeiten billige undgeräumige Archivräume; sie mussten auch auf die Suche nachAlternativen gehen. Der Brüsseler Staatsanwalt verbot ihnen unterallen Umständen, die Archive zu verkaufen oder zuvernichten.35Das Finanzministerium sollte neue Unterkünfte fürdiese Archive finden.36 Es wurde im Januar 1924 in der Aarschot-straat in Schaarbeek fündig.37

Zum gleichen Zeitpunkt, zu dem sich das Finanzministerium einerunbeherrschbaren Papiermasse entledigen wollte, war die belgischeKommission des Kriegsarchivs dabei, möglichst viele Dokumentemit Bezug auf den Krieg und die Besatzung zu sammeln und zuerschließen38 . Diese Sonderkommission war von der „KöniglichenKommission für Geschichte“ geschaffen worden aus Sorge überdas Los der Kriegsarchive und stand unter der Leitung des Histori-kers Henri Pirenne.39 Zum Ordnen und Inventarisieren der Neuer-werbungen erhielt die Kommission auch ein Archivbüro.40 Obwohldie Kommission autonom war, arbeitete sie eng mit dem Staatsar-chiv zusammen. Zum Zeitpunkt, zu dem das Gebäude in derAarschotstraat durch das Finanzministerium für die Aufbewah-

rung der Sequesterarchive eingerichtet wurde, hatte die Kommis-sion bereits verschiedene Sequesterbestände erschlossen, inventari-siert und den Zwangsverwaltern zugänglich gemacht.Eine Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium und derKommission kam erst im Sommer 1924 zustande, als der AnwaltAlbert Thiéry seine Archive umlagern musste. Thiéry war Zwangs-verwalter der Versicherungsgesellschaften Magdeburg, Gladbachund Albingia. Vor allem für die Dienststelle der Abrechnungen41

war es von sehr großer Bedeutung, dass diese Archive zugänglichblieben, da sie wöchentlich Anfragen erhielten von Geschädigten,die Einsicht in die Akten verlangten.42 Im Depot des Finanzminis-teriums in Schaarbeek wäre das nicht länger möglich gewesen.Thiéry hatte darum auch gar nicht vor, seine Archive dort zu depo-nieren. Auch im Finanzministerium war man sich klar, dass die

20 S. de Schaepdrijver, Vreemdelingen in Villette: De buitenlandse aanwezigheidin het negentiende-eeuwse Brüssel, in: H. Soly und A. K. L. Thijs (Hrsg.), Min-derheden in Westeuropese steden (16de-20ste eeuw) – Minorities in WesternEuropean Cities (sixteenth – twentieth centuries), Brüssel – Rom 1995, S. 115-134.

21 K. Carrein (Anm. 19), S. 429-430.22 Mit Dank an den ehemaligen Projektmitarbeiter K. Carrein für seinen Beitrag

für Punkt 2.23 Belgisches Staatsblatt, 12.-13. November 1918.24 Revue générale des Sociétés, Nr. 1, 15. Januar 1919, V, S. 10.25 Staatsarchiv in Beveren, Sequesterarchiv der Antwerpener Staatsanwaltschaft.

Sequesterakten. Erste Reihe, Nr. 3030. Im Jahr 2008 wurde das Inventar desSequesterfonds Erster Weltkrieg Antwerpen von Ch. Vancoppenolle und D.Vandaele veröffentlicht.

26 Staatsarchiv Anderlecht, Archiv des Gerichtes Erster Instanz in Brüssel. Zivilge-richt: Originale der Verordnungen und Urteile auf Gesuch. Im „Le Soir“ vom12. Januar 1919 war – allein für Brüssel – die Rede von 6.000 Zwangsverwal-tungsakten. Diese Zahl war allerdings übertrieben.

27 L. Raquez, A. Houtart und M. de Wee, La loi belge sur les séquestres. Commen-taire de l'Arrêté-loi du 10 novembre 1918, Brüssel 1919, S. 63.

28 N. Van Durme, Beschouwingen over den Dienst van het Sequester. Redevoeringgehouden in de plechtige openingszitting van 16 september 1946 en waarvanhet Hof het drukken heeft bevolen, Merksplas 1946, S. 13.

29 L. Raquez, A. Houtart und M. de Wee (Anm. 27), S. 57.30 Belgisches Staatsblatt, 23. November 1921.31 M. de Wee und A. Houtart, Le séquestre et la liquidation des Biens allemands

en Belgique (Loi du 17 novembre 1921), Brüssel 1922, S. 75.32 N. van Durme (Anm. 28), S. 8.33 Für den vollständigen Text des Abkommens, siehe Senat. Protokolle des Parla-

ments, 1929-1930, Nr. 75, S. 128-131. Das Abkommen wurde zusammen mit demHaager Abkommen vom 20. Januar 1930 ratifiziert.

34 N. van Durme (Anm. 28), S. 8.35 Rundschreiben des Brüsseler Staatsanwalts M. de Wée betreffend „Sort des

archives et papiers sans valeurs“, 21. November 1922.36 Im Finanzministerium war die „Verwaltung der Einregistrierung und Domä-

nen. Zweite Abteilung“ mit der zentralen Abwicklung des Gesetzes für dieLiquidation der unter Zwangsverwaltung gestellten Güter, beauftragt. DieAbwicklung der Sequesterdossiers geschah bei den provinzialen Direktionenfür die Domänen. In Antwerpen, Brüssel und Lüttich gab es einen gesondertenDienst für die Kriegssequester. Der Brüsseler Dienst war im ehemaligenGebäude der Deutschen Bank untergebracht. Im selben Gebäude hatte auchdie Brüsseler Staatsanwaltschaft ein Büro.

37 Finanzministerium, Verwaltung der Einregistrierung und Domänen, ZweiteAbteilung, Domänen, Akte 7400-67, Direktor der Domänen an den BrüsselerOberstaatsanwalt, 17. 01. 1924.

38 Belgisches Staatsblatt, 24. Dezember 1919, S. 7413.39 S.-A. Tallier, Inventaire des archives de la commission des archives de la guerre

(puis archives de la guerre), 1919-1945, Brüssel, 1997, S. 3. (Zugänge mitbeschränkter Auflage 458). Die Kommission wurde von neun unter der Ehren-präsidentschaft des jeweiligen Provinzgouverneurs gestellten provinzialenKomitees unterstützt.

40 H. Coppejans-Desmedt, De sekwesterarchieven met betrekking tot de eerstewereldoorlog: historiek en algemeen overzicht, in: Bibliotheek- en Archiefgids60, 1984, Nr. 1, S. 64.

41 Die Dienststelle für Abrechnungen wurde durch KB vom 5. Dezember 1919 inAusführung der Artikel 296 bis 298 des Versailler Vertrags errichtet. Zunächstunterstand der Dienst dem Wirtschaftsministerium und ab dem 15. April 1921dem Finanzministerium. Der Dienst regelte die Abhandlung finanzieller Ver-bindlichkeiten zwischen Belgiern und Deutschen nach den Bedingungen desVertrags.

42 Finanzministerium (Anm. 37), Schreiben von Albert Thiéry, Anwalt in Brüssel,an den Brüsseler Staatsanwalt, 3. Juli 1924, Brüssel.

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Mittel fehlten, um die Archive zu verwalten und deren Einsicht zugewährleisten. Aus diesem Grund wurde beschlossen, auf dieKommission des Kriegsarchivs zurückzugreifen. Daraufhinwurden der Kommission nicht nur die Archive des Anwalts Thiéry,sondern auch alle Bestände die sich bereits in der Aarschotstraatbefanden, anvertraut. Ende Oktober 1924 fanden die Sequesterar-chive zusammen mit anderen Kriegsbeständen eine neue Unter-kunft in einem Gebäude, das der Kommission gehörte, nämlichdem Hotel van den Peereboom auf dem Dapperheidsplein (Platz derTapferkeit) in Anderlecht.43 Von sich aus fing die Kommission mitdem Ordnen und Inventarisieren der Sequesterbestände an undverfolgte auch eine gezielte Erwerbs- und Registrierungspolitikzwecks Erweiterung ihrer Bestände. Rasch stellte sich heraus, dassder Raum zu klein war und so wurde der Kommission im Jahr1926 durch das Finanzministerium ein Gebäude in der Ruisbroek-straat Nr. 76 zugewiesen, in der unmittelbaren Nähe zum General-staatsarchiv.44

In einem Schreiben vom 6. Oktober 1926 wurde den Zwangsver-waltern nahegelegt, die Archive, die sie nicht mehr brauchten andie Kommission für das Kriegsarchiv abzugeben und so die Kostenfür die Aufbewahrung und den Unterhalt dieser Akten zu redu-zieren. Sowohl Betriebs- als auch Privatunterlagen, welche dieZwangsverwalter bei den unter Zwangsverwaltung gestelltenPersonen vorgefunden hatten, sollten in der Ruisbroekstraathinterlegt werden, sobald sie ihren administrativen Wert für dasSequesterverfahren verloren hätten. Dies galt auch für die eigenenUnterlagen der Zwangsverwalter.45

In der Praxis hatte dieses Rundschreiben kaum Folgen. DurchVernichtungen, unrechtmäßige Aneignungen und schlechte Verwal-tung konnten nicht alle Sequesterarchive eingesammelt werden –was ohnehin unmöglich gewesen wäre. Vor allem aber bliebenverschiedene Bestände nur fragmentarisch aufbewahrt odergelangten in einem desolaten Zustand in die Ruisbroekstraat. Eswaren vor allem die Lücken, die durch eigenmächtige Aussortierungvon Akten durch die Zwangsverwalter entstanden waren, die derKommission große Sorgen bereiteten. Die Kommission beantragtedaher erfolgreich, dass „im Interesse der künftigen Historiker“diesen Missständen ein Ende bereitet werden sollte.46 Am 10. Mai1928 verfügte der Staatsanwalt, dass die Zwangsverwalter ihreArchive vollständig in der Ruisbroekstraat hinterlegten. Am 15. Mai1928 wurde die Kommission allerdings aufgelöst. Ihre Bestände undSammlungen wurden dem Generalstaatsarchiv übertragen.47 In derPraxis änderte sich wenig. Die Archive blieben an Ort und Stelleund unter der Aufsicht und in der Obhut der gleichen Archivare.Anfang 1930 drohte erneut Platzmangel für die Sequesterarchive.48

Generalarchivar Cuvelier drängte auf ein neues Gebäude. Diesführte dazu, dass die Diskussion über die Aufbewahrung derSequesterbestände diesmal im Rahmen des belgisch-deutschenAbkommens vom 13. Juli 1929 geführt wurde. Laut diesemAbkommen sollten nämlich alle am 7. Juni 1929 noch nicht liqui-dierten Güter, Rechte und Interessen von deutschen Staatsangehö-rigen oder von Gesellschaften, die durch Deutsche kontrolliertwurden, ihren Eigentümern zurückgegeben werden.49 DasSchicksal und der Verbleib der Archive wurden im Abkommenallerdings nicht angesprochen. Im April 1930 bat der Staatsanwaltden Generalarchivar um ein Gutachten.50 Kurz darauf, am 5. Mai1930, traf die Antwort von Staatsarchivar Cuvelier ein. Dieser hatteseine Antwort anhand eines Berichtes von E. Sabbe, dem ehema-ligen Archivar der Kommission für das Kriegsarchiv, erstellt.51

Sabbe schätzte das Problem der Rückgabe von Archivalien als voneher geringer Bedeutung ein, denn für die große Masse der Seques-

terbestände im Staatsarchiv galt, dass sie aus Liquidationen aus derZeit vor dem 9. Juni 1929 hervorgegangen war. Diese Archive warenund blieben unwiderruflich Eigentum des belgischen Staates.52 Füralle anderen Archive war eine eventuelle Ruckgabe mit den Betrof-fenen zu verhandeln. Sabbe war allerdings nicht mit der Staatsan-waltschaft einverstanden, die vorgeschlagen hatte, den Sequester-fonds auf die wertvollsten Stücke zu beschränken. Konkret hatte erdabei an Akten aus den Beständen Arenberg und de Croy gedacht.Sabbe hatte dagegen den Wert und die große Bedeutung für diezeitgenössische Wirtschaftsgeschichte im Auge, die zum Beispieldie Bestände der Deutschen Bank, Balser & Cie, Barth & Cie,Blancke und Steinhaus aufwiesen. Cuvelier teilte seine Meinung.Endlich, so schrieb letzterer, verfüge man in Belgien wie inDeutschland, Frankreich und der Schweiz über richtige Wirt-schaftsarchive: „Avec tous ses fléaux, la guerre nous a au moinsapporté ce bienfait inespéré de nous permettre de créer, avec votreconcours et celui du Département des Finances, notre premierembryon d'archives économiques“.53

Nichts deutet darauf hin, dass aus dem Sequesterfonds massenhaftAkten zurückgegeben wurden. Die meisten Rückgaben fandennämlich statt, bevor die Archive an das Generalstaatsarchiv über-tragen wurden.54 In den meisten Fällen handelte es sich bei denRückgaben um Güter, die einen bestimmten Geldwert aufwiesen,und viel weniger um Archivalien bzw. um einige, meistens in derEile von den Betroffenen herausgesuchten Papiere aus dem Famili-enarchiv.Noch bis Ende der dreißiger Jahre wurden Sequesterbeständeübertragen. Die Archive von Mondschein Frères wurden erst imFebruar 1936 im Generalstaatsarchiv hinterlegt.55 Vermutlichwurden diese Abgaben nicht oder nur sehr oberflächlich inventari-siert, auch beschränkte das klassierte Sequesterarchiv sich auf dieBestände, die bis 1930 in den veröffentlichten Jahresberichten desGeneralstaatsarchivs erwähnt sind. Möglicherweise wurde auchMaterial ausgesondert und vernichtet, aber dafür gibt es keineschlüssigen Beweise.56 Anlässlich eines deutsch-belgischen Abkom-mens schrieb Sabbe wohl, es könne sein, dass sehr viele Doku-mente vernichtet wurden: „Il y a évidemment dans ces fondsd'archives un grand nombre de documents sans valeur, qui pour-raient être envoyés au pilon“. Im gleichen Schriftstück erwähnt erArchive von „Tante Emma-Läden bzw. anderer kleiner Einzel-händler“ (épiciers et autres petits commerçants), deren historischerWert für ihn gleich Null war.57 Darüber, ob, wo und welche Archivevernichtet worden sind, fehlt jedoch jede Spur. Zweifelsohneenthielten die Sequesterarchive wertlose oder doppelte Stücke,trotzdem geben die Lücken in einigen Beständen Rätsel auf. Soenthält zum Beispiel der Bestand der Deutschen Bank heute nur130 Meter, während im Bericht von Cuvelier vom Jahr 1931 von1.000 Metern die Rede war.58

Vernichtungen können allerdings auch nach dem Zweiten Welt-krieg stattgefunden haben. Die Errichtung eines Museums imHotel van den Peereboom, der Zufluss an Archiven im Rahmen desneuen Archivgesetztes aus dem Jahre 1955, die Errichtung derneuen Gebäude für das Generalstaatsarchiv in der Ruisbroekstraat,das geringe, manchmal fehlende Interesse von manchen Archivarenfür diesen Fonds, der Umzug der Sequesterarchive zwischen 1959und 1961 u. a. zum Staatsarchiv in Saint-Hubert59 und deren Rück-führung nach Brüssel im Jahr 197560 haben vermutlich zu einererneuten Bewertung und möglichen Kassation von Quellengeführt. Das Resultat dieser „Eingriffe“ war auf jeden Fall erschüt-ternd. Im Laufe der siebziger Jahre war die Sammlung Sequesterar-chive in komplette Unordnung geraten. Über vier Magazine

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verteilt, befand sich im Generalstaatsarchiv ein Fonds von 1.800Metern, in dem nicht die geringste Struktur zu erkennen war.Ziel des Projektes, das 1999 aufgenommen wurde, war es, dieseArchive erneut für die historische Forschung zugänglich zumachen. Es waren sieben Jahre vonnöten, um alle Archivreihen zuidentifizieren und einem bestimmten Archivbildner zuzuordnen,sie zu ordnen und in säurefreien Kartons zu verpacken und fürjeden Bestand ein Inventar oder zumindest brauchbare Kurzlistenzu erstellen. Somit sind jetzt etwa anderthalb laufende KilometerSequesterarchive durch zwanzig Sammelinventare erschlossen undeinsehbar im Lesesaal des Generalstaatsarchivs.

BENUTZUNGSKONTEXTDer Kontext der Benutzung oder der Auswertung bildet den letztenTeil des Modells. Der Benutzungskontext ist die Umgebung, in derArchivalien benutzt werden (können). Dieser Kontext sollte dasPotential der Archive verdeutlichen, nicht zuletzt unter Berücksich-tigung der verschiedenen Blickwinkel.

Quellen zu Studien im finanziellen BereichDie Sequesterbestände liefern einmalige Quellen nicht nur für dieErforschung der Anwesenheit von deutschen Banken und deut-schem Kapital auf dem belgischen Kapitalmarkt, sondern auch fürinnovative Studien über die Entwicklung des Versicherungssektorsund in beschränktem Maße auch des Sektors der Wechselstuben.Im Sequesterfonds finden sich Archive zweier großer Banken, derDeutschen Bank und der Bank Balser. Letztere wurde übrigens vonErsterer geschluckt. Das Archiv Balser setzt sich aus drei Teilbe-ständen zusammen: dem Archiv der Gesellschaft Balser & Cie.,dem Archiv von Edouard Balser, Sohn des Charles Balser, Gründerdieser bedeutenden Privatbank, sowie dem Archiv von GeorgesMontefiore Levy.61 Die erst vor kurzem veröffentlichte Dissertationvon S. Tilman stellt den Wert und die Bedeutung dieses Archivsunter Beweis. Gegenstand der Studie war nicht die eigentlicheBank, sondern das soziale Geflecht der Brüsseler Hochfinanz, inder die Balser Bank sich bewegte.62 Die Archivalien, die die Bankbetreffen, beziehen sich auf den Zeitraum von der Errichtung imJahre 1887 bis zur Übernahme im Jahre 1910. Balsers Privatbankverfügte über eine Kundschaft, die sich mit ihm in ein Kolonial-abenteuer stürzte und nach China und Persien schielte. Das gehtaus den Kontokorrentbüchern, den Rechnungsbüchern mit Bezugauf öffentliche Fonds und den Zeichnungen von Anleihen sowieaus den Belegen von Effektenrechnungen hervor. Diese neuenKenntnisse über das Interesse dieser Bank an neuartigen ausländi-schen Investitionen erlauben Ergänzungen und Berichtigungen desBildes, das wir bereits durch die Firmenbestände Société Générale,Banque Belge pour l'Étranger, Sofina, Crédit Foncier d'Extrême-Orient, Banque d'Outremer, Nationale Bank sowie durch dieBestände der Finanzleute Langrand-Dumonceau und E. Otlet, dieebenfalls im Generalstaatsarchiv aufbewahrt werden, gewonnenhatten. Auch das Archiv der Société Commerciale Belgo-Allemande,ebenfalls Teil des Sequesterfonds, eröffnet die Möglichkeit, dieRolle des deutschen Kapitals und deutscher Finanzunternehmen inBelgisch Kongo zu analysieren.63

Das Archiv der Deutschen Bank ist mit 130 Metern der umfang-reichste Bestand des Sequesterfonds.64 In diesem Bestand lassensich zwei große Teile unterscheiden: die Buchhaltung und dieKundenakten. Letztere wurden angelegt bei der Eröffnung einesneuen Sichtkontos oder zu dem Zeitpunkt, in dem ein Darlehenbeantragt wurde. Ähnlich wie heute wurden die Betriebe und die

kleinen Unternehmer dabei zunächst auf ihre Kreditwürdigkeitgeprüft. Dadurch enthalten diese Dossiers sehr viele Informa-tionen, die einer Studie auf Mikroebene dienlich sein können.Eine dritte, kleinere Bank mit einem stark familiären Charakterwar die Kommanditgesellschaft A. G. Walter Barth & Cie. Interes-sant ist, dass dieser Bestand sowohl Akten zur Errichtung derBank als auch Korrespondenzen mit den Gesellschaftern enthält.65

Vorhanden sind auch Unterlagen mit Angaben zu in- und auslän-dischen Firmen. Die Akten stammen von den Büros Schimmel-pfennig & Cie. und Wys, Muller & Cie., die die Zahlungsfähigkeitund den Ruf der Firmen zu überprüfen hatten.Wie bereits erwähnt, ist die Tatsache, dass wir im Generalstaatsar-chiv über die Bestände von sieben verschiedenen Versicherungs-firmen und einem Versicherungsmakler verfügen, eine einmaligeChance für die Erforschung des Versicherungswesens nach 1870.

43 Finanzministerium, ebd., Schreiben des Direktors der Sequesterverwaltung inBrüssel an den Finanzminister, 17.10.1924. Die Archive gelangten erst über einenUmweg, nämlich über die Deutsche Bank in das Hotel van den Peereboom.Zum Zeitpunkt des Umzugs befand sich das Gebäude nämlich im Bau.

44 Vannérus, Konservator bei der Kommission des Kriegsarchivs drohte inzwi-schen damit „de proposer à Monsieur le Ministre des Sciences et des Arts derenoncer à s'occuper davantage de ces importants fonds, que l'Etat est cepen-dant obligé de conserver“. Finanzministerium, ebd., Schreiben von Vannérus,Konservator beim Kriegsarchiv an Dessers, Direktor der Brüsseler Sequesterver-waltung, Brüssel, 22. August 1925.

45 Finanzministerium, ebd.46 Finanzministerium, ebd., Schreiben des Konservators des Kriegsarchivs an den

Brüsseler Staatsanwalt, 10. April 1928.47 H. Coppejans-Desmedt (Anm. 40), S. 65.48 Aus den Jahresberichten des Generalstaatsarchivs geht hervor, dass es sich

damals um etwa 65 Sequesterbestände handelte, die in der „Reihe S“ des Kriegs-archivs erschlossen wurden. Für eine Auflistung dieser Bestände, siehe: J. Cuve-lier, Archives de l'Etat en Belgique de 1919 à 1930, Gent 1930, S. 388-391.

49 Belgisches Staatsblatt, 8. Juni 1930, S. 3008. Der Expertenbericht war am 7. Juni1929 in Paris unterzeichnet worden.

50 Generalstaatsarchiv (GSA), Archiv des Archivs, Register der eingehenden Stü-cke 28, Nr. 22340.

51 GSA, ebd., Nr. 1162. Bericht von Sabbe an Generalarchivar Cuvelier, 29. 04.1930, 6 S.

52 In einem Bericht vom 16. Juli 1935 geht Sabbe noch einen Schritt weiter: Im Ver-sailler Vertrag weise nichts darauf hin, dass die unter Zwangsverwaltunggestellten Personen Anrecht auf ihre Archive hätten. Schlimmer, der Staat seinicht einmal dazu verpflichtet, sie überhaupt aufzubewahren und könne sienach der Liquidierung sogar vernichten. Auf jeden Fall brauche er nicht auf dieWünsche oder Anforderungen der unter Sequester Gestellten einzugehen. SieheGSA, ebd., Nr. 1162.

53 Schreiben von Generalarchivar Cuvelier an den Staatsanwalt, 5. Mai. 1930. Ebd.,Korrespondenzregister 20184.

54 Cf. supra, Bericht von Houtart, 22. Februar 1930.55 GSA, Archiv der Kriegskommission, Nr. 60.56 Dies wird deutlich, wenn man die ursprünglichen Sequesterinventare mit dem

vergleicht, was sich jetzt noch in den Archivdepots befindet.57 Siehe Anm. 46.58 Im Archiv der Deutschen Bank finden sich höchstens zehn Korrespondenz-

Kopierbücher, die den Briefwechsel mit diversen Banken, Privatpersonen unddeutschen Besatzungsbehörden dokumentieren. Aus damaligen Repertoriengeht allerdings hervor, dass es über 5.500 solcher Register gab. Dies könnte aufeine gezielte Vernichtung dieser Archivreihe hinweisen. Es ist auch möglich,dass dieses Material während des Zweiten Weltkrieges von der Besatzungs-macht vernichtet wurde.

59 S.-A. Tallier (Anm. 39), S. 28-29.60 H. Coppejans-Desmedt (Anm. 40), S. 73.61 K. Carrein und T. Lambrecht, Fonds van Sekwesterarchieven VIII. Inventaris

van het archief van de commanditaire vennootschap Balser & Cie. (1844-1912),Edouard Balser en Lucienne de Hirsch (1830-1931) eb Georges Montefiore Levy(1862-1931), (Generalstaatsarchiv – Inventare, 305), Brüssel 2001.

62 S. Tilman, Les grands banquiers belges (1830-1935). Portrait collectif d’une élite.Brüssel 2006.

63 K. Carrein, Fonds van Sekwesterarchieven XIII. Inventaris van het archief vanSociété Commerciale Belgo-Allemande du Congo (1910-1922), (Generalstaats-archiv – Inventare), Brüssel 2002.

64 K. Carrein, J. Mestdagh, C. Vancoppenolle (Hrsg.), Fonds van Sekwesterarchie-ven XVI. Inventaris van het archief van Deutsche Bank. Succursale de Bruxelles(1904-1933), (Generalstaatsarchiv-Inventare, 369) Brüssel 2005.

65 S. Vervaeck, Inventaris van het archief van de commanditaire vennootschapWalther Barth & Co, (Generalstaatsarchiv-Inventare, 171), Brüssel 1971.

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Die Anfänge des Versicherungswesens wurden bislang kaum unter-sucht, aus dem einfachen Grund, da kaum Archive zugänglichwaren. Vor allem im Archiv der Allianz, ungefähr 46 laufendeMeter, finden sich zahlreiche Policen und Versicherungsakten zuden Sparten Brand, Transport, Diebstahl, Unfälle und Haftpflicht;alle geben uns Einblicke in die damalige Versicherungstechnik.66

Die Angaben zu Versicherungsnehmern und zu gedeckten Risikensind sehr unterschiedlich, von einer kleinen Notiz bis zu einerumfangreichen Akte mit Plänen und Skizzen. In den Protokollender Schadensakten über Haftpflicht zum Beispiel, die fastausschließlich über Straßenbahn- und Eisenbahngesellschaftenhandeln, werden die Unfälle und deren Folgen sehr detailliertbeschrieben. Sehr oft wurden auch Zeugenaussagen oder ärztlicheGutachten beigefügt.Auch andere Versicherungsbetriebe haben Policen, Versicherungs-akten, Buchhaltungsunterlagen, Briefwechsel und interne Berichtedes Hauptsitzes hinterlassen. Die Korrespondenz mit dem Haupt-sitz ist besonders interessant, weil sie den belgischen Versiche-rungsmarkt und vor allem neuartige Risiken, über die der Haupt-sitz in letzter Instanz zu entscheiden hatte, zum Gegenstand haben.Diese und andere Archivreihen finden wir bei den GesellschaftenAtlas Deutsche Lebensversicherungs-Gesellschaft, Victoria zuBerlin Allgemeine Versicherungs-AG, Germania Lebens-Versiche-rungs-Aktiengesellschaft zu Stettin, Albingia Versicherungs-AG,Gladbacher Feuerversicherungs-Aktien-Gesellschaft und Magde-burger Feuerversicherungsgesellschaft. Der Bestand des Versiche-rungsbüros Maier Loew schließlich enthält Korrespondenz mitVersicherungsnehmern und Gesellschaften.67

Der Sequesterfonds überlieferte uns auch die Bestände von siebenBetreibern von Wechselstuben, die alle auf dem Brüsseler Wechsel-markt tätig waren.68 Diese Bestände und der Bestand der BrüsselerBörse, der ebenfalls teilweise im Generalstaatsarchiv aufbewahrtwird, bieten uns die Möglichkeit, den Markt der Börsen- undWechselgeschäfte zu untersuchen.Der Erste Weltkrieg hatte einschneidende Folgen für das europäi-sche Währungs- und Bankwesen, weil er dem Goldwährungsstan-dard und dem freien weltweiten Kapitalverkehr ein Ende bereitete.Um die Kriegsausgaben zu bewältigen und um neue Mittel derFinanzierung zu finden, sahen sich die kriegführenden Ländergezwungen, die Flucht aus dem Papiergeld zu verhindern und dieDienste von Notenbanken in Anspruch zu nehmen. Im Übrigenstellt sich dabei durchaus die Frage, wie es möglich war, dass ineinem dermaßen liberal und international orientierten Kontext eintotaler Krieg ausbrechen konnte. Auch in dieser Hinsicht stellte dasEnde des Ersten Weltkriegs eine wichtige Zäsur dar. Eine Rückkehrzum Vorkriegszustand war unmöglich geworden. Für die Bankge-schäfte während des Ersten Weltkriegs sind vor allem die Archiveder Deutschen Effekten- und Wechselbank sowie der National-bank für Deutschland interessant.69 Beide Filialen wurden erstwährend des Weltkrieges errichtet, vermutlich auf Drängen derdeutschen Militärbehörde. Sie tätigten normale Bank-, Wechsel-,Börsen- und Kommissionsgeschäfte und waren außerdem in denBereichen Handel und Industrie tätig.

Quellen zur Geschichte der Zweiten industriellenRevolutionDer Benutzungskontext der Zweiten industriellen Revolution istneu, da dieses Phänomen bislang kaum erforscht wurde. DieSequesterbestände können hier Abhilfe schaffen, da sie reihen-weise Material enthalten, um diese innovative Entwicklung nach1870 zu untersuchen. So gibt es Archive von Vertretern oder

Filialen von großen deutschen Betrieben, von selbständigen Inge-nieuren, Zeichnern, Patentbüros und Firmen, die in expansivenBranchen wie im Elektrizitätssektor, in der Metallkonstruktion,im Maschinenbau, im Transportwesen und in der Chemie-branche tätig waren.70

Die Archive der Firmen Siemens-Schuckert und Siemens-Halskebieten die besten Forschungsmöglichkeiten. Die Berliner Gesell-schaft Siemens & Halske eröffnete im Jahre 1870 eine Filiale inder belgischen Hauptstadt. Durch die zunehmende Konkurrenzsah Siemens & Halske sich gezwungen, mit dem KonkurrentenSchuckert und Cie. zu fusionieren und die neue Compagnie belged'électricité Siemens-Schuckert zu bilden. Neben dieser Gesell-schaft wurde in Brüssel noch ein weiteres (technisches) BüroSiemens-Halske eröffnet, das im Bereich des Signalwesens und derAusstattung für Eisenbahnen tätig war. Das Archiv von Siemens-Schuckert umfasst 80 laufende Meter, hauptsächlich Handels-akten und Buchhaltungsunterlagen.71 Es bietet einen interessantenEinblick in die Entwicklung des öffentlichen Verkehrs, insbeson-dere des Straßenbahnverkehrs. Der Benutzer findet hier auchAngaben über Straßenbeleuchtung, elektrische Schaltzentralen,Telefon- und Stromtechnik in verschiedenen belgischenGemeinden. Ferner liefert der Bestand Informationen über Kohle-bergwerke, Cokesfabriken, Zuckerraffinerien und sonstige Gesell-schaften, die bei Siemens Bestellungen tätigten. Der BestandSiemens-Halske enthält hauptsächlich Korrespondenz sowohl mitKunden wie auch mit Zulieferern.72

Die Gesellschaft Alfred H. Schütte fertigte Maschinen und Präzisi-onsgeräte wie Bohr- und Fräsmaschinen.73 Interessant ist vor allemdie fast lückenlose Reihe der Debitoren und Kreditoren-Bücher, dieden gesamten Kunden- und Lieferungsbestand der Firma wider-spiegeln. Anhand dieser Akten kann man die verschiedenen belgi-schen Akteure der Zweiten industriellen Revolution ausfindigmachen. Das Forschungsfeld beschränkt sich also keineswegs aufden Wachstumspol Brüssel. Vergleichbare Angaben mit Bezug aufeinen weiteren typischen Sektor der Zweiten industriellen Revolu-tion liefert die Handelskorrespondenz im Archiv der Filiale derHamburger Gummifabrik Traun.74 Das Archiv von Sobelho, Fabri-kant von automatischen Verteilungsgeräten, illustriert die europa-weite Ausdehnung und die Konzentrationsentwicklung, die kenn-zeichnend sind für die Zweite industrielle Revolution.75

So gibt es im Sequesterfonds zahlreiche Beispiele von Beständen zuexpansiven und innovativen Sektoren dieser neuen Phase der tech-nologischen und industriellen Entwicklung.76 Dem Forscher wirdmanchmal einiges an Phantasie abverlangt, um in der umfangrei-chen Ansammlung von Kunden- und Lieferantenakten, Buchhal-tungsunterlagen und Handelskorrespondenzen die Angaben zufinden, die ihm für seine eigene Forschung dienlich sein können.In einigen Fällen sprechen die Dokumente für sich. So enthält zumBeispiel das Archiv des Bauunternehmers und Ingenieurs FranzFalk zahlreiche Angaben zum Wundermittel „cérésite“, das Mörtelunmittelbar wasserdicht machen konnte. Das Archiv von Fürsten-berg lehrt uns, dass dieser Betrieb in Gitterarbeiten spezialisiertwar und über ein Patent auf Türmatten aus Metall verfügte. Ichdenke auch an die Mitgliederregister der Association Belge desInventeurs, die Robert Dürr uns als Schatzmeister des Vereinshinterließ und die uns die Gruppe von innovativen Unternehmern,die in der expandierenden Elektrizitätswirtschaft tätig waren,näherbringt. Im Archiv Oscar Brünler finden sich Akten überPatente. Schließlich möchte ich noch auf das Archiv der Versiche-rungsgesellschaft Allianz hinweisen, die bereits genannt wurde,weil sie repräsentativ war für die Entwicklung im Brüsseler Versi-

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cherungswesen. Der Bestand birgt aber auch zahlreiche interes-sante Akten, die die Einstellung der Versicherungsbranche denneuen Baumaterialien und technologischen Erneuerungen gegen-über dokumentieren; auch legen sie den Maschinenpark desBetriebs in all seinen Details dar.Die Kapitalkonzentration und die gestiegene Kaufkraft der Kund-schaft – mehr und mehr in der Hauptstadt zentralisiert – sowieimmer schnellere und bequemere Verkehrsverbindungen zogeneine Reform der Warenverteilung mit sich. Es kam zur Bildungvon Großgeschäften und Geschäften mit Filialen. Im Sequester-fonds spiegelt diese Entwicklung sich u. a. im Archiv Tietz und imArchiv der Kooperation Aux Classes Laborieuses wider. Im ArchivTietz sind die rapports de marchandises (Warenberichte) eineGoldgrube, um den Verkauf von Produkten durch dieses Groß-kaufhaus zurückzuverfolgen.77

In Anbetracht des mondänen Lebens in der Hauptstadt und derTatsache, dass Brüssel bereits länger ein Zentrum von Industrie undLuxusartikeln war, finden sich im Sequesterfonds Betriebe, die inder Produktion oder im Vertrieb von Pelzen, Spitzen, Posamenten,Seide, Handschuhen, Hüten usw. tätig waren. Auffallend dabei istdie Konzentration von deutschen Unternehmern im Pelzhandel.78

Sie waren in der alten Innenstadt angesiedelt und Mitglieder derBrüsseler Handelskammer. Anhand der Sequesterbestände vonKonfektionsateliers lässt sich auch die für die Hauptstadt so typi-sche und wichtige Heimarbeit erforschen. Auch für die Zwischen-phasen der Herstellung von Schuhen und Handschuhen, Spitzenund Tüllstickereien war die Heimarbeit noch vorherrschend.Diverse Handelshäuser, die auf Heimarbeit zurückgriffen, sind imSequesterfonds vertreten: Emma Bach, Jean Goldstein, Von Bienen& Fischbein, Alexander Frères, Ulrich Heymann & Cie., Liétart &Lipper und Norden Frères. Verlage, Druckereien und Presseorganeblühten in der Hauptstadt, weil hier die politischen, administrativenund finanziellen Organisationen des Landes konzentriert waren.Auch diese findet man im Sequesterfonds: Verlag Rein & Cie., Buch-und Zeitschriftenhändler Georg Stilke, Vertreter ausländischerPapierfabriken J. Wierschem, der mit dem Büromaterial von Soenn-ecken (bekannt von den Ordnern) handelte.79 Durch die Unterlagenvon Riesenburger erhalten wir nicht nur einen außergewöhnlichenEinblick in den Klavierhandel, sondern entdecken auch den Durch-bruch neuester Werbetechniken.Diese Auflistung ist nicht vollständig. Es handelt sich in etwa umBestände von 70 Archivbildnern – die Sammlung „diverse Betriebe“noch außer Acht gelassen –, die die Möglichkeit bieten, die indus-trielle und kommerzielle Hochblüte Brüssels weiter zu erforschen.Deshalb denke ich auch, dass dieses Projekt als gelungen betrachtetwerden kann. Es wäre schade, wenn diese archivalische Fundgrubeverloren gegangen wäre, um so mehr, da man sich in den ZwanzigerJahren so viel Mühe gegeben hat, sie für die Erforschung der dama-ligen Wirtschaftsgeschichte aufzubewahren. Ich behaupte damitnicht, dass alle Archive gleich interessant, komplett oder guterschlossen sind, aber der ganze Fonds ist einmalig, wurde zugäng-lich gemacht und eignet sich für ein breites Forschungsspektrum.80

Das Kontextmodell hat sich bewährt; es hat die Archivare, die eineMasse von Archiven zu bewältigen hatten, bei ihrer jahrelangenArbeit der Erschließung begleitet und unterstützt. Jetzt ist es denBenutzern überlassen, die tieferen Inhalte der Bestände zuergründen. Der Kreis von der Entstehung über die Verwaltung biszur Wieder(-benutzung) der Unterlagen hat sich geschlossen.

Übersetzung: Els Herrebout, Staatsarchiv Eupen

66 K. Carrein, Fonds van Sekwesterarchieven VII. Inventaires van het archief vanAllianz Versicherungs-Aktien-Gesellschaft in Berlin. Agentschappen te Brüssel(1889-1924), (Generalstaatsarchiv-Inventare, 303), Brüssel 2001.

67 C. Bulté, Fonds van Sekwesterarchieven IX. Inventaris des archives des compa-gnies allemandes d’assurances (1872-1942), (Generalstaatsarchiv-Inventare,306), Brüssel 2001.

68 C. Bulté und S. Soyez, Fonds van Sekwesterarchieven XII. Inventaire des archivesdes agents de change allemands (1879-1923), (Generalstaatsarchiv-Inventare,335), Brüssel 2002.

69 K. Carrein, Fonds van Sekwesterarchieven XI. Inventaris van de archieven vanAgence de la Deutsche Effecten- und Wechselbank Société Anonyme Belge(1915-1918) en Nationalbank für Deutschland, Filiale Brüssel (1917-1918), (Gene-ralstaatsarchiv-Inventare, 325), Brüssel 2002.

70 In diesem Zusammenhang sind folgende Betriebe zu erwähnen: die Firma Sie-mens, Peter's Union und Traun (Gummiproduzenten), MaschinenbauerGebrüder Seck, Julius Blancke & Cie., Atlas-Werke Poehler & Cie. und AlfredSchütte, Gebrüder Blanck, Händler von Elektro- oder Azetylengas-Haushalts-apparaten (Kronleuchter, Beleuchtungsgeräte) und Theodore Plank, Haus-haltswarenhändler, Hoffman, Vertreter für fotografische Produkte, JozefSchwalgé, Großhändler für pharmazeutische Produkte, Sobelho, Fabrikant vonautomatischen Verteilungsgeräten, Schneider & Ströbel, internationaler Trans-port und Zollgeschäfte, Oscar Brünler und Robert Dürr, Ingenieure und Letzt-genannter auch Schatzmeister der Association Belge des Inventeurs, Frank enCie., eine seinerzeit florierende Schuhfabrik in Vorst/Forêt.

71 K. Carrein, Fonds van Sekwesterarchieven I. Inventaris van het archief van deNV Compagnie belge d'électricité Siemens & Schuckert (1903-1922), (General-staatsarchiv – Zugänge mit beschränkter Auflage, 509), Brüssel 1999.

72 S. Soyez, Fonds van Sekwesterarchieven II. Inventaire des archives de la Sociétéanonyme belge Siemens & Halske (1902-1919), (Generalstaatsarchiv – Zugängemit beschränkter Auflage, 511), Brüssel 2000.

73 K. Carrein, Fonds van Sekwesterarchieven IV. Inventaris van het archief van devennootschap onder firma Alfred H. Schütte (filiaal voor België) (1897-1918),(Generalstaatsarchiv – Zugänge mit beschränkter Auflage, 513), Brüssel 2000.

74 S. Soyez, Fonds van Sekwesterarchieven III. Inventaire des archives de la Manu-facture de Caoutchouc Traun S.A. Succursale de Bruxelles (1903-1918), (Gene-ralstaatsarchiv – Zugänge mit beschränkter Auflage, 512), Brüssel 2000.

75 F. Romano, Fonds van Sekwesterarchieven XVIII. Inventaire des archives de laSociété anonyme Belgo-Hollandaise de Distributeurs automatiques(SOBELHO) (1909-1914), (Generalstaatsarchiv – Zugänge mit beschränkterAuflage, 575), Brüssel 2004.

76 Ein nicht veröffentlichter Sammelzugang für verschiedene Bestände vonArchivbildnern, die in der Zweiten industriellen Revolution eine bedeutendeRolle gespielt haben, ist im Lesesaal des Generalstaatsarchivs verfügbar. Alleanderen Inventare sind veröffentlicht und online auf der Website www.arch.beverfügbar.

77 C. Bulté en S. Soyez, Fonds van Sekwesterarchieven XIV. Inventaire des archivesde la Société des „Grands Magasins Leonhard Tietz“ (1900-1921), (General-staatsarchiv-Inventare, 334), Brüssel 2002.

78 K. Carrein, T. Lambrecht en S. Soyez, Fonds van Sekwesterarchieven VI. Inven-taris van het archief van de vennootschap onder firma Mayer & Cie. (1894-1930); Inventaris van het archief van Theo, Hugo & Louis Wurzburger (1904-1918); Inventaris van het archief van de NV Les Etablissements Schulz (1899-1924); Inventaire des archives de la Société M. Devries marchand de cuirs et depeaux, filiale de Bruxelles (Heinrich Devries Directeur) (1913-1916), (General-staatsarchiv – Zugänge mit beschränkter Auflage, 538), Brüssel 2000.

79 K. Carrein en T. Lambrecht, Fonds van Sekwesterarchieven XV. Inventaris vande archieven van La Belgique en Journaux Quotidiens et Périodiques SA (1914-1918); J. Wierschem (1901-1918), F. Soennecken, filiaal te Brüssel (1908-1921),(Generalstaatsarchiv – Zugänge mit beschränkter Auflage, 570), Brüssel 2002. F.Romano, Fonds van Sekwesterarchieven XVII. Inventaire des archives del’Imprimeur Trangotte Rein (1905-1918), (Generalstaatsarchiv – Zugänge mitbeschränkter Auflage, 574), Brüssel 2003.

80 Eine Übersicht dieser Sequesterbestände mit kurzen Erläuterungen bietet derim Jahr 2008 vom Generalstaatsarchiv in Brüssel herausgegebene Archivführerzur deutsch-belgischen Geschichte: E. Herrebout, Quellen zur Geschichte derdeutsch-belgischen Beziehungen in den belgischen Staatsarchiven (mit Hinwei-sen auf Archivgut deutscher Provenienz) (1830-1962). Ergänzt mit Quellen ausden Archiven des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, des Verteidi-gungsministeriums sowie des CEGES/SOMA in Brüssel (Führer; 69), Brüssel2008, S. 166-206. Neben den Brüsseler Sequesterbeständen findet sich hier aucheine Übersicht der Sequesterbestände der im Raum Antwerpen unter Zwangs-verwaltung gestellten deutschen Betriebe (S. 320-323).

Dr. Chantal VancoppenolleRijksarchief GentGeraard de Duivelstraat 19000 Gent / [email protected]

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DAS ARCHIVWESEN DERRUSSISCHEN FÖDERATION –ERGEBNISSE UND PROBLEME

Über den gesellschaftspolitischen Umbruch in der Sowjetunionbzw. der Russischen Föderation (RF), seine Auswirkungen auf dasArchivwesen und dessen postsowjetische Entwicklung seit1991/1992 wurde in dieser Zeitschrift kontinuierlich in fünf„Archivberichten Russland“ informiert; der letzte, 2007 veröffent-lichte Bericht betrifft die Jahre 2003-2005.1 Im Anschluss daranbehandeln die folgenden Ausführungen überwiegend die Zeitnach 2004/2005.

RAHMENBEDINGUNGENDas russische Archivwesen durchlief in den vergangenen 18Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung, die von den wech-selnden, oft widersprüchlichen politischen Bedingungen und vonden meist problematischen ökonomischen Gegebenheiten geprägtwar und ist. Auf deutliche Liberalisierungstendenzen in denersten Nachwende-Jahren – eine relativ weitgehende Öffnung derArchive, großzügige Genehmigungen in- und ausländischerBenutzungs- und Kopieranträge, Erörterung einer eventuellenRückgabe von „Beutearchivgut“ – folgte sehr bald der Rückzugauf eine wesentlich härtere Linie. Diese war Ausdruck einer dasrussische Wertgefühl und die nationale Souveränität betonendenHaltung in Politik und Gesellschaft seit etwa Mitte der 1990erJahre – wohl eine Reaktion auf innen- und außenpolitisch desta-bilisierende Faktoren und auf zuweilen als unzulässige Einmi-schung empfundenes ausländisches, vor allem westliches Engage-ment. Solch eine Haltung wurde begleitet und gefördert voneinem spürbaren Nachlassen der Bemühungen um die „Vergan-genheitsbewältigung“. Schon 1996 kam eine politische Analyse zudem Schluss, in Russland sei, ohne einen „Schlussstrich“ gezogenzu haben, „die Aufarbeitung der Vergangenheit […] von der Tages-ordnung abgesetzt“ worden.2

Die Folgen dieser im Laufe der Jahre immer stärker ausgeprägten,wenig kritischen Hinwendung zur Vergangenheit zeigten undzeigen sich im Archivbereich mehrfach recht deutlich: restriktivereBenutzungsbestimmungen; Sperrung großer Gruppen vonArchivdokumenten, auch solcher, die nach 1992 zunächst freigegeben waren; Erklärung des im Zweiten Weltkrieg von sowjeti-schen Truppen erbeuteten Archivgutes zum staatlichen Eigentumder RF durch Bundesgesetz 1997 u. a. Im Übrigen strebt „PutinsDemokratur“3 ein bei breiten Teilen der Bevölkerung wohl weit-gehend akzeptiertes Staats- und Nationalbewusstsein an, das denStolz auf die russische, aber auch auf die sowjetische Geschichteeinbezieht und Kritik selbst am Terrorsystem der Stalin-Diktaturnur bedingt zulässt.

Der langjährige Russland-Korrespondent der ARD, Thomas Roth,schreibt in diesem Zusammenhang: „Wer die sozialen, ethnischenund kulturellen Spannungen der Gegenwart in der russischenGesellschaft“ nicht aushalte, suche „das Heil in der Verklärungder Vergangenheit“. Dabei überdecke „die Symbolik des Sieges[im Großen Vaterländischen Krieg, H. S.] den mörderischenCharakter des stalinschen Regimes“. Es werde – Zitat des russi-schen Soziologieprofessors Lew Gudkow – „die sowjetischeVersion der Geschichte in den Vordergrund gestellt“, und ihrkomme „nun wieder eine Legitimität zu“4. Nach einer Umfragedes russischen Lewada-Zentrums vom Juli 2008 zählt mindestensjeder dritte Russe Josef Stalin neben Alexander Puschkin undPeter dem Großen „zu den bedeutendsten Persönlichkeiten allerZeiten“5. Arsenij Roginskij, Vorsitzender der Moskauer Filiale von„Memorial“, der verdienstvollen russischen Menschenrechtsorga-nisation, weist darauf hin, dass die Stalin-Zeit heute idealisiertwerde. Die Verbrechen der Täter würden nicht thematisiert, unddazu käme „eine offizielle Geschichtspolitik, die den Terror alsCharakteristikum des Stalinismus marginalisiert und bagatelli-siert“6.In das bedrückende Bild dieser Beschreibung der Bewusstseins-lage eines offenbar nennenswerten Teiles der russischen Gesell-schaft passt auch eine von Markus Wehner veröffentlichte sehrkritische Stellungnahme zu aktuellen Problemen des russischenArchivwesens. Vor 15 Jahren, nach Beginn der „Archivrevolution“,hätten „westliche und einheimische Historiker“ begonnen, „nachdem wissenschaftlichen Gold in den gerade freigegebenen Aktender Stalin-Zeit“ zu graben. Man habe gehofft, „die vielen Rätselund Geheimnisse der Sowjetgeschichte“ lösen zu können. „Dochdie Hoffnung trog, die Revolution ist gescheitert. Nach demAufbruch folgte die Stagnation, nun gehen die Uhren in den russi-schen Archiven wieder rückwärts“7. Wenn auch diese pessimisti-sche Einschätzung der Lage und der Entwicklungschancen desrussischen Archivwesens hier nicht uneingeschränkt geteilt wird,so werden doch auch in den folgenden Darlegungen neben neuenAnsätzen in manchen Zusammenhängen deutliche Verbindungsli-nien zum sowjetischen Archivwesen erkennbar sein.

DAS RUSSISCHE ARCHIVWESEN SEIT2004

Das Jahr 2004 brachte wesentliche Neuerungen für das staatlicheArchivwesen der RF. Im Zuge einer im März 2004 begonnenenVerwaltungsreform und der damit verbundenen behördlichen

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Umstrukturierungen verlor die staatliche Archivverwaltung, derBundesarchivdienst der RF – Rosarchiv, wie die gängige, bis heutegebräuchliche Abkürzung lautet, – den Status einer selbständigenZentralbehörde. Diese war seit 1992 dem Präsidenten bzw. einemstellvertretenden Ministerpräsidenten der RF unterstellt undwurde nun in das Kulturministerium eingegliedert. Hiergegenund gegen den damit verbundenen Autoritätsverlust des Archiv-bereichs hatten bedeutende Archivare und Historiker schon in derPlanungsphase der Verwaltungsreform mit gewichtigen Argu-menten in Eingaben an den damaligen Präsidenten Putin – aller-dings vergeblich – protestiert.8 Auch nach erfolgter „Degradie-rung“ der Archivverwaltung kam es wiederholt zu Forderungen,die umstrittene Strukturentscheidung rückgängig zu machen.Prominente Teilnehmer einer öffentlichen Anhörung am 2.Oktober 2006 betonten, es ginge doch wohl nicht an, dass einLeitungsbereich mit Verantwortung für die Archive vieler, zumTeil mächtiger Behörden auf das verhältnismäßig geringe Durch-setzungsvermögen und die finanziellen Möglichkeiten des Kultur-ministeriums angewiesen sei.9

Laut Regierungsverordnung vom 17. Juni 2004 wurde Rosarchivzur „Bundesarchivagentur des Ministeriums für Kultur undMassenmedien der RF“ umgebildet. Ihr unterstehen weiterhin die14 Bundesarchive.10 Darüber hinaus hat sie in Bezug auf die„Vertikale der Zusammenarbeit“ und zur Gewährleistung einer„einheitlichen Methodik […] im gesamtrussischen Maßstab“ u. a.die Kompetenz, „den Archivleitungsorganen der Subjekte derRF11 und den staatlichen und kommunalen Archiven bei derOrganisation der Erfassung und Übernahme, Sicherung undNutzung der Dokumente des Archivfonds der RF methodischeHilfe zu erweisen“12. Es verblieben Rosarchiv also gesamtstaat-liche Funktionen und landesweite Vollmachten, wenn auch einge-schränkt durch die im Laufe der Jahre gestärkten Rechte derregionalen und lokalen Strukturen.Diese Rechte berücksichtigt auch das neue Bundesgesetz „Überdas Archivwesen in der RF“, das nach langjährigen Diskussionenim Oktober 2004 verabschiedet wurde und acht Abschnitteumfasst:1. Allgemeines; Definitionen der Grundbegriffe. 2.Archivfonds der RF. 3. Leitung und Verwaltung des Archivwesens.4. Aufbewahrung und Registrierung der Archivdokumente. 5.Bestandsergänzung; „Quellen der Bestandsergänzung“. 6. Zugangzu den Archivdokumenten und ihre Nutzung. 7. Verantwortungbei Gesetzesverletzung. 8. Internationale Zusammenarbeit.13

Eingebracht wurden im Jahr 2008 Änderungs- und Ergänzungs-anträge zum Archivgesetz mit dem Ziel der rechtlichen und finan-ziellen Regelung der Zusammenarbeit zwischen den Archivver-waltungen der Subjekte der RF und den auf den Territorien dieserSubjekte befindlichen Bundesbehörden, deren Archivgut in derRegel dezentral an ihren Standorten aufbewahrt und benutztwerden soll.14 Auf der Grundlage des Archivgesetzes erging imJuni 2009 auch eine Regierungsverordnung zur Bestätigung neuerRichtlinien für die Schriftgutverwaltung der Bundesbehörden,die dem Archivdienst größere Einflussmöglichkeiten bei derSicherung des Archivgutes dieser Behörden eröffnen.15

Das Archivgesetz sieht eine – im Vergleich zur früheren Praxis –deutlichere Abgrenzung der Kompetenzen der zentralen, regio-nalen und kommunalen Ebene im Archivwesen vor. In diesemZusammenhang betonte Vladimir P. Kozlov, seit 1992 stellvertre-tender Leiter und seit 1996 – bis heute – Leiter von Rosarchiv,dass trotz der erforderlichen Dezentralisierungsmaßnahmen diestaatlichen, kommunalen und Behördenarchive nach „einheitli-chen Richtlinien funktionieren müssen“. Das Gesetz habe diesen

„Grundsatz der Einheitlichkeit proklamiert“, um damit„mögliche negative Folgen“ der neuen Kompetenzabgrenzungenzu „neutralisieren“. Es müsse daher z. B. landesweit für diegenannten Archive gleiche Richtlinien zur Aufbewahrung,Bestandsbildung, Nutzung usw. des Archivgutes geben.16

Diese traten zum 24. Mai 2007 in Kraft: „Richtlinien für dieOrganisation der Aufbewahrung, die Erfassung und Übernahme,Registrierung und Nutzung der Dokumente des Archivfonds derRF und anderer Archivdokumente in den staatlichen undkommunalen Archiven, Museen und Bibliotheken und Organisa-tionen der Russischen Akademie der Wissenschaften“. Die Richt-linien stehen ausdrücklich in der Tradition der „Grundregeln fürdie Arbeit der Staatsarchive der UdSSR“ von 1962 und 1984 bzw.deren Neufassung von 2002 und wurden den Festlegungen desArchivgesetzes von 2004 angepasst. Behandelt werden Bestands-bildung, Findhilfsmittel, Registrierung, Ausleihkontrolle, Revi-sion, Behandlung von Unikaten, Kontrolle des Erhaltungszu-standes usw. Wie die „Grundregeln“ von 1984 sind die Richtli-nien mit einem umfangreichen Anhang für Formblätter/

1 Hermann Schreyer: Archivbericht Russland, 2003-2005, in: Der Archivar(DArch), 60 (2007), 3, S. 235-242.

2 I. Oswald/R. Possekel/P. Stykow/J. Wielgohs (Hrsg.): Sozialwissenschaft inRussland, Bd. 1, Analysen russischer Forschungen zu Sozialstruktur, Eliten,Parteien, Bewegungen, Interessengruppen und Sowjetgeschichte. Deutsch-russisches Monitoring I, Berlin 1996, S. 196.

3 Boris Reitschuster: Putins Demokratur. Wie der Kreml den Westen das Fürch-ten lehrt. Berlin 2006, 332 S.

4 Thomas Roth: Russland. Das wahre Gesicht einer Weltmacht, München 2008,S. 95 f. – Vgl. auch: Michael Ludwig: Eine alleingültige Geschichtssicht, in:Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Mai 2009, S. 6. Hier wird u. a. Bezuggenommen auf die Beratung des russischen Parlaments über ein Gesetz, dasdie Behauptung, die Sowjetarmee habe Verbrechen begangen, unter Strafestellt.

5 Claudia von Salzen: Verordnete Vergangenheit. Historiker kritisieren vomStaat gelenkte Geschichtspolitik in Russland, in: Potsdamer Neueste Nach-richten, 24. November 2008.

6 Arsenij Roginskij: Fragmentierte Erinnerung. Stalin und der Stalinismus imheutigen Russland, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen, 59(2009), 1, S. 37.

7 Markus Wehner: Gescheiterte Revolution. In den russischen Archiven werdendie Akten wieder zugemacht. Die dunklen Seiten der Geschichte sollen nun imVerborgenen ruhen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22. Juni2008, S. 6.

8 Otec

estvennye arhivy (O. A.), 2000, 3, S. 9-13.9 Obs ›estvennye slusanija „Sovremennye problemy sohranenija, komplektova-

nija i ispol'zovanija Arhivnogo fonda RF“ (Öffentliche Anhörung „AktuelleProbleme der Erhaltung, Bestandsergänzung und Nutzung des Archivfondsder RF“), in: O. A., 2006, 6, S. 10 f.

10 Zu diesen Bundesarchiven im Einzelnen: Hermann Schreyer: Die zentralenArchive Russlands und der Sowjetunion von 1917 bis zur Gegenwart (= Schrif-ten des Bundesarchivs, 60), Düsseldorf 2003, S. 275-281.

11 89 „Subjekte“ der RF: Republiken; Autonome Kreise; Oblaste; Moskau undSt. Petersburg als Städte mit Sonderstatus.

12 T. I. Bondareva: Rosarhivagentstvo v kontekste administrativnoj reformy (Ros-archivagentur im Kontext der Verwaltungsreform), in: O. A., 2004, 4, S. 5. –Vgl. auch: Schreyer (wie Anm. 1), S. 236 f. – Ders.: Verwaltungsreform undArchivgesetz. Aktuelle Probleme des Archivwesens der RF, in: Archive undGedächtnis. Festschrift für Botho Brachmann, hrsg. von Friedrich Beck u. a. (=Schriftenreihe des Wilhelm-Fraenger-Instituts Potsdam, hrsg. von WolfgangHempel u. a., Bd. 8), S. 343-354.

13 Vgl. im Einzelnen: Hermann Schreyer: Das neue Archivgesetz der RussischenFöderation, in: DArch, 58 (2005), 4, S. 260-265.

14 V. P. Kozlov: Itogi 2008 g. (Ergebnisse des Jahres 2008), in: O. A., 2009, 2, S. 6. –Zur Kompetenzabgrenzung zwischen der Zentrale und den Subjekten der RFvgl. auch A. N. Artizov: Peredaca gosudarstvennyh polnomocij v sfere arhiv-nogo dela (Übergabe staatlicher Vollmachten im Bereich des Archivwesens),in: O. A., 2008, 6, S. 23-28.

15 V. P. Kozlov: Voprosy dejatel'nosti arhivnyh ucrezdenij v uslovijah ekono-miceskogo krizisa (Fragen der Tätigkeit der Archivinstitutionen unter denBedingungen der Wirtschaftskrise), in: O. A., 2009, 4, S. 4.

16 Ders: Ob itogah raboty arhivov v 2004 g. (Über die Arbeitsergebnisse derArchive im Jahr 2004), in: O. A., 2005, 2, S. 5.

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Vordrucke versehen, die 30 wichtigsten im Hauptteil, die übrigen46 gesondert.17

Verfolgt man die Entwicklung des russischen Archivwesens inden letzten Jahren, so sind in der Gesetzgebung und auf anderenGebieten wichtige Fortschritte zu konstatieren. Es wiederholensich aber auch häufig gleich bleibende Klagen über bestimmteDefizite. Abzulesen ist beides aus den Zustandsbeschreibungen,die von Rosarchiv seit langem regelmäßig – jeweils zu Beginn desdem Berichtsjahr folgenden Jahres – veröffentlicht werden.18 Dieseerinnern einerseits an die ausführlichen, oft mit vielen Zahlenund statistischen Angaben angereicherten Rechenschaftsberichteaus der Zeit der Planwirtschaft. Andererseits – und das ist einwesentlicher Unterschied – benennen sie nicht nur die Erfolge,sondern auch Schwierigkeiten und Probleme, etwa bei derEntlohnung der Archivare oder bei der Beseitigung des eklatantenMangels an geeignetem Raum für Archivmagazine.Immerhin hatte sich nach dem dramatischen Krisenjahr 1998 umdie Jahrtausendwende eine Verbesserung der wirtschaftlichenLage der RF ergeben, von der sich Rosarchiv die Möglichkeit desÜbergangs der bisherigen „Strategie des Überlebens der Archive“zu einer „Strategie der dynamischen Entwicklung“ erhoffte. DieseHoffnung wurde genährt durch das von der russischen RegierungEnde 1999 bestätigte „Bundeszielprogramm ‚Die Kultur Russ-lands 2001-2005‘“, einer Art Fünfjahresplan der kulturellenEntwicklung. Dessen „Unterprogramm ‚Archive Russlands‘“sicherte die Finanzierung der Archive aus Mitteln des Bundes undder Subjekte der RF und aus außerbudgetären Mitteln besser undzuverlässiger als vorher19; ein entsprechendes Folgeprogramm fürweitere fünf Jahre, wurde 2006 aufgelegt.20

Trotz dieser Stabilisierungstendenzen hat Rosarchiv AnfangOktober 2006 die Probleme des Archivwesens einer größerenÖffentlichkeit unterbreitet, um damit auf die zuständigenBehörden einen gewissen Druck auszuüben und sie an ihreVerantwortung für die Gewährleistung eines arbeitsfähigenArchivsystems zu erinnern, wie das auch vorher wiederholt schongeschehen war.21 Am 2. Oktober 2006 fand eine öffentliche Anhö-rung statt unter Leitung des Metropoliten von Kaluga undBorovsk, Kliment, in seiner Funktion als Vorsitzendem der bei der„Gesellschaftlichen Kammer der RF“ bestehenden Kommissionfür Angelegenheiten des kulturellen und geistigen Erbes.22 Sehroffen wurden hier die nach wie vor gravierenden Schwierigkeitenangesprochen, mit denen die russischen Archivare konfrontiertsind: großer Raummangel bis hin zum Fehlen jeglicher Raumre-serven in vielen Archiven; zu wenige Neubauten und längst über-fällige Generalreparaturen an Altbauten; Magazinräume mitmangelhaften Lagerungsbedingungen, schlechter technischerAusstattung und unzureichenden Sicherungs- und Brandschutz-anlagen; u. a. deswegen von 2000-2006 zehn Fälle von Doku-menten-Diebstählen in den Bundesarchiven23; schlechte Bezah-lung der Archivare, damit verbunden häufig nicht oder nichtqualifiziert besetzte Stellen24; ungenügendes, schleppendes Tempobei der Desekretierung von Akten25, für die – so muss hinzugefügtwerden – die Geheimhaltungsgründe nach den internationalenRegeln überwiegend längst entfallen sind.Der letzte Punkt zeigt übrigens, dass die von Markus Wehner zuRecht kritisierte schwerfällige und langwierige Desekretierungsar-beit, an der „ältere Mitarbeiter der russischen Ministerien [...]immer mehr im alten Geist der früheren Parteiraison“ und unterdem Druck einer „neuen Geheimhaltungsmanie“ beteiligt sind26,

von den russischen Kollegen ebenfalls sehr kritisch gesehen wird.Auch im Tätigkeitsbericht für 2008 steht dazu eine deutlicheAussage: Der Desekretierungsprozess könne „weder Rosarchivnoch die wissenschaftliche Öffentlichkeit befriedigen“27.Es istjedoch immer wieder festzustellen, dass sich die Archivare gegenden nach wie vor großen Einfluss der Behörden auf „ihre“ Akten– auch auf die längst in den Staatsarchiven befindlichen –beideren Öffnung für die allgemeine Benutzung nicht oder nurschwer durchsetzen können.28

In den Jahren 2007 und 2008 wurden für das Archivwesen ineinigen Bereichen Verbesserungen erzielt bzw. in Angriffgenommen. Eine Regierungsverordnung vom 15. Mai 2007 „Überden Arbeitslohn der Mitarbeiter der Bundesarchive“ schuf dieVoraussetzung dafür, die extrem niedrige Entlohnung in denBundesarchiven29 anzuheben und damit zur Lösung „eines derschmerzlichen Probleme, die einen ernsten Personalmangel verur-sacht haben“30, beizutragen. Um vor allem die jungen Mitarbeiterzu halten und eine weitere Abwanderung qualifizierter Fachkräftezu verhindern, erfolgten ab Dezember 2007 schrittweise jährlichLohnerhöhungen, die bis 2010 fortgesetzt werden sollen.31

Das Russische Historische Staatsarchiv und das Russische Staats-archiv der Kriegsflotte in St. Petersburg konnten in den Jahren2006 und 2007 Neubauten beziehen und 2008 dort ihre reguläreArbeit wieder aufnehmen. Angesichts des gewaltigen Umfangesund der Kompliziertheit dieser Bauvorhaben und Umzüge sindsie im Rechenschaftsbericht von Rosarchiv als „wichtigstesErgebnis 2008“ bezeichnet worden.32 Überhaupt wurde 2008besonders herausgestellt als das „erfolgreichste Jahr in derEntwicklung der materiell-technischen Basis der Archive für diegesamte postsowjetische Periode“33. 2008 hätten die meistenfinanziellen Mittel zur weiteren Verbesserung der Infrastrukturder Bundesarchivinstitutionen verausgabt werden können.34

Übrigens beging man 2008 auch ein besonderes Jubiläum mitnational und international besuchten Veranstaltungen – den 90.Jahrestag des durch das „Leninsche“ Archivdekret vom 1. Juni1918 begründeten staatlichen Archivdienstes im damaligenSowjetrussland.35 Hier zeigt sich erneut die Betonung einer„systemübergreifenden“ Kontinuität und Tradition, wie sie seitMitte der 1990er Jahre verstärkt zu beobachten ist. Erinnert seiz. B. an „80 Jahre staatlicher Archivdienst“ 199836; „80 JahreArchivzeitschrift“ 2003 – seit 1923 „Arhivnoe delo“; seit 1959„Voprosy arhivovedenija“; seit 1966 „Sovetskie arhivy“; seit 1992„Otecestvennye arhivy“37; 40 Jahre Allunions/AllrussischesForschungsinstitut für Dokumentenkunde und Archivwesen(russisch-sprachige Abkürzung VNIIDAD) 1966-200638.Die recht günstigen Ergebnismeldungen für 2008 mussten wegender mittlerweile auch in Russland spürbaren Wirtschaftskriseleider wieder relativiert werden. Der Leiter von Rosarchiv hob ineinem Beitrag zur Erläuterung der neuen Lage hervor, eine Fort-setzung der positiven Entwicklung sei bedauerlicherweise nichtzu erwarten, da die Krise auch um das Archivwesen keinen Bogenmache. Dennoch äußerte er einen „vorsichtigen Optimismus“.Der Archivbereich verfüge über „bestimmte Voraussetzungen, umnicht nur einfach – unter Nutzung der Erfahrungen der 1990erJahre – das Überleben zu sichern, sondern auch die Bewahrungdes Erreichten [zu ermöglichen], die es erlaubt, die Zukunft derArchive im 21. Jahrhundert zu gewährleisten“39. Mögen dieseErwartungen durch die künftigen Realitäten nicht enttäuschtwerden!

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PROBLEME DER ARCHIVWISSENSCHAFT-LICHEN UND ARCHIVGESCHICHTLICHENFORSCHUNGDie im russischen Archivwesen begangenen Jubiläen sind einZeichen – neben anderen – für eine Haltung zur sowjetischenVergangenheit, die weniger eine grundsätzliche Abgrenzunganstrebt als vielmehr Kontinuität und Gemeinsamkeiten feststellt,also sozusagen eine durchgehende Linie zieht von der Zarenzeitüber die Revolutionen im Februar und Oktober 1917 und dieWende 1991/1992 bis zur Gegenwart. Dies schließt natürlich kriti-sche Äußerungen zu den großen historischen Belastungen derSowjetperiode nicht aus. Generell ist jedoch eine Tendenz zubeobachten, unangenehme Ereignisse und Fakten zu verharm-losen oder zu verschweigen bzw. die darüber früher geführtenDiskussionen zu beenden.Eine solche Tendenz gibt es auch in der archivwissenschaftlichenund vor allem in der archivgeschichtlichen Forschung. Ein um diekritische Aufarbeitung der Vergangenheit bemühtes Buch vonTatjana I. Horhordina, sehr bald nach der Öffnung der Archiveauf der Grundlage meist erstmalig zugänglicher Quellengeschrieben und bereits 1994 veröffentlicht, behandelt die sowjeti-sche Archivgeschichte von 1917 bis zum Beginn der 1980er Jahre,wenn auch – abweichend vom Titel – mit eindeutigem Schwer-punkt für die Zeit bis 1945.40 Besonders beachtet werden hier dieideologischen Aspekte und die daraus resultierende Einbindungder archivgeschichtlichen Vorgänge in den größeren Rahmen desSowjetsystems mit dessen verhängnisvollen partei- und sicher-heitspolitischen Einwirkungen auch auf alle Bereiche des Archiv-wesens. Gerade deshalb geriet das Buch sehr bald in die Kritik,die man – auf einen etwas vereinfachten Nenner gebracht – mitder Aussage umschreiben könnte, die Sowjetunion habe dochnicht nur dunkle und tragische Seiten gehabt.41 Wohl nichtzuletzt solcher Kritik wegen hat Horhordina ihre Publikation von1994 nicht fortgeführt, was zur Ergänzung der dort kaum behan-delten 1960er-1980er Jahre sehr interessant und nützlich gewesenwäre.Stattdessen erschien 2003 ein Buch der Verfasserin über die russi-sche Archivwissenschaft unter historischen, theoretischen und aufdie handelnden Personen bezogenen Aspekten.42 Geschildertwerden die Bemühungen um Archivreform und archivtheoretischeErkenntnisse von den empirischen Anfängen in der Zeit Petersdes Großen über die reformerischen Ideen und Bestrebungen des19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – N. V. Kalacov (1819-1885),D. Ja. Samokvasov (1843-1911) u. a. – bis zur Periode der „klassi-schen Archivwissenschaft“, wie Horhordina sie nennt, etwa 1910bis Anfang der 1920er Jahre. Den Hauptteil des Buches, die Hälftedes Gesamtumfangs, macht die letztgenannte Periode aus, die vonden theoretischen Arbeiten A. S. Lappo-Danilevskijs (1863-1919)und von den Gedanken und Aktivitäten der führenden Vertreterdes im März 1917 gegründeten und bis Anfang der 1920er Jahretätigen russischen Archivarsverbandes geprägt war. WesentlicheReformgedanken dieses Kreises prominenter Archivare und Histo-riker des „alten Regimes“ vereinnahmten die neuen Machthaber –vor allem im „Leninschen“ Archivdekret vom 1. Juni 1918 – alseigene Reformleistung. Die meisten der ideologisch nichtgenehmen Vordenker43 fielen der Vergessenheit anheim. IhreLebensleistungen wurden in der Sowjetzeit verschwiegen oderallenfalls am Rande erwähnt.Zu den hauptsächlichen Verdiensten des Buches gehört daher dasBemühen, die in Bezug auf diesen Personenkreis bis heute

vorhandenen „zahlreichen Lücken und weißen Flecken“ in denLehrmitteln der archivarischen Ausbildung zu beseitigen.44 Sosind allein in dem Kapitel „Klassische Archivwissenschaft“ Kurz-biografien – in einer häufig allerdings willkürlich erscheinendenReihung – von über 30 Personen enthalten (neben bekannten wieLappo-Danilevskij, S. F. Platonov, 1860-193345, A. E. Presnjakov,1870-1929, A. F. Izjumov, 1885-1951, B. I. Nikolaevskij, 1887-1966,auch bisher weitgehend unbekannte). Sie zeugen fast alle von denkurz- oder langfristigen schlimmen Folgen der 1922 von derzentralen Archivverwaltung unter Leitung der hohen Parteifunk-tionäre M. N. Pokrovskij (1868-1932) und V. V. Adoratskij (1878-1945) ausgegebenen Losung: „Schonungslos muss der Ballastabgeworfen werden, den wir als Erbe aus den Behördenarchivenund der ersten Tätigkeitsperiode der Archivverwaltung [bis 1920

17 Specialisty Rosarhiva – o Pravilah 2007 („Rosarchiv“-Fachleute über dieRichtlinien von 2007), in: O. A., 2007, 4, S. 3-6. – Vgl. auch: O vnedrenii novyhpravil (Über die Einführung der neuen Richtlinien), in: O. A., 2007, 6, S. 4.

18 Genannt seien hier nur die Berichte für 2005-2008, in: O. A., 2006, 2, S. 3-12;2007, 2, S. 3-12; 2008, 2, S. 3-9; 2009 2, S. 3-13.

19 Hermann Schreyer: Archivbericht Russland, 2000-2002, in: DArch, 57 (2004),2, S. 123 f.

20 O. A., 2007, 2, S. 3.21 Öffentliche Anhörung (wie Anm. 9), S. 3: Der Rosarchiv-Leiter, V. P. Kozlov,

erklärte bei der Anhörung 2006, seit 1996 seien die Probleme des Archivwe-sens auf einer Sitzung der überbehördlichen Kommission für Informationssi-cherheit des Sicherheitsrates der RF, bei drei parlamentaischen Anhörungenin der Duma, bei zwei Anhörungen im Föderationsrat der RF und auf drei Sit-zungen der Regierung dargelegt worden. Außerdem habe er in den letzten bei-den Jahren viermal im Kollegium des Kulturministeriums auf die Notwendig-keit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der materiell-techni-schen Ausstattung der Archive hingewiesen.

22 Ebd.23 Ebd., S. 4. – Vgl. auch V. P. Kozlov: O pricinah kraz dokumentov v federal'nyh

arhivah (Über die Gründe der Dokumenten-Diebstähle in den Bundesarchi-ven), in: O. A., 2006, 5, S. 82-84.

24 Öffentliche Anhörung (wie Anm. 9), S. 9.25 Ebd., S. 8 f.26 Wehner (wie Anm. 7).27 Kozlov (wie Anm. 14), S. 8.28 Zu den die Benutzung der russischen Archive erschwerenden Problemen der

Desekretierung vgl. auch: Schreyer (wie Anm. 19), S. 126 f.29 Vgl. hierzu Schreyer (wie Anm. 1), S. 235.30 Rukovoditel' Rosarhiva V. P. Kozlov – ob izmenenijah v oplate truda rabotni-

kov federal'nyh arhivov (Rosarchiv-Leiter V.P. Kozlov – über die Veränderun-gen beim Arbeitslohn der Mitarbeiter der Bundesarchive), in: O. A., 2007, 4,S. 10f.

31 Ebd., S. 12. – V.P. Kozlov: Itogi 2007 g. (Ergebnisse des Jahres 2007), in: O. A.,2008, 2. S. 4.

32 Kozlov (wie Anm. 14), S. 4. – Zum national und international stark beachtetenNeubau und Umzug des Russischen Historischen Staatsarchivs vgl. auchSchreyer (wie Anm. 1), S. 237.

33 Kozlov (wie Anm. 14), S. 3.34 Ebd., S. 13.35 Federal'noe arhivnoe agentstvo – k jubileju gosudarstvennoj arhivnoj sluzby

Rossii (Die Bundesarchivagentur – zum Jubiläum des staatlichen Archivdiens-tes Russlands), in: O. A., 2008, 4, S. 3-9.

36 Hermann Schreyer: Archivbericht Russland, 1998-1999, in: DArch, 54 (2001),2, S. 128 f.

37 Schreyer (wie Anm. 1), S. 239.38 M. V. Larin: VNIIDAD: Etapy razvitija i dejatel'nosti 1966-2006 (VNIIDAD:

Etappen der Entwicklung und Tätigkeit 1966-2006), in: O. A., 2006, 3, S. 41-53.

39 Kozlov (wie Anm. 15), S. 3.40 T. I. Horhordina: Istorija otecestva i arhivy 1917-1980 e gg. (Die Geschichte des

Vaterlandes und die Archive 1917-1980er Jahre), Moskau 1994, 357 S.41 Vgl. hierzu ausführlich Schreyer (wie Anm. 10), S. 5-8.42 T. I. Horhordina: Rossijskaja nauka ob arhivah. Istorija. Teorija. Ljudi (Russi-

sche Archivwissenschaft. Geschichte. Theorie. Personen), Moskau 2003, 525 S.43 Im Oktober 1917 formulierte Lappo-Danilevskij eine von ihm und anderen

Akademie-Mitgliedern unterschriebene Verurteilung der bolschewistischenRevolution: „Ein großes Unglück ereilte Russland: Unter dem Joch derGewalttäter, die die Macht an sich gerissen haben, verliert das russische Volksein Persönlichkeitsbewusstsein und seine Würde.“ Ebd., S. 256.

44 Ebd., S. 10.45 Vgl. einen bisher unveröffentlichten Artikel Platonovs von 1923 über die ersten

fünf Jahre des sowjetischen Archivwesens, jetzt publiziert in: Istoriceskij arhiv,2008, 3, S. 33-44.

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unter D. B. Rjazanov, 1870-1938, H. S.] übernommen haben.“46 Der„Ballast“ wurde abgeworfen: Die Betroffenen, wenn sie nichtJustizmorden zum Opfer fielen, wie z.B. Rjazanov, wurdenverbannt, zur Emigration gezwungen, verloren ihren Arbeitsplatz,gingen in die „innere Emigration“.Diese Biografien stehen sehr im Widerspruch zu der im Buchmehrfach betonten „Eigengesetzlichkeit“ der Archivwissenschaft,die den „inneren Entwicklungsgesetzen menschlichen Wissensunterworfen“ sei, also weniger von äußeren Einflüssen bestimmtwerde. Horhordina nennt es „unwissenschaftlich und sogar anti-wissenschaftlich, die Entstehung der modernen Archivwissen-schaft nur mit äußeren Faktoren in Verbindung zu bringen“, z. B.mit den Revolutionen von 1917 oder dem Archivdekret vom 1.Juni 1918. Diese Tendenz setze sich in der archivwissenschaftli-chen Literatur bis heute fort47 – mit Recht, wie man hinzufügendarf. Horhordina räumt zwar ein, es könnten „äußere Ereignisse[…] die innerhalb der Wissenschaft vor sich gehenden Prozessenatürlich wesentlich beschleunigen oder verlangsamen“48. SolcheFeststellungen werden jedoch der Rolle der äußeren Faktoren –gerade mit Blick auf die Sowjetzeit – nicht gerecht. So richtig esist, sich dagegen zu wehren, die Entstehung der Archivwissen-schaft nur von äußeren Faktoren abhängig zu machen, so falschwäre es, diese Faktoren zu sehr in den Hintergrund zu rücken, wiedas die Autorin häufig tut.Es heißt doch wohl, die tatsächlichen Gegebenheiten unzulässigzu verharmlosen, wollte man den in den 1920er Jahren begon-nenen und jahrzehntelang mehr oder weniger scharf bis zumEnde der Sowjetunion 1991 geführten Klassenkampf gegen dievorrevolutionäre, „bürgerliche“ Archivwissenschaft und derenVertreter lediglich als eine „Verlangsamung“ einer ansonsten„kontinuierlichen“ Entwicklung der Archivwissenschaft ansehen.Horhordina meint, nach dem Scheitern der bürgerlichen Archiv-reformer hätten „die Gesetze der Selbstentwicklung der Wissen-schaft fortgewirkt“; nur habe sich der Schwerpunkt der theoreti-schen Arbeiten dann auf „einzelne Enthusiasten des Archivwe-sens“ verlagert.49 Diese hätten die Traditionen der klassischenArchivwissenschaft nach der „Schmälerung des Kreises ihrerSchöpfer“ – eine sehr milde Umschreibung für Vertreibung undVernichtung – fortgeführt, wie z.B. I. L. Majakovskij (1878-1954).50

Gegen die Einheitsfront einer politisch geprägten Meinungsbil-dung sind aber die „einzelnen Enthusiasten“ nicht angekommen,schon deswegen nicht, weil die Möglichkeit der freien und öffent-lichen Diskussion, einer wesentlichen Bedingung für den Fort-schritt des wissenschaftlichen Denkens, fehlte.Wenn es aber in der Sowjetzeit zu vorübergehenden und geringfü-gigen Erinnerungen an die bürgerliche Archivtradition kam, dannwaren es die „äußeren“ Faktoren der politischen Zweckmäßigkeit,die dies zuließen; z.B. 1943, als Stalin zur Mobilisierung allerBevölkerungsschichten im Krieg ideologische Zugeständnissemachte51, oder in der kurzen „Tauwetterperiode“ unterChruschtschow. Und schließlich: Erst die umwälzenden Ereig-nisse seit 1991 und der Perestrojka-Jahre davor, also wiederumäußere Faktoren, haben es möglich gemacht, die lange nicht oder

kaum noch betriebenen archivgeschichtlichen Forschungen ohneideologische Scheuklappen in der Breite zu betreiben, wie dasheute geschieht.Der „Eigenentwicklung“ der Wissenschaft waren und sind engeGrenzen gesetzt. Wenn die Autorin dennoch an ihrer Konzeptionder relativen Unabhängigkeit der archivwissenschaftlichenEntwicklung festhält, dann führt dies – gewollt oder ungewollt –sozusagen zur Neutralisierung der archivgeschichtlichen Ereig-nisse, die dem gegenwärtigen Trend der russischen Geschichtsbe-trachtung entspricht. Mit diesem Ansatz werden aber die bisMitte der 1990er Jahre laufenden Bemühungen um die kritischeBewältigung der sowjetischen Vergangenheit leider nicht oder nurin sehr kleinen und vorsichtigen Schritten fortgesetzt.Von einem gewissen diesbezüglichen Stillstand zeugt auch eineweitere von E. V. Starostin und T. I. Horhordina gemeinsam 2007veröffentlichte Publikation über den Einfluss der FranzösischenRevolution 1789 (Starostin) und der Revolutionen in Russland1917 (Horhordina) auf das Archivwesen der beiden Länder.52 Hierinteressiert nur der auf Russland bezogene Teilbeitrag. Dieserbeschränkt sich auf die fast wörtliche Übernahme des umfangrei-chen ersten, die Jahre 1917 bis 1920 behandelnden Kapitels derArchivgeschichte Horhordinas von 1994.53 Ergänzt wurden ledig-lich einige Seiten über den für die Archivreform-Bestrebungen inRussland vor 1917 wichtigen ersten Kongress der GelehrtenGouvernementarchivkommissionen, 6. 8. Mai 191454, und einkleiner Abschnitt zur Textkritik des „Leninschen“ Archivdekretsvon 1918, der die Einflussnahme der Behörden auf Festlegungendes Dekrets nachweist.55 Es fehlt jede über das Jahr 1920 hinaus-gehende Schilderung und Erläuterung der langfristigen gravie-renden Revolutionsfolgen. Auch vermisst man die Einarbeitungder seit 1994 bis 2006/2007 erzielten einschlägigen Forschungser-gebnisse. Es bleibt zu hoffen, dass die erkennbare Zurückhaltungbei der archivgeschichtlichen Darstellung vor allem der Zeit ab1945 bald aufgegeben wird.

Hermann Schreyer, Potsdam

46 Horhordina (wie Anm. 42), S. 339.47 Ebd., S. 249.48 Ebd., S. 250.49 Ebd., S. 452.50 Ebd., S. 478 und Anm. 456. Majakovskij veröffentlichte u. a. einen größeren

Aufsatz über N. V. Kalacov (1819-1885), in: „Trudy“ des Moskauer Histori-schen und Archivinstituts, Bd. 4, Moskau 1948, S. 161-177.

51 Diesen politischen Zusammenhang scheint die Autorin bei ihrer ausführli-chen Behandlung der Konferenz zum 25. Jahrestag des sowjetischen Archivwe-sens, 1.-3. Juni 1943 (S. 57-68), bei der auch die Verdienste einiger bürgerlicherArchivreformer zur Sprache kamen, nicht zu sehen. – Vgl. auch Schreyer (wieAnm. 10), S. 141-145.

52 E. V. Starostin / T. I. Horhordina: Arhivy i revoljucija (Archive und Revolu-tion), Moskau 2007, 178 S.

53 Horhordina (wie Anm. 40), S. 6-89.54 Starostin / Horhordina (wie Anm. 52), S. 54-57.55 Ebd., S. 111-114. – Vgl. auch V.D. Banasjukevic / E.V. Starostin: Gljadja in medias

res dekreta ob arhivnom dele 1918 g. (In den Kern des Archivdekrets von 1918gesehen), in: Otecestvennye arhivy, 2008, 2, S. 21-25. – Zum Archivdekret vgl.auch Schreyer (wie Anm. 10), S. 40-44.

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DAS ARCHIVWESENWEIßRUSSLANDS

VORAUSSETZUNGEN

Weißrussland als eigenständiger StaatDas Archivwesen Weißrusslands und die Bestände in dendortigen Archiven sind stark von der vergleichsweise kurzenEigenständigkeit des Gebietes geprägt. Da bislang noch keinausführlicher Bericht über das weißrussische Archivwesen exis-tiert,1 wird an dieser Stelle in aller Kürze auf die Genese desStaates eingegangen, um diese Zusammenhänge zu verdeutli-chen.2 Die Republik Weißrussland, im Weißrussischen Belarus',im Russischen Belorus', ist ein sehr junger Staat, der erst seit 20Jahren besteht und auf einer Fläche von gut 200.000 km2 knappzehn Millionen Einwohner zählt. Die Ursprünge liegen inden mittelalterlichen Fürstentümern von Polock, Turau-Pinskund Smolensk, die im 13. Jahrhundert zu Litauen kamen, daswiederum ab dem 15. Jahrhundert in Union mit dem König-reich Polen verbunden war, und seit den polnischenTeilungen des späten 18. Jahrhunderts zum Kaiserreich Russ-land gehörte. Die Unabhängigkeitsbestrebungen im Zuge derNationalbewegungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundertführten zu einer sehr kurzen Phase der Unabhängigkeitzwischen der Proklamation der Weißrussischen Volksrepu-blik im März 1918 und der Errichtung der WeißrussischenSowjetrepublik am 1. 1. 1919. Letztere war 1922 Gründungs-mitglied der UdSSR, der sie nominell bis zu deren Auflösung1991 angehörte, auch wenn die Unabhängigkeitserklärungbereits im August 1990 erfolgte. Auch danach blieb dasnunmehr selbständige Weißrussland innerhalb der Gemein-schaft Unabhängiger Staaten eng mit früheren Sowjetrepu-bliken und insbesondere mit Russland verbunden. Die Zeitder Eigenständigkeit seit 1991 ist weitgehend vom autoritärenFührungsstil des 1994 gewählten Präsidenten Alexander G.Lukaschenka geprägt, der sich erst seit 2008 stärker in Rich-tung Westeuropa orientiert. Für das Archivwesen bedeutendie historischen Voraussetzungen, dass sich viele derzentralen Quellen nun im Ausland (Russland, Polen, Litauenusw.) befinden. Ein gezielter Bestandsaufbau mit Kopien derwichtigsten Dokumente zur Geschichte Weißrusslands ausdem Ausland, die die eigenen Bestände ergänzen, soll hierAbhilfe schaffen.3

RechtsgrundlagenMit der Unabhängigkeit hat sich auch ein eigenes ArchivrechtWeißrusslands ausgebildet. Grundlegend dafür ist das Archivge-setz vom 6. Oktober 1994 „Über den Nationalen Archivbestandund die Archive in Weißrussland“ (O Nacional'nom ArchivnomFonde i archivach v Respublike Belarus') in der Fassung vom 6.Januar 19994 sowie die „Verordnung über den Nationalen Archiv-fond“ (Poloz

enie o Nacional'nom archivnom fonde) vom 20.September 1996. Darin sind u. a. die Abgabefristen für Unterlagenvon Behördenseite festgelegt. Sie betragen, gestaffelt nach Art der

Unterlagen, 75 Jahre für Personalakten, Zivilstands- und Notari-atsunterlagen, 30 Jahre für Unterlagen solcher Organe, die mitauswärtigen Angelegenheiten, der Innenpolitik, der Staatssicher-heit und der Sicherheit allgemein befasst sind, maximal 25 Jahrefür die wissenschaftlich-technische Dokumentation, zehn Jahrefür Unterlagen der Gebietsverwaltungen (oblast'), fünf Jahre fürStadt- und Rayon-Verwaltungen, drei Jahre für Filme, Filmzeit-schriften, Fotographien, Ton- und Videoaufzeichnungen sowieelektronische Unterlagen und 15 Jahre für die meisten anderenUnterlagen.5

Die Sperrfristen halten sich im Rahmen des international übli-chen Umfangs. Sie betragen in der Regel 30 Jahre. Längere Fristensind – ebenfalls wie üblich – für Unterlagen vorgesehen, dieStaats- und Dienstgeheimnisse enthalten sowie für personenbezo-gene Unterlagen.6 Diese Fristen werden in den einzelnen post-kommunistischen Staaten sehr unterschiedlich ausgelegt und inder Praxis durch ausgesprochene und unausgesprochene Tabu-themen ausgehebelt. Zu diesen Themen gehören meist die politi-schen Verfolgungen und Repressalien, Oppositionsbewegungenund -aktivitäten, der Zweite Weltkrieg, die Geschichte derKommunistischen Parteien und der Inlandsgeheimdienste, dasMilitär und zum Teil auch die Auswärtige Politik.7

ORGANISATION UND ZUSTÄNDIGKEITENDas Archivwesen Weißrusslands ist stark staatlich bestimmt undzentralisiert. Die staatlichen Archive sind der Zentralverwaltungder Archivdienste unterstellt, die für das Archivwesen und dasRecords Management zuständig ist.8 Die Einrichtung nennt sich

1 Ein Beitrag zu Weißrussland fehlt auch in der neuesten Veröffentlichung zuden Archiven der ehemaligen sozialistischen Länder Osteuropas: SoniaCombe: Archives et histoire dans les sociétés postcommunistes. Paris 2009.Auch Sergej Vladimirovic Z

umar': Vedomstvennye archivy i otraslevye fondyRespubliki Belarus'.Minsk 2005, S. 4, moniert das Desinteresse für die Ent-wicklung der weißrussischen Archivlandschaft. Dazu passt, dass seine kurzeÜbersicht von 152 Seiten in einer Kleinstauflage von lediglich 100 Exemplarenerschien (ebd., S. 151).

2 Vgl. zur weißrussischen Geschichte folgende Übersichten: Silitski, Vitali/Zaprudnik, Jan (Hg.): Historical Dictionary of Belarus. Lanham 22007; Bey-rau, Dietrich/Lindner, Rainer (Hg.): Handbuch der Geschichte Weißrußlands.Göttingen 2001; Zaprudnik, Jan: Belarus. At a Crossroads in History. Boulder/San Francisco/Oxford 1993; Vakar, Nicholas P.: Belorussia. The Making of aNation. A Case Study. Cambridge, Mass. 1956; kurz: Rainer Lindner: Weiß-rußland (Belarus'), in: Thomas M. Bohn/Dietmar Neutatz (Hg.): Studien-handbuch Östliches Europa. Bd. 2. Köln/Weimar/Wien 2002, 336-342.

3 Vgl. unten, S. 7.4 Organizacija dejatel'nosti archiva i rabota s archivnymi dokumentami,

http://www.archives.gov.by. Vgl. auch Z

umar', Vedomstvennye Archivy, S. 5.5 Poloz

enie o National'nom archivnom fonde Respubliki Belarus', Art. 6,http://www.archives.gov.by.

6 Bohn, Rätsel, S. 197. Dieser nach: M.F. Šumejko/K.I. Kozak/V.D. Selemenov:Archivovedenie Belarusi. Teil 1: Istorija i organizacija archivnogo dela. Teil 2:Teorija i metodika archovnogo dela. Minsk 1998.

7 Vgl. zu Tabuthemen auch Combe, Archives, S. 27.8 Organy i ucrez

denija Gosudarstvennoj archivnoj sluzby, http://www.archi-ves.gov.by.

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„Weißrussisches wissenschaftliches Forschungsinstitut fürSchriftgutverwaltung und Archivwesen“ (Belorusskij naucno-issle-dovatel'skij institut dokumentovedenija i archivnogo dela,BelNIDAD), worin sich ihre Ausrichtung u. a. auf die Entwick-lung von Fachstandards niederschlägt. Sie untersteht dem Justiz-ministerium und sieht sich in der Nachfolge des im Juni 1922gegründeten und dem Volkskommissariat für Bildung zugeord-neten Zentralarchivs der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetre-publik. Als ihre Hauptaufgaben sieht die Behörde neben derAufbewahrung, Erhaltung, Aufbereitung und Bereitstellung auchdie Behördenberatung auf Republikebene, die Kontrolle über dieheraldischen Symbole der Republik, die Ausbildung, die Organi-sation von Fortbildungsveranstaltungen, die Forschung imBereich Archivwesen und Records Management, die Herausgabearchivfachlicher Publikationen,9 die Vermittlung und Umsetzungder Forschungsergebnisse in der Zusammenarbeit mit denBehörden sowie die internationale Kooperation.Daneben besteht ein weiteres Koordinierungsorgan, das fürwissenschaftlich-methodische Fragen und als Zentralstelle fürVeröffentlichungen zuständig ist: Die dem Ministerrat unterstellte

Archäographische Kommission (Archeograficeskaja komissijaKomiteta po archivym i deloproizvodstvu pri Sovete MinistrovRespubliki Belarus'). Sie setzt sich aus 56 Vertretern der Archivein-richtungen, wissenschaftlichen Forschungsinstitutionen, Hoch-schulen, Museen, Bibliotheken und gesellschaftlichen Organisa-tionen zusammen.10

Das Archivwesen gliedert sich nach geographischer Reichweiteund Zuständigkeit in Republik-, Gebiets- (oblast') und lokaleArchive (Stadt, Rayon).11 Auf Republikebene sind als wichtigsteArchive zu nennen: das Nationale Historische Archiv Weißruss-lands (Nacional'nyj istoriceskij archiv Belarusi, NIAB) in Minsk,das die Bestände vom 14. bis zum Beginn des 20. Jahrhundertsumfasst. Dazu gehört eine Außenstelle in Grodno, die die Über-lieferung vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert betreut, miteinem regionalen Schwerpunkt auf der Region Grodno. Für dieneueren Bestände seit etwa 1920 ist das Nationalarchiv Weißruss-lands (Nacional'nyj Archiv Respubliki Belarus', NARB), ebenfallsin Minsk, zuständig. Die nationale Film-, Foto- und Audio-Über-lieferung ist in einer eigenen Institution zusammengefasst, ebensodie Wissenschafts- und Technikdokumentation. Unterhalb der

Ansicht des Nationalarchivs auf der Archivhomepage (www.archives.gov.by)

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Republikebene bestehen neben dem Archiv der Stadt Minsk dieArchive der Regionen von Brest, Gomel', Grodno, Minsk, Mogilevund Vitebsk.Auf der zentralstaatlichen und zum Teil auf Gebietsebene exis-tierten lange Zeit Parallelbestände für besondere Institutionen wiedie Kommunistische Partei, das Innen- und das Verteidigungsmi-nisterium, das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten unddas Komitee für Staatssicherheit (KGB) sowie die Bestände derAkademie der Wissenschaften, diejenigen für Kartographie undGeodäsie sowie für Geologie, der „Nationalfond für Normen“(Nacional'nyj fond standartov), die Archive der Standesämter unddie „Nationale Kammer für Druckerzeugnisse“ (ArchivNational'noj kniznoj palaty).12 Diese sind mit den grundlegendenArchivgesetzen und -verordnungen von 1994 und 1996 komplettin den sogenannten „Nationalbestand“ (Nacional'nyj archivnyjfond, NAF) eingegliedert, einem virtuellen Metabestand nationalbedeutender Archivbestände.13 Einige von ihnen, insbesonderedie Militär-, die Geheimdienst- und die Personenstandsunter-lagen, unterliegen strikten Nutzungsbeschränkungen.Der Umfang dieser für die Politik-, Rechts-, Militär-, Wissen-schafts-, Sozial- und Kulturgeschichte, aber auch für juristischeBelange wie Rehabilitierungsverfahren zentralen Bestände istbeträchtlich. Allein aus dem Verteidigungsministerium stammenknapp 300.000 Archivalieneinheiten (AE) in 4.648 Beständen, vondenen etwa zwei Drittel deklassifiziert, das heißt für die Nutzungzugänglich sind.14 Die 68 Bestände des Innenministeriums mitmehr als 35.000 AE belegen etwa einen laufenden Regalkilo-meter.15 Die Bestände des Innenministeriums, mehr aber noch diedes KGB, deren Umfang auf etwa 175.000 AE geschätzt wird,16

werden intensiv für Verfahren zur Rehabilitierung politischVerfolgter während der Sowjetperiode genutzt. Innerhalb derersten acht Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR(1991–1999) sind allein in Weißrussland mehr als 51.000 Opferrehabilitiert worden (bei über 12.000 abgelehnten Anträgen),wobei sich die Zahl der Anfragen mit Bitten um Auskünfte aufjährlich 5.000 erhöht hat.Noch immer greifen allerdings bei dieser Provenienz besondereGeheimhaltungsvorschriften. So dürfen Archivmitarbeiter dieMagazine nie allein, sondern nur zu zweit betreten. Diese Rege-lung soll offenbar eine gegenseitige Kontrolle gewährleisten, umzu verhindern, dass Akten verschwinden oder manipuliertwerden. Der Vorschlag, deklassifizierte KGB-Akten zumBelNIDAD zu überführen, um ihre Nutzung zu vereinfachen,wurde nicht umgesetzt. Zumar' moniert hier ungewöhnlich deut-lich die Defizite der weißrussischen Archivverwaltung. Er siehtdie Nutzungsmöglichkeiten der Unterlagen durch die ineffizienteArbeit der für das Archivwesen zuständigen Organe eklatanteingeschränkt.Vergleichsweise bessere Arbeitsbedingungen bieten sich für Unter-lagen des Außenministeriums in einem eigenen Archiv, das Mitteder 1990er Jahre eingerichtet wurde.17 Dessen rund 10.000 AEsind auch deswegen interessant, weil die Weißrussische Sowjetre-publik (BSSR) Mitglied in internationalen Organisationen wie derUNO und der UNESCO war. Den wichtigsten Ausgangspunkt fürdie Wissenschaftsgeschichte stellt das Archiv der Akademie derWissenschaften dar, welches sich in die Zentralorganisation mitgut 47.000 AE und einige Subinstitutionen etwa für Geschichte,Kunstgeschichte, Literatur, Ethnographie u. a. gliedert.18 Zudemstehen Druckerzeugnisse im Umfang von 3,5 Millionen Printein-heiten bereit (Stand 2003), darunter Bücher, Broschüren, Peri-odika, Karten und technische Anleitungen.19

Im Gegensatz zu den meisten zentralen Archiven sind die insge-samt rund 100.000 Personenstandsunterlagen der Standesämternicht frei zugänglich.20 Die aus den Taufregistern (metriceskieknigi) entstandenen Überlieferungen in Erst- und Zweitausferti-gungen werden beide aufbewahrt und nicht mehr, wie zuweilenüblich, in bloß einem Exemplar archiviert.21

BEWAHREN UND ERHALTEN, ELEKTRO-NISCHE ÜBERLIEFERUNGAls weitere zentrale Institutionen auf Republikebene bestehenzwei technische Zentren (laboratorii): das Technische Zentrum fürSicherungsmikroverfilmung dauerhaft aufzubewahrender Unter-lagen und das Zentrum für Kopien auf Mikroformen und für dieRestaurierung der Bestände der weißrussischen Nationalarchive.Für den Bereich der elektronischen Überlieferung wurde aufBeschluss des Ministerrates von 1998 eine zentrale Behörde einge-richtet: das wissenschaftliche Forschungszentrum für elektroni-sche Dokumentation (Belorusskij naucno-issledovatel'skij centre.lektronnoj dokumentacii). Die Institution arbeitet mehrgleisig, dasheißt sie kümmert sich sowohl um digitale Unterlagen wie auchdarum, die technischen Voraussetzungen für die Archivierung inForm von entsprechenden Programmentwicklungen zu schaffen.So hat sich das Forschungszentrum unter anderem auf die Fahnengeschrieben, wissenschaftliche Bewertungskriterien und Techno-logien zu entwickeln, um einen besseren Zugang zu konventio-nellen Unterlagen zu gewährleisten. Zudem kümmert es sich umOnline-Editionen, den Erwerb digitaler Kopien von Dokumentenzur Geschichte Weißrusslands, die im Ausland lagern (in diesemFall insbesondere in den Archiven der Staaten, zu denen dasGebiet im Laufe seiner Geschichte gehörte), die Entwicklung vonSoftware für die Automatisierung grundlegender Archivierungs-prozesse und die Pflege der zentralen Webressource für das weiß-russische Archivnetzwerk (www.archives.gov.by). Die Behördepubliziert Empfehlungen für den Umgang mit elektronischerÜberlieferung sowie Software-Module zur Bewertung und Erhal-tung, zur Verzeichnung allgemein und von Nachlässen im Beson-deren. Darüber hinaus veröffentlicht sie elektronische Inventareund Datenbanken zu Themen wie „Rehabilitationen“, „Internie-rungsorte“, „Register der Staatsheraldik“, zum UNESCO-Kultur-erbe in Weißrussland22 und historische Karten der heutigenRegionen Weißrusslands. Sie trägt außerdem zum 2003 gestar-

9 Dazu gehört auch die Veröffentlichung von Übersichten zum Archivwesen wiedas Buch von Z

umar', Vedomstvennye Archivy.10 Archeografija, http://www.archives.gov.by.11 Die Internetseiten der einzelnen Archive sind über die zentrale Adresse

http://www.archives.gov.by leicht erreichbar. Sie sind vorwiegend in Russischgehalten.

12 Vgl. zur Geschichte dieser Sonderarchive Z

umar', Vedomstvennye Archivy,passim.

13 Ebd., S. 5.14 Ebd. Die Mengenangaben sind häufig Näherungswerte. Sie beziehen sich auf

den Stand der Jahre 2001 bzw. 2002.15 Ebd., S. 29-30.16 Zu den KGB-Unterlagen vgl. Ebd., S. 32-45, insbesondere S. 40-42.17 Ebd. S. 51.18 Ebd., S. 52-85, für den Umfang: 60.19 Ebd., S. 148.20 Ebd., S. 126-143, besonders 140-141.21 Ebd., S. 137.22 Vgl. unten, S. 9.

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teten Programm „Elektronisches Weißrussland“ bei, das zunächstbis 2010 läuft.23

NUTZUNGFür die Archivnutzung ist ein Empfehlungsschreiben einer offi-ziellen Institution, etwa einer wissenschaftlichen Einrichtung,notwendig, das möglichst auf Russisch oder Weißrussisch abge-fasst sein sollte; manche Archive akzeptieren auch englischspra-chige Schreiben. Bei den Bestellungen werden Archivnutzer, dievon weither anreisen, nicht selten bei den Aushebungen schnellerbedient. Eigene Computer dürfen in der Regel mitgebracht undgenutzt werden – keineswegs eine Selbstverständlichkeit in denehemaligen Sowjetrepubliken. Problematischer ist es, Reproduk-tionen zu erhalten. Selbst Archivalien aus der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts unterliegen zum Teil Reproduktionsbeschrän-kungen, nicht etwa aus konservatorischen, sondern aus Gründender staatlichen Sicherheit.Da die Personal- und Lesesaal-Kapazitäten zum Teil sehr begrenztsind, kommt es gerade in den zentralen Archiven NIAB undNARB bisweilen zu Engpässen bei der Vorlage von Archivalien.Daher empfiehlt es sich, den eigenen Besuch rechtzeitig,möglichst einige Wochen vorher, anzumelden. Die Öffnungs-zeiten sind gerade bei den zentralen Archiven generell großzügigbemessen. Der Lesesaal des NIAB etwa ist an fünf Tagen dieWoche geöffnet, davon an vieren elf Stunden lang (9-20 Uhr),samstags von 9-15 Uhr, mit Freitag als Ruhetag. Die zentralenArchive in Minsk sind gut an die öffentlichen Verkehrsmittelangebunden.Die üblichen Dienste wie die Nutzung der öffentlichen Archivesowie Auskünfte rechtlicher Art (insbesondere im Zusammen-hang mit Renten- und sonstigen Ansprüchen) sind kostenfrei.Daneben werden gegen Gebühr u. a. Beratungen zur Archivpflegeund genealogische Forschungen angeboten.

AUSBILDUNG UND INTERNATIONALEKONTAKTEWie schon in der Sowjetunion und auch in Russland üblich,werden Archivare an den historischen Fakultäten der Universi-täten in Minsk ausgebildet. In Weißrussland erfolgt die Ausbil-dung als Studiengang am 1992 gegründeten Fachbereich Archiv-wissenschaften der Historischen Fakultät der Staatlichen Univer-sität Weißrusslands.24

Seit Beginn des Studienjahres 2001/02 ist die Ausbildung mehr-stufig organisiert: Der Bachelor kann in vier Jahren erworbenwerden, nach fünf Jahren der sogenannte „Professional level“,nach sechs Jahren der „Master level“. Zusätzlich wird ein Aufbau-studiengang von drei Jahren Vollzeit- oder vier Jahren Teilzeitstu-dium angeboten. Dieser kann entweder an der Staatlichen Univer-sität in Minsk oder am Forschungsinstitut für Records Manage-ment und Archivstudien absolviert werden. Die Studienplätzesind begrenzt, wenn auch vergleichsweise zahlreich. Dabei domi-nieren die Dokumentare deutlich gegenüber den Archivaren.Während für erstere insgesamt 164 Studienplätze zur Verfügungstehen, sind es für Historiker-Archivare mit 70 Plätzen weniger alsdie Hälfte. Eine weitere Unterscheidung ergibt sich nach kosten-losen und kostenpflichtigen Plätzen in beiden Studiengängen, diein einem Verhältnis von etwa 1:2 stehen.

Die Curricula von Historiker-Archivaren und Dokumentarenunterscheiden sich deutlich in der zeitlichen Ausrichtung (histo-risch bzw. auf aktuelle Prozesse von Unterlagenproduktion ausge-richtet) und im Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen.Während bei ersteren der Schwerpunkt auf klassischen histori-schen und hilfswissenschaftlichen Fächern liegt und Latein einenstarken Anteil hat, werden Dokumentare vorwiegend im BereichRecords Management ausgebildet und konzentrieren sich auf dasEnglische. Ein großer Teil ihrer Ausbildung ist der Informations-technologie gewidmet.Kooperationen mit dem Ausland und ein intensiverer Austauschbestehen vor allem mit ehemaligen Sowjetrepubliken wie Russ-land und der Ukraine, mit deren Archivvertretern jährlicheTreffen stattfinden, sowie mit Kasachstan.25 Zudem hat sichWeißrussland im Verbund mit Nachbarstaaten und weiterenLändern der Region erfolgreich um die internationale Anerken-nung bedeutender Bestände bemüht. So wurden erst im August2009 das Familienarchiv Radziwiłł und die Bibliothekssammlungvon Nesviz, an denen neben Weißrussland auch Russland,Litauen, Polen, die Ukraine und Finnland Anteil haben, in dieListe des UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.26

PUBLIKATIONENDie Spannbreite der Veröffentlichungen während der letzen 20Jahre reicht von archivübergreifenden Nachschlagewerken undInventaren bis hin zu speziellen Handbüchern zu einzelnenArchiven und Beständen. Dabei handelt es sich fast ausschließlichum Publikationen auf Russisch und Weißrussisch. Inventarebestehen neben den oben genannten Themen zu folgenden Berei-chen: Zweiter Weltkrieg,27 Kultur (insbesondere Architektur)sowie zu einzelnen Persönlichkeiten.28 Dabei dominieren zumTeil solche Themen, die häufig aus dem Ausland nachgefragtwerden wie die jüdische Geschichte und Genealogie. Hierverweist die Homepage auf ausländische Seiten wie„www.rtrfoundation.org“ und „www.jewishgen.org/Belarus“.Die Anzahl der archivfachlichen Periodika ist sehr überschaubar.Seit 1999 erscheint eine eigene Zeitschrift für das weißrussischeArchivwesen in weißrussischer und russischer Sprache. Entspre-chend ist der Titel zweisprachig gehalten: Archivy i spravavodstva/Archivy i deloproizvodstvo (Archive und Schriftgutproduktion).Der Chefredakteur S. Asinouski stellt die Zeitschrift in der erstenAusgabe als Fachorgan für Archivare, Schriftleiter, Sekretäre usw.vor.29 Die sechs Hefte jährlich behandeln Themen aus denArchiv- und Geschichts- sowie den Hilfswissenschaften. Bei denhistorischen Themen liegt ein Schwerpunkt auf der weißrussi-schen Geschichte. Letztere umfasst nicht nur die kurze Geschichtedes unabhängigen Staates, sondern die des heutigen Territoriumsim Wandel der Zeit. Zusätzlich veröffentlicht die Zeitschriftausgewählte Dokumente. Außerdem erscheint jährlich das vonder Archäographischen Kommission herausgegebene Weißrussi-sche Archäographische Jahrbuch (Belaruski archeagraficnystogodnik).Eine Übersicht über Persönlichkeiten des Archivwesens bietet dasin weißrussischer Sprache gehaltene biographische Lexikon„Archivare Weißrusslands“ (Archivisty Belarusi. Minsk 2006),dessen Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert liegt.Seit der Unabhängigkeit Weißrusslands sind viele Nachschlage-werke erschienen, zuerst übergreifende, in den letzten Jahrenzunehmend auch thematische Spezialhandbücher zur Kommunis-

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tischen Partei und ihren Organen, zur orthodoxen Kirche, zumJudentum sowie zum Zweiten Weltkrieg:

Archivübergreifende NachschlagewerkeAllgemein: Archivnye dokumenty Respubliki Belarus' –sokrovis cnica social'noj pamjati gosudarstva: spravocnik. Zusam-mengestellt von T. I. Sedljarevic. Minsk 2005; GosudarstevennyeArchivy Respubliki Belarus' (1944-1997). Kratkij spravocnik.Minsk 2000; Naucno-spravocnyj apparat gosudarstvennycharchivov Respubliki Belarus'. Spravocnik. Minsk 2007;Rasskre.canyja archivy: Dakumenty dzjarzaunych archivau Respu-bliki Belarus', jakija peravedzeny in adkrytae zachouvanne:Davednik. Bd. 1. Minsk 1993.

Speziell: Zur Kommunistischen Partei: Fondy byvsich archivovKommunisticeskoj partii Belorussii: Kratkij spravocnik. 2 Bde.Minsk 1997-1998; zur Kirche: Dokumenty po istorii pravoslavnojcerkvi na Belarusi XVIII-XX vv. v fondach gosudarstvennycharchivov Respubliki Belarusy: Mezarchivnyj spravocnik. Minsk2003; Archiu unijacikich mitrapalitau. Dakumenty da gistoryice.rkvy u Belarusi XV-XIX st. u fondze „Kancyljaryja mitrapalitagre.ka-unijackich ce.rkvau u Rasii“. Davednik. Minsk/Polack 1999;zum Judentum: Dokumenty po istorii i kul'ture evreev v archivachBelarusi. Putevoditel'. Minsk 2003.

Archivspezifische NachschlagewerkeNeben den archivübergreifenden Nachschlagewerken sind auchetliche zu speziellen Themen und Regionen erschienen: ZumZentralkomitee der Kommunistischen Partei: Central'nyj komitetKommunisticeskoj partii (bol'sevikov) Belarusi. 1918-1941 gg.Fond 4p. Opis' 1. Minsk 2007; Die Beständeübersichten zum histo-rischen Archiv (NIAB): Fondy Nacional'nogo istoriceskogo archivaBelarusi: spravocnik. Minsk 2006; zum Filmarchiv: Belorusskijgosudarstvennyj archiv kinofotofonodokumentov. Spravocnik.Teil 1: Kinodokumenty. Molodecno 2002; zur wissenschaftlich-technischen Überlieferung: Belorusskij gosudarstvennyj archivnaucno-techniceskoj dokumentacii. Putevoditel'. Minsk 1998;zum Gebiet Grodno: Gosudarstennyj archiv Grodnenskoj oblasti.Putevoditel' (1919-2000). Grodno 2007; zum Grodnoer Archiv fürgesellschaftliche Organisationen: Putevoditel' po fondam Gosu-darstvennogo archiva obscestvennych ob-edinenij Grodnenskojoblasti. Grodno 2007.

RESÜMEEDas Archivwesen Weißrusslands ist vergleichsweise jung, starkstaatlich dominiert und zentralisiert. Bedeutende Bestände zurGeschichte seines heutigen Staatsgebietes liegen historischbedingt in Litauen, Polen und Russland. Auch aus diesem Grundwerden doppelt so viele Dokumentare wie Historiker-Archivareausgebildet. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Records Mana-gement und der elektronischen Überlieferung.

Die rechtlichen Bestimmungen zu Abgabefristen der Behördenund Nutzungsbedingungen entsprechen im Wesentlichen deninternational üblichen Standards mit einigen für die post-sozialis-tischen Staaten typischen Besonderheiten. Für die wissenschaft-liche Nutzung der im Ausland noch wenig bekannten Beständesind die Voraussetzungen nicht schlecht. Es empfiehlt sich jedocheine frühzeitige Anmeldung bei den Archiven. Hilfreich bei derRecherche sind die einschlägigen Publikationen, die – wie diemeisten neuzeitlichen Bestände selbst – vorwiegend auf Russischverfasst sind. Für Interessierte, die des Russischen und Weißrussi-schen nicht mächtig sind, bieten immerhin die einschlägigenenglischsprachigen Internetseiten einen ersten Überblick.

QUELLEN UND LITERATURSergej Vladimirovic Zumar': Vedomstvennye archivy i otraslevyefondy Respubliki Belarus'. Minsk 2005 [Verwaltungsarchive undZweigbestände der Republik Weißrussland]; die zentrale Home-page: http://archives.gov.by (russisch, zum Teil übersetzt insEnglische); die seit 1999 erscheinende Zeitschrift für das weißrus-sische Archivwesen Archivy i spravavodstva/Archivy i deloproiz-vodstvo ([Archive und Schriftgutproduktion] in weißrussischerund russischer Sprache); Thomas Bohn: Das Rätsel der „Sozialis-tischen Stadt“. Archivarbeit in der Republik Belarus', in: StefanCreuzberger/Rainer Lindner (Hg.): Russische Archive undGeschichtswissenschaft. Rechtsgrundlagen, Arbeitsbedingungen,Forschungsperspektiven. Frankfurt u. a. 2003, 195-203; Archivnyedokumenty Respubliki Belarus': Spravocnik. Minsk 2005; Archi-visty Belarusi [Archivare Weißrusslands]. Minsk 2006.

Ragna Boden, Düsseldorf

23 Dokumentacionnoe obespecenie upravlenija: Tipovye proektnye resenijaavtomatizirovannoj sistemy dokumentoobborota dlja gosudarstvennychorganov, http://www.archives.gov.by.

24 Obrazovanie, http://www.archives.gov.by.25 Ob-javlenija/Archival News vom 15. 9. 2009 bzw. vom 15. 6. 2009,

http://www.archives.gov.by.26 Ob-javlenija/Archival News vom 28. 8. 2009, http://www.archives.gov.by.27 Spravocnik priurocen k znametalel'noj date – 60-letiju Pobedy v Velikoj Oteè-

estvennoj vojne 1941-1945gg. Minsk 2005.28 Tematiceskie razrabotki archivnych dokumentov, http://www.archives.gov.by.29 Svjataslau Asinocski: Slova da èytaèa, in: Archivy i spravavodstva/Archivy i

deloproizvodstvo 1/1999, S. 4-6.

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„WAS HAT DER MENSCH DEMMENSCHEN GRÖSSERES ZUGEBEN ALS WAHRHEIT?“ZUR GRÜNDUNG DESREICHSARCHIVS VOR 90 JAHRENIN POTSDAM

Die Einrichtung eines deutschen Nationalarchivs als nachgeord-nete Behörde des Reichsministeriums des Innern in Potsdam aufdem Brauhausberg war bis 1919 ohne Vorbild. Das DeutscheReich verfügte zu keinem Zeitpunkt seit Karl dem Großen überein zentrales Staatsarchiv. Die deutschen Könige hatten, wennüberhaupt, ihre Urkundenarchive als Stammesherzöge bzw.Landesherren, die heute in den Staatsarchiven der Länder überlie-fert sind. Das Heilige Römische Reich selbst bildete erst spät unddann meist ohne größeren Einfluss zentralstaatliche Institutionenaus. Eine der wichtigsten war das Reichskammergericht. Als erstesgesamtdeutsches Gericht verfügte es über ein „Reichsarchiv“.Dieses war zuständig für die Überlieferung dieser ersten überre-gionalen Justizorganisation. Seine Prozessakten wurden nach derAuflösung des Reichskammergerichts 1806 zu ihrem größten Teilunter die Länder aufgeteilt, der sogenannte „unteilbare Rest“ liegtheute im Bundesarchiv. Weitere vor 1919 bestehende „Reichsar-chive“ blieben ohne Bedeutung und sind dem gesamtstaatlichenAnspruch nicht gerecht geworden.Ernsthaft diskutiert wurde die Einrichtung eines Reichsarchivserst nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871. Die Umset-zung der „Reichsarchividee“ scheiterte jedoch an der Ablehnungim Reichstag und der Befürchtung der Bundesstaaten, einen Teilihrer kulturellen Selbständigkeit an Preußen zu verlieren. DiePlanungen, das Reichsarchiv vorläufig dem PreußischenGeheimen Staatsarchiv anzuschließen, wie auch die entgegenge-setzte Idee einer völlig selbständigen Einrichtung konnten vordem Ersten Weltkrieg nicht mehr umgesetzt werden.Das 1919 gegründete Reichsarchiv verdankte seine Entstehungnicht der Fortführung der Reichsarchividee, sondern der militäri-schen Propaganda und Auswertung der Kampfhandlungen desErsten Weltkriegs. Bereits Ende 1914 oblag der Kriegsnachrichten-stelle im Großen Hauptquartier unter der Leitung von GeneralFreiherr von Freytag-Loringhoven die Erstellung einer populärenDarstellung der jüngsten Ereignisse. Die angefangenen Arbeiten,die seit 1917 die Abteilung IIIb (Nachrichten- und Pressewesen)der Obersten Heeresleitung fortführte, wurden nicht veröffent-licht. Noch am 12. Oktober 1918 verfügte der Chef des General-

stabes des Feldheeres Hindenburg die Wiedereinrichtung einerKriegsgeschichtlichen Abteilung zur Fortführung der begonnenenArbeiten über die Geschichte des Weltkriegs.Parallel zur Kriegsnachrichtenstelle im Großen Hauptquartierwurde 1914 in Berlin beim Stellvertretenden Generalstab diePrüfungsstelle für Kriegsakten eingerichtet. Diese nahm Aktenvom Armeeoberkommando bis zur kleinsten Kriegstagebuchführenden Einheit auf, die seit Kriegsbeginn entstanden waren.Es erfolgte also in diesen Fällen keine Abgabe an die zuständigenpreußischen Militärarchive oder die Archive der Einzelstaaten.Im Herbst 1918 wurden die inzwischen bestehenden drei Kriegs-geschichtlichen Abteilungen und die Prüfungsstelle für Kriegs-akten dem Oberquartiermeister Kriegsgeschichte unterstellt. DerVersailler Vertrag schrieb jedoch in Artikel 160 vor: „Der deutscheGeneralstab und alle ähnlichen Formationen werden aufgelöstund dürfen unter keiner Gestalt neu gebildet werden.“ Das deut-sche Militär und insbesondere der spätere Chef der HeeresleitungHans von Seeckt nahmen die Idee der Errichtung eines Reichsar-chivs auf, um die Kriegsgeschichtsschreibung in einer zivilenBehörde weiterführen zu können. Seeckt stellte in mehrerenDenkschriften der Reichsregierung seine Vorstellungen dar. DieReichsregierung folgte in den wesentlichen Punkten den Ausfüh-rungen Seeckts und beschloss die Errichtung des Reichsarchivsals nachgeordnete Behörde des Reichsministeriums des Innernzum 1. Oktober 1919.Die bisherige Prüfungsstelle für Kriegsakten ging in der Verwal-tungsabteilung auf, dem eigentlichen Archiv, die drei Forschungs-abteilungen gelangten zur Sichtungsabteilung, die auch Histori-sche Abteilung oder Kriegsgeschichtliche Abteilung genanntwurde. Diese Abteilungen zogen aus den Gebäuden des General-stabs in Berlin in die ehemalige Kriegsschule auf dem Brauhaus-berg in Potsdam um, dem heutigen Sitz des Landtags Branden-burgs bis zur Wiedererrichtung des Potsdamer Stadtschlosses.Die wichtigste Aufgabe des neuen Reichsarchivs war die Ausarbei-tung des amtlichen Werks über den Weltkrieg 1914-1918, dashauptsächlich von ehemaligen Offizieren geschrieben wurde, diedas Reichsarchiv als zivile Angestellte übernahm. Der ehemalige

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Generalmajor und Oberquartiermeister für KriegsgeschichteHermann Ritter Mertz von Quirnheim leitete das Reicharchiv vonseiner Gründung bis 1931 als Präsident.Mit dem Haushaltsjahr 1920 begann der zivile Ausbau des Reichs-archivs. Als erste Aufgabe bezeichnete die dem Haushaltsplanbeigelegte Denkschrift: „die Sammlung, Verwahrung und Verwal-tung des gesamten Urkunden- und Aktenmaterials des Reichesseit seiner Gründung“.1 Damit war deutlich gesagt, worin dieZuständigkeit dieser archivgeschichtlich neuen Institutionbestand: das Reichsarchiv übernahm sämtliche zentralstaatlicheÜberlieferung. Auch die Bestände vor der „Gründung“ 1867/71,also insbesondere der unteilbare Rest des Reichskammergerichts,des Deutschen Bundes und die Überlieferung von Reichsregie-rung und Nationalversammlung aus dem Jahr 1848/49, wurden ineiner „Abteilung Frankfurt (a.M.)“ zusammengefasst. Nachdemder Reichsminister des Innern seine Kollegen in einem Erlass 1921gebeten hatte, die „für die laufende Verwaltung nicht mehr benö-tigten Akten“ an das Reichsarchiv abzugeben, erhielt dieses erst-mals in größerem Umfang nicht-militärische Bestände. DenUmfang der Aufnahme von Schriftgut gibt der Tätigkeitsberichtdes Reichsarchivs für die Jahre 1920-1925 mit „186 Wagen, 366Kisten und 479 Paketen“2 an. Dem Reichsarchiv stellte sich insbe-sondere bei den Kriegsgesellschaften ein Massenproblem. DieGebäude der ehemaligen Kriegsschule auf dem Brauhausbergmussten den archivischen Anforderungen erst angepasst werden,

zudem war ein Überblick zu den aufgenommenen Beständen zuerstellen, der den Inhalt wenigstens grob erfasste und die Aktenbenutzbar machte. Nur unter diesen Voraussetzungen konntedamit begonnen werden, die Akten für das Weltkriegswerk auszu-werten.Die wohl einschneidenste Veränderung traf das Reichsarchiv nachder Machtübernahme 1933. Der neue Status des Militärs und dieNichtbeachtung des Versailler Vertrags ermöglichten die Einrich-tung eines Generalstabes des Heeres. Schon frühzeitig war dasHeer bestrebt „seine Akten“ wieder selbst zu verwalten und„wissenschaftlich zu verwerten“. Das führte zur Herauslösungder militärischen Bestände und der formell zivilen Kriegsge-schichtsschreibung aus dem Reichsarchiv, das jetzt nur noch fürdie zivilen Bestände zuständig war. Fortan teilten sich das Reichs-archiv, die Kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt des Heeres undder Chef der Heeresarchive das Gebäude auf dem Brauhausberg.Der größte Verlust an Schriftgut war nach einem alliierten Luft-angriff auf Potsdam im April 1945 zu beklagen. Der im Jahr 1937errichtete Magazinneubau wurde schwer getroffen. Da der Chefder Heeresarchive kaum Auslagerungen befohlen hatte, wareninsbesondere die militärischen Bestände von der Zerstörung des

1 BArch R 1506/50.2 Vgl. ebd.

Dienstgebäude des Reichsarchivs in Potsdam. Foto: Bundesarchiv (Bild B 145 Bild-P012379)

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Reichsarchivs betroffen und damit unersetzliches Material, wie esgerade für die Geschichtsschreibung der von militärischen Ereig-nissen geprägten deutschen Geschichte entscheidend war. Zumin-dest das Reichsarchiv hatte jedoch die bedeutendsten zivilenBestände rechtzeitig ausgelagert.Friedrich Schiller spricht von einem „merklichen Mißverhältnis“zwischen dem „Gange der Welt und dem Gange der Weltge-schichte“. Jener sei ein „ununterbrochen fortfließender Strom“,wovon „aber in der Weltgeschichte nur hie und da eine Wellebeleuchtet wird“. Die Beleuchtung dieses Stromes ist für dendeutschen Anteil an der Weltgeschichte vor allem durch die Akten

des Reichsarchivs möglich. Was von diesen übrig ist, lagert heuteim Bundesarchiv. Gegenüber dem Reichsarchiv und allen übrigenzivilen oder militärischen Vorgängereinrichtungen ist das Bundes-archiv das erste Einheitsarchiv Deutschlands. Es vereinigt sowohlsämtliche überlieferten Bestände ziviler (mit Ausnahme desAuswärtigen Amtes) als auch militärischer Provenienz undermöglicht dem Historiker, sich der Wahrheit der deutschenGeschichte und auch der Weltgeschichte zu nähern.

Sven U. Devantier, Berlin

ERSCHLIEßUNGSINFORMATION IMINTERNETEMPFEHLUNGEN ZURWEITERENTWICKLUNG DERPRÄSENTATION IM NETZ

ERSCHLIEßUNGSINFORMATION ONLINE –EINE BESTANDSANALYSEUmfangreiche Internet-Präsenzen gehören heute zum archivi-schen Informationsangebot selbstverständlich dazu und umfassenauch – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Erschließungs-leistungen der Häuser. Das Spektrum ist dabei von der Publika-tion ausgewählter Findmittel1 bis hin zur Online-Stellung ganzerDatenbanken2 weit gefächert – in der Regel in Abhängigkeit vondem jeweiligen Erschließungssystem und dessen Möglichkeitenzur Online-Publikation.Doch während es für die Gestaltung und den Aufbau der Home-pages Handreichungen und Best-Practice-Empfehlungen3 gibtebenso wie zur Digitalisierung4 , wurde die fachliche Diskussionzur Präsentation von Erschließungsleistungen im Internet nur füreinen kurzen Zeitraum, konzentriert auf die Frage nach der best-möglichen Übertragung und Nutzbarmachung von ganzen Find-büchern geführt.5 Die archivfachliche Diskussion sah lange Zeitin Homepages lediglich ein Medium zur Öffentlichkeitsarbeit, derDienstleistungscharakter von Internet-Auftritten drang nursukzessive in das Bewusstsein der Archive. Gerade bezüglich derPräsentation der Erschließungsleistungen kamen rechtliche,insbesondere urheberrechtliche, und haushaltsrechtlicheProbleme hinzu: Eine Publikation der Erschließungsleistungenim Internet stand und steht in Konkurrenz zu der in vielen

Häusern üblichen Veröffentlichung der Findmittel in der eigenenSchriftenreihe des Archivs, deren Absatz durch die Verfügbarkeitder Informationen im weltweiten Netz gefährdet würde. Hinzukamen mancherorts auch archivfachliche Bedenken, insbesonderewenn durch die Retrokonversion ältere Findmittel, die nicht mehrmodernen fachlichen Standards genügen, auf diesem Wege insInternet gestellt werden könnten.Demgegenüber wuchs jedoch die Erkenntnis, dass die Schlüssel-leistungen der Archive, ihr wichtigstes Dienstleistungsangebot fürdie Öffentlichkeit, stärker in den Fokus ihrer öffentlichen Darstel-lung gelangen sollte. Als sichtbarer Nachweis archivischer Tätig-keit sollten und mussten die Erschließungsleistungen im Informa-tionsangebot einen breiteren Raum einnehmen. Im Ergebnispräsentierten sich die Erschließungsleistungen der Archive alsgewachsener Ausdruck der Erschließungspolitik der einzelnenHäuser, geprägt von den jeweiligen Traditionen und Vorgehens-weisen.Eine 2008 im Bundesarchiv angefertigte Transferarbeit6 zumVergleich der olnine verfügbaren Erschließungsinformationen derdeutschen Staatsarchive kam daher wenig überraschend zu demErgebnis, dass diese sich vor allem durch ein hohes Maß an Viel-falt bei leider häufig mangelnder Transparenz auszeichnen, daeinheitliche Richtlinien und ein übergreifendes nutzerorientiertesAnforderungsprofil fehlen. Erschwerend kommt für einige Archiv-verwaltungen hinzu, dass sie in ihren Möglichkeiten durch gestal-

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terische Vorgaben bezüglich eines einheitlichen Internetauftrittsdes Landes eingeschränkt werden.Die von den Archive entwickelten, individuellen Präsentations-formen sind also Ausdruck spezifischer Methoden und gewach-sener Strukturen in diesem Bereich – allerdings mit dem Nachteil,dass sich Nutzer zunächst einmal mit dem jeweiligen Aufbau undder Benutzerführung dieses Informationsangebots vertrautmachen müssen. Gerade unerfahrene Nutzer leiden unter dieserDiversität, doch auch im Umgang mit archivischen Erschlie-ßungsinformationen geübte Nutzer müssen einen nicht unerheb-lichen Aufwand betreiben, um auf den Seiten Struktur undAufbau der Seiten sowie die jeweiligen Recherchemöglichkeitenzu verstehen und zielgerichtet zu den gesuchten Informationen zugelangen.Eine stärkere Vereinheitlichung der Online-Präsentationen derErschließungsleistungen könnte dagegen gerade im Hinblick aufdie Benutzerführung zu einem erheblichen Mehrwert für dieNutzer führen und die Darstellung der Erschließungsleistungentransparenter gestalten. Umgekehrt könnten gerade individuellentwickelte Strukturen und die daraus resultierende Vielfalt in derOnline-Präsentation von Erschließungsinformationen derenEinbindung in übergreifende Portale erschweren.Vor diesem Hintergrund hat der IT-Ausschuss der ARK auf seiner35. Sitzung entschieden, eine Unterarbeitsgruppe bestehend ausDr. Beate Dorfey (LHA Koblenz), Paul Flamme (StA Hamburg),Dr. Thomas Fritz (LA Baden-Württemberg), Dr. Bettina Schleier(StA Bremen) und Bettina Martin-Weber (BArch) damit zu beauf-tragen, Empfehlungen für die Präsentation von Erschließungsin-formationen im Internet zu erarbeiten, um eine fachliche Diskus-sion hierzu anzustoßen. Es sollte auf der Basis einer Autopsie derErschließungsinformationen auf den Internet-Seiten der staatli-chen Archive ein Anforderungskatalog entwickelt werden. Dieserist gegliedert in die Kategorien „unverzichtbare Prinzipien“, dienach Ansicht der Arbeitsgruppe Voraussetzung sind für einequalitätvolle Präsentation, und „zusätzliche Optionen“, derenRealisierung aus Sicht der Arbeitsgruppe zwar wünschenswert,aber in das Ermessen der einzelnen Archivverwaltungen gestelltist.Ziel ist es, aufgrund dieser Empfehlungen eine möglichst einheit-liche Darstellung und Nutzerführung der archivischen Erschlie-ßungsleistungen in Archivportalen und Präsentationen vonArchiven im Internet zu fördern.

EMPFEHLUNGEN ZUR PRÄSENTATIONVON ERSCHLIESSUNGSINFORMATIONENIM INTERNETDie kritische Durchsicht der einzelnen Präsentationen vonErschließungsleistungen im Netz förderte Erstaunliches zutage:Erschließungsleistungen waren bisweilen nur schwer auffindbar,technische Möglichkeiten wurden nicht ausgeschöpft, oftgenügten nur wenige Änderungen, um signifikante Verbesse-rungen zu erzielen. Die Arbeitsgruppe ist bei der Zusammenstel-lung ihrer Ergebnisse systematisch vom Allgemeinen zumSpeziellen, von der obersten Hierarchieebene hinabsteigendvorgegangen. Immer wieder konnte die Arbeitsgruppe feststellen,dass es neben den bereits konstatierten Defiziten auch besondersgelungene Lösungsansätze gab, die in diese Empfehlungen einge-flossen sind.

Im Folgenden werden die Erkenntnisse und daraus resultierendenEmpfehlungen der Arbeitsgruppe kurz vorgestellt und erläutert.Manches davon mag banal und selbstverständlich klingen, dieEmpfehlungen finden hier dennoch Aufnahme, weil sie zumeinen tatsächlich nicht überall realisiert sind und zum anderenzur Vollständigkeit dieser Handreichung beitragen.

1. PortaleUnverzichtbare Prinzipiena. Die Archivportale stellen auf der obersten Ebene die betei-

ligten Archive dar.b. Die Struktur des Archivportals oder der Beständeübersicht

soll über einen Navigationsbaum dargestellt werden.Baumstrukturen sind intuitiv benutzbar, verdeutlichen unmit-telbar die Struktur und geben einen Überblick über die Inhalte.Die Anwendung solcher hierarchisch aufgebauter Baumstruk-turen stellt ein einfaches und leicht umsetzbares, dennoch erheb-lichen Mehrwert für die Benutzerführung erzielendes Instrumentdar, das nach Ansicht der Arbeitsgruppe selbstverständlichesGliederungsprinzip der online verfügbaren Erschließungsinfor-mationen sein sollte.

2. Suche: AllgemeinesUnverzichtbare Prinzipiena. Die Suche soll direkt erreichbar und leicht auffindbar sein.b. Bei der Suche soll eindeutig dargestellt sein, welche Archive

und welche Bestände berücksichtigt sind und auch, welcheBestände oder Bereiche nicht durchsucht werden. Das istVoraussetzung für die Interpretation und Bewertung derErgebnis-/Trefferlisten.

c. Homepage und Präsentation von Erschließungsinforma-tionen sollen ggf. getrennt realisiert werden, wenn durchrestriktive Layoutvorgaben eines Anbieters der Spielraumdes Archivs eingeschränkt wird.

Für den Internet-Nutzer stellen gerade die Möglichkeiten derSuche ein zentrales Moment für den Nutzen und die Akzeptanzeines Informationsangebotes dar. Die Empfehlung, die leicht unddirekt auffindbar zu platzieren, erscheint unmittelbar einleuch-tend, ist aber angesichts der Varianz auf den betrachteten Inter-netseiten nachdrücklich zu betonen. Gravierende Defizite musste

1 Beispiel hierfür sind u. a. die Präsentationen der staatlichen Archive Bayerns.2 So in Hessen und Rheinland-Pfalz.3 Vgl. u. a. Mario Glauert: Anforderungen an eine Online-Beständeübersicht

und eine archivische Homepage. In: Archivierung und Zugang. Transferarbei-ten des 34. wissenschaftlichen Kurses der Archivschule Marburg. Hg. v. NilsBrübach. Marburg 2002, S. 9-36.

4 Vgl. hierzu u. a.: Ulrich Nieß, Michael Wettengel und Robert Zink: Digitali-sierung von archivischem Sammlungsgut. Empfehlung der Bundeskonferenzder Kommunalarchive beim deutschen Städtetag. In: Der Archivar 59 (2006),S. 323-329, mit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen.

5 Mechthild Black-Veldtrup: Erschließung im Umbruch. In: Der Archivar 51(1998), Sp. 607-618; dies.: Findbücher im Internet. In: Archivische Erschlie-ßung. Methodische Aspekte einer Fachkompetenz. Hg. v. Angelika Menne-Haritz. Marburg 1999, S. 123-138; dies. und Detlef Heiden: Das MarburgerOnline-Findbuch. Konsequenzen für die Erschließung und Präsentation vonArchivgut. In: Der Archivar 52 (1999), S. 217-224; Paul Flamme, Udo Herkertund Volker Viergutz: Hinweise zur Darstellung staatlicher Archive undArchivverwaltungen im WorldWideWeb des Internet. In: Der Archivar 51(1998), Sp. 217-228; Angelika Menne-Haritz: Einige Überlegungen zur Inter-aktivität von Archivfindmitteln. In: Der Archivar 49 (1996), Sp. 603-610; dies.:Das Online-Findbuch – archivische Erschließung mit Internet-Technologie.In: Archivische Erschließung, Methodische Aspekte einer Fachkompetenz,S. 109-122.

6 Tobias Herrmann: Online-Präsentationen von Erschließungsinformationen:Deutsche Staatsarchive im Vergleich. Transferarbeit des 41. WK der Archiv-schule Marburg im Auftrag des Bundesarchivs, 2008.

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die Arbeitsgruppe bei der Transparenz des Suchergebnisses fest-stellen: Mehrheitlich fehlten die Angaben zur Ausgangsmengebzw. nur der Hinweis, dass längst nicht alle Erschließungsinfor-mationen eines Hauses online verfügbar sind. Hierdurch entstandder falsche Eindruck, dass ein Besuch vor Ort oder eine direkteKontaktaufnahme mit dem Archiv überflüssig sei, da ange-nommen werden kann, dass ja alle Informationen im Netzabrufbar sind. Die Arbeitsgruppe kann an dieser Stelle nur nach-drücklich an die Archive appellieren, den Stand ihrer Erschlie-ßungsmaßnahmen offen zu dokumentieren. Zum einen brauchensich die Archive mit ihren Leistungen auf diesem Gebiet wahrlichnicht zu verstecken, zum anderen werden dadurch weitere Benut-zungen vor Ort angeregt.

Zusätzliche Optionend. Fremdsprachige Hilfefunktionen sind wünschenswert.

Angesichts der wachsenden Zahl fremdsprachiger Benutzer imNetz stellt diese Option durchaus einen Mehrwert für vieleBenutzer dar.

3. Suche in Beständeübersicht und Findbüchern:AllgemeinesUnverzichtbare Prinzipiena. Die Gliederung der Beständeübersicht soll sich an der

Tektonik orientieren.b. Die Beständeübersicht soll sowohl einen navigierenden

Einstieg über eine Baumstruktur als auch einen suchendenEinstieg (Volltextsuche) anbieten.

c. Alle Bestände, auch noch nicht erschlossene, sollen in derBeständeübersicht dargestellt werden. Neben Bestandssig-natur und Bestandsbezeichnung sind Angaben zumUmfang nützlich. Auf der Ebene der Beständeübersichtsollte stets Vollständigkeit angestrebt werden.

d. Die Beständeübersicht soll Aussagen zu Art und Vollstän-digkeit der Findmittel enthalten.

e. Online-Findbücher sollen in der Beständeübersicht leichtauffindbar nachgewiesen werden und von hier aus unmit-telbar aufrufbar sein.

f. Aus Darstellungsgründen sollen nicht mehr als 30 Unter-punkte auf einer Ebene bzw. unterhalb eines Baumknotensder Beständeübersicht bzw. eines Klassifikationsknotens imFindbuch erscheinen.

Die Tektonik als Gliederungsprinzip einer Beständeübersicht istStandard bei den betrachteten Staatsarchiven und hat sichbewährt. Sie sollte daher unbedingt auch in Zukunft grundle-gendes Gliederungsprinzip bleiben.Das navigierende Vorgehen über die Baumstruktur entspricht imBesonderen der archivischen Recherchestrategie des Ermittelnsvom Allgemeinen zum Speziellen, während die Volltextsuche übereinen Suchbegriff zum Suchmaschinenstandard im Internetgehört und daher von den Benutzern erwartet wird. Eine Kombi-nation beider Vorgehensweisen verbindet daher in idealer Weiseeinen an den Benutzerbedürfnissen orientierten Einstieg in dieErschließungsleistungen.Die Angabe zur Vollständigkeit ist – wie bereits ausgeführt – einGebot der Transparenz, um eine bessere Besuchsplanung desBenutzers zu ermöglichen, aber auch sichtbarer Nachweis derErschließungsleistungen der einzelnen Häuser.Die integrierte Darstellung von Beständeübersicht und Findmit-teln unterstützt die navigierende Recherche; die Begrenzung derUnterpunkte erhöht die Übersichtlichkeit und vermeidet lästigesScrollen.

Zusätzliche Optioneng. Eine Merkfunktion für ermittelte Treffer unterstützt sinn-

voll die Recherche und Benutzung.h. Eine Druckfunktion für Findbücher oder Auszüge aus Tref-

ferlisten ist wünschenswert.Eine Merkfunktion erleichtert nachhaltig die Orientierung desBenutzers durch die Vermeidung von Doppelarbeit, während eineDruckfunktion den Rechercheprozess und die Benutzungsvorbe-reitung unterstützt, da Aufzeichnungen in den Erschließungsin-formationen unmittelbar erfolgen können.

4. Suche in Beständeübersicht und Findbüchern:SuchfunktionUnverzichtbare Prinzipien

a. Die Benutzerführung bei den Suchoptionen „einfache“ und„erweiterte Suche“ soll selbsterklärend sein.

b. In der erweiterten Suche müssen Laufzeit und Signaturenzwingend zu den möglichen Suchparametern gehören.

c. Die Einschränkung der Suche auf einen oder mehrereBestände bzw. Findbücher ist wünschenswert.

Standardverknüpfungen, Erweiterungen der Booleschen Opera-toren und die Möglichkeiten einer Trunkierung des Suchbegriffssollen verständlich und mit Beispielen erläutert sein. Leider sindhier die Erläuterungen vielfach zu oberflächlich oder unverständ-lich gehalten bzw. fehlen ganz.Es muss möglich sein, Signaturangaben, die aus der Sekundärlite-ratur ermittelt wurden, in einer Suche zu überprüfen. Die Suchenach Laufzeit entspricht dem typischen archivischen Nutzerver-halten.Standard-Suchen ermöglichen die Suche entweder in einemBestand bzw. Findbuch oder in allen Beständen bzw. Findbü-chern. Eine Auswahlmöglichkeit zu durchsuchender Beständebzw. Findbücher, auch im Interesse der Trefferreduktion, erhöhtden Komfort.

Zusätzliche Optionend. Die Möglichkeit zur Einschränkung der Suche auf

bestimmte Archivalientypen ist wünschenswert.Gerade im Bereich der Suche zeigt sich, dass die Archive die tech-nischen Möglichkeiten des Netzes nicht ausschöpfen. Hier kannmit vergleichsweise geringem Aufwand ein erheblicher Mehrwertfür die Nutzer erzielt werden, der auch den Archiven selbst zugutekommt, da so eine sehr viel präzisere Besuchsplanung derBenutzer und damit eine reduzierte Auskunftstätigkeit der Archi-varinnen und Archivare möglich wird.

5. Suche in Beständeübersicht und Findbüchern:Ergebnisanzeige

Unverzichtbare Prinzipiena. Der Kontext eines Treffers soll über die Darstellung seiner

Position in der Klassifikation eines Bestandes und dessenEinordnung wiederum in der Tektonik klar erkennbar sein.

b. Der Treffer, der ihm unmittelbar zugeordnete Klassifikati-onspunkt und die Bestandsbezeichnung sollen vollständigdargestellt werden.Die Trefferanzeige soll aber im Gegenzug auch nicht mit zuvielen Informationen, Ebenen und Verlinkungen belastetwerden.

c. Der Treffer als solcher soll in Ergebnisliste und Detailan-zeige auf Anhieb erkennbar sein und optisch hervorge-hoben werden (Highlighting).

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d. Gefundene Suchbegriffe sollen optisch hervorgehobenwerden (Highlighting).

e. Die Trefferzählung soll erläutert werden.f. Das Sortierkriterium der Trefferliste soll auf Anhieb

erkennbar sein.g. Der Wechsel von einer Ergebnisliste zu einer Detailansicht

sollte einfach und intuitiv möglich sein.Oberstes Gebot für die Darstellung der Ergebnisliste einer Sucheist auch hier die Transparenz und Nachvollziehbarkeit. An ihrmisst sich die Qualität der Suche. Das Ergebnis der Suche mussfür den Benutzer relevant sein, seinen Anforderungen Rechnungtragen. Um dies beurteilen zu können, muss er verstehen, warumdie Suche zu diesen Treffern geführt hat. All die genannten Prinzi-pien tragen diesem Anspruch Rechnung. Für die Analyse derRelevanz ist auch die Trefferzählung von Bedeutung. Hierbeispielt es z. B. eine Rolle, ob sich gemäß ISAD (G) ein Treffer in derKlassifikation auch auf die zugeordneten Verzeichnungseinheitenvererbt oder ob dieses Prinzip nicht berücksichtigt wurde.

Zusätzliche Optionenh. Es sollte die Möglichkeit bestehen, die Anordnung der Tref-

ferliste nach anderen Kriterien zu verändern.i. Die bereits betrachteten Treffer können zur Unterstützung

der Recherche markiert werden.j. Eine Spezifizierung der Suche unter Verwendung des ersten

Suchergebnisses (Suche in der Suche) ist wünschenswert.k. Eine Thesaurusfunktion für die Suche wäre wünschens-

wert.Diese letzte Komfortfunktion folgt der Überlegung, dass derBenutzer bei einer herkömmlichen Suche wissen muss, wonach er

sucht. Ein Thesaurus würde insbesondere dem unerfahrenenBenutzer vergleichbar einem Buchindex mögliche Suchbegriffeanbieten.

EMPFEHLUNGEN ZUR PRÄSENTATIONVON ERSCHLIESSUNGSLEISTUNGEN IMINTERNET – EIN RESÜMEENeben diesen speziellen Anforderungen an die Präsentation vonErschließungsleistungen gibt es allgemeine Anforderungen, diesich auf die gesamte Präsentation beziehen und immer erfülltwerden sollen. Beispiele sind die intuitive Bedienbarkeit, die Leis-tungsfähigkeit und Geschwindigkeit von Suchen sowie dieHerstellung von Barrierefreiheit.Viele dieser Empfehlungen sind vergleichsweise leicht und mitgeringem Aufwand umsetzbar, zeitigen aber eine nachhaltigeWirkung. Nicht zuletzt tragen sie dazu bei, die Implementierungder Erschließungsleistungen einzelner Häuser in übergreifendePortale signifikant zu erleichtern.Nach dem Grundsatz der Transparenz und Nachvollziehbarkeitgestaltet, kann die Präsentation von Erschließungsleistungen imInternet nicht nur für die Benutzer, sondern auch für die Archiveeinen erheblichen Mehrwert darstellen, den nicht zu nutzen einFehler wäre.

Beate Dorfey, Koblenz

DIE VER-MESSUNG DER WELT –ZUR LAGERUNG UNDRESTAURIERUNG VON KARTEN INARCHIVEN

Wegen ihrer großen Formate stellen Karten, Pläne, Risse, Bau-und technische Zeichnungen besondere Anforderungen an ihreLagerung, Nutzung und Erhaltung in den Archiven. Zudemwerden sie oft bereits mit erheblichen Schäden aus der vorarchivi-schen Aufbewahrung und Handhabung übernommen.Um Karten und andere Großformate vor weiteren Gefährdungenzu schützen, finden sich gegenwärtig in den Archiven sehr unter-schiedliche Bestandserhaltungskonzepte, die die Anforderungeneiner konservatorisch angemessenen Aufbewahrung mit den Inte-ressen der Nutzung und Auswertung zu verbinden suchen und

von der Restaurierung, Planlegung und Teilung der Karten übereine schützende Verpackung und schonende Lagerung bis hin zurErstellung von Schutzmedien reichen.Im Folgenden sollen einige Vor- und Nachteile der unterschiedli-chen Lagerungsformen erörtert, grundsätzliche Probleme derkonservatorisch-restauratorischen Aufbereitung von Karten ange-sprochen und Anforderungen für ihre fachgerechte Restaurierungformuliert werden. Dabei wird auch der für Karten wichtigenFrage nachgegangen, ob die für eine schonende Nutzung erforder-liche restauratorische Behandlung zu Dimensionsveränderungen

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führt, die die Auswertbarkeit der Kartendaten beeinträchtigenkönnen.1

SCHADENSBILDER DER VOR-ARCHIVISCHEN NUTZUNGVor Einführung großformatiger, industriell gefertigter Papierewurden Flächen für großformatige Karten durch Zusammenfügenvon kleineren Papierbogen und Aufziehen auf einen textilen Trägergebildet. Zum stabilen Aufrollen und Aufhängen wurden oft Holz-stäbe an zwei gegenüberliegenden Seitenrändern befestigt. Rändel-bänder, die die Kanten einfassten, boten eine weitere Schutzmög-lichkeit gegen Einrisse. Bänder zum Verschnüren, um ein unkontrol-liertes Entrollen zu verhindern, schlossen diese neue Gebrauchs-form ab, die – und das war beabsichtigt – nun auch Transport undNutzung im Freien zuließ. So erfolgten Lagerung und Transport oftgerollt, die Benutzung dann jedoch wieder plan liegend als Blatt.Dies alles hinterließ Spuren: Äußerliche Verschmutzungen, Vergil-bung durch Ligninwanderung aus den Holzstäben in das Papier,Einrisse, Abrisse, Quetschfalten in der Karte, Fehlstellen, Verwer-fungen, Stauchungen vornehmlich an den Rändern, abblätterndePapierschichten vom textilen Träger, hohle Stellen zwischen Papierund textiler Hinterklebung sowie mechanisch hervorgerufenerOberflächenabrieb, der bis zu Darstellungsverlusten reichen kann.Schäden und Beeinträchtigungen, die auf Wasserkontakt zurückzu-führen sind, sogenannte Wasserschäden, können Wasserränder,ausgelaufene Beschreibstoffe, mikrobiologischen Abbau der Papier-substanz (Schimmel) und Dimensionsveränderungen bewirken.Schädigungen durch Farb- und Tintenfraß sind ebenfalls anzutref-fende Schadensbilder.Diesen Schäden wurde mit Kaschierungen abgeholfen oderpartiellem Überkleben mit Leinen, diversen Papieren, Karton undschließlich auch mit Pflaster und Selbstklebebändern. Die Ursachender Schädigung wurden dadurch nicht beseitigt, die Behebung derSymptome aber oft mit Versteifungen, mehr oder wenigergeschickten Reparaturen und der Fixierung von Verschmutzungenerkauft.

SCHADENSRISIKEN DER GEROLLTENAUFBEWAHRUNGAlle diese Schadensbilder verschärfen sich heute in dem Maße, wiedie Großformate altern und damit an Festigkeit verlieren. Durchjahrzehnte- oder gar jahrhundertelange zusammengerollte Lagerungübernimmt Papier die gerollte Form bis in die Struktur seines Faser-gefüges, was zu erheblichen Materialspannungen führt. SolcheKarten sind nicht mehr entrollbar, ohne Gefahr zu laufen, dass ihrDrang zum selbsttätigen Zurückfedern in die „verinnerlichte“ Formzu Brüchen, Ein- und Abrissen führt.Die gerollte Lagerung birgt darüber hinaus die Gefahr, dass dieKarten aufgrund ihres Eigengewichts oder durch aufliegende Stückegestaucht werden. Karten, die gerollt aufbewahrt und zudemmechanisch belastet wurden, zeigen ein typisches Wellenmuster. Beiaufgezogenen Karten löst sich an solchen Bruchstellen die Papier-schicht häufig vom Trägermaterial, Schmutz dringt ein und Karten-fragmente platzen ab. Bei vergleichender Betrachtung historischerKartenbestände mit sowohl gerollten wie auch plan liegendenStücken kann verallgemeinernd festgestellt werden, dass die konse-

quent plan liegenden Karten durchschnittlich deutlich wenigerSchädigungen aufweisen.Werden Großformate gerollt gelagert, empfehlen sich anstelle vonrunden, rechteckigen oder sechseckigen Köchern, in welche dieRollen von einer Seite hinein geschoben werden müssen, insbeson-dere für brüchige und bereits eingerissene Pläne längliche Boxen mitKlappdeckel, in welche die Rollen von oben eingelegt werdenkönnen. Andernfalls führt das Hineinschieben leicht zu Stau-chungen an der Vorderkante der Rollen. Risse an den Rändernkönnen durch die mechanische Belastung des Hineinschiebensvergrößert werden und zu Substanzverlusten führen.Die lagerungsbedingten Schadensrisiken führen zu tatsächlichenMaterialschädigungen, wenn im Zuge von Benutzungen oderReproduktionen die betroffene Karte entgegengesetzt ihrer Verfor-mung gebogen und punktuell fixiert bzw. niedergedrückt werdenmuss. Selbst bei einem behutsamen Umgang kommt es dann nichtnur bei spröden Papiermaterialien oder bei stark säuregeschädigtenPapieren zu Brüchen und Rissen.Ziel einer archivischen Bestandserhaltungskonzeption für Kartensollte es daher sein, Lagerungs- und Nutzungsform in Übereinstim-mung zu bringen, um weitere Schädigungen zu verhindern und –unabhängig von der Nutzung durch Schutzmedien – erforderlichen-falls eine schonende Einsichtnahme auch in die Originale zuermöglichen. Die plan liegende Lagerung ist demzufolge nicht nureine wichtige Maßnahme im Sinne des gesetzlich vorgeschriebenenArchivgutschutzes, sie führt zudem mittel- bis langfristig zu einersignifikanten Absenkung des restauratorischen Handlungsbedarfsund der damit verbundenen Kosten. Dabei erstreckt sich die Forde-rung nach Planlegung auch auf gefaltete Pläne, die sich innerhalbvon gebundenen Akten befinden. Solche Großformate sollten auskonservatorischen Gründen den fest formierten Akten entnommenund nach erfolgter Planlegung separat gelagert werden.

SCHADENSRISIKEN DER STEHENDENUND HÄNGENDEN AUFBEWAHRUNGBei der stehenden Aufbewahrung werden die Karten in speziellenSchränken meist ohne zusätzliche Mappe in Hängemappen oder-taschen senkrecht gelagert. Dabei kommt es bei zu enger Lagerungder Karten zu starken mechanischen Schäden (Rissen, Fehlstellendurch Ausrisse, Knicke) beim Ausheben und Reponieren. Die Ober-kanten sind besonders gefährdet, da die Karten beim Reponierenoft nicht weit genug in die Hängemappe gesteckt werden, der obereBereich übersteht und beim Schließen und Öffnen des Schrankde-ckels geknickt und eingerissen wird. Sind die Karten zu lockereingestellt, sacken sie durch ihr Eigengewicht nach unten und eskommt zu Wellenbildungen und Knicken. Besonders für dünneoder brüchige Pläne, die nicht durch Aufziehen verstärkt wurden,birgt die stehende Lagerung ein hohes Risiko für mechanischeBeschädigungen.Die hängende Aufbewahrung von Großformaten in speziell ausge-rüsteten Schränken, Regalen oder mit Hilfe eines Deckenschienen-systems erfordert das Anbringen besonderer Haltevorrichtungen ander Kartenoberkante (Trägerband, gelochte Fälze, Hängeschienen,Ösen oder ähnliches). Das Kartenmaterial wird auf lange Sichtdurch das eigene Gewicht belastet, was je nach Aufbewahrungsformzu einer Verformung der Karte durch Stauchung bis hin zu einemAusreißen der Hängevorrichtung und einem Abrutschen der Kartein den Schrank führen kann. Produktabhängig wird die Verbindungzwischen Original und Hängevorrichtung zumeist durch Selbstkle-

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im Format DIN A0 pro Fach (70 Mappen) untergebracht werden,bei 10 Karten pro Mappe also zwischen 480 und 700 Karten.Schränke für die hängende Kartenaufbewahrung mit einemAußenmaß (B x T x H) von ca. 97 x 75 x 195 cm belegen eineStandfläche von ca. 0,73 m² bei einem Raumvolumen von rund 1,42m³. In ihnen erfolgt die Unterbringung formatabhängig in ein-etagiger (Format bis 85 x 170 cm) oder zwei-etagiger Hängung(Format bis 64 x 80 cm). Das ergibt pro Schrank etwa 750 bzw. biszu 1.300 Karten.Schränke für die stehende Aufbewahrung von Karten und Plänenbis DIN A0 in Hängemappen belegen bei Außenmaßen (B x T x H)von 144 x 60 x 106 cm eine Grundfläche von 0,87 m² und einRaumvolumen von 0,92 m³. Pro Schrank können je nach Anzahlund Belegung der Hängemappen bis zu 300 Karten im Format DINA0 eingestellt werden.Bei der liegenden Aufbewahrung in geschlossenen Schränken oderoffenen Regalen sind große freie Flächen vor den Schüben undFächern, bei Schränken für die hängende bzw. stehende Aufbewah-rung ausreichend lichter Raum über den Schränken zum Öffnender Schränke bzw. zum Entnehmen und Reponieren der Karten zuberücksichtigen.Bei gerollter Lagerung von Karten und Plänen in offenen Regalen(Außenmaße B x T x H: 130 x 85 x 215 cm) können auf einerGrundfläche von ca. 2,8 m² pro Doppelregalsegment und miteinem umschlossenen Raumvolumen von ca. 2,38 m³ je nachRollengröße bis zu 12 Fächer mit jeweils bis zu 12 Kartenrollen imFormat DIN A0 belegt werden (144 Karten). Bei der Verwendungvon Verpackungsköchern mit quadratischem bzw. sechseckigen(wabenförmigen) oder trapezförmigem Querschnitt können bis zu250 DIN A0-Karten pro Doppelregalsegment gestapelt werden.

1 Vgl. hierzu im vorletzten Heft den Beitrag von Sven Lautenschläger: Die Lage-rung von Karten im Archiv. In: Archivar 62 (2009) H. 3, S. 265-268.

bebänder hergestellt und birgt somit ein konservatorisches Risikofür die Zukunft in sich. Werden die Verklebungen zwischen Hänge-vorrichtung und Karte mit alterungsbeständigen Leimen ausge-führt, stellt die hängende Aufbewahrung in Metallschränken fürKarten bis zum Format DIN A0 mit hoher Eigenstabilität und beisehr vorsichtiger Handhabung eine platzsparende Alternative zurgerollten oder stehenden Lagerung dar. Für sehr große Formatebedeutet sie eine – allerdings sehr raumgreifende – Alternative zurTeilung oder gerollten Lagerung.

WIRTSCHAFTLICHKEIT DER VERSCHIE-DENEN AUFBEWAHRUNGSFORMENFür Aussagen zur Wirtschaftlichkeit der verschiedenen Lagerungs-systeme sind nicht nur die Lagerungskennzahlen von Stück (Kartenbzw. Kartenmappen) pro Quadrat- und Kubikmeter zu berücksich-tigen, sondern auch die erforderlichen Zeiten zum Ausheben undReponieren sowie die möglichen konservatorischen Gefährdungen.Ein Ordnen nach Formaten führt in jedem Fall zu einer effizien-teren Platzausnutzung und zu einer risikoärmeren Handhabung.Sowohl für die Beschaffung von abgestimmten Verpackungsgrößenals auch für die platzsparende Gruppierung der Archivalien in Plan-schrankschüben, auf Regalböden oder in Hängemappen empfiehltsich ein festes System von Formatklassen, das sich an der maxi-malen Größe und den Einteilungsmöglichkeiten des verwendetenAufbewahrungssystems orientiert. Die zweckmäßige Einrichtungder Größenklassen ergibt sich jeweils durch das wiederholte Teilendes Grundformates (z. B. DIN A0 = 841 x 1189 mm). Stark variie-rende Formate erschweren das Durchblättern der Stücke undbergen immer die Gefahr, dass kleinere Stücke beim Entnehmenund Reponieren verrutschen und dadurch übersehen oder diegrößeren Objekte durch Einrisse an den Kanten beschädigt werden.Die plan liegende Aufbewahrung von Großformaten erfolgtentweder in geschlossen Planschränken oder in offenen Regalen mittiefen Fachböden. Beide Varianten sind als Stand- wie auch als Roll-regalbauweise umsetzbar.Plan-, Karten- oder Zeichnungsschränke verfügen standardmäßigüber fünf oder zehn geschlossene Schübe, die Platz für Pläne biszum Format DIN A0 (einschließlich Mappen) mit einer Füllhöhevon ca. 4 bis 5 cm bieten (Außenmaße B x T x H 135 x 96 x 90 cm).Üblicherweise kommen Schübe mit einem lichten Innenmaß vonca. 125-127 x 90-91 x 4-5 cm zum Einsatz. Pro Schub können bis zu5 Mappen (bei 10 Karten pro Mappe) im Format DIN A0 unterge-bracht werden, in 15 Schüben pro Kartenturm von ca. 1,30 m Höhealso rund 750 Karten. Die dafür benötigte Stellfläche umfasst ca.1,3 m², der umschlossene Raum hat ein Volumen von etwa 1,68 m³.Die modulare und gerasterte Gestaltung moderner Archivregalsys-teme erlaubt durch Koppelung verschiedener Stand- oder Rollregaleaber auch die passgenaue Einrichtung offener Kartenregale, in diedie Karten eingelegt werden. Die Lagerung muss zum Schutz voräußeren Schadensfaktoren (Staub, Licht usw.) verpackt in Mappenerfolgen. Auf einer Grundfläche von ca. 1,26 bis 1,32 m² proDoppelregalsegment (Außenmaße B x T x H: 140-144 x 90-92 x200-215 cm) mit einem umschlossenen Raumvolumen von 2,52 bis2,85 m³ können verschiedene Fachhöhen mit einer lichten Fachbo-denfläche von ca. 135-137 x 86-88 cm gebildet werden. Bei Lage-rung in 24 Fächern mit jeweils ca. 6 cm lichter Fachhöhe können jeFach 2 Mappen im Format DIN A0 (48 Mappen), bei 10 Fachbödenmit einer lichten Fachhöhe von ca. 15 cm bis zu 7 Kartenmappen

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ten

Plan liegend in Kartenschränken 750 1,3 1,68 2,2

Plan liegend in offenen Regalen 700 1,3 2,7 3,8

Hängend in Kartenschränken 1.300 0,73 1,42 1,1

Stehend in Mappen in Kartenschränken 300 0,87 0,92 3,1

Gerollt in offenen Regalen, offen, neben-einander

144 2,8 2,4 16,6

Gerollt in offenen Refalen, verpackt, gesta-pelt

250 2,8 2,4 9,6

Sieht man von der konservatorisch bedenklichen hängendenLagerung ab, die wegen der fehlenden Verpackung in Mappen diegrößte Lagerungsdichte aufweist, zeigt die Übersicht, dass dieplan liegende Lagerung auch in wirtschaftlicher Hinsicht deutlichgünstiger ist als eine gerollte Aufbewahrung. Dabei ist die Aufbe-

Tabelle 1: Flächen- und Raumbedarf verschiedener Formen der Kartenlagerung

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wahrung in geschlossenen Zeichnungsschränken aufgrund derbesseren Raumausnutzung mittelfristig kostengünstiger als dieLagerung in offenen Regalen, die in der Beschaffung billiger sind.

TEILEN VON KARTEN

Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die plan liegendeAufbewahrung überformatiger Karten, deren Grundfläche dasFormat DIN A0 (841 x 1189 mm) deutlich übersteigt, lagerungs-technisch oft nur schwer zu realisieren ist. Proportional mit demFormat wachsen auch die Probleme bei Verpackung, Transportund Nutzung. Neben erheblichen Lagerflächen verlangt eineüberformatige Karte ein überformatiges Transportmittel, breitereTüren, tiefere Aufzüge und einen überformatigen Arbeitstisch zurAnsicht. Zudem besteht aufgrund der erschwerten Handhabbar-keit generell ein höheres Schädigungsrisiko.

Eine nicht unumstrittene Möglichkeit, die konservatorisch ange-messene plane Lagerung von Karten und Plänen über DIN A0 zugewährleisten, ist das Teilen von Karten. Dies ermöglicht nichtnur eine effiziente Lagerung, sondern auch eine schonendeBenutzung der Originale. Ein solcher Schritt bedeutet jedoch,auch wenn die Karte während ihrer Entstehung aus verschie-denen Einzelteilen zusammengesetzt wurde, einen massivenEingriff in die überlieferte Form, was nicht nur Auswirkungen aufden intrinsische Wert hat, sondern ggf. auch zu Informationsver-lusten führen kann, wenn z.B. durch die Teilung die Lesbarkeitvon Linien oder Beschriftungen beeinträchtigt wird. Ob eineüberformatige Karte geteilt werden kann oder soll, ist daherimmer eine archivfachliche, nicht allein eine restauratorischeEntscheidung.

Die Teilung einer Karte sollte vorzugsweise an den Klebnähtenerfolgen, an denen die Karte ursprünglich aus mehreren Teilenzusammengefügt wurde. Dabei ist es nicht nötig, sie in alleEinzelteile zu separieren, sondern nur in so viele, dass die Einzel-stücke plan in einem Kartenschrank aufbewahrt werden können.Besteht die Karte aus einem einzigen großen Papierbogen, solltedie Teilung nur dort erfolgen, wo keine oder wenig Informationenauf der Karte vorhanden sind.

Sprechen triftige Gründe gegen das Teilen, so ist die Karte trotzaller oben genannten Nachteile auch weiterhin gerollt zu lagern.Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass sie nur locker gerollt wird,um die unvermeidlichen Spannungen so gering wie möglich zuhalten. Um dies zu gewährleisten ist die Karte um einen stabilenRollenkern (Materialien nach DIN ISO 9706) von mind. 20 cmDurchmesser zu wickeln. Die Verpackung sollte in einer maßge-nauen Box mit Stülpdeckel und konkaven Aufnahmestegen zurFixierung und Stützung im Inneren erfolgen.

RESTAURIEREN UND PLANLEGEN VONKARTEN

Wasser und Papier – oder: Kein Papier ohneWasser

Nach der Definition der DIN 6730 (Papier und Pappe; Begriffe)ist Papier „ein flächiger, im wesentlichen aus Fasern meist pflanz-licher Herkunft bestehender Werkstoff, der durch Entwässerungeiner Faserstoffaufschwemmung auf einem Sieb gebildet wird.“

Im lufttrockenen Zustand enthält ein ungealtertes Papier (Zell-stoff oder Holzschliff) als notwendigen Feuchtigkeitsgehalt in derRegel 5 bis 8 % Wasser. Gealtertes Holzschliffpapier z.B. hat seinVermögen, Wasser aufzunehmen oder abzugeben, zu großenTeilen eingebüßt – es ist nicht nur vergilbt, sondern auch sprödeund brüchig. Die Hygroskopizität von Papier nimmt mit fort-schreitender Alterung also ab und ist somit auch ein Indikator fürdie Materialverfassung eines Papiers. Seine Festigkeit beruht inerster Linie auf Wasserstoffbrücken, die die Fasern miteinanderverbinden und die Möglichkeit eröffnen, weitere Wassermoleküleeinzulagern. Darauf gründet die Fähigkeit von Papier, seineneigenen Feuchtigkeitshaushalt mit dem Umgebungsklima(Temperatur und Luftfeuchte) korrespondieren zu lassen. Diedadurch hervorgerufenen Dehnungs- und Schrumpfungsprozesseführen zu Dimensionsveränderungen im Faserstoff, die allerdingsnicht immer erwünscht sind.Die ausgelaufene DIN 6728 zur Herstellung von Landkartenpa-pieren legte neben einer ausreichenden Opazität, einer sehr hohenReißfestigkeit, umweltschonender Produktion, Archivbeständig-keit, guter Bezeichenbarkeit und einem Flächengewicht zwischen100 und 120 g/m² auch fest, dass solche Papiere weitgehenddimensionsstabil sein müssen, sei es in der drucktechnischenVerarbeitung oder bei einer späteren Nutzung im Outdoor-Bereich.Dieser Standard gilt indes naturgemäß nicht für historischeKataster- oder Separationskarten. Spätestens bei der Ermittlungder Dimensionsstabilität mit einem Feuchtdehnungsmessgerätnach DIN 53130 wäre die beschriebene Anforderung eine unüber-windbare Hürde. Das Bewusstmachen der ureigenen Materialcha-rakteristik historischer Karten ist indes wichtig, wenn man dieZiele und Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Schadensbe-hebung betrachtet.

Wasser in der KartenrestaurierungViele Verfahrensschritte in der Papierrestaurierung beruhen aufwässrigen oder wasserfeuchten Behandlungsmethoden, bei denenimmer am konkreten Objekt zu entscheiden ist, bis zu welchemGrad Wasser oder Wasserdampf für das Stück verträglich sind. ImAllgemeinen grenzen schon die wasserlöslichen Beschreibmittel(Farben, Tinten, Stempel) und Klebeverbindungen einer Karte dieIntensität eines Wasserkontaktes von vornherein ein. Inzwischenstehen neben den traditionellen auch neuere Materialien undHilfsmittel zur Verfügung, die Wasser z. B. nur in seiner Dampf-form in das Objekt transportieren. Einfache Kompressen ausFilterkarton oder die Feuchtigkeitswanderung durch Gele ausLaponite® oder Methylzellulose bewähren sich fallweise genausowie das synthetische Material GORE-TEX®. Dieses aus einerTeflonmembran und einem Polyestervlies bestehende wasserun-durchlässige, aber dampfdiffusionsoffene Material eignet sichzum gezielten Befeuchten oder Trocknen großformatiger Objekte.Mit solchen Materialien lassen sich diffizile Schadensbilder mitgeringen Risiken bearbeiten. Für das Lösen problematischerVerklebungen stehen zudem Enzyme oder organische Lösungs-mittel zur Verfügung.Bei den intensiv wirkenden Nassbehandlungsbädern können z. B.wasserlösliche, alterungsbedingte Abbauprodukte (chromophoreund saure Substanzen) herausgespült und Erdalkali- und Alkali-ionen zur Neutralisation von Säuren und zum Anlegen einer alka-lischen Reserve eingebracht werden. Im Rahmen einer restaurato-rischen Nassbehandlung können sich auch durch Alterungspro-zesse schon gelöste Wasserstoffbrückenbindungen wieder

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ausbilden. Sie sind für die Faser-Faser-Bindungen und zur Einla-gerung von weiteren, die Flexibilität von Papier förderndenWassermolekülen maßgeblich.Das Ziel eines moderaten Feuchtigkeitseintrages z.B. in einerKlimakammer, durch Besprühen oder durch feuchte Kompressenist ein Anquellen und damit einhergehend ein Dehnen undEntspannen der in Verformung erstarrten Faser. Im gequollenenund ausgestreckten Zustand lassen sich oft ältere Reparaturver-suche oder die verschlissene, flächendeckende rückseitigeKaschierung abnehmen, wenn die vormals verwendeten Kleb-stoffe ihrerseits noch wasserlöslich sind.Im entspannten Zustand kann ein Richten, Arrangieren undFixieren aller Umknicke, Einrisse und abgetrennter Fragmente zueinem optisch und inhaltlich stimmigen Gesamtbild erfolgen.Auch das Ergänzen mit neutralem, dem Farbton des Originalsangeglichenem Ausbesserungspapier erfolgt nass in nass. DieMethode des Nass-in-nass-Arbeitens ergibt spannungsarmeKlebeverbindungen zwischen Original-, Ergänzungs- und Hinter-klebungspapier und ist seit Jahrzehnten in der handwerklich-restauratorischen Praxis gut etabliert.Ebenfalls mit einem Feuchtigkeitseintrag oder -entzug verbundenist die Neutralisation saurer Papiere, gemeinhin „Entsäuerung“genannt, und die Anlage einer alkalischen Reserve, für die esverschiedene Verfahren gibt. Für einige nichtwässrige Entsäue-rungsverfahren gilt, dass der Feuchtigkeitshaushalt vor der Trän-kung mit dem Entsäuerungsagenz unter 0,5 % zu senken ist. DieSprühentsäuerung mit wasserfreien, in organischen Lösungsmit-teln gelösten Wirkstoffen gestattet die Behandlung sehr empfind-licher Objekte. Die Neutralisation kann sowohl als eigenerArbeitsgang (z.B. im wässrigen Milieu) ablaufen oder mit Stabili-sierungsarbeiten gekoppelt sein, bei denen mit Alkalien angerei-cherte Klebstoffe zum Einsatz kommen.Alle diese notwendigen konservatorischen und restauratorischenVerfahren arbeiten mit Feuchtigkeitseintrag bzw. dessen Entzug.Ganz gleich, wie stark der Feuchtigkeitseintrag ist, ob hervorge-rufen durch Schwankungen des Umgebungsklimas, durchWasserschäden verursacht oder durch gezieltes Befeuchten oderWässern in der Restaurierungswerkstatt gewollt: Wer sich fürPapier als Werkstoff entscheidet, der muss mehr oder wenigerausgeprägte Dimensionsveränderungen mit ins Kalkül ziehen.Der Feuchtigkeitseintrag und die daraus resultierende Dimensi-onsveränderung sind nicht das Ziel, liegen aber auf dem Wegkomplexer restauratorischer Arbeitsschritte. In der Schriftgutres-taurierung, aus der auch die Praxis der Kartenrestaurierungentlehnt ist, wurden sie immer als Begleiterscheinung registriert,beeinflussten aber das ästhetische Erscheinungsbild nicht überge-bührlich, noch führten sie bisher zu einer größeren archivischenAuthentizitätsdiskussion.

DIMENSIONSVERÄNDERUNGEN BEI DERNASSBEHANDLUNG VON KARTENIm Zuge umfangreicher Kartenrestaurierungen, die das Branden-burgische Landeshauptarchiv in den letzten Jahren durchgeführthat, wurden in Zusammenarbeit mit der Preservation AcademyGmbH in Leipzig an mehreren überformatigen SeparationskartenMessungen zu den Dimensionsveränderungen vor der Nassbe-handlung, im feuchten Zustand, nach der ersten Trocknung, nachder vollflächigen Kaschierung mit Japanpapier (11 g/m²) und

nach der abschließenden zweiten Trocknung durchgeführt.Während der einzelnen Bearbeitungsschritte wurden jeweils diegesamte Länge und Breite der Karte bzw. Kartenteile gemessensowie der Abstand zwischen zwei Referenzpunkten sowohl inLauf- als auch in Dehnrichtung des Papiers.Bei den Karten bzw. Kartenteilen, die Kantenlängen bis 101 cmund unterschiedliche Papierqualitäten aufwiesen, kam es dabeiim Zuge der Nassbehandlung zwar in wenigen Fällen zuDehnungen um bis zu 1,2 cm, nach der zweiten Trocknung unddem Abschluss der Restaurierung wiesen die Stücke jedoch Diffe-renzen zum Ursprungsmaß von maximal 0,5 cm (maximal 1%)auf. Bei über 92 % der Karten betrug die Dimensionsveränderungam Ende unter 0,5 % im Vergleich zu den Anfangswerten, beiknapp 34 % ließen sich überhaupt keine Abweichungen nach-weisen. Die deutlichsten Veränderungen ließen sich nachAbschluss aller Arbeiten vor allem in Laufrichtung des Papiersbeobachten. Die Differenzen ergaben in der Regel eine geringeAusdehnung der Vorlage, nur wenige Karten waren nach derNassbehandlung „kleiner“ als vorher.Die Messwerte zeigen, dass im Zuge wässriger oder wasser-feuchter Behandlungsmethoden bzw. beim Entzug von Feuchtig-keit naturgemäß immer mit Dimensionsveränderungen desPapiers zu rechnen ist, die sich bei Verwendung schonenderVerfahren aber auf sehr geringe Abweichungen reduzieren lassen.Die Differenzen liegen angesichts der unkalkulierbaren Schwan-kungen, welchen die Karten und Pläne schon bei der vorarchivi-schen Nutzung und Aufbewahrung gewöhnlich ausgesetztgewesen sein dürften, im Bereich einer immer anzusetzendenFehlertoleranz bei der Auswertung solcher Quellen.

SCHUTZMEDIENSchutzmedien sind besonders für unhandliche Archivgutformateein bewährtes und zu empfehlendes Mittel, nutzungsbedingteSchäden zu verringern. Aber auch die Mikroverfilmung oderDigitalisierung von gerollten Karten erfordert in der Regel einevorangehende konservatorische oder restauratorische Behand-lung. Andernfalls bewirken offene Risse und Falten sowie beson-ders die Welligkeit der ehemals gerollten Objekte eine Maßver-kürzung in Rollrichtung. Die wellenförmige Oberflächenstrukturbleibt auf den Reproduktionen durch Schattenwurf erkennbarund führt mitunter zu Schärfeverlusten. Der Einsatz von Glas-platten oder Sogtischen kann diese Effekte zwar verringern, istwegen der großen Formate oder angebrachter Randstäbe aberzumeist nur bedingt und mit hohem konservatorischem Aufwandmöglich. Aufliegende Verstaubungen müssen gereinigt und loseFragmente fixiert werden, um Informationsverluste möglichst zuvermeiden.Überprüfungen an den Digitalisaten historischer Karten, wie siein Kataster- und Vermessungsämtern heute verwendet werden,zeigen, dass Maßabweichungen über längere Entfernungen bei derDigitalisierung von Großformaten nicht ungewöhnlich, aber inder praktischen Auswertung der modernen Katastererfassung vonuntergeordneter Bedeutung sind, da in der Regel eine Vielzahl vonEntfernungen als Zahlenwerte auf den Karten ausgewiesen sindund beim Abgreifen von unbemaßten Distanzen allenfalls klei-nere Kartenausschnitte in Betracht kommen, so dass sich dieProblematik der Dimensionsveränderung relativiert. Die Praxisder historischen Vermessung selbst birgt zudem technischbedingte Ungenauigkeiten.

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SCHLUSSKarten oder andere Großformate sollten grundsätzlich nichtgerollt, stehend oder hängend, sondern plan liegend aufbewahrtwerden. Die gerollte Aufbewahrung von Karten ist keine Alterna-tive, um Dimensionsveränderungen, wie sie in sehr geringemUmfang durch das Planlegen und Restaurieren von Großformatenentstehen, zu vermeiden. Die Schadensrisiken, die sich insbeson-dere im Falle der Nutzung aus der gerollten Lagerung ergeben,überwiegen gegenüber den verhältnismäßig geringen Verände-rungen, die sich aus dem erforderlichen Kontakt mit Wasser oderwasserhaltigen Klebstoffen im Zuge des Planlegens und Restaurie-rens für die Aussagekraft der Kartendaten ergeben.Das Anbringen von Trägermaterialien, Reparaturen und natür-liche Klimaschwankungen führten bereits in früheren Zeiten zuDimensionsveränderungen bei historischen Karten, sei es in dervorarchivischen Nutzung oder in der späteren Aufbewahrung. Diegerollte Aufbewahrung selbst, die zu einer einseitigen Belastungder Papiersubstanz führt, dürfte zu weiteren Unschärfen beige-tragen haben, die noch genauer zu quantifizieren wären.

ANHANGPLANLEGEN VON KARTEN – VORGABENUND ANFORDERUNGEN BEI DERAUFTRAGSVERGABE ZUR RESTAURIE-RUNG VON KARTENIm Folgenden werden Anforderungen für die Planlegung undRestaurierung von Karten im Stil einer Leistungsbeschreibung alsTextbausteine zusammengestellt, so dass sie in einer Ausschrei-bung verwendet werden können. Die eingerückten Textpassagenerläutern die möglichen Behandlungsschritte.Vor einer Vergabe muss am ausgewählten Kartenbestandzunächst eine Schadensanalyse durchgeführt werden. Dabeisollten die Signaturen, die Maße, die mögliche Teilung sowie dieSchäden in einer Tabelle erfasst werden. Dies erleichtert demAnbieter die Kalkulation, stellt aber gleichzeitig auch eine Doku-mentation der bereits vorhandenen Schäden und Zustände darund kann im Versicherungsfall als Absicherung für das Archivdienen. Die Teilung einer Karte sollte vom Auftraggeber erforder-lichenfalls in einer Skizze festgelegt werden.Es ist auch sinnvoll, in dieser Tabelle bereits zu vermerken, was ander jeweiligen Karte für Arbeiten ausgeführt werden sollen. Diessetzt voraus, dass man sich vorab mit den geplanten Zielen undAnforderungen an die Restaurierung auseinander gesetzt hat.Die Schäden und Ziele können im Ausschreibungstext zunächstin einer allgemeinen Schadens- und Leistungsbeschreibungformuliert werden, bevor man detailliert die einzelnen Leistungs-positionen mit den entsprechenden Vorgaben ausarbeitet.

Leistungspositionen

1. Lösen von Randstäben oder RändelbändernDie vereinzelt an den Kartenenden montierten Stäbe (Kartenrol-lenstangen) sowie die textilen, aufgenähten Rändelbänder sind zulösen und abzunehmen. Ein Beschneiden der Karten ist nichtzulässig

An zahlreichen Karten befinden sich entweder Randstäbe aus Holz

oder Rändelbänder aus Gewebe, die mit der Karte als Schutzrand

vernäht sind. Beides ist vor der Restaurierung abzunehmen, da sonst

keine gleichmäßige Bearbeitung erfolgen kann. Randstäbe behindern

zudem eine Verfilmung oder Digitalisierung der Karten.

2. TrockenreinigungMechanische Trockenreinigung der Kartenoberflächen mitRadiermaterialien (z.B. Latexschwämme). Nicht zu verwendensind jegliche Art von Radierpulvern und mit Radierpulver gefüllteRadierschwämme oder -säckchen. Der Verlust von Text-, Bild-und anderen Informationen ist unbedingt zu vermeiden.

Vor jeglicher restauratorischer Bearbeitung sollte immer eine mechani-

sche Trockenreinigung der Kartenoberflächen erfolgen, soweit dies der

Zustand der Karte zulässt, um aufliegende Verschmutzungen zu

entfernen. Dies ist zum einen wichtig, da Schmutz eine Nahrungs-

grundlage für Schimmelpilze ist. Zum anderen kann es bei ungerei-

nigten Objekten im Zuge von weiteren Behandlungsschritten, die mit

Feuchtigkeit arbeiten, zur Wanderung und Fixierung von Schmutzpar-

tikeln und somit zur Bildung von Wasserrändern kommen.

Als Radiermaterialien eignen sich z.B. spezielle Latexschwämme

(„Russfresser“ oder „Wallmaster“), da mit diesen weitgehend rück-

standsfrei gearbeitet werden kann und sie den Schmutz durch ihre

vergrößerte Oberfläche gut aufnehmen. Werden Radierschwämme

aus anderen Materialien (z.B. Akapad White aus Faktis) verwendet, ist

darauf zu achten, dass die Radierrückstände besonders gründlich

ausgefegt werden.

Bei stark verschmutzten Karten oder Karten aus stark säurehaltigem

Papier wäre es sinnvoll, eine Nassbehandlung vorzunehmen. Dies ist

jedoch ausschließlich bei Objekten möglich, die keine Kolorierungen

oder wasserempfindliche Schreibmaterialien aufweisen, die bei einer

Wässerung ausbluten oder verlaufen würden. Da jedoch die meisten

Karten diese wasserempfindlichen Materialien aufweisen, soll dieser

Arbeitsschritt hier nur am Rand erläutert werden

Eine Wässerung entfernt saure Abbauprodukte und Verschmutzungen

und regeneriert die Faser-Faser-Bindungen (Wasserstoffbrückenbin-

dungen etc.). Durch den Zusatz von Calciumcarbonat kann eine alkali-

sche Reserve angelegt werden, die sich zukünftig bildende Säuren

neutralisiert. Ist eine Wässerung möglich, können in diesem Arbeits-

schritt alte, wasserlösliche Verklebungen entfernt werden.

3. Abnahme von alten VerklebungenAlle alten Verklebungen (Stabilisierungsmaterialien wie Gewebeund Papier auf der Rückseite, alte Reparaturen, Klebebänder,Hinterklebungen etc.) sowohl auf der Rück- als auch auf derVorderseite sind abzunehmen, soweit dies ohne Substanzverlustmöglich ist. Dabei ist darauf zu achten, dass keine Klebstoffresteauf dem Papier verbleiben, da diese zu Spannungen führen. DesWeiteren ist die Feuchtigkeitseinwirkung zu minimieren, um dieFarb- und Schreibmaterialien so wenig wie möglich zu beein-trächtigen. Das Verlaufen oder gar Auswaschen von Beschrif-tungen/Informationen ist unbedingt zu verhindern. Ggf. müssenvor dem Feuchten Ausblutungstests vorgenommen werden. Beistark gefährdeten Materialien ist vorab eine Fixierung vorzu-nehmen.Etiketten sind abzulösen und der jeweiligen Karte beizulegen.Befinden sich auf anderen abzulösenden Materialien Signaturenoder Beschriftungen, sind solche Stücke aufzuheben und späterebenfalls der jeweiligen Karte beizulegen.

Ein Großteil der in Archiven befindlichen Karten weist alte Verkle-

bungen auf. Dabei kann es sich um Kaschierungen aus Gewebe auf

der Rückseite oder um alte Reparaturen auf der Vorder- oder Rückseite

handeln. Vor allem die Gewebekaschierungen auf der Rückseite haben

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aufgrund unterschiedlicher Klimareaktionen zu Schäden am Papier

geführt. Daher sind alle alten Verklebungen nach Möglichkeit zu

entfernen.

In den meisten Fällen handelt es sich um wasserlösliche oder -quell-

bare Verklebungen, die mit Hilfe von Feuchtigkeitseinwirkung gelöst

werden können. Hierfür ist der Einsatz verschiedener Feuchtigkeits-

kompressen üblich, wie beispielsweise die GORE-TEX®-Kompresse

oder Gelkompressen, die ein langsames und schonendes Feuchten

erlauben.

Vor der Abnahme der Verklebungen müssen gerollte oder geknickte

Karten entspannt werden. Dies erfolgt zumeist in einer Klimakammer

zur schonenden Befeuchtung.

4. Trennen der KartenblätterKarten, die aus mehreren, zusammengefügten Blättern bestehen,sind durch das Lösen der Originalverklebung in einzelne Teilebzw. Blätter zu trennen. Dabei ist unbedingt auf die ggf. beige-fügten Blattskizzen zu achten, da nicht alle Teile getrennt werdensollen, sondern nur soviel wie nötig. Ausnahmen bilden dieKarten, die aufgrund ihres großen Formats nach der Restaurie-rung wieder gerollt gelagert werden sollen. Eine Trennung derKartenblätter durch Schneiden ist nicht zulässig.

Das Trennen von Kartenblättern sollte nur bei Karten mit einem

Format über DIN A0 in Betracht gezogen werden, die aus mehreren

Kartenblättern zusammengefügt sind. So kann auch bei diesen Karten

die plane Lagerung erreicht werden, und die restaurierten Karten

müssen nicht wieder gerollt werden. Die Trennung erfolgt dabei

ausschließlich durch das Lösen der Originalverklebungen der

einzelnen Blätter. Dies kann im Zuge des Ablösens der alten Verkle-

bungen geschehen, da die Karte bereits gefeuchtet ist und sich der

wasserlösliche Klebstoff lösen lässt.

5. Risse schließen und Fehlstellen ergänzenAlle Risse sind mit Japanpapier (25-30 g/m²) und gekochtemWeizenstärkekleister oder einem Gemisch aus Weizenstärke undMethylcellulose zu schließen. Stärkeres Material ist nicht für dieRissschließung zu verwenden.Fehlstellen sind mit Japanpapier oder angefasertem Material/ungeleimtem Faservlies zu ergänzen.

Risse werden mit Japanpapier und einem natürlichen, alterungsbe-

ständigen, reversiblen Klebstoff geschlossen. Papierrestauratoren

verwenden hierfür in der Regel Weizenstärkekleister oder Methylcellu-

lose. Aufgrund seiner höheren Klebkraft ist Weizenstärkekleister oder

allenfalls ein Gemisch aus beiden zu empfehlen. Je nach Stärke des

Kartenmaterials wird Japanpapier verschiedener Grammaturen

gewählt. Für die Fehlstellenergänzung eignen sich ebenfalls Japanpa-

piere oder angefasertes Material. In einigen Werkstätten werden

Papierbogen aus reinen Cellulosefasern, die eingefärbt werden

können, selbst hergestellt. Dabei ist darauf zu achten, dass das Ergän-

zungsmaterial sich optisch und haptisch sowie in seiner Stärke an das

Original anpasst.

6. KaschierenZur Stabilisierung sind die Karten mit dünnem alterungsbestän-digem Japanpapier (max. 11 g/m²) vollflächig auf der Rückseite zukaschieren. Der zur Kaschierung verwendete Klebstoff (Weizen-stärkekleister oder Weizenstärke-Methylcellulose-Gemisch) istmit Calcium- oder Magnesiumcarbonat als Pufferung zuversetzen.Auch hierbei ist das Ausbluten und Verwischen von Schreibmate-rialien zu vermeiden.

Die Signatur ist mit Bleistift in der rechten unteren Ecken derKaschierung anzubringen.

Zur Stabilisierung dünner oder fragiler Karten kann es sinnvoll sein,

diese zu kaschieren. Hierfür wird ein meist dünnes Japanpapier

(zwischen 10-25 g/m²) vollflächig auf die Rückseite der Karte mit

Weizenstärkekleister geklebt. Auch bei diesem Arbeitsschritt ist auf

ausblutende Schreibmaterialien zu achten. Ist dieser Behandlungs-

schritt vom Auftraggeber gewünscht, sollten klare Vorgaben zu rück-

seitigen Beschriftungen und zum Anbringen der Signatur gemacht

werden, da alte Beschriftungen oder Stempel auf der Rückseite nach

der Kaschierung nicht mehr sichtbar sind.

7. PlanlegenNach Abschluss aller Arbeiten, bei denen Feuchtigkeit zumEinsatz kommt, sind alle Karten plan zu legen. Nach evtl.erneutem sanften Befeuchten der Karten (vorzugsweise in einerKlimakammer oder im GORE-TEX®-Sandwich) sind diese untergeringer mechanischer Belastung zu glätten, so dass die Texturdes Objektes möglichst erhalten bleibt. Die Einwirkung vonFeuchtigkeit ist in Anbetracht der meist stark ausblutendenTinten und Schreibmaterialien so gering wie möglich zu halten.

Die noch feuchte Karte wird geglättet, um Spannungen und Verwer-

fungen auszuschließen. Ggf. muss die Karte schonend in der Klima-

kammer oder im GORE-TEX®-Sandwich nachgefeuchtet werden. Zum

Glätten stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung: Es kann

durch Planlegen und Pressen zwischen Löschkartons und Brettern

erfolgen bzw. in einer Planglättpresse bei sehr geringem Druck. Ein

Spannen ist nur möglich, wenn die Karte auf ein Japanpapier

kaschiert wurde, da das Spannen über die überstehenden Ränder des

Kaschiermaterials erfolgt. Bei beiden Methoden ist darauf zu achten,

dass die mechanischen Belastungen auf das Objekt so gering wie

möglich ausfallen. Bei der beschwerten Trocknung ist dies besonders

wichtig, wenn Karten mit einem Plattenrand oder anderen struktu-

rellen Besonderheiten vorliegen. In diesem Fall ist die Anwendung

eines Hart-Weich-Sandwiches zu empfehlen, bei dem unten harte

Pressmaterialien und oben weiche Materialien, wie z. B. Filzmatten,

verwendet werden.

8. VerpackenDie Teilblätter der geteilten Karten sind gemeinsam in eine an dreiSeiten offene Mappe aus hellgrauem Karton (ca. 300-350 g/m²), jenach Blattgröße DIN A2 bis DIN A0, einzulegen. Es ist darauf zuachten, dass die jeweilige Mappe nicht unverhältnismäßig zu großfür ihren Inhalt ist.Werden die Mappen aus 2 Kartonbogen zusammengesetzt, ist alsVerbindungsmaterial gummiertes Gewebeklebeband (z.B. Nass-Shirting) zu verwenden. Die Verwendung von Selbstklebebändernist nicht zulässig.Alternativ: Anstelle der Kartenmappe ist jede Karte oder Teilkarteeinzeln in eine an zwei Seiten offene Polyesterhülle zu verpacken.Die geschlossenen Seiten der Polyesterhülle sind mit Ultraschall zuverschweißen, nicht zu kleben oder zu nähen. Die Schweißnähtesollen in kleinen Teilstücken ausgeführt werden.Karten im Format über DIN A0, die nicht geteilt wurden, sind aufeinen stabilen Kern aus konservatorisch unbedenklichem Material(Durchmesser mind. 20 cm) aufzurollen und in einer maßgenauenBox mit Stülpdeckel und konkaven Aufnahmestegen zur Fixierungund Stabilisierung der gerollten Form im Inneren zu verpacken.Alle Verpackungsmaterialien aus Papier bzw. Karton haben der DINISO 9706 zu entsprechen. Von den für die gerollten Karten verwen-deten Schutzverpackungen ist bei Eigenherstellung eine Beschrei-

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ARCHIVAR 63. Jahrgang Heft 01 Februar 2010

bung (inkl. Angabe der verwendeten Materialien) oder ggf. einHerstellerzertifikat beizufügen.

Nach Abschluss der beschriebenen Restaurierungsarbeiten muss eine

angemessene Verpackung und Lagerung der Karten erfolgen. Zur Planla-

gerung können die Karten einzeln in Papier- oder Polyesterhüllen, bei

geteilten Karten alle Einzelteile in eine Kartonmappe verpackt werden.

Die Polyesterhüllen müssen an zwei Seiten offen sein, um einen Luft-

und Klimaaustausch zu gewährleisten. Dieser kann erhöht werden,

indem die Schweißnähte in Teilstücken ausgeführt werden. Zusätzlich

werden die einzelnen Objekte in Mappen aus alterungsbeständigen

Materialien verpackt, wobei max. 15-20 Karten in einer Mappe unterzu-

bringen sind.

9. DokumentationDie ausgeführten Arbeiten sind für jedes Einzelstück tabellarisch zuprotokollieren. Hierfür erhält der Auftragnehmer vom Auftraggebereine Signaturliste der Stücke. Das Protokoll ist dem Auftraggeber inelektronischer Form zu übergeben. Zusätzlich sind alle Arbeiten, diedurchgeführt wurden, einmalig zu beschreiben, sowie eine Materi-alliste aller verwendeten Materialien (mit Herstellerzertifikat) undggf. Konzentrationen, verbunden mit einer Garantie ihrer Alterungs-beständigkeit beizufügen. Dabei ist auch zu verzeichnen, wofür dasjeweilige Material verwendet wurde. Ebenfalls sollen exemplarischeinige Karten mit Vor- und Nachzustandsbildern dokumentiertwerden.

Um die durchgeführten Restaurierungsarbeiten nachvollziehbar zu

machen und für spätere Generationen die verwendeten Techniken und

Materialien festzuhalten, ist es ratsam, aussagekräftige Dokumenta-

tionen anfertigen zu lassen.

Bei großen Mengen von Objekten, die sich sowohl im Schadensbild als

auch in den durchgeführten Maßnahmen ähneln, können Dokumenta-

tionen in tabellarischer Form durchgeführt werden. Dabei sollten aber

alle ausgeführten Maßnahmen einmalig beschrieben und alle verwen-

deten Materialien inkl. Hersteller, Bezugsquelle und Rezepturen aufge-

führt werden.

10. Weitere AnforderungenZur Qualitätskontrolle behält sich der Auftraggeber während derBearbeitung der Karten jederzeit die Möglichkeit zur Prüfung vorOrt vor. Bei jeglichen Problemen oder Unklarheiten, die die aufge-führten Leistungspositionen betreffen, ist der Auftraggeber zukontaktieren.Die Karten sind vom Auftragnehmer beim Auftraggeber (Adresse)abzuholen und nach Beendigung aller Arbeiten wieder dorthinzurückzuliefern. Die Verpackung erfolgt durch den Auftragnehmermit geeigneten Verpackungsmaterialien, die eine sichere, behutsameund schädigungsfreie Lieferung gewährleisten. Sowohl die Verpa-ckungsmaterialien als auch die Transportmittel sind bereits imAngebot anzugeben. Die Karten sind während des gesamten Trans-ports insbesondere gegen Witterungseinflüsse, starke Klimaschwan-kungen und unbefugten Zugriff zu schützen.Der Auftragnehmer übernimmt die Haftung von der Abholung biszum Rücktransport der zu behandelnden Objekte (Gewährleistungvon Tür zu Tür). Der Auftragnehmer haftet für absichtlich oder

fahrlässig verursachte Schäden am Eigentum des Auftraggebers undbei Verlust des Eigentums. Ferner haftet er für die Einhaltung dergeforderten Qualitätsstandards. Dem Angebot ist eine Erklärungüber den Rahmen der Gewährleistung und die Höhe des Versiche-rungsschutzes beizufügen (Kopie der Versicherungspolice des Auf-tragnehmers mit Nachweis über die Versicherungsbeitragszahlung).Schäden, die auf Grund der Bearbeitung an den Karten auftreten,sind unverzüglich dem Auftraggeber mitzuteilen. Werden nach derRücklieferung durch den Auftraggeber Schäden an den Objektenfestgestellt, die während der Auftragsbearbeitung entstanden sind,sind diese dem Auftragnehmer binnen 14 Tagen mitzuteilen. DieSchäden sind in restauratorisch-konservatorischer Nachbehandlungdurch den Auftraggeber zu beheben oder die Kosten zur Behebungdes Schadens zu erstatten. Einzelheiten zu aufgetretenen Schadens-fällen sind ggf. schriftlich zwischen Auftragnehmer und Auftrag-geber näher zu vereinbaren.Um bearbeitungstechnische Schäden zu vermeiden, ist bei jedemauftretenden Problem der Auftraggeber zu kontaktieren.Mit Abgabe des Angebotes hat der Anbieter seine Erfahrungen beider Restaurierung historischer Karten nachzuweisen und Refe-renzen anzugeben.Für die ausgewählten Leistungspositionen ist anhand einer Kalkula-tionstabelle (Leistungsposition, Einzelpreis netto pro m² undGesamtpreis netto) ein Kostenangebot abzugeben. Es sollten nurAngebote mit Festpreisen (netto) berücksichtigt werden, eineAbrechnung nach Aufwand ist nicht empfehlenswert.

LITERATURHINWEISEJürg Bühler: Die Aufbewahrung von Karten in Hängemappen.

Erfahrungen mit der Vertikallagerung von Karten in der Karten-sammlung der ETH-Bibliothek Zürich; Text unter: http://liber-maps.kb.nl/articles/buhler5.html (letzter Zugriff: 1. 10. 2009).

Margareta Bull-Reichenmiller: Erschließung und Lagerung vonKarten und Zeichnungen. In: Archiv und Wirtschaft Jg. 1987,H. 2, S. 45-54.Maygene Daniels: A guide to the archival care of architecturalrecords, 19th – 20th centuries. Paris 2000.

Michelle Facini: Storage solutions for large format works on paper,in: Art on paper – mounting and housing, hrsg. v. Judith Rayneru. a., London 2005, S. 96-103.

Hennifer Tait / Philippa Sterlini: Care and conservation of archi-tectural plans: a survey of current practice in the UK and Ireland.In: Journal of the Society of Archivists 20 (1999), S. 149-159.

Kees Zandvliet: Erschließung und Verwahrung von Karten undPlänen. In: Archivpflege in Westfalen und Lippe 33 (1991), S. 29-32.

Wir danken den Kolleginnen und Kollegen des Bestandserhaltungs-ausschusses der ARK für ihre fachlichen Hinweise und die zurVerfügung gestellten Kennzahlen.

Mario Glauert, Potsdam/Ingrid Kohl,Potsdam/Henrik Otto,Dessau

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ARCHIVAR 63. Jahrgang Heft 01 Februar 2010

MIKROHISTORIE AUS LOKALENUND REGIONALEN ARCHIVEN1

69. FACHTAGUNG RHEINLAND-PFÄLZISCHER UNDSAARLÄNDISCHER ARCHIVARINNEN UND ARCHIVARE AM 11. MAI 2009

Der Einladung nach Worms waren fast 60 Teilnehmer gefolgt,darunter auch Vertreter der Archive im benachbarten Auslandsowie historischer Einrichtungen, die mit Blick auf die landesge-schichtliche Ausrichtung der Tagung ebenfalls eingeladen wordenwaren.

Unter dem internationalen Forschungszweig der „Mikrohistorie“versteht man nach der Einführung von Wolfgang Stein eineNeuausrichtung der Lokal- und Regionalgeschichte unter sozial-geschichtlicher Perspektive, durch die bestimmten Quellen einegrößere Bedeutung, als bisher angenommen, zukommt. ImGegensatz zur „Makrohistorie“ setzen die Studien immer beieinem historischen Einzelvorgang an, den sie sowohl in seinerIndividualität als auch in einem größeren Zusammenhang darzu-stellen versuchen.

Die Reihe der Vorträge eröffnete Walter Rummel, LandesarchivSpeyer, mit einem Beitrag über „Bilder des Unrechts“. Darinuntersuchte er die eigene Wirkung von Bildern, ausgehend vonzwei Zeitungsartikeln zum Gedenken der Pogromnacht, in denenu. a. auch Fotos der rheinhessischen Gemeinde Guntersblumverwendet wurden, die zeigen, wie Juden in uniformierter Beglei-tung und vor den Augen der Anwohner durch den Ort geführtwurden, und deren Veröffentlichung für große Aufregung sorgte.

Neben den Fotos sind als weitere wichtige, schriftliche Quellender NS-Zeit die Entnazifizierungsakten heranzuziehen, die mitihrer biographischen – wenn auch subjektiven – Perspektive einenkonkreten alltagsgeschichtlichen Zugang ermöglichen. Die Füllean lokalen und regionalen Informationen verlangt nach einerdetaillierten inhaltlichen Erschließung der Entnazifizierungs-akten in den Landesarchiven, zumal viele Informationen aus derNS-Zeit selbst oftmals gar nicht mehr zur Verfügung stehen.Derzeit unterliegt ein erheblicher Teil der einschlägigen Überliefe-rung noch den Sperrfristregelungen des LandesarchivgesetzesRheinland-Pfalz.

Eine andere wichtige Quelle auch der Nachkriegszeit sind dieErmittlungsakten der Landgerichte und Staatsanwaltschaftenanlässlich der Pogromnacht, die – wenn auch nicht vollständig –in die Landesarchive gelangt sind. Anhand der Ermittlungsaktezu Guntersblum lassen sich detaillierte Rückschlüsse auf dieVorfälle vom 10. November 1938 ziehen, welche jedoch in Bezugauf das Ausmaß und die Beteiligung der Bevölkerung einen ganzanderen Eindruck als die Fotos vermitteln.

Auf drei Bestände des Stadtarchivs Worms und ihre Bedeutungfür die regionallokale, überörtliche und sozial- und wirtschaftsge-schichtliche Forschung bis 1933 wies der Vortrag „Quellen zumkommunalen Wohlfahrtswesen in Worms und den Landge-meinden der Region“ von Gerold Bönnen hin. Die Beständeenthalten Unterlagen, die in der Zeit zwischen den Weltkriegen

infolge erweiterter Zuständigkeiten der Kommunen im Bereichder Daseinsfürsorge entstanden sind und dank zügiger Über-nahme, dem Verzicht auf Kassation und der seit 2001 vorangetriebenen Verzeichnung nunmehr vertiefende Recherchenerlauben. Aufschluss über den Bereich der Arbeitsbeziehungengeben dabei die in das Stadtarchiv gelangten, bis in die 1890erJahre zurückreichenden ca. 350 Akten des GewerbegerichtsWorms, die für die Erforschung des Arbeitslebens und die Bezie-hungen zwischen Arbeitgebern und -nehmern insbesondere inden Krisenjahren der Weimarer Republik von großem Wert sind.Die Akten des Lebensmittelamtes Worms vom Ersten Weltkriegbis ca. 1923/24 wie auch die Akten zur Versorgungsfrage der imStadtarchiv verwahrten Gemeindearchive geben einen besonderenEinblick in die Schwierigkeiten der von Krieg und Kriegsfolgen,Hunger und Not betroffenen Bevölkerung. Mit der Überlieferungdes Wohnungsamtes wird – über Worms hinaus – ein zentralessozialpolitisches Problem der Zeit nach 1919 angesprochen.Mit dem Beitrag „Den Nachbarn in die Wohnung geschaut.Inventare und Quellen aus Notariatsarchiven des 19. Jahrhun-derts“ setzte Gunter Mahlerwein die Vortragsreihe am Nach-mittag fort. In Inventare wurde zur Wahrung unterschiedlicherRechtsansprüche der gesamte immobile und mobile Besitz vonPersonen und Familien verzeichnet. Im UntersuchungsgebietRheinhessen entstanden so beispielsweise Vormundschaftsinven-tare nach dem Tod eines Elternteils, um Kindern der ersten Eheihr Erbe zu sichern, Nachlassinventare nach dem Tod beiderEltern oder Teilungsinventare bei vorzeitiger Aufteilung des Erbesnoch zu Lebzeiten eines Elternteils.Anhand der erfassten Gegenstände sind Rückschlüsse auf Besitz-stände, Lebensstandards einzelner Personen, Familien undsozialer Gruppen, auf Arbeitsvorgänge, kulturelle Beschäftigungusw. möglich, weshalb Inventare eine Quellengrundlage fürsozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Untersuchungendarstellen. Dass sie für das 19. Jahrhundert vorliegen, ist auf dieEinführung der französischen Notariate auf dem linken Rhein-ufer zurückzuführen. Der neueren, europäisch vernetzten Inven-tarforschung, die Inventare als Massenquelle computerunterstütztauswertet, stehen traditionelle, qualitative Auswertungenweiterhin gegenüber.

Andrea Grosche-Bulla, Koblenz

1 Gekürzte Fassung des Tagungsberichts in: Unsere Archive Nr. 54 (2009).

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6. BAYERISCHER ARCHIVTAG 2009IN KAUFBEUREN:KOMPETENZZENTRUM ARCHIV.DIE ARCHIVE IN DER VERNETZTENWELT

Der 1999 ins Leben gerufene Bayerische Archivtag hat sich alsregionales Forum, auf dem archivspartenübergreifend der fach-liche Informations- und Meinungsaustausch gepflegt wird, längstetabliert. Alle zwei Jahre treffen sich Archivarinnen und Archivareaus Bayern und benachbarten Regionen, um sich in Vorträgenund Fachgruppensitzungen mit aktuellen Themen der Archivar-beit zu befassen. Nach Bamberg, Ingolstadt, Straubing, Ambergund Erlangen war der Bayerische Archivtag dieses Jahr vom 15.bis 17. Mai in Kaufbeuren, also an einem Schauplatz ehemalsreichsstädtischer Geschichte, zu Gast. Rund 190 Archivarinnenund Archivare kamen zu der Tagung ins Allgäu und setzten sichmit der Frage nach dem Standort der Archive in der vernetztenWelt auseinander.In der modernen Informationsgesellschaft spielt das Internet einesignifikante Rolle. Als Medium für Information und Kommunika-tion ist es inzwischen aus vielen Bereichen des täglichen Lebensnicht mehr wegzudenken. Mit seiner zunehmenden Verbreitungund Popularität sind auch die Ansprüche an die Zugänglichkeitvon Wissensressourcen gewachsen. Analog zu dem alten Rechts-sprichwort „Quod non est in actis, non est in mundo“ möchteman heute behaupten: „Was nicht im Netz ist, ist nicht in derWelt.“ Welche Konsequenzen folgen daraus für die Positionierungder Archive als Kompetenzzentren? Welche Chancen bietet dasInternet den Archiven, um in der breiten Öffentlichkeit alsWissensspeicher besser wahrgenommen zu werden und durch dieOnline-Präsentation von Findmitteln und Archivalien dieZugriffsmöglichkeiten auf ihre Bestände zu erleichtern? Welcherechtlichen Probleme ergeben sich daraus und welche Anforde-rungen sind an die zeitgemäße Kompetenz der Archivarinnen undArchivare und ihre Fachausbildung zu stellen? Diese Fragenstanden im Mittelpunkt des Vortragsprogramms, das amSamstag, dem 16. Mai, im Stadtsaal stattfand.Nach der Begrüßung durch die Leiterin der Generaldirektion derStaatlichen Archive Bayerns, Margit Ksoll-Marcon, und einemGrußwort von Bürgermeister Gerhard Bucher führte HelmuthTrischler, Forschungsdirektor des Deutschen Museums inMünchen, mit seinem Vortrag „Vernetzte Welt: Leer- oder Leit-formel?“ in das Thema der Tagung ein. Er ging zunächst auf denBegriff der „vernetzten Welt“ und das ihm zugrundeliegendeNetzwerkkonzept ein und fragte dann nach dessen Bedeutung fürdie Archive, die einen wichtigen, aber eben nur einen institutio-

nellen Akteur in der modernen Wissensgesellschaft – mit spezifi-scher Position und Aufgabenstellung – verkörpern. Trischler rich-tete an die Archive den Appell, das Bild der Vernetzung nicht alsMetapher, sondern als Leitformel für die archivische Arbeit zuverstehen und den Weg der Kooperation mit anderen Kulturgutverwahrenden Einrichtungen wie Bibliotheken und Museen zugehen. Dabei stellte er vier Leitlinien für die Archivarbeit beson-ders heraus: die konsequente Nutzung des Internets zur Bereit-stellung von Wissensressourcen in gemeinsamen Kulturportalen,die Überwindung institutioneller Barrieren, die Zusammenarbeitin grenzüberschreitenden Dokumentations- und Erschließungs-projekten sowie die vernetzte und koordinierte Sammlungspo-litik.Die erste Arbeitssitzung stand unter der Leitung von BernhardGrau (Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns) undbefasste sich mit Kulturportalen und den damit verknüpfenProblemen und Chancen. Joachim Kemper (Generaldirektion derStaatlichen Archive Bayerns) gab einen Überblick über Archivpor-tale im deutschen Sprachraum und deren aktuelle Entwick-lungen; als Beispiele wurden regional, thematisch und sparten-übergreifend ausgerichtete Portale wie „Archive in Bayern“,„Monasterium“, „Zentrale Datenbank Nachlässe“, „BAM“, dieim Aufbau befindliche „Deutsche Digitale Bibliothek“ (DDB) u.a. angeführt. Markus Brantl stellte anschließend die BayerischeLandesbibliothek Online (BLO) vor, die als erstes regionales Fach-portal in Deutschland seit 2002 im Netz verfügbar ist. Dabeihandelt es sich um eine vernetzte Informationsplattform zurGeschichte und Kultur Bayerns, in der die Bayerische Staatsbiblio-thek, bei der auch die Federführung liegt, und fünf weitere Biblio-theken, die bayerische staatliche Archivverwaltung, eine Reihekommunaler, kirchlicher und sonstiger Archive, Behörden,Museen, Universitäten und Forschungseinrichtungen sowieVereine als Partner kooperieren. Die BLO ist modular und offenaufgebaut, bietet multimediale Inhalte, vor allem bibliographi-sche Nachweisinstrumente und digitalisierte Quellen- und Nach-schlagewerke, in denen jeweils für sich, aber auch über zentraleSucheinstiege recherchiert werden kann. In seinem Vortrag mitdem Titel „Findmittel im Netz: Vorzug oder Nachteil – für wen?“skizzierte Robert Zink (Stadtarchiv Bamberg) einleitend unter-schiedliche strategische Erwartungen, die sich von archivischerSeite an die Online-Präsentation von Findmitteln knüpfen

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können. Auf der Grundlage einer vorläufigen Untersuchungstellte er dann einige Erkenntnisse über die Auswirkungen auf dasNutzerverhalten vor, die das Stadtarchiv Bamberg seit Bereitstel-lung von Verzeichnungsdaten und digitalen Images im Internetgewinnen konnte. Im Ergebnis lässt sich laut Zink feststellen:Findmittel im Netz bringen zusätzliche Benutzer und neue Inte-ressenten, worin sich die Zunahme an Transparenz undWirkungsmöglichkeiten äußert. Online-Benutzer bevorzugen alsRechercheart die Volltextsuche, während fachlich zwar hilfreiche,aber eher komplexe Rechercheangebote wenig Akzeptanz findenund auch archivische Ordnungs- und Erschließungsprinzipien fürBenutzer eher von vergleichsweise geringer Relevanz sind. DasInteresse der Benutzer richtet sich insgesamt mehr auf digitaleBildmaterialien als auf Verzeichnungsdaten.Volker Laube (Archiv des Erzbistums München und Freising)referierte unter dem Titel „Der Uropa im World Wide Web?“ überÜberlegungen zu einer Internetpräsentation von Pfarrmatrikeln,von der vor allem Familienforscher als der zahlenmäßig größtenBenutzergruppe in den Diözesanarchiven profitieren können. DerDruck der Nachfrage seitens der Genealogen sowie der Wettbe-werb mit bereits vorhandenen, zum Teil auf eine Vermarktung derkirchlichen Matrikeln abzielenden Initiativen haben die Bereit-schaft der Bistumsarchive, ihre Kirchenbücher selbst online zustellen, wachsen lassen. Vor der Umsetzung gibt es freilich eineReihe von rechtlichen und praktischen Fragen zu klären. Ange-sichts begrenzter personeller und finanzieller Kapazitäten ist dasProjekt für ein Bistumsarchiv allein nicht zu schultern, weshalbsich für die Realisierung die Zusammenarbeit mit Kooperations-partnern empfiehlt, die jedoch bestimmte Kriterien zu erfüllenhaben. So müssen vor allem der pastorale Auftrag der kirchlichenArchive und der archivische Charakter der Präsentation gewahrtbleiben. Der Königsweg ist, so Laube, vorläufig noch nicht inSicht. Vor allem rechtliche, aber auch organisatorische Problemeder Umsetzung hatte Werner Jürgensen M. iur. utr. (Landeskirch-liches Archiv der ELKB) im Blickfeld, der das Kirchenbuchportal,eine im Entstehen befindliche Plattform, die über den Bestand anKirchenbüchern in deutschen kirchlichen und staatlichenArchiven informieren soll, vorstellte. Als Problemkreise skizzierteer insbesondere folgende Themen: Rechtsstatus und Trägerschaftdes Portals, Eigentum und Nutzungsrecht an den Kirchenbuch-daten, Herstellung der Digitalisate, Datenspeicherung und-verwaltung, Gestaltung des Portals und geplante Informations-ebenen, Sicherheit und Finanzierung. Aktuell wird ein Geschäfts-modell für das Kirchenbuchportal erarbeitet, das die Weiterent-wicklung des Projekts grundlegend bestimmen soll.Nach der Mittagspause folgte die zweite Arbeitssitzung, die vonMichael Stephan (Stadtarchiv München) moderiert wurde undnach der zeitgemäßen Kompetenz des archivarischen Berufs-standes fragte. Zunächst erläuterte Margit Ksoll-Marcon (Gene-raldirektion der Staatlichen Archive Bayerns) die Archivarsausbil-dung für die vernetzte Welt am Beispiel des Ausbildungsplans,wie er an der Bayerischen Archivschule und der Fachhochschulefür öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Bayern für denhöheren und den gehobenen Archivdienst angewandt wird. Dabeiging sie in Anlehnung an das Rahmenthema schwerpunktmäßigauf die Vernetzung zwischen den Archiven, die Vernetzung mitanderen Gedächtnisinstitutionen, die Vernetzung mit Registratur-bildnern und schließlich die digitale Vernetzung ein. Bei derAusbildung beider Laufbahnen sind z. B. Praktikumsstationennicht nur in staatlichen Archiven, sondern auch in einemkommunalen und einem kirchlichen Archiv vorgesehen.

Einblicke in die spezifischen Aufgaben weiterer Archive undKultureinrichtungen werden u. a. bei Besuchen und Exkursionenvermittelt. Unterrichtsfächer wie Schriftgutverwaltung, Ausson-derung und Digitale Unterlagen sowie gemeinsame Registraturbe-suche sollen den archivarischen Nachwuchs auf die Beratungs-funktion, die die staatlichen Archive gegenüber den Behördenund Gerichten bei der Verwaltung und Sicherung ihrer analogenund elektronischen Unterlagen zu erfüllen haben, vorbereiten.Auch bei der Vermittlung von Kenntnissen zur digitalen Vernet-zung greifen mehrere Unterrichtsfächer (EDV im Archiv, Öffent-lichkeitsarbeit, Archivrecht, Verwaltungsrecht) ineinander.Vernetzte digitale Informationen sowie Informationsnetzwerkestanden als zwei für die Archive und die Archivarsausbildunggrundlegende Bereiche im Mittelpunkt des sich anschließendenVortrags von Frank M. Bischoff (Archivschule Marburg).Vernetzte Informationen kommen sowohl in der Verwaltung vor,wo sie in Dokumentenmanagement- und Vorgangsbearbeitungs-systemen, Fach- und Internet-/Intranet-Anwendungen entstehenund verarbeitet werden, als auch in den Archiven selbst, wenndiese digitale Unterlagen aus der Verwaltung übernehmen, imZuge der Erschließung digitale Informationen (Metadaten) gene-rieren und diese im Rahmen eines zeitgemäßen Benutzerservicesin den Lesesälen und im weltweiten Netz verfügbar machen.Informationsnetzwerke in der Ausbildung leisten, so Bischoff,einen wichtigen Beitrag zur Erarbeitung von einheitlichen Stan-dards, zur frühzeitigen Erkennung von aktuellen oder zukünf-tigen Entwicklungen, auf die in der Wissensvermittlung rascherreagiert werden kann, und zur Ausschöpfung von Synergieef-fekten.Susanne Freund (Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Informa-tionswissenschaften) sprach über „Das Potsdamer Ausbildungs-modell in der ‚vernetzten Welt‘“, das durch Neuorientierung derAusbildungsinhalte und im Zuge der Umsetzung des Bologna-Prozesses und der Einführung von Bachelor- und Masterstudien-gängen künftige Archivarinnen und Archivare auf die Anforde-rungen der modernen archivischen Berufswelt vorbereiten will.Der Bachelorstudiengang Archiv dauert sieben Semester (inkl.eines Praxissemesters), er soll die für die Berufspraxis und für denÜbergang zum Master-Studiengang erforderlichen Fachkennt-nisse und Kompetenzen vermitteln. Das konsekutive (dreisemes-trige) Masterstudium ist weniger anwendungsorientiert angelegt,es konzentriert sich vielmehr auf den Erwerb von Forschungs-kompetenzen und bildet für Leitungsfunktionen aus. Die Curri-cula verbinden informationstechnologische und fachspezifischeLehrgebiete, wobei die integrative Ausrichtung des Grundlagen-studiums der Überwindung von Barrieren und der Verknüpfungvon Wissensbeständen in Archiven, Bibliotheken, Informations-und Dokumentationseinrichtungen zugute kommt. Eine Vernet-zung findet auch insofern statt, als der Fachbereich Informations-wissenschaften in Verbänden und Netzwerken seines Fachesmitwirkt und im Zuge der praxisbezogenen Lehre und Forschungmit Archiven und öffentlichen Einrichtungen kooperiert.Hans-Joachim Hecker (Stadtarchiv München) stellte die provoka-tive Frage „Erlaubt ist, was gefällt?“ und ging exemplarisch aufdie juristische Problematik der Internetnutzung durch die Archiveein. Zentrale Aussage des Referats war, dass die bislang nichteinheitliche Rechtsprechung im Einstellen von personenbezo-genen Informationen in das Internet eine andere Qualität sieht alsbei der Publikation im herkömmlichen Printmedium. So ist beider aktuellen Prozessberichterstattung die Namensnennung desTäters unter Umständen zulässig. Die Verbreitung desselben Arti-

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kels später im Internet kann aber wegen des verfassungsrechtlichverbürgten Anspruchs auf Resozialisierung durch den Tätermöglicherweise verhindert werden. Diese Rechtslage kann fürArchive z. B. bei der Online-Präsentation von Findmitteln oderder Internetpublikation einer Stadtchronik relevant sein.Wilhelm Füßl (Archiv des Deutschen Museums) schließlichsprach sich unter dem Titel „Sammlungsgut in Archiven – Strate-gien zu einer verteilten Sammlungspolitik“ für Schwerpunktset-zungen und Spezialisierungen bei der Erwerbung, Erschließungund Erhaltung von Sammlungsgut aus und empfahl, die darausresultierenden Sammlungsprofile zu dokumentieren. Als Beispielzeigte er das Sammlungskonzept des Archivs des DeutschenMuseums auf, das als eines der führenden Spezialarchive zurGeschichte der Naturwissenschaft und der Technik seineErwerbspolitik auf ausgewählte Themenbereiche fokussiert unddabei die Ziele und Schwerpunkte seiner Sammlungstätigkeitdefiniert und bekannt macht. Die Entwicklung von Alleinstel-lungsmerkmalen trägt zur Untermauerung des spezifischenSammlungs- und Kompetenzanspruchs bei. Die Schwerpunktset-zung auf einige wenige Bereiche oder Quellengattungenverspricht, so Füßl, in jedem Falle eine deutlich höhere Visibilitätinnerhalb einer konkurrierenden Sammlungslandschaft, als eineSammlungspolitik, die wie ein Gemischtwarenladen betriebenwird, zu leisten vermag. Der Arbeitskreis Archive der Wissen-schaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz (WGL) hat dieIdee des „verteilten Sammelns“ kreiert, der Begriff umschreibt dieStrategie einer effektiven Zusammenarbeit, die die Absprache beiErwerbung und Übernahme von Sammlungsgut beinhaltet undauf die Sicherung eines möglichst breiten Spektrums an Beständenbei gleichzeitiger Schonung der jeweiligen Ressourcen abzielt.Schon am Vortag, dem 15. Mai, hatten – mittlerweile traditions-gemäß – wieder Treffen einzelner Archivarsgruppen stattgefunden.Die Arbeitsgemeinschaft bayerischer Kommunalarchivare befasstesich im Rahmen ihrer 43. Jahrestagung insbesondere mit derAusbildung der Fachangestellten für Medien- und Informations-dienste, Fachrichtung Archiv, sowie der Übernahme von Personen-standsunterlagen in die Kommunalarchive. Parallel dazu setztensich die Archivare an Hochschularchiven und Archiven wissen-schaftlicher Einrichtungen mit dem Thema „Notfallplanung“auseinander. Werner Lengger (Universitätsarchiv Augsburg) gabnützliche und praxisnahe Empfehlungen zu Notfallvorsorge, Scha-densbewältigung und Nachsorgemaßnahmen. Beim Treffen derKirchenarchivare berichtete Erwin Naimer (Archiv des BistumsAugsburg) unter dem Titel „Who do you think you are? – Öffent-lichkeitsarbeit durch Zufall“ über derzeit populäre Fernsehsen-dungen zu den Vorfahren prominenter Personen, wozu das Augs-burger Bistumsarchiv Quellenmaterial geliefert hatte, und wertetediese „Öffentlichkeitsarbeit durch Zufall“ als willkommene Gele-genheit, um auf die Bedeutung der Archive für die Gesellschaftund den Nutzen ihrer Dienstleistungen aufmerksam zu machen.Anschließend gab Andrea Schwarz (Landeskirchliches Archiv derELKB) einen Überblick über die konfessionelle Situation in derReichsstadt Kaufbeuren von der Reformation bis 1802, PeterHalicska (Landeskirchliches Archiv der ELKB) erläuterte dieAufgaben der kirchlichen Archivpflege am Beispiel des Evangeli-schen Kirchenarchivs Kaufbeuren, und Helga Ilgenfritz, eine derehrenamtlichen Betreuerinnen dieses Archivs, stellte schließlich

dessen Bestände vor, die bis in das 15. Jahrhundert zurückreichen.Ebenfalls bereits am Freitag hatte abends im Stadtsaal ein Festaktzur Verleihung des „Bayerischen Janus“ stattgefunden. Der Bayeri-sche Archivtag vergibt diesen 2001 ins Leben gerufenen Anerken-nungspreis alle zwei Jahre. Als diesjährigen Preisträger hatte dieJury Reinhard Dörfler, den ehemaligen Hauptgeschäftsführer derIndustrie- und Handelskammer für München und Oberbayern,ausgewählt, um ihn für seine hervorragenden Verdienste um dasBayerische Wirtschaftsarchiv zu ehren. In Vertretung für den Baye-rischen Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und KunstWolfgang Heubisch überreichte der Amtschef des Ministeriums,Ministerialdirektor Friedrich Wilhelm Rothenpieler, den „Bayeri-schen Janus 2009“ an Dörfler.In seiner Laudatio würdigte Rothenpieler das große persönlicheEngagement des Preisträgers, mit dem dieser sich für die Interessendes Bayerischen Wirtschaftsarchivs eingesetzt, sein Ansehen beiden bayerischen Unternehmen gefördert und auch selbst Archiv-bestände eingeworben habe. Schon frühzeitig habe Dörfler einezeitgemäß und professionell gestaltete Präsentation des Archivsund seiner Bestände im Internet ermöglicht. Des Weiteren habe erdas Archiv auf eine solide finanzielle Basis gestellt und für eineAusweitung der ihm zur Verfügung stehenden Räumlichkeitengesorgt. Die Einführung eines Qualitätsmanagementsystems imBayerischen Wirtschaftsarchiv sowie dessen offizielle Zertifizie-rung gehen ebenfalls auf die Initiative Dörflers zurück. Mit alldiesen Weichenstellungen habe der Preisträger das BayerischeWirtschaftsarchiv zu einer leistungsfähigen und serviceorientiertenEinrichtung für die Sicherung und Bewahrung wertvollen Archiv-guts der bayerischen Wirtschaft gemacht. Besonderen Wert habeer dabei auch auf Transparenz im Umgang mit der hauseigenenGeschichte gelegt, vor allem mit der Rolle der Industrie- undHandelskammer in der Zeit des Nationalsozialismus.Der Preis besteht in einer unikalen Kleinplastik, die jedes Mal voneinem anderen Künstler gestaltet wird. Der „Bayerische Janus2009“ greift das Janus-Motiv in Form einer massiven Glashalb-kugel auf, die das Archiv als sicheren, verschlossenen Ort, der sichdem Betrachter zuwendet und sich ihm öffnet, symbolisiert. In derMitte ist eine Vertiefung eingebracht, in der ein Janus-Kopf ausMetall mit einem alten und einem jungen Gesicht liegt. DieDoppelgesichtigkeit steht für Vergangenheit und Zukunft unddamit auch für beide Blickrichtungen des Archivars. Geschaffenhaben den Preis die Graveurin Helena Schlegel sowie die Glas- undPorzellanmaler Gracia Wanski und Samuel Behringer, alle dreiSchülerinnen bzw. Schüler des zweiten Jahrgangs der StaatlichenBerufsfachschule für Glas und Schmuck in Kaufbeuren-Neugab-lonz.Stefan Fischer (Stadtarchiv Kaufbeuren), der für die Organisationdes Archivtags vor Ort von den Teilnehmern großen Beifall erntete,hatte ein ansprechendes Rahmenprogramm zusammengestellt.Geboten waren Stadtführungen sowie Exkursionen nach Neugab-lonz und Neuschwanstein, außerdem waren die Archivtagsteil-nehmer am Samstagabend zu einem „Hoigarte“ geladen. Mit derVerabschiedung verbunden war die Ankündigung des nächstenBayerischen Archivtags, der 2011 in Neu-Ulm stattfinden wird.

Maria Rita Sagstetter, Amberg

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4. WORKSHOP„ARCHIVE VON UNTEN“

Im Juni dieses Jahres fand der Workshop „Archive von unten“zum vierten Mal im Archiv Grünes Gedächtnis in Berlin statt. DerWorkshop und das mit ihm verbundene Netzwerk der „Archivevon unten“ – oder auch „freie“, nicht-staatliche Archive genannt– bestehen seit 2003. Seitdem kommen Kolleginnen und Kollegenaus dem Spektrum der beinahe 300 Freien Archive in Deutsch-land alle zwei Jahre zusammen.Beim 4. Workshop trafen sich Vertreter aus rund 30 Archiven zumErfahrungsaustausch und zur archivfachlichen Diskussion.Diesmal standen die beiden Schwerpunktthemen „Überliefe-rungsbildung“ und „Serviceleistungen“ auf der Tagesordnung.Impulsreferate gaben Kolleginnen und Kollegen aus dem Doku-mentationszentrum und Museum für die Migration in Deutsch-land, dem Hans-Litten-Archiv, dem Spinnboden-Lesbenarchiv, derUmweltbibliothek Großhennersdorf, dem Archiv der Jugendkul-turen und dem Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszen-trum.Dass sich die Freien Archive als Teil der politischen Gegenöffent-lichkeit und zugleich als aktive Teilnehmer sozialer Bewegungenverstehen, war schnell Konsens im Themenschwerpunkt „Über-lieferungsbildung“. Dabei ging es um die Frage, wie die FreienArchive das selbstgesteckte Ziel erreichen, Initiativen und sozialeBewegungen zu archivieren. Die Bestandsbildung dieser Archivewird vor allem durch ihre eigenen Kontakte innerhalb der neuensozialen Bewegungen, deren Materialien sie archivieren, begüns-tigt. Dabei beeinflussen politische Konjunkturen sowohl dieBestandsaufnahme als auch deren Systematisierung. Deshalb istdie Zusammenarbeit mit staatlichen Archiven für viele der FreienArchive nach wie vor ein umstrittenes Thema. Deutlich wurdediese Kontroverse zum Beispiel an der Frage der AufbewahrungNeuer Medien. Den oft sehr kleinen Archiven fehlen häufig dierichtigen Aufbewahrungsmöglichkeiten. Solche Bestände an staat-liche Institutionen abzugeben, wird von einem Teil der Freien

Archive jedoch abgelehnt, da sie schließlich gerade Materialiensammelten, die sich in öffentlichen und staatlichen Einrichtungenhäufig nicht finden lassen.Der zweite Themenschwerpunkt des Workshops befasste sich mitden Serviceleistungen der Archive und stellte die Frage nach derVerbesserung von Benutzer- und Gebührenordnungen. GuteServiceleistungen, so ein Ergebnis dieses Themenschwerpunkts,sind zugleich eine gute Öffentlichkeitsarbeit. Trotzdem nimmt dieBetreuung der Benutzer in den meisten Archiven so großenArbeitsaufwand in Anspruch, dass die Bestandsaufnahme selbstnicht mehr zufriedenstellend bewerkstelligt werden kann. Insbe-sondere der Umgang mit der zunehmenden Digitalisierung undder Forderung der Benutzer, Materialien per E-Mail und Fax zuschicken oder Bestände abzufotografieren, stellte die Teilnehmerdes Workshops noch vor ungelöste Fragen. Darüber hinaus wurdefestgehalten, dass die Erhöhung der Benutzungsgebühren keinesinnvolle Einnahmequelle für die oft in Finanznöten steckendenArchive sein kann. Nutzungsgebühren und Entgelte sind dennochals symbolische Anerkennung der Arbeit der Archivarinnen undArchivare und der Bedeutung der Dokumente wesentlich.Schließlich wurde im Workshop die Zusammenarbeit der FreienArchive mit dem Verband Deutscher Archivarinnen und Archi-vare (VdA) diskutiert. Die Einrichtung eines „Arbeitskreises zuden Überlieferungen der neuen sozialen Bewegungen“ versprichtzukünftige Hilfestellungen der Freien Archive in Form von Fort-bildungen und fachlicher Unterstützung, von stärkerer öffentli-cher Wahrnehmung und vor allem durch den Austausch unterFachkollegen. Die Pflege der Internetpräsenz www.bewegungsar-chive.de soll darüber hinaus in Zukunft das Netzwerk der FreienArchive stützen und weiter ausbauen.Der 5. Workshop der Archive von unten wird vom 9. bis 10. Juni2011 im Archiv Grünes Gedächtnis in Berlin stattfinden.

Désirée Verheyen, Berlin

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DOCUMENTARY HERITAGEMANAGEMENT IN THE DIGITALAGE: BEAUTY AND THE BEAST

THE 20TH BI-ANNUAL EAST AND SOUTHERN AFRICA REGION BRANCH OF THEICA (ESARBICA) GENERAL CONFERENCE IN WINDHOEK

Vom 29. Juni bis 3. Juli 2009 fand in Windhoek/Namibia die 20.Tagung der Region Ost- und südliches Afrika des InternationalenArchivrats (ICA) statt. Unter dem vielsagenden Titel „The Beautyand the Beast“ beschäftigten sich die Teilnehmer zahlreicher afri-kanischer Staaten mit der Herausforderung, die das digitale Zeit-alter an Archive und verwandte Institutionen, wie beispielsweiseBibliotheken und Museen, stellt.Die ESARBICA, der Veranstalter der Tagung, wurde 1969 in Keniagegründet. Ihre Mitglieder sind Personen und Institutionen diesich mit der Bildung, Benutzung, Bewahrung und dem Manage-ment von Akten bzw. Archivgut in der Region Ost- und südlichesAfrika befassen. Ihr Ziel ist es, die regionale Zusammenarbeit vonArchiven und Archivorganisationen zu stärken. Dies bedeutet imDetail und in Übereinstimmung mit der Zielsetzung des ICA:- den regionalen Austausch der Mitglieder in Fachfragen zu

unterstützen und zu befördern,- Unterstützung, Organisation und Koordination von Aktivi-

täten im Bereich Registratur- und Archivwesen auf regionalerund internationaler Ebene,

- Förderung und Stärkung der Beziehungen der Mitgliederuntereinander und auf internationaler Ebene,

- Publikation der Ziele und des Wirkens des ICA,- Unterstützung und Professionalisierung der Ausbildung der

Mitglieder,- Publikation und Durchsetzung des archivischen „code of

ethics“.Organisiert wurde die Tagung durch die ESARBICA und vor Ortdurch das Ministry of Education und hier das National Archivesof Namibia1 . Federführend bei der Organisation waren Prof. Dr.Patrick Ngulube2 , University of South Africa und Werner Hille-brecht, Leiter des National Archives of Namibia.Inhaltliche Schwerpunkte der Tagung waren:- Richtlinien zum Schutz und Erhalt digitaler Informationen,- Standards für Metadaten u. ä.,- Herausforderungen zur Digitalisierung des schriftlichen afri-

kanischen kulturellen Erbes,- Soft- und Hardware zum Schutz und Erhalt digitaler Informa-

tionen, neue Technologien,- geistiges Eigentum, Urheberrechte an digitalen Informationen,- Gesetzgebung und Richtlinien für digitale Archive,- ethische Herausforderungen digitaler Überlieferung,- Erfahrungen aus Digitalisierungsprojekten in Afrika,- Abgabepflicht im digitalen Zeitalter,

- Archivierung von Webseiten,- Zugänglichkeit digitaler Überlieferung aus Bibliotheken,

Archiven und Museen,- Anreize zur Bestandserhaltung in Archiven und verwandten

Institutionen,- Abgleich und Absprache von Sammlungsprofilen von Biblio-

theken, Archiven und verwandten Institutionen im öffentli-chen und privaten Sektor,

- Infrastruktur bei der Bestandserhaltung.Die Themenschwerpunkte sind mehr oder weniger identisch mitder in Europa oder Deutschland diskutierten Problematik digi-taler Überlieferung. Ganz anders jedoch war die Stimmungwährend der Tagung, die im Country Club, einem reizvollenHotel am Rande Windhoeks, durchgeführt wurde. Sie war, trotzdes notwendigen Ernstes und intensiver Arbeit im Rahmen derThematik, getragen von einer Leichtigkeit und Heiterkeit der Teil-nehmer, die ähnliche europäische und insbesondere deutscheTagungen vermissen lassen. Den Organisatoren gelang es zudemdie durch administrative Probleme, die der Internationalität derTagung geschuldet waren, notwendig gewordene kurzfristigeVerschiebung der Tagung um ca. drei Wochen ohne großeProbleme durchzuführen, was nur mit einem notwendigen Maßan Gleichmut der Teilnehmer und Referenten möglich war.Prominentester Teilnehmer der Tagung war der Generalsekretärdes ICA David Leitch. Eher ein Exot der Tagung war der Verfasserselbst, der, weitgereist, als einziger Vortragender aus Deutschlandim Auftrag der neugegründeten Gesellschaft zur Sicherungschriftlichen Kulturgutes (GSK), Brauweiler, über „Digitisation asPart of Traditional Conservation. Options of Digitisation, Micro-filming and Mass Conservation and Implementation of Work-flow“ referierte.Als Rahmenprogramm wurden den aus beinahe ganz Afrikaangereisten Teilnehmern zahlreiche Exkursionen angeboten.Museen, Archive und Bibliotheken waren das bevorzugte Ziel.Auch ein Besuch im National Archives of Namibia war möglich.Vom 29. bis zum 30. Juni fand ein „Pre-Conference Workshop“mit dem Thema „Electronic Records Management. System andManagement of Electronic Records“ statt.Thematik, Anspruch und Durchführung der Tagung sowie dieSelbstdarstellung der Vortragenden und Teilnehmer zeigten deut-lich, dass sich Afrika nicht als fünftes Rad am Wagen der interna-tionalen Archivwelt versteht, sondern bei der Festlegung vonVorgaben und Standards im Bereich digitaler Überlieferung inter-

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national mitwirken und mitsprechen möchte. Vor dem Hinter-grund der vielfältigen und bedeutenden Überlieferung in afrikani-schen Archiven und Bibliotheken ist dies nur wünschenswert.

Helge Kleifeld, München

1 Siehe auch: Helge Kleifeld, Archive in Namibia, in: Der Archivar, Jg. 61, Heft1/2008, S. 56-57.

2 B. A. cum laude Honours (History, University of Zimbabwe), Master of Sci-ence in Information Science (Addis Ababa University), PhD (University ofNatal).

5. NATIONALER AKTIONSTAG DERALLIANZ FÜR DIE ERHALTUNGDES SCHRIFTLICHEN KULTURGUTS

„Was lehrt uns die Kölner Katastrophe? Nachhaltiger Kulturgut-schutz für Archive und Bibliotheken“ – unter diesem Titel standder 5. Nationale Aktionstag am 5. September 2009 in Ludwigs-burg. Damit war auf die Frage sogleich die Antwort gegeben undder Zweck des Aktionstags benannt. Der Aktionstag soll für dennachhaltigen Kulturgutschutz werben und dazu eine breitereÖffentlichkeit, aber auch die Politik ansprechen. Veranstaltet wirder jährlich an wechselnden Orten von der Allianz für die Erhal-tung des schriftlichen Kulturguts, zu der sich vor einiger Zeit eineReihe größerer Archive und Bibliotheken zusammengeschlossenhat, in der aber auch der VdA – Verband deutscher Archivarinnenund Archivare vertreten ist. Auslöser war der Brand der HerzoginAnna Amalia Bibliothek am 2. September 2004, an den mit demAktionstag und daher auch bewusst am ersten Wochenende imSeptember erinnert werden sollte. Das Landesarchiv Baden-Würt-temberg hatte schon im November 2008 die Ausrichtung desAktionstags 2009 übernommen und unter dem Titel „Kulturgutmassenhaft“ ein Programm zusammengestellt, mit dem derErhalt massenhafter Bestände des 20. Jahrhunderts in Archivenund populärer Druckerzeugnisse wie Taschenbücher, Comics undZeitschriften in Bibliotheken thematisiert werden sollte.Nach dem Einsturz des Stadtarchivs Köln wurde jedoch dasKonzept komplett geändert, um einerseits dem Stadtarchiv einPodium für Öffentlichkeitsarbeit zu geben und andererseits dieGefährdung des schriftlichen Kulturguts in den Fokus zu stellen.Auf dem Programm des Aktionstags, der vom VdA und derKulturstiftung der Länder unterstützt wurde, stand so amVormittag im Kulturzentrum Ludwigsburg eine Podiumsdiskus-sion, in der sich Bettina Schmidt-Czaia vom Historischen Archivder Stadt Köln, Michael Knoche von der Herzogin Anna AmaliaBibliothek in Weimar, Marita Pesenecker vom KreismuseumGrimma und Rino Büchel vom Bundesamt für Bevölkerungs-

schutz in Bern über die Erfahrungen austauschten, die sie beimEinsturz des Stadtarchivs, beim Bibliotheksbrand und beim Elbe-Hochwasser 2002 gewonnen haben, um die daraus abzuleitendenKonsequenzen zu erörtern. Moderiert wurde die teils emotionalbewegende und insgesamt sehr fruchtbare Diskussion kenntnis-reich von dem Journalisten Sven Felix Kellerhoff aus Berlin. ImErgebnis – und gerade dafür war der Vergleich mit der Schweizhilfreich – trat deutlich heraus, dass auf allen politischen Ebenendie Maßnahmen zur Notfallprävention wie auch die Strukturenzur Bewältigung von Katastrophen ver- bzw. gestärkt werdenmüssen und die entsprechenden Entscheidungsträger hier gefor-dert sind.Dass zumindest auf der regionalen und lokalen Ebene das Themadie Politik erreicht hat, wurde bei der Eröffnung an den Gruß-worten deutlich, die Dietrich Birk MdL, Staatssekretär im Minis-terium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württem-berg, und Werner Spec, Oberbürgermeister der Stadt Ludwigs-burg, überbrachten, während für die Veranstalter von RobertKretzschmar (Landesarchiv Baden-Württemberg und Verbanddeutscher Archivarinnen und Archivare) und Barbara Schneider-Kempf (Staatsbibliothek zu Berlin und Sprecherin der Allianz fürdie Erhaltung des schriftlichen Kulturguts) die Notwendigkeiteines verstärkten Kulturgutschutzes herausgestellt wurde. Unter-stützung fanden sie dabei von Martin Hoernes, der als Stellvertre-tender Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder ein Gruß-wort sprach.Der Nachmittag war im bunten Wechsel Präsentationen, Kurzvor-trägen und Führungen vorbehalten, die in den Landesarchiv-abteilungen „Staatsarchiv Ludwigsburg“ und „Institut für Erhal-tung des schriftlichen Kulturguts“ stattfanden. An einem Infor-mationsstand und in mehreren Kurzvorträgen informierten enga-gierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Stadtarchivs Köln

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und aus dem Rheinland über den Archiveinsturz sowie dielaufenden und vorgesehenen Maßnahmen zu seiner Bewältigung.In Präsentationen der sechzehn mitwirkenden Archive und Biblio-theken aus ganz Deutschland wurde über Projekte zur Bestands-erhaltung und Möglichkeiten der Notfallprävention berichtet. DasLandesarchiv bot Führungen zu den Themen: „Sicherungsverfil-mung, Colorfilm-Makrofiches“, „Vom Digitalscan zum Film –vom Film zum Digitalisat“, „Einbandrestaurierung, Pergamentund Siegel“ und „Papierrestaurierung nass und trocken“ (Institutfür Erhaltung) sowie „Sachgerechte Verpackung und Magazinie-

rung von Archivgut“ (Staatsarchiv Ludwigsburg). Zum Angebotgehörte nicht zuletzt ein Mitmachprogramm für Kinder unterdem Titel „Papier in Gefahr“.Mit der Resonanz von insgesamt über 500 Besuchern konnten dieAllianz für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts und dasLandesarchiv sehr zufrieden sein. Bei der Eröffnung und demanschließenden Podiumsgespräch war der Saal mit 200 Sitz-plätzen bis auf den letzten Platz gefüllt; das Publikum folgtehochkonzentriert, ja geradezu gespannt bis zum Schluss derDiskussion. Beim Nachmittagsprogramm nahmen allein über 260Personen an den Führungen teil. Auch zeigten die regionalenMedien (Presse, Südwestrundfunk, TV-Landesschau Baden-Württemberg) großes Interesse, was sich schon in einer intensivenVorberichterstattung und in mehreren Hörfunksendungenniederschlug. Überregional erfolgte, von kleineren Meldungen inüberregionalen Zeitungen abgesehen, eine breite Berichterstat-tung im Deutschlandradio Kultur. Insgesamt hat sich so wiederbestätigt, dass der regional ausgerichtete Aktionstag vor allem,aber nicht nur als regionale Veranstaltung Resonanz bei denMedien findet.Vorbereitet und durchgeführt wurde der Aktionstag von einemabteilungsübergreifenden Team des Landesarchivs, in dem nebendem Verfasser das Institut für Erhaltung (Frieder Kuhn), dasStaatsarchiv Ludwigsburg (Peter Müller, Matthias Röschner,Martin Häußermann) sowie die Abteilungen Verwaltung (Chris-tina Wolf, Heinz Baumann) und Fachprogramme und Bildungsar-beit (Clemens Rehm) vertreten waren. Dem Team wie auch denzahlreichen Mitwirkenden aus Köln und den beteiligten Archivenund Bibliotheken ist sehr herzlich zu danken.Erstmals ist der Aktionstag von einem Archiv ausgerichtet wordenund zum ersten Mal stand mit dem Einsturz des StadtarchivsKöln der Erhalt von Archivgut im Vordergrund. Innerhalb derAllianz bestand Konsens, dass nach dem 3. März 2009 ein neuerTermin für den Aktionstag gefunden werden muss, der in gleicherWeise auf den Bibliotheksbrand in Weimar und den Archivein-sturz bezogen ist. Der 6. Nationale Aktionstag zur Erhaltung desschriftlichen Kulturguts wird daher am 29. Mai 2010 in Leipzigstattfinden. Er wird das Thema aufgreifen, das ursprünglich für2009 vorgesehen war.

Robert Kretzschmar, Stuttgart

Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg: DerEingang wird für den Aktionstag präpariert.

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AUCH FÜR ARCHIVARE VONINTERESSE ... – BERICHT ÜBERDEN 61. DEUTSCHENGENEALOGENTAG

„Die Informationstechnik hat die Familienforschung in denvergangenen Jahren revolutioniert, und es ist kein Zufall, dass derVerein für Computergenealogie heute die größte genealogischeVereinigung in Deutschland ist. Man kann gespannt sein auf denvom ihm organisierten 61. Deutschen Genealogentag, der vom 11.bis 14. September 2009 in Bielefeld stattfinden wird.“ So endeteder letztjährige Bericht im „Archivar“ über den Deutschen Genea-logentag 2008. Und die Erwartungen wurden positiv erfüllt: Mitüber sechshundert Teilnehmern fand der diesjährige Genealo-gentag der Deutschen Arbeitsgemeinschaft genealogischerVerbände e. V. (DAGV) Mitte September in Bielefeld statt. Unterdem Motto „Genealogie und Industriegeschichte“ bot derausrichtende Verein für Computergenealogie e. V. ein breitesSpektrum an Vorträgen und Exkursionen, das durch eine Fach-ausstellung von mehr als 60 Vereinen, Verlagen, Dienstleisternund Softwareherstellern bereichert wurde.Der folgende Bericht konzentriert sich auf Aspekte der Veranstal-tung, die für eine breitere archivische Fachöffentlichkeit von Inte-resse sind. Gegenüber dem vorangegangenen Genealogentag gabes in Bielefeld eine erhöhte Präsenz von Archivarinnen und Archi-varen – dies schon angesichts des Themenblockes B „Archive derRegion“, in dem sechs Archive, ihre Bestände, Forschungs- undKooperationsmöglichkeiten vorgestellt wurden. Bettina Joergensleitete mit ihrem Vortrag über „Das Personenstandsarchiv inDetmold: Bestände, Projekte und Kooperationen“ den Themen-block ein. Zu den vorgestellten Projekten gehörten die seit 2004systematisch erfolgende Digitalisierung der Kirchenbuchdupli-kate, Zivilstands-, Juden- und Dissidentenregister und ihre Veröf-fentlichung in der Edition Detmold durch den Patrimonium Tran-scriptum Verlag. In Zeiten grassierenden Personalabbaus kann dieZusammenarbeit mit engagierten Privatpersonen zunehmendeine Handlungsoption für Archive sein. Ein praktisches Beispieldafür ist das „Verkartungsprojekt“ zur Edition Detmold, Informa-tionen dazu sind auf der Website des Landesarchivs NRW zufinden. Dass Archive eine Fülle interessanter Quellen für dieFamilienforschung zu bieten haben, die die Verortung einzelnerLebensgeschichten in ihrem regionalen wirtschafts-, sozial- undalltagsgeschichtlichen Kontext ermöglichen, zeigten die anschauli-chen Vorträge von Andreas Pilger (Landesarchiv NRW) undNicolas Rügge (Staatsarchiv Osnabrück).Genealogie heute ist – bei allem notwendigen Rückbezug aufhistorische Quellen – computergestützte Genealogie. DieMöglichkeiten der Informationstechnik werden durch die Famili-enforscher massiv und in großer Vielfalt genutzt, dies gilt für dieVerwaltung genealogischer Daten in Fachsoftware, den Austauschüber Mailing-Listen bis hin natürlich zur Recherche nach genea-

logischen Daten im Internet. Neben den kostenfreien Angebotenvon FamilySearch, betrieben von der GSU (Genealogical Societyof Utah) und der FHL (Family History Library), ist als großerkommerzieller Anbieter die Firma ancestry zu nennen, derenamerikanische Mutter Ancestry.com Operations Inc. jüngst an dieBörse ging. Auch bedeutende deutsche Archive arbeiten mit Ance-stry zusammen: Als Beispiel sei das Bayerische Hauptstaatsarchiv,Abteilung IV Kriegsarchiv genannt, dessen Kriegsranglisten und-stammrollen durch Ancestry im Internet kostenpflichtig fürRecherchen zur Verfügung gestellt werden.Ein anderer Weg wird in Deutschland durch den Verein fürComputergenealogie beschritten, der auf freiwillige Mitarbeit undkostenfreie Angebote in „Mitmach-Projekten“ setzt. Er richtetenicht nur den Genealogentag aus, Mitglieder des Vereinsbestritten auch zahlreiche Veranstaltungen, unter anderem zu denProjekten „Online-Ortsfamilienbücher“, „Historische Adressbü-cher“, zum GenWiki (http://wiki-de.genealogy.net) und zumProjekt „Gedbas4All“. Letzteres ist ein Vorhaben ganz im Sinnevon Archivaren, geht es doch darum, ein quellenorientiertesDatenmodell für genealogische Sachverhalte zu erarbeiten. Dabeisollen die durch Quellen belegbaren Informationen der Ausgangs-punkt für weitere Überlegungen und Darstellungen sein. Indiesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass eszurzeit eine intensive Diskussion über Gedcom gibt. Das von derKirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage entwickelteAustauschformat für genealogische Daten ermöglicht den Daten-austausch zwischen genealogischen IT-Anwendungen und natür-lich auch die Einstellung genealogischer Daten in gemeinsameDatenbanken, bedarf aber in verschiedener Hinsicht einer Überar-beitung.Für Archive mit personenbezogenen Sammlungen dürften dieneuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Biographie-Portale vonInteresse sein. Im Juli 2009 wurde ein gemeinsames länderüber-greifendes Biographie-Portal (www.biographie-portal.eu) onlinegestellt, das die Neue Deutsche Biographie (NDB), das Österrei-chische Biographische Lexikon (ÖBL) und das HistorischeLexikon der Schweiz (HLS) miteinander verbindet. Lupold vonLehsten (Bensheim) stellte dieses Projekt vor und strich dieBedeutung der dort formulierten Ziele heraus: die geplanteKooperation mit weiteren Biographie-Portalen und die Gesamt-verknüpfung über die Personennamendatei (PND) der DeutschenNationalbibliothek. In der deutschsprachigen Wikipedia werdenseit 2005 biografische Artikel mit der PND verlinkt. Ihreverstärkte Nutzung auch bei der Erschließung von personenbezo-genem Archivgut (inkl. der Übernahme der PND-Nummer in dieVerzeichnungsangaben) wäre sinnvoll.

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Im Rahmen des Genealogentages fand auch die Mitgliederver-sammlung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft genealogischerVerbände e. V. (DAGV) statt. Die DAGV ist der Dachverband von60 Vereinen, rechtsfähigen Stiftungen und öffentlich rechtlichenKörperschaften, die wissenschaftlichen Zwecken auf dem Gebieteder Familien- und Wappenkunde dienen. Auf der diesjährigenMitgliederversammlung wurde ein neuer Vorstand gewählt,dessen Zusammensetzung beispielhaft die Veränderungen in derFamilienforschung vor Augen führt. Die Genealogie wird jüngerund sie nutzt intensiv die Möglichkeiten der Informationstechnik;der Verein für Computergenealogie ist mittlerweile der mitglieder-stärkste genealogische Verein in Deutschland und Mitglieder desVereins dominieren nun auch den Vorstand der DAGV. DieBerichterstatterin sieht das positiv, denn der Verein leistet enga-gierte, gute Arbeit und hält die Fahne der wissenschaftlichenNachprüfbarkeit von Forschungsergebnissen durch sachgerechteQuellenangaben hoch. Irritierend ist vielmehr die mangelndeBereitschaft vieler, auch großer, genealogischer Vereine zu einemEngagement im Dachverband. Wenn die organisierten Familien-forscher wirkliche Lobbyarbeit leisten wollen (wie sie es im Falle

der Novellierung des Personenstandsrechts dank des persönlichenEngagements des damaligen Vorsitzenden der DAGV, HermannMetzke, getan haben), müsste hier ein Umdenken einsetzen. Derneue DAGV-Vorstand unter seinem Vorsitzenden Herbert Stoyan,emeritierter Lehrstuhlinhaber für Künstliche Intelligenz an derUniversität Erlangen-Nürnberg, wird zweifellos versuchen, dieDAGV im Interesse aller Mitgliedsvereine neu zu positionieren.Bereits angekündigt wurde eine intensivere Beschäftigung mitmöglichen Formen der Zusammenarbeit zwischen Archiven undder genealogischen Forschung.Erste Ergebnisse sollen auf dem nächsten Genealogentag vorge-stellt werden, der vom 17. bis 20. 9. 2010 in der Hansestadt Stral-sund stattfinden und vom Pommerschen Greif e. V. ausgerichtetwird. Schon angesichts der geografischen Lage wird die Teilneh-merzahl dort sicher geringer als in Bielefeld ausfallen. Den Veran-staltern ist aber zu wünschen, dass ihnen 2010 eine ähnlich gutorganisierte und (auch für Archivare) interessante Veranstaltunggelingt wie dem Verein für Computergenealogie 2009.

Thekla Kluttig, Dresden

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19. INTERNATIONALERARCHIVTAG DES „IIAS“ IN TRIEST

Der 19. Internationale Archivtag des „International Institute forArchival Science of Trieste and Maribor (IIAS)“ fand vom 9. bis10. November 2009 im italienischen Triest statt. Die Veranstal-tung konnte wie auch im letzten Jahr mit einer beachtlichen Teil-nehmerzahl aufwarten. Sie wurde zum nunmehr fünften Mal inTriest unter der Obhut des Staatsarchivs Triest abgehalten;zugleich konnte das IIAS auf sein 25-jähriges Jubiläum zurückbli-cken, was auch Anlass für eine kleine Ausstellung im Staatsarchivwar. Im Anschluss an den eigentlichen Archivtag fand eine mehr-tägige archivische Fortbildungsveranstaltung („IIAS AutumnArchival School“) statt, die sich vornehmlich an junge Kollegenaus Mittel- und Osteuropa richtete; aber auch zwei Archivarinnenaus dem Oman (!) nahmen an der Veranstaltung teil. Die Teil-nehmer der Archivschule führten auch das Online-Wörterbuchzur archivischen Fachterminologie weiter, das jetzt 19 Sprachenumfasst und auf dem Internetauftritt des Instituts abrufbar ist(www.iias-trieste-maribor.eu).Die Vorträge des Archivtags, abgedruckt wie üblich im hausei-genen Publikationsorgan „Atlanti“ (Atlanti. Review for modernarchival theory and practice, Band 19, 370 Seiten), widmeten sichdiesmal technischen und „professionellen“ Aspekten der Archiveim 20. Jahrhundert. Die Vorträge wurden wiederum zu einemnicht geringen Teil von den Mitgliedern des Instituts bestritten. Inbeiden thematisch bewusst sehr weit gefassten Sektionen konnteder Zuhörer einen guten Einblick in die aktuelle archivwissen-schaftliche Diskussion und Praxis besonders in den Staaten

Ostmitteleuropas gewinnen. In der technischen Sektion wurdenin erster Linie Probleme der Bestandserhaltung zur Diskussiongestellt (Massenentsäuerung, digitale und analoge Fotografie,Archivbau usw.), genauso aber auch z. B. Fragen der Archivbera-tung/Archivpflege thematisiert. In der zweiten Sektion, die einebenso vielfältiges (freilich manchmal auch etwas disparates) Bildbot, stand eine ganze Reihe von überblicksartigen Referaten imVordergrund, etwa zur Geschichte und zum gegenwärtigen Standdes Archivwesens bzw. bestimmter Archivsparten in Italien,Spanien, Russland oder auch Malaysia. Im Anschluss an dieVorträge wurde den mit Ständen auf dem Archivtag anwesendenFirmenvertretern die Möglichkeit gegeben, ihre Produkte undDienstleistungen vorzustellen. Die erstmals veranstaltete „Archiv-messe“ soll in den nächsten Jahren weiter ausgebaut werden.Für Archivare aus dem deutschsprachigen Raum bietet sich mitdem Archivtag insbesondere eine gute Möglichkeit, einenvertieften und durchaus repräsentativen Einblick in das Archiv-wesen im östlichen Europa zu erhalten – finden sich doch unterden Referenten nicht nur Fachkollegen aus nahezu sämtlichenneuen EU-Mitgliedsstaaten, sondern regelmäßig auch aus archi-visch gesehen „exotischeren“ Staaten wie zum Beispiel Weißruss-land, Albanien oder Kosovo. Sämtliche Vorträge werden beiBedarf simultan in das Englische (sowie Italienische) übersetzt,was ihren Nachvollzug sehr vereinfacht.

Joachim Kemper, München

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78 LITERATURBERICHTE

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ARCHIEVENBLAD

Hrsg. von Koninklijke Verenigung van Archivarissen inNederland (KVAN). Jahrgang 2008. 10 Ausgaben. 86,- C=(Europa außerhalb der Niederlande). ISSN 1385-4186

BIBLIOTHEEK- & ARCHIEFGIDS

Hrsg. von der Vlaamse Vereniging voor Bibliotheek-, Ar-chief- en Documentatiewezen (VVBAD). Jahrgang 84(2008). 6 Ausgaben. 80,- C= (Ausland). ISSN 0772-7003

Zahlreich und vielfältig sind die Artikel, Interviews und Kurzbe-richte der niederländischsprachigen Zeitschriften, bei Weitem zuzahlreich, um umfassend über sie berichten zu können. Einekleine Selektion, vielleicht interessant für den deutschsprachigenLeser, sei indes hier dargeboten:„Bewertete“ respektive „wertgeschätzte Vergangenheit“, also„gewaardeerd verleden“ lautet der Titel eines Berichts zu Bewer-tungsfragen, über den Charles Jeurgens in der Januarausgabe2008 (Heft 1) des niederländischen Archievenblad berichtet(Gewaardeerd verleden. Bouwstenen voor een nieuwe waarde-ringsmethodiek voor archieven). Jeurgens war maßgeblich an derErstellung des Berichts beteiligt. Dieser Bericht, der im November2007 von der Kommission „Waardering en Selectie“ vorgestelltwurde, stellt eine seit Jahren bestehende Kluft zwischen denentstehenden digitalen Unterlagen und der auf Papierunterlagenabzielenden Bewertungs- und Selektionsmethodik fest. Auswahl-verfahren „bleiben auch in einer digitalen Umgebungnotwendig“, so Jeurgens. Dies auch aus Kostengründen, denn dieBewahrung digitaler Unterlagen generiert Kosten, die bislang eherunterschätzt wurden und keineswegs geringer ausfallen als beiPapierunterlagen. Nun sind Kostengesichtspunkte ein Aspektunter vielen, die für die Unabdingbarkeit von Bewertungsver-fahren sprechen. „Die Kommission hat, verglichen mit den beste-henden Auswahlverfahren, eine weitaus umfassendere Zielset-zung formuliert, die die Ansicht berücksichtigt, dass es dasPrimärziel der Archivare ist, das gesellschaftliche Leben einerbestimmten Periode zu dokumentieren.“ Dazu sollen verschie-dene Niveaus gebildet werden: ein Makroniveau zur Dokumenta-tion der Gesellschaft insgesamt, ein Mesoniveau für Handelndeund Behörden (archiefformers, als Stellen, wo die Unterlagenentstehen) und ein Mikroniveau für Handlungsprozesse undUnterlagen. Die Auswahl des Besonderen und des Repräsentativensoll jeweils auf allen drei Niveaus stattfinden.Über „einen Schritt voraus“ berichtet Noor Schreuder im gleichenHeft aus den Niederlanden (Een stap vooruit. Vaststelling beleids-regel vervanging). Dabei geht es um den Ersatz von Papierdoku-menten durch andere Datenträger, heute zumeist digitaler Art.Schon das niederländische Archivgesetz von 1995 gesteht dies zu.Bei den zur dauerhaften Bewahrung vorgemerkten Unterlagenallerdings mussten Behörden des Reichs wie der Provinzenbislang beim niederländischen Unterrichts-, Kultur- und Wissen-schaftsministerium (OCW) eine Zustimmung einholen. Sehr oftkamen diese Anfragen bislang nicht vor, und zumeist ging es umdie Substituierung auf Mikrofilm. Für ein routinemäßigesScannen von Papiereingängen, Einfügen in ein elektronischesSystem und Vernichten der Papieroriginale ist dieses Verfahrenauch zu umständlich. Nicht immer ist auch vorderhand fest-stellbar, ob die zu vernichtenden Papierunterlagen bleibendenWert haben oder nicht. Um ein derartiges Verfahren einfacher zugestalten, müsste schließlich das Archivgesetz geändert werden –

ein langwieriges Verfahren. Um in der Zwischenzeit Abhilfe zuschaffen, hat OCW per Beschluss eine Richtlinie (beleidsregel) fürdas Reich und seine Provinzen verabschiedet. Ein Freibrief fürschrankenloses Vernichten von Papierunterlagen ist dies gewissnicht. Mit dem 1. Februar 2008 trat die Regelung in Kraft(beleidsregel digitale vervanging).1

Haben Archivalien einen Markt? Gewiss, und mitunter tragensogar leicht verkommene Adelshäuser Archivalien, alte Bücherund Kunstgegenstände zu Auktionshäusern, um ganz unstandes-gemäß die schnelle Mark zu machen. Wen stört‘s, wenn hier undda nicht einmal die Besitzverhältnisse geklärt sind oder Rechtgebrochen wird? Manchmal versuchen auch Verlagshäuser, etwaSuhrkamp, jahrzehntelang vernachlässigte Altunterlagen zuvergolden, und es finden sich stets Journalisten, um die Bedeu-tung von Papieren marktgerecht zu preisen, die lange vor sich hingammelten. Dem niederländischen Architekten Rem Koolhaashingegen waren die 1,3 Mio. Euro für seine Unterlagen, die ihmdas Nederlands Architectuurinstituut bot, nicht ausreichend.Einen Markt für Archivalien gibt es eben auch in den Nieder-landen, ihn beschreibt Marieke Kroonen in der Märzausgabe(Heft 2). Bislang werden Archivare nicht ermutigt, Archivalien beiAuktionen o. ä. aktiv zu erwerben. Die Budgets der allermeistenArchive dürften das allerdings auch nur in beschränktem Umfangzulassen. Frau Kroonen plädiert demgegenüber für ein aktivesManagement zum Erwerb nicht-öffentlicher Unterlagen (Dearchievenmarkt in Nederland: tijd vor marktmanagement). DieserMarkt hat sich in den letzten Jahren sprunghaft entwickelt. InGroßbritannien gibt es schon seit 1973 ein professionelles SalesCatalogue Monitoring Team und damit Übersichten über denHandel mit alten Unterlagen, über Versteigerungen, Preise, Käuferund Verkäufer. Frau Kroonen empfiehlt eine vergleichbare Institu-tionalisierung für das Archivwesen in den Niederlanden. Eingrenzenloses Wachsen des Archivalienmarktes hält allerdingsauch sie für wenig wünschenswert. Auf unsere Situation bezogen,wäre dies gleichfalls eine Fehlentwicklung zum allfälligen Primär-zweck, öffentliches Geld in die Kassen der Verkäufer zu spülen.Nicht als Regel sollten öffentliche Institutionen diesen häufigpressewirksam inszenierten Bau am eigenen Denkmal „bedeu-tender“ Zeitgenossen finanzieren. Im Übrigen untergräbt einausgeweiteter Handel die Mühen vieler Kollegen, private Unter-lagen ohne immensen Kostendruck zu übernehmen.Auf dem Weg zu einer individuellen kleinen Geschichte befindetsich ein Projekt, dass Claudia van Kouwen und Karen Zwart imAprilheft des Archievenblad (Heft 3) beschreiben (Op naar eenindividuele kleine geschiedenis. Startbijeenkomst project„Wegwijzer van de Tweede Wereldoorlog“). Die erste Sitzungdieses Projekts „Wegweiser des II. Weltkrieges“ fand am 31. Januar2008 in Den Haag statt. Ziel des Projektes ist ein digitaler Führerdurch Archivfonds und Sammlungen zum II. Weltkrieg und zurNS-Herrschaft in den Niederlanden und seinen früheren Kolo-nien. Auf letztere wurde sich in der Eröffnungsveranstaltung aberwenig bezogen. Dabei soll auch besonders die alltäglicheGeschichte einfacher Bürger berücksichtigt werden, und dieMitarbeit der regionalen und lokalen Archive ist dafür essentiell.Das Projekt wird gemeinsam vom Nationaal Archief und demNederlandse Instituut voor Oorlogsdocumentatie (Niederländi-sches Institut für Kriegsdokumentation, kurz NIOD) durchge-führt. So (und hoffentlich nur auf diese Weise) hat „der KriegZukunft“, wie sich die Direktorin des NIOD, Marjan Schwegman,auf dieser Veranstaltung ausdrückte.

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Über Imagefragen der Archive „Vom Staub befreit“ handelte einSymposium, das am 10. März 2008 im Stadsarchief Amsterdamstattfand und das ausführlich im Heft 4 (Mai 2008) von MaxMeijer besprochen wird (Ontdaan van stof. Symposium „Nieuwimago? Nieuw publiek?“ in Stadsarchief Amsterdam). Leitbilderwie Kundenfreundlichkeit gehören in anderen Weltteilen schonlange zum Standard. So erinnerte der Utrechter HistorikerMaarten van Rossem an die auffälligen Unterschiede zwischenniederländischen und US-amerikanischen Archivaren vorwenigen Jahrzehnten: Kundenfreundliches Verhalten und großzü-gige Öffnungszeiten in den USA, „während barsche und beinahefeindselige Mitarbeiter die einheimischen Archive zu bevölkernschienen“. Man trifft diese Spezies auch heute noch, die sozialesUnvermögen in lächerliche Arroganz verwandelt. Kundendienstund Service sind aber nicht mit einem „zu großen Kniefall demPublikum gegenüber“ gleichzusetzen, darauf wies Ellen Fleurbaayvom Stadsarchief Amsterdam hin. Bei „allen neuen Produktenund Verpackungsstrategien“ in diesem Institut wurde und wirddoch Wert darauf gelegt, „every inch ein Archiv“ zu bleiben.Fleurbaays Kollege Ludger Smit verwies im Anschluss auf dieMittel, die zum auffälligen Publikumserfolg des AmsterdamerStadtarchivs führten, so u. a. die Amsterdam Bibliothek, eineSchatzkammer mit Highlights des Archivs, ein Filmsaal miteinem durchgehenden Angebot historischer Filme oder einAngebot an Vorträgen. Natürlich kann nicht jedes Archiv einederartige Fülle präsentieren oder finanzieren.Offen für den Blick über den eigenen professionellen Gartenzaun,berichtet das 5. Archievenblad des Juni 2008 über ein Projekt derKoninklijke Bibliotheek (KB), der Nationalbibliothek in DenHaag.2 Zusammen mit der deutschen spezialisierten Firma CCS(Content Conversion Specialists) und dem Scanbetrieb M & Raus dem niederländischen Kampen werden 8 Millionen histori-sche Zeitungsseiten digitalisiert. Die Bibliothek verfügt über eineFülle von alten Zeitungen, deren Bestand bis in die Anfänge desniederländischen Zeitungswesens 1618 zurückreicht. Seither sindüber 7.000 koloniale, überregionale, regionale und lokale Tageszei-tungen erschienen. Die zu digitalisierenden Zeitungen stammensowohl aus der Sammlung der Koninklijke Bibliotheek als auchaus anderen Institutionen. Ziel ist es, die Blätter im Volltextrecherchierbar und über das Internet zugänglich zu machen. Einewissenschaftliche Kommission berät die Bibliothek über dierepräsentative Auswahl der Zeitungen vom 17. bis in das 20. Jahr-hundert. Die Digitalisierung von Zeitungen jüngeren Datumserfordert allerdings die Klärung des Urheberrechts. Eine Über-sicht über die bereits digitalisierten Blätter findet sich auf denentsprechenden Webseiten der KB.3 Der Zugang zu den digitali-sierten Zeitungen soll gratis sein.Dagegen befasst sich René Spork mit der Frage, ob man „in einerWelt aus Markt und Kampf“ mit Archiven Geld verdienen kann(Archivaris in een wereld van markt en strijd, Heft 6, Juli 2008).Dabei geht es nicht nur um die Gebühren für Bestellungen,Kopien, Versand oder vergleichbare Dinge, die ja weit unter denEntstehungskosten liegen oder auch liegen müssen. Auch bei derErarbeitung neuer Geldquellen spielt das Internet eine entschei-dende Rolle, wobei die Erfahrungen mit Musikdownloads, dieSpronk beispielhaft nennt, nicht unbedingt ermutigen, denn„bezahlen für die Nutzung von Information oder z.B. denDownload von Musik möchte der Kunde, sicher die Altersgruppebis 30 Jahre, eigentlich nicht“. Archivnutzer sind in der Regel älter(40 Jahre und aufwärts) und durchaus bereit, für Reproduk-tionen, Fotografien usw. zu bezahlen. Diese sind allerdings nicht

kostendeckend, allen Verlautbarungen zum Trotz. Eine erweiterteKostenpflicht für Dienstleistungen der Archive steht allerdings imWiderstreit mit dem in den Niederlanden besonders starken Para-digma der freien Zugänglichkeit, etwa über die Internetseiten derArchive. So sind die Möglichkeiten beschränkt, neue Einkom-mensquellen zu finden. Dienstleistungen und Informationen, diees sonst kaum gibt, anzubieten und diese einfach suchbar undbestellbar zu machen, bietet vielleicht eine Lösung. Spork stelltallerdings fest, dass Archive gerade die wirklich einmaligenDinge, also etwa ihre Findmittel, gratis zur Verfügung stellen, under muss auch zufügen, dass „Erschließen und Verfügbarmachennun einmal unsere gesetzliche Aufgabe ist“. Was bleibt alsmögliche Geldquelle, das wären Beratungsdienstleistungen fürErschließungsprojekte oder zur fachgerechten Aufbewahrung vonprivaten Beständen, die Erstellung von Transkriptionen oder eineBeratung zur Restaurierung, meint Spork. Das sind aber auchBereiche, die auch von privaten Dienstleistern abgedeckt werden;diese werden sich über die öffentliche und damit grundsätzlichmarktferne Konkurrenz wahrscheinlich genau so freuen, wie diesprivate Internetanbieter und Medien tun, wenn öffentlich-recht-liche Rundfunkanstalten ihr Internetangebot massiv ausbauen.Im Septemberheft des Archievenblad (Nr. 7) dreht es sich einmalnicht um das liebe Geld, sondern um kirchliche Archiv- undDokumentationseinrichtungen und das kulturelle Erbe religiöserGemeinschaften in den Niederlanden. Nun sind die Niederlandeein von der Reformation gepägtes Land, und evangelische Kirchenund auch Kirchengemeinden existieren dort reichlich. Doch auchder Katholizismus wusste seine Stellung zu behaupten, und seit1969 besteht auch das Katholische Dokumentationszentrum (HetKatholiek Documentatie Centrum), über das Lodewijk Winkelerberichtet. Dieses stellt „eines der Waisenhäuser für das zahlreichehistorische religiöse Material“ dar, das durch die Säkularisierungverwaist sei, so Winkeler. Kirchen- oder Klosterarchive imstrengen Sinne sind hier nicht zu finden, vielmehr werden allemöglichen Facetten des katholischen Lebens seit etwa 1800 doku-mentiert. Darunter fallen auch Archivbestände katholischer, abernicht-kirchlicher Herkunft, daneben Bücher, Broschüren, Zeit-schriften sowie Bild- und Tondokumente seit dem Beginn derkatholischen Emanzipationsbewegung im 19. Jahrhundert.Auch jenseits der Niederlande dürften die Register des Sundzollsvon Interesse sein, die Dänemark seit dem 15. Jahrhundert fürnicht-dänische Schiffe einführte, die den Öresund durchfahrenwollten oder mussten. Nord- und Ostsee verbinden sich hier.Siem van der Woude berichtet in der Oktoberausgabe (De sont-tolregisters online. Nieuw licht op de Friese koopvardij, Heft 8)über ein digitales Erschließungsprojekt unter internationalerBeteiligung, das federführend von Tresoar, dem friesischenGeschichts- und Archivzentrum in Leeuwaarden, und der Rijks-universiteit Groningen betreut wird. Die zu digitalisierendenUnterlagen, mehr als 700 umfangreiche Bände, befinden sichheute im Rigsarkivet (Reichsarchiv) in Kopenhagen. Diese wich-tigen Quellen zur nordeuropäischen maritimen und Handelsge-schichte geben von 1497 bis 1857 Auskunft über etwa 1,7 Mio.Durchfahrten durch den Sund. Sie sind bislang allerdings nursehr schwer systematisch auszuwerten. Die Angaben, die die däni-schen Zollbeamten in Helsingør notierten, umfassen zu jeder

1 www.nationaalarchief.nl/archiefbeheer/archiefzorg/substitutie.2 www.kb.nl/hrd/digi/ddd/index.html.3 www.kb.nl/hrd/digi/ddd/nieuwsbrieven/200904/Titels%20gedigitaliseerd.pdf.

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Durchfahrt den Namen des Schiffers, seinen Wohnort, denHafen, von dem das Schiff aufgebrochen war, Angaben zurLadung und seit 1660 auch den Bestimmungsort des Schiffes.Allesamt wichtige Angaben speziell für die niederländischeGeschichte, denn rund die Hälfte aller Schiffe, die zwischen 1600und 1800 durch den Sund segelten, war niederländischerHerkunft. Keineswegs nur aus den Großstädten wie Amsterdam,und gerade im 18. Jahrhundert waren Schiffer aus den Wattenin-seln oder Friesland sehr prominent vertreten. Mit dem Digitalisie-rungsprojekt ist ein Forschungsprojekt zur friesischen Handels-schifffahrt des 17. und 18. Jahrhunderts verbunden, über diebislang wenig bekannt ist. Im Jahr 2011 soll die Digitalisierungs-arbeit abgeschlossen sein, die über das Internet recherchierbarsein wird.4

Nicht auf Fachleute, sondern auf Kinder zielt Operation Sigis-mund5 ab (Operatie Sigismund: het eerste schooljaar van eeneducatief programma). Über die Erfahrungen mit diesemBildungsprogramm für Kinder bzw. Schüler, das bei ihnenRespekt vor und Neugier auf Archivgut wecken soll, berichtetSaskia Poelman in der Novemberausgabe (Heft 9), eine Bilanz derersten zwei Jahre des Projekts des Drents Archief. Dazu wurdenKellerräume des Archivs umgewandelt in einen Salon einesGentleman des 18. Jahrhunderts. Jener Sigismund van HeidenReinestein, der dem ganzen Projekt den Namen gab, war einstDrost von Drenthe und Kammerherr des niederländischen Statt-halters Willem V. Faksimilierte Unterlagen Sigismunds dienen alsBasis für die Spürjagd der Kinder. Spielerisch sollen dieseAufgaben erfüllen, z.B. Memoryspiele oder auch das Entziffernalter Dokumente. Zugleich erfahren sie damit eine Menge überdie Aufgaben von Archiven. Richtet sich dieses Programm anGrundschulklassen, so ist in Zukunft geplant, dass Schüler derProvinz Drenthe im Verlauf ihrer Schullaufbahn und in verschie-denen Altersstufen dreimal Kontakt mit dem Drents Archiefbekommen. Operation Sigismund ist damit erst der Anfang.Auch das letzte Heft des Jahrgangs 2008 (Dezemberausgabe, Heft10) ist thematisch gebunden und behandelt vor allem Ausbil-dungsfragen der Archivare in den Niederlanden. Gleichzeitig istdiese Ausgabe ein Schwanengesang auf die Archiefschool inAmsterdam, die ja zum 1. Januar 2009 als eigenständige Institu-tion aufgelöst und in die Hogeschool van Amsterdam integriertwurde. Bei allen Verdiensten des traditionsreichen Instituts, aufdie etwa Fred van Kan (Een kostbaar instituut ter ziele) verweist,hatte dieses, wie van Kan ausführt, mit dem Beginn des neuenJahrhunderts nicht hinreichend reagiert auf die „starke Aufmerk-samkeit des Archivwesens für Fragen des Publikumszugangs unddes kulturellen Erbes der Archive“. Die Absolventen seien daraufnur unzureichend vorbereitet worden. Doch hatte auch dasniederländische Kultusministerium nicht immer „fair play“gespielt in der mehrjährigen Diskussion um die Zukunft derArchivschule, wie deren Direktorin Adelheid Feryn im Interviewmit Jac. Biemans ausführt („Vooral het veld is me niet meege-vallen.“ In gesprek met Adelheid Feryn, directeur van de Archief-school). Was immer die Gründe waren, man kann die Aufhebungeiner Institution des Archivwesens, die nicht auf archivischeNabelschau gerichtet war und sich seit 1999 eine gebürtigeBelgierin und Nicht-Archivarin als Direktorin leistete, durchausbedauern.Anders als beim niederländischen Archievenblad liegen dieSchwerpunkte des belgischen respektive flämischen Bibliotheek-& Archiefgids auch im Bibliotheks- und DokumentationswesenFlanderns, ist dieses Blatt doch die Vereinszeitschrift der gemein-

samen Berufsvereinigung der Archivare, Bibliothekare und Doku-mentare des niederländischsprachigen Landesteils.Auch Menschen können Archive sein, sind auch heute vollerGeschichten, Lieder und Mythen des Alltagslebens, die in derRegel niemand aufschreibt (De mens als archief, Heft 1, Februar2008). Dies zu ändern, war und ist eine zentrale Aufgabe desemeritierten Professors Stefaan Top aus Löwen (Leuven). Im Inter-view mit Laurens de Keyzer beschreibt Top einige Leitlinien seinerArbeit. Statt sich überwiegend oder ausschließlich auf Archiveund Bibliotheken zu verlassen, betrachten Top, seine Studentenund Arbeitsgruppen Menschen als Archive klassischer undmoderner Großstadtlegenden oder Sagen (broodje-aapverhalen),die kaum jemals tatsächlich „so“ passiert sind, aber Stimmungen,Ängste oder Werthaltungen charakterisieren, die authentischsind. Oft drehen sie sich noch um Gegenstände, etwa Hexen, dieman eher für vergangene Zeiten erwartet hätte. Oder sie sind inVariationen überregional oder übernational zu hören oder werdensogar in den Medien ungeprüft nacherzählt, wo sie für die Betrof-fenen mitunter unangenehme Folgen haben können. Menschenals Archive sind allerdings ein flüchtiges und sterbliches Gut,sofern diese nicht Tagebuch führen oder sonstwie schreiben. Topgeht es indes nicht um Haupt- und Staatsaktionen oder umelitäres Bildungsgut, sondern um Dinge, die diesen lebendenArchiven nicht einmal bewusst sein müssen. Auch das gehörtzum kulturellen Erbe (erfgoed). Ergebnisse der flämischenForschungen und zahlloser Gespräche mit normalen Bürgernfinden Eingang in Publikationen oder auch online als Datenbankmit der Vlaamse Volksverhalenbank, die obwohl ausschließlichniederländischsprachig, zum Interviewzeitpunkt bereits andert-halb millionenfach aufgesucht wurde, wie Top im Interviewerwähnt.6

Alec Vuijlsteke erläutert im Aprilheft (Nr. 2) den EU Bookshop.7

Mit einem Buchladen im traditionellen Sinne hat dieser nichtsoviel gemein. Vielmehr bündelt der Bookshop seit März 2005online die zuvor zersplitterten Publikationsaktivitäten der Euro-päischen Union und ihrer Agenturen und Organe, für die dasAmt für Veröffentlichungen verantwortlich zeichnet (etwa dasAmtsblatt der Europäischen Union). Dabei sind verschiedeneAspekte von Bedeutung. Einerseits soll das Portal als zentralerZugang zu allen EU-Publikationen sowohl für die europäischenBürger als auch für professionell Interessierte, etwa Buchhändler,dienen. Andererseits ist das Portal und elektronisches Archiv derEU-Veröffentlichungen als eine Informationsquelle für Forscher,Informationsbroker und Bibliothekare gedacht. Die wichtigstenSeiten sind dabei in 21 Sprachen der Union erreichbar. Die Erhal-tung der Vielsprachigkeit, für die extra ein EU-Kommissarzuständig ist, bleibt ein wichtiges Ziel, wenn sie auch teuer undaufwendig ist. Seit dem Start des Portals (bis zum Erscheinendieser Ausgabe) wurden 1,1 Mio. PDF-Texte runtergeladen und720.000 Papierfassungen bestellt. Mittelfristig ist geplant, allejemals durch die Europäische Union und ihre Vorgänger veröf-fentlichten Texte retrospektiv zu digitalisieren – dabei handelt essich immerhin um geschätzte 130.000 Veröffentlichungen mitetwa 14 Mio. Seiten.Wenig einheitlich sind die archivischen Ordnungsmethodenwenigstens der Städte und Gemeinden in Belgien. Dies war derGegenstand eines Studientags zu „Struktur im Archiv der Verwal-tung“, der am 6. Dezember 2007 in Mechelen stattfand. Dies istauch der Titel (Structuur in het archief van je bestuur. Eenstudiedag over ordenen van archieven...) eines Kongressberichtsvom Katlijn Vanhee, der im Juniheft 2008 (Nr. 3) erschien. Lange

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Zeit gab es hier wenig oder überhaupt keine Koordinierung derOrdnungsmethoden, und erst in jüngerer Zeit, mit dem Para-digma des Ordnens nach Funktionen (eines Registraturbildners)kommt etwas Bewegung in diese Diskussion. Schon 1898verwiesen die niederländischen Archivare Müller, Feith und Fruinauf die Vorteile dieser Vorgehensweise für Archive. In den Nieder-landen spielt demgegenüber die Zusammenarbeit von Archivenseit langem eine viel größere Rolle, wie Paul Huismans vomniederländischen Brabants Historisch Centrum feststellte. DaBelgien zu den Wiegen der Dokumentation gehört (u. a. mit derUniversal Decimal Classification), ist ein starker Einfluss diesereigentlich nicht für öffentliche Archive entwickelten komplexenKlassifikation gerade bei belgischen Archiven zu spüren. Und seies über eine Spielart, den Nationale Decimale Code, der für belgi-sche Städte und Gemeinden entwickelt und 1955 veröffentlichtwurde, wie der Archivconsultant Patrick Van Den Nieuwenhofwährend des Studientages bemerkte. Dass diese Problematik überdie beiden Landesteile Belgiens bekannt ist, unterstreicht einnachfolgender Bericht von Thierry Delplancq über die Ordnungs-methoden im wallonischen Belgien (Overzicht van de ordenings-methodes in Franstalig België. Een streep onder het verleden?).Einer dogmatischen Vereinheitlichung mannigfaltiger historischgewachsener Ordnungskriterien, von der manche Archivare zuträumen scheinen, erteilt Delplancq allerdings eine Absage; diesesei angesichts der gigantischen Arbeit, mit der belgische Archivarekonfrontiert seien, wenig realistisch.Einer der international führenden Bibliotheken mit enormemInteresse auch für Archivare ist die Library of Congress inWashington, die ursprünglich vor über 200 Jahren in der Tat alsBibliothek des amerikanischen Kongresses begründet wurde.Durch das breite Sammlungsspektrum, dass nicht nur Bücher,sondern auch Partituren, Plakate, Bild- und Tonaufnahmen, Brief-sammlungen und vieles mehr umfasst, ist die Library of Congresssehr wohl auch ein Gedächtnis der Vereinigten Staaten. Sie istauch das fotografische Gedächtnis der USA8 (Het fotografischegeheugen van de Verenigde Staten van Amerika), über das PierreBrewee im Augustheft (Nr. 4) berichtet. Schon früh hat dieseBibliothek einmalige fotografische Sammlungen erworben, so1873 die Bilder des amerikanischen BürgerkriegsfotografenMatthew B. Brady. Andere herausragende Kollektionen der ameri-kanischen Geschichte sind 2.400 Originalabdrucke von ethnogra-fischen Bildern amerikanischer Ureinwohner, die Edward S.Curtis zwischen 1900 und 1930 aufgenommen hatte, oder dieimmense Sammlung, die verschiedene Fotografen in den 1930erJahren, der Zeit der Great Depression, im Auftrag der Farm Secu-rity Adminstration (FSA) aufgenommen hatten.Dass der Vereinheitlichungs- und Europäisierungseifer (Stichwort„Bologna“) im Bildungsbereich nicht immer in eine schöne undneue Welt führen muss, kann der geneigte Leser im 5. Heft(September- und Oktoberausgabe) des Gids erfahren (Vlaamsearchieven en bibliotheken bezorgd om de toekomst van „hun“opleidingen). Dort macht die Vlaamse Vereiniging voor Biblio-theek-, Archief- en Documentatiewezen darauf aufmerksam, dassdie „Ausführung der Bologna-Übereinkünfte und die Anpassungder flämischen Unterrichtsstruktur an die europäische“ großeUnsicherheit in dem Sektor verursachten. Die etablierten Ausbil-dungsgänge im Archiv-, Dokumentations- und Bibliotheksbereichsollen nicht weitergeführt werden, ohne dass wirklich klar ist, wiedie künftige Ausbildungsstruktur ausschaut: „Über die Umstel-lung in eine andere Struktur besteht grosse Undeutlichkeit.“ ImAllgemeinen, so wird gerne öffentlich verbreitet, sollen ja europäi-

sche Großbaustellen wie „Bologna“ zu einer lichten Zukunft mitbeinahe märchenhaften Beschäftigungschancen der Absolventenführen. Für die europäische Kultusbürokratie mag die Zukunftschon jetzt Gegenwart sein.Wie schon im Archievenblad 2008, so geht es auch in der 6. undletzten Ausgabe des Bibliotheek- & Archiefgids (November- undDezemberheft) einmal mehr um den Handel von Archivalien,„ein altes Leiden und sehr aktuelles Thema“ (Handel in archief-documenten, een oud zeer en een actueel thema). Aufhänger desArtikels von Noël Geirnaert ist eine Versteigerung einer Ausgabeder Magna Charta von 1297, die im Dezember 2007 für 21,3 Mio.Dollar in New York einen Käufer fand. Dieses Extrembeispielbrachte einen Gegenstand ins Rampenlicht, der nie von der Tages-ordnung der Archive und Bibliotheken verschwunden ist. Allge-mein hält sich die Begeisterung mitzubieten in Grenzen, wie Geir-naert für niederländische und flämische Archive feststellt. Dasändert allerdings nichts an der grundsätzlichen Problematik, dassalte Unterlagen oder Bücher versteigert oder sonst zu Geldgemacht werden. Geirnaert verweigert sich dem nicht, ohne in dievielleicht allzu positive Auffassung von Marieke Kroonen zuverfallen (siehe oben, Märzheft des Archievenblad). Für seinArchiv, das Stadsarchief Brugge, stellt Geirnaert einige Thesenauf, die ganz allgemein von Interesse sind. Erstens darf der Kaufvon Archivalien „niemals die wichtigste Art des Erwerbs sein:Übergabe, Schenkung oder Verwahrung haben Vorrang. EinArchivar ist kein ‚big spender‘ auf Versteigerungen oder in Anti-quariaten“. Vor allem sollte man den Erwerb von Archivaliennicht an die große Glocke hängen. Zweitens sollte das zu Erwer-bende eine echte Bereicherung eines Archivs darstellen. Drittenshat das Stadtarchiv Brugge bereits mit Erfolg Unterlagen ausHandel und Versteigerungen zurückgefordert, die mit Sicherheitaus dem Bestand des Archivs entfremdet wurden, oder es hat dasRijksarchief darauf aufmerksam gemacht, dass öffentliche Unter-lagen anderer Einrichtungen verkauft oder versteigert werdensollen. Manchmal war es allerdings auch nötig, Dinge zurückzu-kaufen, die mit Bestimmtheit einmal in öffentlichen Archivenverwahrt wurden. Der bestehende Schwarzmarkt allerdings kann„allein auf gerichtlichem Weg bekämpft werden“. Viertensstimmt das Brugger Stadtarchiv sich mit anderen Einrichtungenab. Fünftens muss man sicher sein, dass ein Verkäufer vertrauens-erweckend und wirklich der Eigentümer von Archivalien ist.Internetmarktplätze wie Ebay werden zwar ebenfalls beobachtet,dies aber zumeist misstrauisch. Sicher zu recht. Sechstensempfiehlt Geirnaert bei Ankauf oder auch Schenkung von Bild-material oder Bild- und Tonaufnahmen zu prüfen, ob möglicheUrheberrechte miterworben werden. So ist der Kauf von Archiva-lien und ähnlichem Kulturgut eine nicht immer vermeidbareAngelegenheit, allerdings bedeutet das „sicher nicht, dass Archi-vare der Logik von Auktionatoren und anderen Händlern folgensollen“.

Matthias Weber, Frankfurt am Main

4 www.soundtoll.nl.5 www.drentsarchief.nl/over-drents-archief/projecten/operatie-sigismund.6 www.volksverhalenbank.be.7 http://bookshop.europa.eu.8 http://lcweb2.loc.gov/pp/pphome.html.

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ARCHIVARBEIT – DIE KUNST DES MACHBAREN

Ausgewählte Transferarbeiten des 39. und 40. Wissen-schaftlichen Kurses an der Archivschule Marburg. Hrsg.von Volker Hirsch. Archivschule Marburg, Marburg 2008.276 S., kart. 29,80 C= . ISBN 978-3-923833-34-4 (Veröf-fentlichungen der Archivschule Marburg Nr. 47)

Die Rezension von Sammelbänden stellt den Rezensenten zumeistvor ein großes Problem. Einerseits soll der Inhalt der einzelnenAufsätze vorgestellt, andererseits aber konstruktive Kritik geübtwerden. Die Lösung dieses Problems ist nicht zuletzt vom zurVerfügung stehenden Platz abhängig. Erschwert wird dieseAufgabe, wenn so mancher Beitrag mit dem Hinweis versehen ist,dass es sich um eine gekürzte Fassung handelt, so wie es im mitt-lerweile vierten Band mit ausgewählten Transferarbeiten derwissenschaftlichen Kurse der Archivschule Marburg der Fall ist.Auch dieses Mal erwartet den Leser ein thematisch recht bunterReigen, der von der Erschließung von Gerichtsbüchern (HolgerBerwinkel) über Nachlässe und mögliche Übernahmekriterien(Ragna Boden), vom vermeintlichen (?) Tabubruch Nachkassation(Ullrich Christoph Hanke) über Pflichtpraktika im Archiv fürBachelor- und Masterstudiengänge (Christine Mayr), von derUnterlagenarchivierung kommunaler Unternehmen (JohannesRosenplänter) bis zur Bewertung von Schriftgut landeseigenerUnternehmen (Ulrich Schludi) sowie von der Bewertung vonSozialgerichtsverfahrensakten (Christoph Schmidt) bis hin zurÜberlieferung Neuer Sozialer Bewegungen (Stefan Sudmann)reicht.Gleich der erste Beitrag (von Holger Berwinkel) orientiert sich amprogrammatischen Bandtitel und entwickelt anhand der Analysedes Vorgehens anderer Archive ein begründet nachvollziehbaresKonzept für die Erschließung der Gerichtsbücher im SächsischenStaatsarchiv. Dieses hat den Schutz der Archivalien sowie denNutzer im Focus und strebt deshalb die Erarbeitung sich selbsterklärender Findmittel an.Ragna Boden legt mit ihrem Beitrag den Finger in eine archivischeWunde. Wie sollte sich die Nachlassakquirierung vollziehen,welche Übernahmekriterien sollten gelten? Bodens diesbezüglicheÜberlegungen und nicht zuletzt der beigefügte Musterdeposital-vertrag dürften gerade auch für kleinere Archive besonders hilf-reich sein.Ullrich Christoph Hankes Beitrag zum bislang wenig berücksich-tigten Thema Nachkassation wirbt massiv für die Anwendungderselben, ohne mit der gleichen Konsequenz auch denEinwänden nachzugehen. Bei aller Euphorie über Platzeinsparpo-tentiale wird zu beachten sein, dass Nachkassationen (im engerenSinne) bislang nicht (nur) unreflektiert als Tabubruch galten.Darüber hinaus ist der von Hanke vorgenommene Definitionsver-such des unterschiedlich genutzten Begriffs „Nachkassation“wenig zielführend, beschreibt er doch nur die terminologischeUnschärfe, behebt sie aber nicht.Christine Mayr präsentiert Überlegungen zu einem strukturiertenArchivpraktikum, um auf die steigende Nachfrage durchBachelor- und Masterstudiengänge besser reagieren zu können.Die Praktikanten sollen in einem (so der Vorschlag) sechswö-chigen Praktikum nahezu alle „Stationen“ des Archivalltagsdurchlaufen. Dies erscheint als sehr ehrgeizig und es bleibt zuhoffen, dass interessierte Leser erfahren, welcher Erfolg dieseminteressanten Modell in der Praxis beschieden ist.Johannes Rosenplänter beschäftigt sich vorrangig aus juristischerSicht mit den archivischen Folgen der unternehmerischen Tätig-

keit von Kommunen. Auf ein ähnliches Gebiet wagt sich UlrichSchludi mit der Vorstellung eines Modells zur Bewertung vonSchriftgut landeseigener Unternehmen im FinanzministeriumBaden-Württemberg vor, das durch die Erörterung der rechtli-chen Grundlagen des Verwaltungshandelns, die Beschreibung derAufgabenwahrnehmung und die Analyse der in den Akten vorzu-findenden Informationen sehr nachvollziehbar geraten ist.Christoph Schmidt stellt ein Verfahren zur Bewertung und elek-tronisch unterstützten Aussonderung von Verfahrensakten derSozialgerichte in Nordrhein-Westfalen vor. Er beschreibt, wie mitHilfe mehrerer Filterkriterien die tatsächliche Aktenautopsie starkeingeschränkt werden kann. Die so gebildete Überlieferung ist(beabsichtigt) nicht repräsentativ, aber transparent gebildet.Stefan Sudmann beschreibt den Zustand einiger „Archive vonunten“ in Baden-Württemberg und kommt u. a. zu dem Schluss,dass der archivischen Bewertung eine wachsende Bedeutungzukomme. Allerdings solle nicht eine gesamtgesellschaftlicheDokumentation, sondern die „Archivierung von Unterlagen, diebei der Wahrnehmung gesellschaftlich relevanter Aufgabenentstanden sind“ (S. 276), das Ziel sein. Diese Trennung dürfteeher künstlich sein, ist doch die gesamtgesellschaftliche Doku-mentation kein Selbstzweck und zwingend darauf angewiesen, dieaussagefähigen Akten zu gesellschaftlich relevanten Themen zuarchivieren. Ohne transparente und damit diskussionsfähigeWertvorstellungen von der „Relevanz“ bleibt diese Diskussionjedoch ohnehin inhaltslos.Insgesamt ist der Archivschule Marburg und natürlich vor allemden Autorinnen und Autoren zu dieser im Ganzen gelungenenVeröffentlichung zu gratulieren, wenngleich es sicherlichmanchmal nicht nur für den Rezensenten wünschenswert wäre,die Texte in der Originallänge gedruckt vorzufinden.

Matthias Buchholz, Berlin

AUFBRUCH INS DIGITALE ZEITALTER – KOMMUNALAR-CHIVE ZWISCHEN VORFELDARBEIT UND NUTZERORI-ENTIERUNG

Referate des 15. und 16. Fortbildungsseminars der Bun-deskonferenz der Kommunalarchive (BKK) in Fulda (7.-11.11.2006) und Magdeburg (12.-14.11.2007). Hrsg. vonMarcus Stumpf und Katharina Tiemann. Landschafts-verband Westfalen-Lippe, Münster 2008. 256 S., kart.10,- C= . ISBN 978-3-936258-08-0 (Texte und Untersu-chungen zur Archivpflege 21)

Die Vorträge zweier Fortbildungsseminare werden in diesem sehrinformativen Band der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.Widmete sich das Treffen in Fulda dem Thema „KommunaleArchive und ihre Benutzer im digitalen Zeitalter“, so stand dieMagdeburger Veranstaltung unter der Überschrift „Neue Anfor-derungen an die archivische Vorfeldarbeit – analoge und elektro-nische Unterlagen aus amtlichen und nichtamtlichen Registra-turen.“Die Ergebnisse beider Treffen in einem Band zu publizieren,macht durchaus Sinn, gibt es doch zahlreiche Schnittmengenzwischen Langzeitarchivierung und deren Vorfeldarbeit (Bewer-tung, Erschließung, Recherche) bis hin zur Nutzung von

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Archivgut. Es wäre durchaus denkbar gewesen, beim Abdruck derBeiträge beide Themenkomplexe zu tauschen, da die Vorfeldar-beit vor der Nutzung stattfindet, aber dies ist Geschmackssacheund schadet dem Band keinesfalls.Die insgesamt 23 Untersuchungen decken ein weites Feld ab undbieten den zahlreichen personell unterbesetzten und finanziellnicht sonderlich gut gestellten Kommunalarchiven Handrei-chungen, für die man durchaus dankbar sein kann. Im Focus derFuldaer Konferenz stand das Spannungsverhältnis von analogenund digitalen Findmitteln (v. a. Beiträge Fischer und Glauert) undServicemöglichkeiten, die sich etwa den Benutzern bieten (Digita-lisierung; Internetauftritte von Archiven). Auch dem Archivrecht– hier durch einen sehr luziden Beitrag von Klaus Oldenhagedargestellt – und den Auswirkungen des technologischenWandels auf die Nutzungsbestimmungen wird der gebührendePlatz eingeräumt. Zwei Beiträge (Freund/Viertel) wenden sichdem Thema Öffentlichkeitsarbeit zu.Die Magdeburger Tagung kann als Sachstandsbericht bezeichnetwerden. Alle Referentinnen und Referenten lieferten Praxis- oderWerkstattberichte aus ihren Häusern und machten deutlich, wiestark die Anforderungsprofile hinsichtlich der Überlieferungsbil-dung im Spannungsfeld von analogen und elektronischen Regis-traturen nicht nur von den Archivträgern, sondern auch von denMöglichkeiten der Vorfeldarbeit her definiert werden. Darüberhinaus fiel auch bei dieser Tagung auf, dass gerade die Kommu-nalarchive teils extrem unterschiedliche Ausgangspositionenhaben: arbeiten die einen schon mit einem DMS, so steht diesesbei anderen Kommunen noch nicht einmal auf der Tagesordnung.Entsprechend muss die Diskussion zur Übernahme analogerRegistraturen unterschiedlicher Provenienz genauso intensivweitergeführt werden wie die verstärkte Auseinandersetzung mitpotentiellem Archivgut der „born digital documents“. Dass hierwie dort zeitgemäße Standards zur Übernahme und Verzeichnungvon Archivgut Verwendung finden müssen, versteht sich vonselbst und zieht sich wie ein roter Faden auch durch den zweitenTeil des Tagungsbands.Die vorliegende Dokumentation bietet somit zahlreiche Anknüp-fungspunkte für weitere Diskussionen und Gedankenspiele.

Benedikt Mauer, Düsseldorf

KARLHEINZ BLASCHKE, LAUTER ALTE AKTEN

Den von Formularen geplagten Zeitgenossen zum Trost,zur Belehrung und Erheiterung! Unveränderter Nach-druck der Ausgabe von 1956, mit einem Geleitwort vonLorenz Friedrich Beck. Verlag BibSpider, Berlin 2009.108 S., kart. 13,- C= . ISBN 978-3-936960-31-0

In dem ursprünglich 1956 erschienenen und als Nachdruck derOriginalausgabe neu aufgelegten Büchlein erschließt der Autordurch treffende und sehr unterhaltsame Beispiele dem interes-sierten „Zeitgenossen“ – also dem Nichtfachmann – die im allge-meinen eher verschlossen erscheinende Welt der Archive undArchivalien. Karlheinz Blaschke gelingt dies mit ironischem Blickauf die eigene Zunft. Aber wohl gerade für diese ist es ein ganzbesonderes Lesevergnügen, auch wenn er abschließend augen-

zwinkernd hofft, dass das Werk „nur ja keinem Archivar in dieHände fallen möchte“.Das Leben eines Menschen schlägt sich in Akten nieder. Jeder-mann wird dies hin und wieder merken, ja man kann sichmitunter geradezu von der Bürokratie verfolgt fühlen. Weshalbsollte man sich quälen und sich trotzdem mit diesem Themabeschäftigen, fragt der Autor und erläutert ausgehend von derHerkunft der Begriffe, was ein Archiv überhaupt ist bzw. wieArchive entstanden sind. Wichtig ist es ihm dabei, auf die Unter-schiede zu den sogenannten „Konkurrenten“ wie z. B. zu denBibliotheken aufmerksam zu machen, sowie auf die falscheVerwendung von archivspezifischen Begriffen einschließlich desBegriffes „Archiv“ selbst hinzuweisen.In chronologischer Reihenfolge widmet sich der Autor den Archi-valiengattungen Urkunden, Akten, Karten, Pläne, Fotos, Tonträgerund zeigt dabei, dass man im zeitgenössischen Alltagsleben nichtnur auf Akten, sondern ebenfalls auf Urkunden (z. B. in Formeines Straßenbahnfahrscheins) nicht verzichten kann. Er erläutertdie historischen Entstehungszusammenhänge, innere und äußereForm des Archivgutes, Schreibmittel und Beschreibstoff sowieSprachen und Schrift der Aufzeichnungen. Ergänzt werden später,welche Lagerungsbedingungen Archivalien benötigen, um dieJahrhunderte zu überdauern, und welche restauratorischenMaßnahmen bei bestimmten Schadensbildern Anwendungfinden.Der Autor schildert, wie der Archivar die Bestände seines Archivserschließt, die Akten abgebenden Behörden seines Archivspren-gels betreut und zeigt, wie wichtig es ist, zu wissen, dass Archiveheute nach dem Provenienzprinzip und in der Vergangenheit nachdem Pertinenzprinzip geordnet sind bzw. waren. Nur so kann derNutzer die Quellen finden, die er benötigt, egal ob für die wissen-schaftliche Forschung, für die Vorbereitung von Bauvorhaben, fürgewerbliche Zwecke oder für heimatkundliche bzw. genealogischeFragestellungen.Sowohl aus der Vielfalt der archivischen Überlieferung als auchaus der Bandbreite der an Archive gerichteten Fragestellungenergeben sich die Kenntnisse, die sich die Archivare notwendiger-weise aneignen müssen: Urkundenlehre, Aktenkunde, Latein,Französisch, Paläographie, um nur einige zu nennen, und nichtzuletzt Verwaltungsgeschichte, die durchaus amüsante Seiten hatwie sich im Kapitel „Von wirklichen und unwirklichen GeheimenRäten, Aktuaren und anderem Kanzleiinventar“ zeigt. Der Archi-varsberuf ist Berufung, schreibt Blaschke; er hat eine breite Quel-lenbasis unter den Füßen, deren Betreuung immerwährendeAufgabe ist und die den heutigen Menschen als lebendigeGeschichte entgegentritt. „Der Archivar muss aber vor allenDingen eines können: verzichten; verzichten, um dienen zukönnen.“ Diesen Satz untermauert der Autor mit dem Vergleichzwischen Archivar und Bergmann, der gleichsam für den Benutzerden Rohstoff für dessen Forschung zu Tage fördert und sie damitüberhaupt erst ermöglicht. Die eigene Forschung sollte da nureine untergeordnete Rolle spielen. Dafür ist der Archivarsberufsehr viel breitgefächerter, als dass er sich in Erschließung desvorhandenen Archivguts und der Benutzerbetreuung erschöpfenwürde. Der Blick ist auch nach vorn gerichtet, auf die Erfassung,Bewertung und Übernahme von Unterlagen und damit denAufbau von Überlieferung, an die die zukünftige Forschung ihreFragen stellen wird. Das sich abzeichnende Problem der Massen-überlieferung liefert einen abschließenden Blick in die Zukunftund damit auf die heutige Realität.

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Überhaupt scheint der mehr als fünfzig Jahre alte Text aktuell,auch wenn gegenwärtig die neuen elektronischen Unterlagensowie die daraus resultierenden Probleme der Überlieferungsbil-dung und der Langzeitarchivierung häufig den Fokus auf sichziehen. Den heutigen Archivarinnen und Archivaren wird somanche Situation sehr vertraut vorkommen, z. B. bei der Behör-denbetreuung, bei den benötigten finanziellen Mitteln oder auchbeim Umgang mit den Benutzern, denen Blaschke ebenfalls einliebevoll gestaltetes Kapitel gewidmet hat.

Irina Schwab, Berlin

A. J. M. (ARNOLD) DEN TEULING, ARCHIEFTERMINO-LOGIE VOOR NEDERLAND EN VLAANDEREN

Stichting Archiefpublicaties, Den Haag 2007. X, 64 S.,brosch. ISBN 978-90-71251-26-9

Auf Flandern und die Niederlande bezieht sich diese Übersichtgängiger Archivbegriffe vor allem. Seit 2007 liegt sie in zweiterAuflage vor, die erste erschien bereits 2003. Der Autor wurdedabei von einer gemeinsamen niederländisch-flämischen Redakti-onskommission unter Aufsicht der Koninklijke Vereniging vanArchivarissen in Nederland (KVAN) unterstützt. Eine ganze Reiheniederländischer und belgischer Übersichten ging dieser Ausgabein den vergangenen Jahrzehnten voran. Zu Recht stellt Bert deVries in seinem Geleitwort fest, dass immer wieder „die Termino-logie an die Forderungen der Zeit angepasst werden“ müsse. Inte-ressant ist, dass dem Zustandekommen und der zugrundeliegenden Methodik und Einteilung des Buches in der Einleitungbreiter Raum gewidmet wird. Das lässt aufhorchen. Offenkundiggibt es einigen Erklärungsbedarf. Das Arbeiten mit dem Band,zeigt, warum. Einfach den Band in die Hand nehmen undmöglichst verallgemeinerbare Definitionen lesen, steht hier jeden-falls nicht im Vordergrund. Anders als es vielleicht zu erwartenwäre, sind die Begriffe nicht alphabetisch geordnet, sondern sach-thematisch, und zwar in die Hauptkapitel „Basisbegriffe“, sehrausgebreitet „Inhaltliche Kontrolle“, sehr knapp indes „MaterielleKontrolle“ (hierunter verbergen sich Begriffe wie „Konservierung“oder „Depotverwaltung“ u. a.) sowie „Öffentlichkeit und Archiv-wesen“; Kapitel, die z. T. noch weiter unterteilt werden. DerGefahr einer mitunter willkürlich erscheinenden Zuordnung derBegriffe zu diesen Kapiteln entgeht das Buch dabei nicht. AlleBegriffe erhalten eine Definition und häufig zusätzlich einemitunter sehr ausführliche Erläuterung. Eine Seiteneinteilunggibt es nicht, die Orientierung erfolgt über den Index amBandende und die Nummerierung der einzelnen Begriffe.Soweitzum Aufbau. Eine Kernfrage für jedes Lexikon ist, ob man damitrecht schnell eine stimmige Auskunft erhält und vor allem gerndamit arbeitet. Soweit es den Verfasser dieser Zeilen betrifft, kannwenigstens letzteres verneint werden. Keine Frage, die Defini-tionen der Begriffe sind allgemein solide geraten. Die kleingedruckten Erläuterungen hingegen sind teilweise sehr, vielleichtzu lang geraten. Sie versuchen sich an einer umfassenden Ausfüh-rung vieler Begriffe und können bis zu anderthalb Seitenumfassen. Das ist nicht unproblematisch. So erhalten einigeBegriffe überhaupt keine oder nur sehr knappe Erläuterungen,während andere zahlreiche Beispiele aufführen. Wiederum

andere Erläuterungen hätte man getrost den Definitionen zufügenkönnen. Manche der 183 Begriffe sind hier nun eher Fehl amPlatz, etwa „Abbildung“ (afbeelding, Nr. 34) oder „Zeichnung“(tekening, Nr. 35). Man fragt sich, was das Archivtypische hieranist – und warum nicht konsequenterweise „Gemälde“, „Skizze“und Verwandtes erwähnt werden, Begriffe, die gleichfalls einenArchivaspekt haben können? Sicher fügen sich diese Begriffe inein Unterkapitel von „Dokumentformen“ stimmig ein, aber wemnützen Definitionen wie „Dokument, dass auf zweidimensionaleWeise eine Person, Objekt oder Situation wiedergibt“ für „Abbil-dung“ oder „Abbildung, die selektierte Elemente einer Person,Objekts oder Situation wiedergibt“ für „Zeichnung“? Es ließesich noch trefflich streiten, ob eine Zeichnung wirklich ein Unter-begriff einer Abbildung ist – doch wer wird derartige Erklä-rungen überhaupt in einem Archivglossar suchen? Wirklich alljene, „die sich auf irgendeine Weise mit Archivwesen beschäf-tigen“, wie die Zielgruppe in der Einleitung festgestellt wird? Hierführt sich eine schlüssig scheinende Methodik ad absurdum. EinBeispiel, dem andere beigefügt werden könnten. „Kataster“ (ndl.kadaster) dagegen, keine unbedeutende Quellengattung, wird alseigenständiger Begriff nicht aufgeführt. Und die Möglichkeit zuerfahren, was ein „Thesaurus“ ist, ein keineswegs nur im Biblio-theks- und Dokumentationsbereich bedeutendes Werkzeug derErschließung, sollte jedem Archivar zumindest offen sein. Hiernicht, Fehlanzeige. Auch einen Begriff wie „hybriede archieven“sucht man als eigenständigen Eintrag wie auch im alphabetischenIndex (ohne den die Arbeit mit dem Band zum Ärgernis würde)vergebens, er wird unter „Dossier“ (Nr. 110) sinngemäß wiederge-geben, ohne ihn zu erwähnen. Bei der Unterscheidung von eben„Dossier“, das unter „Inhaltlicher Kontrolle“ steht, zu „Akte“(Nr. 9), einem „Basisbegriff“, hätte man sich zumindest einenQuerverweis gewünscht, der die jeweiligen Erläuterungen viel-leicht in Beziehung setzte. Hinsichtlich der Bewertungsmethodikerhalten in jüngerer Vergangenheit diskutierte Begriffe wie„Makrobewertung“ respektive „Mikrobewertung“ (macroselectie,microselectie, Nr. 115–116) eigene Einträge. „Sampling“ hingegenoder das künftig bei digitalen Archiven womöglich immer wichti-gere „automatische Indexieren“ sucht man vergebens. Interessantist dieses Buch vor allem als Übersicht über die zum Zeitpunktdes Abfassens und Redigierens offiziell vertretenen Theoreme undAnsichten im staatlichen Archivsektor vor allem Hollands, aberauch Flanderns. Hierbei ist die gewählte Unterteilung undBegriffsauswahl gangbar. Für alle weitergehenden Fragestellungenist dieser Band problematisch, und die darin erwähnten regio-nalen Besonderheiten niederländischer und flämischer Begriffebetreffen zumeist die Zeit napoleonischer Herrschaft, als es denStaat Belgien noch nicht gab und die Niederlande französischdominiert bzw. Teil Frankreichs waren. Gibt es nichts markantVerschiedenes aus den sich bildenden Nationalstaaten Nieder-lande und Belgien, ihrer Verwaltung und Archivwesen nach 1815und 1830? Konsequent für diese Art von Nachschlagewerken ist,dass der Band nunmehr nur noch online unter www.archiefpubli-caties.nl/pdf/Archiefterminologie%20voor%20Nederland%20en% 20Vlaanderen,%202e%20druk%202007.pdf zu finden ist.Noch konsequenter, dabei weitaus umfassender und flexibler alsdas Bereitstellen eines PDF-Dokuments im Internet ist dagegendas Projekt „Archiefwiki“, das aktuell u. a. sehr zahlreicheBegriffsbestimmungen zugänglich macht (siehe unterwww.archiefwiki.org/wiki/Categorie:Terminologie), die auch aufdem hier besprochenen Werk basieren.

Matthias Weber, Frankfurt am Main

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BERTHOLD GAAZ, HEINRICH BORNHOFEN, PERSO-NENSTANDSGESETZ

Handkommentar mit Materialien. Verlag für Standes-amtswesen, Frankfurt/M. – Berlin 2008. 523 S., geb.74,50 C= . ISBN 978-3-8019-5701-8

„Der mutige Sprung der Bund/Länder-Arbeitsgruppe mit demReformgesetz in ein neues Beurkundungszeitalter fand insbeson-dere bei den IT-Verantwortlichen der beteiligten Ministerien undden mit einer möglichst engen Vernetzung der Verwaltungbefassten Arbeitskreisen große Unterstützung“, so Gaaz undBornhofen in ihrem Vorwort zum Kommentar des novelliertenPersonenstandsgesetzes (PStG) (S. 9). Nicht nur die Standesbeam-tinnen und Standesbeamten sind durch das Gesetz mit „tief grei-fenden Neuerungen konfrontiert“, sondern ebenso die Archive,weshalb der Handkommentar auch für Archivarinnen und Archi-vare ein hilfreiches Arbeitsinstrument ist.Das knapp 80 Paragrafen umfassende Gesetz greift in fast alle,jedenfalls in die elementaren menschlichen Lebenssituationenein, denn „Personenstand im Sinne dieses Gesetzes ist die sich ausden Merkmalen des Familienrechts ergebende Stellung einerPerson innerhalb der Rechtsordnung einschließlich ihres Namens.Der Personenstand umfasst Daten über Geburt, Eheschließung,Begründung einer Lebenspartnerschaft und Tod sowie damit inVerbindung stehende familien- und namensrechtliche Tatsachen“(§ 1 Abs. 1 PStG). Das neue Personenstandsgesetz reflektiertgesellschaftliche Veränderungen, wie etwa die Akzeptanz gleich-geschlechtlicher Lebenspartnerschaften, und technische Innova-tionen insbesondere mit der Einführung der elektronischen Regis-terführung. Das Personenstandsrecht und somit die Aufgabenvon Standesämtern sind – wie das Gesetz mit den dazu gehörigenuntergesetzlichen Vorschriften schnell verdeutlicht – durchauskomplex. Dagegen sind die für das Archivwesen relevantenPassagen überschaubar, wenngleich sie erhebliche Konsequenzenfür die Archive haben:Neben den „Allgemeinen Bestimmungen“ (Kapitel 1, S. 19-27)haben die Bestimmungen zur elektronischen Führung der Perso-nenstandsregister (§ 3 Abs. 2 PStG), die Festlegung von Fortfüh-rungsfristen (§ 5 Abs. 5 PStG), die Vorschriften zur Archivierbar-keit und zur Aufbewahrung (§ 7 PStG) sowie zur Benutzung derRegister und der Sammelakten (§ 61 PStG) Einfluss auf die archi-vische Arbeit.Systematisch entscheidend sind die in § 5 Abs. 5 PStG festgelegtenFristen, nach deren Ablauf erstmals in der Geschichte des Perso-nenstandswesens die Personenstandsregister nicht mehr fortge-führt werden, etwa mit weiteren Urkunden (Randvermerken bzw.jetzt Folgebeurkundungen) und Hinweisen zum Personen- undFamilienstand einer Person oder deren Angehörigen. Denn nachAblauf dieser Frist müssen die Register und die Sammelaktendem zuständigen Archiv „nach den jeweiligen archivrechtlichenVorschriften“ angeboten werden (§ 7 Abs. 3 PStG), wobei diePersonenstandsregister und die Sicherungsregister dauernd undräumlich getrennt aufzubewahren sind (§ 7 Abs. 1 PStG). ImKommentar wird ganz im Sinne der Archive klar gestellt, dass derTerminus „anzubieten“, wie er aus der Archivgesetzgebungbekannt ist, keine Freiwilligkeit bei der Abgabe und Übernahmeimpliziert. Diese Verdeutlichung haben die Archive dem Einflussder Archivverwaltungen auf die Gesetzgebung zu verdanken(S. 41).Die Fortführungsfristen – ein Wortungetüm – sind außerdemauch für die Benutzung nach Archivrecht maßgeblich, denn nach

§ 61 Abs. 2 PStG („Benutzung der Personenstandsregister“) sinddie Personenstandsregister und Sammelakten nach Ablauf der in§ 5 Abs. 5 festgelegten Fristen nach archivrechtlichen Vorschriftenzu benutzen. Dies ist ein Durchbruch – nicht zuletzt für die fami-lienhistorische und wissenschaftliche Forschung.Ab wann ist aber die Fortführungsfrist zu berechnen, ab demletzten Eintrag oder nach Abschluss des Jahrgang-Bandes?Darüber geben Personenstandsgesetz und Kommentar nur amRande Auskunft. Sicherlich ist die Umsetzung des Personentands-gesetzes nach Archivrecht die Angelegenheit der Archive, aberauch für die Standesämter und deren Aufsicht wird nur vereinzeltauf die jahrgangsbezogene Führung der Register eingegangen: In§ 3 Abs. 2 wird darauf hingewiesen, dass die „Beurkundung inden Personenstandsregistern […] jährlich fortlaufend zu numme-rieren“ sind. Im Kommentar zu dieser Passage heißt es ferner:„Die Pflicht zum jährlichen Abschluss der Personenstandsregisterergibt sich aus § 4 Abs. 2 Satz 1“ (S. 30): „Das Sicherungsregisterist wie das Personenstandsregister am Ende des Jahres abzu-schließen“, so der § 4 Abs. 2 Satz 1 PStG (vgl. § 21 der Personen-standsverordnung des Bundes, PStV). Hierzu wird im Kommentarzusätzlich auf die §§ 29 und 26 der „Dienstanweisung für dieStandesbeamten und ihre Aufsichtsbehörden“ (DA) verwiesen –das bislang wichtigste Arbeitsinstrument für die Standesbeam-tinnen und -beamten. Diese soll nun abgelöst werden durch dieAllgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz(PStG-VwV) des Bundes, welche aber voraussichtlich erst imFrühjahr 2010 verabschiedet wird. Darin wird zwar festgelegt:„Für die Berechnung der Frist zur Fortführung eines Personen-standseintrags ist der Tag der Beurkundung des personenstands-rechtlichen Ereignisses maßgeblich“ (5.3 PStG – VwV). Allerdingsentspricht das „personenstandsrechtliche Ereignis“ dem Haupt-eintrag, der Urkunde des Registereintrages, nicht den beigeschrie-benen Hinweisen und Randvermerken bzw. Folgebeurkundungen.Damit wird die Jahresbezogenheit der Frist zusätzlich unterstri-chen, die im Standesamtswesen selbstverständlich ist und folglichnicht weiter expliziert wird. An diesem Beispiel wird deutlich,dass für die archivrechtliche Umsetzung des Personenstandsge-setzes auch ein juristisches Grundverständnis für die Führungvon Personenstandsregistern relevant ist.Bei der Auslegung eines Gesetzes spielt immer wieder die(vermeintliche) Absicht des Gesetzgebers eine Rolle in der Argu-mentation, die im vorliegenden Handkommentar vielfach durch-scheint. Beispielsweise wird im Kommentar zur archivrechtlichenBenutzung (§ 61 PStG) auf den Statuswandel der Register nachAblauf der Fortführungsfristen hingewiesen: „Der Statusverlustbedeutet aber nicht, dass die Register von einem auf den anderenTag wertlos werden. […] Aus dem staatlichen Nachweisregisterwird aussagekräftiges Archivgut“ (S. 339). Gleichzeitig kommen-tieren Bornhofen und Gaaz das Personenstandsgesetz durchauskritisch und zugleich nicht im Sinne archivfachlicher Überliefe-rungsbildung: „Nur dürfte ihr Wert [der Sammelakten, B. J. ]wegen der im Verhältnis zu den Personenstandsregistern ungleichgrößeren Aussagekraft bedeutend höher einzuschätzen sein.Angesichts dessen ist es nicht ganz nachvollziehbar, dass sie nachAblauf der Aufbewahrungsfrist keinen Bestandsschutz mehrhaben (vgl. § 7 Rdnr. 8)“ (S. 340). Archivare kommen hier zudifferenzierteren Positionen.Der Handkommentar ist nicht nur ein wichtiges Nachschlagewerkfür das Verständnis und die Umsetzung, sondern auch ein Spiegelder Genese des novellierten Personenstandsgesetzes, an derverschiedene Interessensvertreter mitwirkten. Gemeinsam mit den

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anhängenden Materialien, dem Gesetzesentwurf der Bundesregie-rung mit Stellungnahme des Bundesrates und Gegenäußerungder Bundesregierung (2006), der Beschlussempfehlung und demBericht des Innenausschusses des Deutschen Bundestages (2006),des Protokolls der Beratung des Gesetzes sowie dem Gesetz zurReform des Personenstandsrechts (2007) könnte der vorliegendeHandkommentar auch eine Referenz für eine noch zu schreibendeVerwaltungsgeschichte der Personenstandsrechts sein.

Bettina Joergens, Detmold

PETER HERDE, DIPLOMATIK, KANONISTIK, POALÄO-GRAPHIE

Studien zu den historischen Grundwissenschaften. An-ton Hiersemann Verlag, Stuttgart 2008. IX, 629 S., 34Abb., Ln. 89,- C= . ISBN 978-3-7772-0810-7 (Peter Herde,Gesammelte Abhandlungen und Aufsätze, Bd. 3)

Nach einer Auswahl seiner Beiträge zur italienischen Geschichte(1997) und zur Reichs- und Papstgeschichte sowie zum kanoni-schen Recht (2002 und 2006) bietet der dritte Band der gesam-melten Aufsätze des außergewöhnlich vielseitigen emeritiertenWürzburger Mediävisten und Hilfswissenschaftlers Peter Herdeeinen Überblick über seine Arbeit in den historischen Grundwis-senschaften.Mit einer engen Verbindung von Kanonistik und diplomatischerDiktat- und Formeluntersuchung, wie er sie im programmatischvorangestellten Aufsatz von 2006 (S. 1-26) vertritt, steht Herdedabei vor allem für eine einerseits interdisziplinär geöffnete, ande-rerseits aber konservative, da stets am hergebrachten „discrimenveri ac falsi“ und am juristisch analysierbaren Rechtsgehalt derUrkundensprache sich orientierende Diplomatik. Bereits 1965stellte Herde in einem hier nachgedruckten Aufsatz (S. 27-98)ausführlich die Regelungen des römischen wie des kanonischenRechts zur Urkundenfälschung dar. Im Ergebnis stellt er ihre zeit-genössisch eindeutige juristische Strafwürdigkeit gegen einevorschnelle und undifferenzierte Entrechtlichung von Urkunden-fälschungen mit dem Verweis auf die „Mentalität“ mittelalterli-chen Rechtsverständnisses.Fünf weitere Aufsätze befassen sich im weitaus umfangreichstenthematischen Abschnitt der Sammlung (S. 99-426) mit Fragen derpäpstlichen Justizbriefe und der Delegationsgerichtsbarkeit sowiemit dem Gebrauch von Formelbüchern innerhalb der päpstlichenKanzlei, Arbeitsbereiche, denen Herde bereits 1970 seine großeUntersuchung über die Institutionen und das Schriftgut der„audientia litterarum contradictarum“ gewidmet hatte. Auch dermaterialreiche Überblick über öffentliche Notare an der päpstli-chen Kurie im dreizehnten und beginnenden vierzehnten Jahr-hundert (S. 485-505) gehört wohl noch in dieses Forschungsfeld.Diplomatische Einzeluntersuchungen und -editionen beschäftigensich, einmal mehr die stupende Bandbreite der HerdeschenForschungen belegend, unter anderem mit Petitionen des Augusti-nerchorherrenstifts Ranshofen an die Kurie von 1267 sowie mitDiplomen König Heinrichs III. für das Stift (S. 427-474), derSchenkung der Kirche von Down Ampney (Gloucestershire,England) an den Johanniterprior von Provence von 1276 (S. 475-484) und der für die fränkische Landesgeschichte zentralen

„Güldenen Freiheit“ Kaiser Friedrichs I. für die Bischöfe vonWürzburg von 1168 (S. 531-562).Die paläographische Forschung, die insgesamt weniger imZentrum von Herdes eigenen Forschungen gestanden hat, istdurch den Forschungsüberblick zur Florentiner Kanzlei (S. 563-580) und die Darstellung zur Entstehung der humanistischenGebrauchs- und Dokumentenschriften der Florentiner Behördenin der Frührenaissance (S. 581-620) vertreten. Die sorgfältigzusammengestellten Addenda bringen die einzelnen Aufsätze aufden aktuellen Forschungsstand.Peter Herde legt einen inhaltlich wie physisch gewichtigenSammelband vor, der vor allem auf dem Feld der Papstdiplomatikdie Ergebnisse von vier Jahrzehnten hochspezialisierter, gleich-zeitig aber enorm vielseitiger Forschung in einer eindrucksvollenZusammenschau verfügbar macht. Dass die Aufsätze des nichteben preiswerten Bandes „aus Kostengründen“ (Vorwort, IX) nurals photomechanische Nachdrucke geboten werden, und damitsogar die jeweiligen Erscheinungsorte und -jahre erst im Anhangnachgeschlagen werden müssen, wirft allerdings die Frage auf, obdas konventionelle Nachdrucken als Verfahren der Wissensorga-nisation in den Geisteswissenschaften der Medienwirklichkeit intechnischer, organisatorischer und finanzieller Hinsicht nochangemessen ist. Dass für die Zusammenstellung, Verfügbarma-chung und Aktualisierung bereits publizierter Aufsätze inZukunft von Instituten, Universitäten und Bibliotheken verläss-liche digitale Repositorien geschaffen werden, könnte eine wich-tige Grundlage für die Würdigung herausragender wissenschaftli-cher Lebensleistungen wie der Peter Herdes werden.

Julian Holzapfl, München

STEFAN LEHR, EIN FAST VERGESSENER „OSTEIN-SATZ“

Deutsche Archivare im Generalgouvernement und imReichskommissariat Ukraine. Droste Verlag, Düsseldorf2007. 412 S., 19 Abb., geb. 38,- C= . ISBN 978-3-7700-1624-2 (Schriften des Bundesarchivs 68)

Die Zeit des Nationalsozialismus und insbesondere der Einsatzdeutscher Archivare in den okkupierten Ländern gehören zu denlange verdrängten Kapiteln deutscher Archivgeschichte. Erst injüngster Zeit haben wir Archivare uns damit nachdrücklich ausei-nandergesetzt. War es auf dem 72. Archivtag 2001 in Cottbuslediglich eine Sektion, widmete sich schließlich 2005 der gesamte76. Archivtag in Stuttgart diesem Thema. Die offensiven Diskus-sionen und die vermehrten Publikationen der letzten Jahre habenauch das Interesse externer Forscher geweckt wie des Autors deranzuzeigenden Arbeit, des Osteuropahistorikers Stefan Lehr.Trotz des umfassenden Titels „Osteinsatz“ beschränkt sich StefanLehr in seiner Darstellung auf die Tätigkeit der staatlichen zivilenArchivare im Generalgouvernement und im ReichskommissariatUkraine. Die annektierten Gebiete um Posen und Westpreußen,das Baltikum und das Reichskommissariat Ostland (Weißruss-land) bleiben ebenso ausgespart wie andere Einsätze, etwa derHeeresarchivare oder des Einsatzstabs Alfred Rosenbergs. Durchdie Fokussierung seiner Studie auf das Generalgouvernementkonzentriert er sich aber auf den Einsatz, der sich sowohl durch

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seinen personellen und zeitlichen Umfang als auch durch dieRadikalität der Handlungen aus den sogenannten deutschenArchivschutzeinsätzen in den okkupierten Gebieten heraushebt.Den zeitlichen Rahmen seiner überwiegend chronologisch geglie-derten Arbeit fasst Stefan Lehr weiter als im Titel angegeben underzählt zunächst die Vorgeschichte des Osteinsatzes. Im erstenKapitel schildert er den Einsatz deutscher Archivare in denWarschauer Archiven während des Ersten Weltkriegs, um so eineVergleichsmöglichkeit zum Osteinsatz im 2. Weltkrieg zuerhalten. Das zweite Kapitel widmet sich der Entwicklung despreußischen, polnischen und ukrainischen Archivwesenszwischen den beiden Weltkriegen. Insbesondere in der Forcierungder Ostforschung mit ihren revisionistischen Ansätzen, derstarken Einbindung vor allem der preußischen Archive undArchivare und der von der preußischen Archivverwaltung initi-ierten Gründung von Institutionen wie dem Institut für Archiv-wissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung undder Publikationsstelle beim Geheimen Staatsarchiv sieht StefanLehr wichtige Voraussetzungen für den Osteinsatz.Diesem widmet er sich dann im umfangreichsten Kapitel desBuches. Detailliert beschreibt der Autor die zügige Einrichtungeiner deutschen Archivverwaltung und ihre weitgesteckten Ziele,deren Verwirklichung mit einer bis dahin nicht gekannten Radi-kalität in Angriff genommen wurde. Umfangreiche Aktenmengenwurden nach Deutschland verbracht. Dabei wurden, auch imbewussten Widerspruch zu archivfachlichen Grundsätzen, Prove-nienz- oder Pertinenzprinzip nach Belieben angewandt, jenachdem, womit „sich die deutschen Ansprüche am bestenbegründen ließen“ (S. 127). Den einheimischen Archiven undArchivalien kam hauptsächlich dann der notwendige Schutz zu,wenn sie für die „deutschen Interessen“ wichtig erschienen. Daherwaren bei Kriegsende die Verluste der polnischen und ukraini-schen Archive teilweise enorm.Ausführlich schildert Stefan Lehr den Arbeitsalltag in denbesetzten Archiven und die Beziehungen zwischen den deutschenund denen ihnen unterstellten polnischen Archivaren, die ermiteinander in einer Art Zwangsgemeinschaft verbunden sieht.Die Deutschen hegten, fernab jeglicher Kollegialität, ein tiefesMisstrauen gegenüber den einheimischen Archivaren, auf derenFachkenntnisse sie aber angewiesen waren. Sie wahrten zwar nachaußen hin den Anschein von korrekter Höflichkeit, halfen denPolen bei der Wohnraum- und Essensbeschaffung, jedoch nur,„um deren Arbeits- und Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten“(S. 359). Diese dagegen waren gezwungen, alle Anweisungen derDeutschen auszuführen und so z. B. Akten aus ihren Archiven fürden Abtransport nach Deutschland vorzubereiten. Gleichzeitighalfen ihnen jedoch die besonderen Zuwendungen, um unter denschweren Bedingungen der Besatzung zu überleben.Stefan Lehr analysiert die Motive und Innenansichten der betei-ligten Archivare sowie deren Handlungsspielräume. Zwar wurdensie zum Osteinsatz kommandiert, gleichzeitig aber profitierten siedurch eine schnellere Karriere und ein deutlich höheres Gehalt alsim Reichsgebiet. Schon in jungen Jahren konnten sie leitendePositionen einnehmen. In ihren Aufzeichnungen und Briefenwaren sie erstaunlich offen. „Wir haben hier ein Kolonialdaseinund regieren und organisieren und nehmen.“ So charakterisierteder Leiter der Archivverwaltung des Generalgouvernements ErichRandt im September 1941 seine Tätigkeit in einem Brief an dendamaligen Leiter des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf BernhardVollmer (S. 251). Andere Äußerungen belegen, dass sie um dieVerbrechen an der einheimischen Bevölkerung und die Vernich-

tung der Juden wussten. So notiert Wolfgang Mommsen am 29. 3.1942 in seinem Tagebuch über die Ermordung der Rigaer Juden:„Seit Wochen ist man nun schon dabei, die Juden zu erschießen“(S. 161).Im letzten Kapitel schließlich verfolgt der Autor die weiterenLebenswege der handelnden Archivare nach Kriegsende. Erkonstituiert eine fast ungebrochene personelle Kontinuität imdeutschen Archivwesen und eine fehlende kritische Reflexion desOsteinsatzes durch die Beteiligten. Die Beteiligung der erstenDirektoren bzw. Präsidenten des Bundesarchivs Georg Winter,Karl G. Bruchmann und Wolfgang Mommsen sowie des Direk-tors des Staatsarchivs und der Archivschule Marburg JohannesPapritz an den Einsätzen in den besetzten Gebieten und ihreVerstrickung in völkerrechtswidrige Handlungen stellten keinenHinderungsgrund für ihre steilen Nachkriegskarrieren dar.Stefan Lehr blickt aber auch auf die weiteren Wege der polnischenund ukrainischen Archivare. Während die polnischen Archivarefast ausnahmslos wieder ihre ehemaligen Positionen einnehmenkonnten, sahen sich dagegen die ukrainischen Archivare demVorwurf der Kollaboration ausgesetzt, was nahezu ausschließlichzu einem faktischen Berufsverbot führte, teilweise sogar nochweitergehende Repressionen wie Verhaftung und anschließendeVerurteilung zu langjährigen Haftstrafen nach sich zog. Manchein Schicksal ließ sich auch überhaupt nicht mehr ermitteln.Die sehr gelungene Studie Stefan Lehrs ist materialreich,manchmal vielleicht etwas zu detailliert, immer jedoch spannendzu lesen. Er hat viele Quellen im In- und Ausland gesichtet,darunter mehrere, die erst in jüngster Vergangenheit zugänglichgeworden sind. Insbesondere konnte er zahlreiche Nachlässe undpersönliche Aufzeichnungen der agierenden Archivare auswerten.Der Anhang ist umfangreich mit den Dienstorten der deutschenArchivare, einer Auflistung der polnischen und ukrainischenArchivare sowie Übersichten der deutschen Aktenverlagerungen.Bei seiner angenehm nüchternen Schilderung der Vorgängevermeidet der Autor jegliche Polemik. Die Analyse der persönli-chen Motive und individuellen Handlungen der beteiligten Archi-vare ist ebenso neu und interessant wie die Schilderung derEntwicklung des polnischen und ukrainischen Archivwesens inder Zwischenkriegszeit und der Blick auf die einheimischenArchivare. Die umfangreiche Studie weckt gleichzeitig das Inte-resse an ähnlich tiefgreifenden Untersuchungen der Archivein-sätze in den anderen okkupierten Gebieten.Nachzutragen bleibt, dass Stefan Lehrs Untersuchung inzwischenmit dem Dissertationspreis der Philosophischen Fakultät derUniversität Düsseldorf sowie dem 1. Förderpreis des Generalkon-sulats der Republik Polen für die beste Dissertation aus demBereich der polnischen Geschichte sowie der deutsch-polnischenBeziehungen ausgezeichnet wurde.

Torsten Musial, Berlin

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BRITTA LEISE, DIE VEREINIGUNG DEUTSCHER WIRT-SCHAFTSARCHIVARE E. V.

Aspekte zur Entwicklung des Archivwesens der Wirt-schaft in der Bundesrepublik Deutschland bis 1990.Selbstverlag Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirt-schaftsarchiv zu Köln, Köln 2007. 174 S., geb. 18,- C= .ISBN 978-3-933025-44-9 (Archiv und Wirtschaft, Beiheft3)

Zum 50-jährigen Bestehen der Vereinigung deutscher Wirt-schaftsarchivare e. V. (VdW) im Jahr 2007 erschien die Disserta-tion von Britta Leise, die sich mit der historischen Entwicklungder VdW auseinandersetzt. Dass die Beschäftigung mit diesemThema im Hinblick auf das anstehende Jubiläum der VdWerfolgte, mag typisch für die Sparte der Wirtschaftsarchive sein,haben die Kolleginnen und Kollegen es doch in ihrem Arbeits-alltag immer wieder mit Jubiläumsschriften zu tun. Es mag aberauch in der Fleißarbeit begründet sein, die zur Bearbeitung desThemas notwendig war. Das im Anhang abgedruckte Quellenver-zeichnis etwa führt Unterlagen in zahlreichen Archiven im Rhein-Ruhr-Raum, im Bundesarchiv Berlin und im Stadtarchiv Saarbrü-cken auf. Verdienstvoll ist eine solch intensive und breite Beschäf-tigung mit den Archiven der Wirtschaft und der VdW allemal,und man kann die Autorin nur respektvoll dazu beglückwün-schen, die Arbeit neben ihrer Tätigkeit als Leiterin des Konzernar-chivs der Georg Fischer AG in Schaffhausen fertig gestellt undpubliziert zu haben.„Aspekte zur Entwicklung des Archivwesens der Wirtschaft inder Bundesrepublik Deutschland bis 1990“ – so untertitelt BrittaLeise ihre Dissertation, deren Ziel es nach ihren eigenen Wortenist, „Entwicklungen und Struktur, Aufgaben und Leistungen deseinzigen Berufsverbandes für Wirtschaftsarchivare darzustellen“(S. 8). Dass es sich um mehr als nur die in der Überschrifterwähnten „Aspekte“ zum Archivwesen der Wirtschaft handelt,wird schnell am umfangreichen Inhaltsverzeichnis deutlich. Nacheinleitenden Kapiteln zu Themenabgrenzung, Schwerpunktset-zung und Quellenlage sowie Begriffsdefinitionen, richtet BrittaLeise ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die Anfänge des Wirt-schaftsarchivwesens im 19. Jahrhundert und berichtet über früheVorläuferorganisationen der heutigen VdW und die Auseinander-setzungen um das Archivgut der Wirtschaft während der Zeit desNationalsozialismus. Dabei wird das spannungsreiche Verhältniszu den Staatsarchivaren deutlich, die nach Einbindung der Über-lieferung der Wirtschaft in die staatlichen Archive strebten,während auf Seiten der Wirtschaft der Wunsch nach größererUnabhängigkeit vom staatlichen Einfluss bestand, der sich vorallem im Bestreben zeigte, einen Verband für die Archivpflege derWirtschaft einzurichten und eigene Archivlösungen für Wirt-schaftsarchive zu erarbeiten. Vor allem die Unternehmen derMontanindustrie im Rhein-Ruhr-Gebiet besaßen hier eine Vorrei-terrolle. Die 1938 erfolgte Gründung einer Beratungsstelle fürWerksarchivare der Vereinigten Stahlwerke AG war wie der Werks-archivausschuss der „Verbindungsstelle Eisen für Schrifttum undPresse der Wirtschaftsgruppe Nordwest der Eisen schaffendenIndustrie“ ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Professio-nalisierung der damaligen Werksarchive, allerdings wird mit derbereits 1942 erfolgten Einstellung der Tätigkeit der Beratungs-stelle deutlich, dass während des Krieges keine nennenswertenFortschritte erzielt und die Bemühungen um das Archivgut derBetriebe erst nach 1945 wieder aufgenommen werden konnten.

Eine Anknüpfung erfolgte rasch. So führten die Bestrebungennach Interessenvertretung durch einen Verband im September1954 zum Beschluss, einen „Ausschuss für Werksarchivpflege“, zugründen, der ab 1955 in Düsseldorf – quasi als Neugründung desehemaligen Archivausschusses – zu ersten Tagungen zusam-menkam und bis 1960 bestand. Die ebenfalls 1954 erfolgte Grün-dung der „Arbeitsgemeinschaft rheinisch-westfälischer Werks-und Wirtschaftsarchivare“ im Jahr 1954 in Dortmund kanndagegen als Nukleus der heutigen VdW gelten und fand schnelleine breite Akzeptanz bei den Archivaren der Wirtschaft. AbDezember 1957 firmierte sie unter der Bezeichnung „VereinigungDeutscher Werksarchivare“ (VDW) als eingetragener Verein undrichtete sich nun bundesweit auch an Werksarchivare außerhalbder Montanindustrie. Detailreich schildert Leise die Entwicklung,wobei man sich angesichts der sich überlagernden Abläufezuweilen einen etwas deutlicher sichtbaren roten Fadengewünscht hätte.In ihrem zentralen 7. Kapitel schildert Britta Leise die Tätigkeitder VDW und nennt die wichtigen Akteure und ihre Positionen.Einige Abbildungen von Mitgliederversammlungen ergänzen undillustrieren die Ausführungen. Auch die Namensänderungen in„Vereinigung Deutscher Werks- und Wirtschaftsarchivare e. V.“(VDWW) von 1962 und erneut in „Vereinigung deutscher Wirt-schaftsarchivare e. V.“ im Jahr 1975 lässt Leise nicht unerwähnt.Sie beleuchtet die Tätigkeitsfelder der Vereinigung, zeichnetDiskussionen nach und stellt insbesondere das Bemühen um dieAus- und Weiterbildung heraus. Da die Kolleginnen und Kollegenin den Archiven der Wirtschaft häufig als Seiteneinsteiger inverantwortliche Positionen kamen, ist die Fortbildung bis heuteein besonders wichtiges Thema und Aktionsfeld in der Verbands-arbeit. Weitere Schwerpunkte der Darstellungen liegen bei denPublikationen der VdW, allen voran „Archiv und Wirtschaft“,und bei einer Untersuchung der Kooperation mit anderen Organi-sationen, insbesondere mit dem „Verein Deutscher Archivarinnenund Archivare e. V.“ (VdA), deren Fachgruppe 5 die Archivare derWirtschaft bilden. Auch die enge Zusammenarbeit und perso-nelle Verflechtung mit der „Gesellschaft für Unternehmensge-schichte“ (GUG) ist ausführlich dargelegt. Aus der Darstellungbeider Kooperationen wird das Bemühen der in Wirtschaftsar-chiven Tätigen deutlich, ihre Arbeit auf eine wissenschaftlicheGrundlage zu stellen und sich mit Fachkollegen aus den angren-zenden Sparten – Archivwissenschaft und Geschichtswissenschaft– zu vernetzen.Zehn Biografien von Personen, die im Verlaufe der Entwicklungfür die VdW besonders wichtig waren, runden die Darstellung abund zeigen die Bandbreite der biografischen Hintergründe auf,vor denen die Akteure agierten. So mühevoll die Zusammentra-gung der Lebensdaten von Hedwig Behrens, Paul HermannMertes, Fritz Hellwig, Adalbert Frensdorff, Artur Zechel, IlseBarleben, Gertrud Milkereit, Hans-Theodor Schmidt, Lutz Hatz-feld und Klara van Eyll auch gewesen sein mag, so verdienstvollund nützlich ist diese Aufstellung, da hier nochmals deutlichwird, mit welcher Motivation und in welcher Weise die genanntenPersonen die Vereinigung prägten.Nach einer zusammenfassenden Schlussbemerkung finden sichweitere nützliche Anhänge, so etwa ein Überblick zu den Themender von der Vereinigung abgehaltenen Lehrgänge, eine Aufstel-lung der Verantwortlichen für den Ausbildungsbereich, eineÜbersicht zu den VdW-Arbeitstagungen, die jeweils zeigt, wann,wo und bei welchem Unternehmen und zu welchem Themagetagt wurde. Ferner gibt es eine Aufstellung der Amtszeiten der

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Vorsitzenden und der Gesamtvorstände. Alle genannten Listenreichen bis zum Jahr 2006 und damit weit über den definiertenBetrachtungszeitraum hinaus. Es schließen sich Verzeichnisse derAbkürzungen, der genutzten Quellen sowie ein umfangreichesLiteraturverzeichnis an.Ein sorgfältiges abschließendes Lektorat hätte der Arbeit gutgetan. Ärgerlich bei der Lektüre sind Tipp- und Druckfehler.Mancher Satz hätte leserfreundlicher abgefasst werden könnenund wäre damit leichter verständlich gewesen. Die Autorin hältsich mit Bewertungen zurück und lässt die Akteure teils in langenZitaten selbst zu Wort kommen. Diese oft aus Protokollenentnommenen Passsagen sind allerdings nicht immer leichtverständlich und zusammenfassende und bewertende Aussagender Verfasserin hätten zuweilen für bessere Lesbarkeit, für Über-sicht und größere Klarheit sorgen können. Im 6. Kapitel verstecktLeise in der Fußnote eine Biografie, die unter anderem auch deut-lich macht, dass Wirtschaftsarchive während der NS-Zeit eineÜberlebensnische darstellen konnten – eine Aussage, diedurchaus auch ihren Platz im Haupttext hätte finden können. ObNicht-Archivaren Pertinenz- und Provenienzprinzip geläufig sind,mag bezweifelt werden. Beide hätten – wie auch das von HedwigBehrens entwickelte Dezimalsystem zur Klassifizierung der Akten– kurz erklärt werden können.Insgesamt aber bietet Britta Leise mit ihrer Dissertation einenguten Überblick zur historischen Entwicklung der VdW undihren Aufgaben und Leistungen, der sicher nicht nur in denArchiven der Wirtschaft auf Interesse stoßen wird.

Ulrike Gutzmann, Wolfsburg

NOTARE UND NOTARSSIGNETE VOM MITTELALTER BISZUM JAHR 1600 AUS DEN BESTÄNDEN DER STAATLI-CHEN ARCHIVE BAYERNS

Erfasst und bearb. von Elfriede Kern unter Mitwirkungvon Walter Jaroschka, Albrecht Liess und Karl-ErnstLupprian. Gesamtredaktion Albrecht Liess. Generaldi-rektion der Staatlichen Archive Bayerns, München 2008.703 S., ca. 2800 Abb., geb. 49,90 C= . ISBN 978-3-938831-12-0 (Sonderveröffentlichungen der Staatlichen ArchiveBayerns 6)

Die Erforschung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichenNotarszeichen ist trotz mancher vorliegender Arbeiten weiterhinein großes Desiderat, insbesondere was die Gebiete nördlich derAlpen anbetrifft. Es mangelt vor allem an der systematischenErfassung von Notariatsurkunden und Notarszeichen vomBeginn ihres Auftretens nördlich der Alpen und östlich desRheins an. Pionierarbeit auf diesem Gebiet leisteten Peter-Johannes Schuler, der 841 Notarszeichen aus Südwestdeutschlandund der nördlichen Schweiz publizierte (1976), Harald Lönnecker,der in seiner Dissertation 500 Notarszeichen aus hessischenArchiven abbildete (1988) sowie der von Peter Rück herausgege-bene Band „Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden“(1996) mit Wiedergaben von Notarszeichen aus zahlreichen euro-päischen Regionen. Mit dem vorliegenden Werk haben die Bear-beiter ein weiteres grundlegendes Werk geschaffen, das man alsMeilenstein auf dem Wege der Erforschung sowohl des Notarszei-

chens als auch der Notariatsurkunde und des öffentlichen Nota-riats überhaupt bezeichnen kann. Ausgewertet wurden dafür dieUrkundenbestände der bayerischen staatlichen Archive bis zumJahr 1600, nämlich des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, derStaatsarchive Amberg, Augsburg, Coburg und München sowieder fränkischen Staatsarchive Bamberg, Nürnberg und Würzburg,diese allerdings nur bis zum Jahr 1400 – eine zeitliche Begren-zung, die sich durch die wechselvolle bayerische Archivpolitik des19. und 20. Jahrhunderts erklärt. Nicht ausgewertet wurdenzudem frühneuzeitliche Aktenbestände, in denen ebenfallsNotarsurkunden zu vermuten sind, etwa die im BayerischenHauptstaatsarchiv verwahrten Akten des Reichskammergerichts,und nur begrenzt berücksichtigt werden konnten Adelsarchive.Das jetzt vorgelegte Material ist trotz dieser Einschränkungeneindrucksvoll: Der großformatige Band bildet in Originalgrößeund in chronologischer Folge 2.884 Notarszeichen von 2.867Notaren (einige unter ihnen führten zwei oder drei Signete) ab; zujedem Zeichen wird der Name des Notars angeführt, zudem eineventuell vorhandener akademischer Grad oder Titel, sein Stand,bei Klerikern unter Hinzufügung der angegebenen Diözese, seineAutorisation durch den Kaiser (das ist bei 2.599 Notaren der Fall),durch sowohl Kaiser wie Papst (das trifft auf 618 Notare zu) oderallein durch den Papst (181). Unter den Notaren führten 477 eineDevise, die ebenfalls wiedergegeben wird. Schließlich wird dieZeitspanne benannt, während der sich der Notar durch seineUrkunden belegen lässt. Die ältesten der angeführten Zeichenstammen aus dem 12. Jahrhundert (1166, 1195) und stellen damiteine große Ausnahme dar; aus dem 13. Jahrhundert, und hierüberwiegend aus der zweiten Hälfte, stammen 34 Zeichen, ausdem 14. Jahrhundert über 400, aus dem 15. Jahrhundert über1.400 und schließlich aus dem 16. Jahrhundert über 800. Bemer-kenswert ist nicht zuletzt die Herkunft der Notare; neben dernaturgemäß bei weitem überwiegenden Menge der Notare ausdem mitteleuropäisch-deutschen Raum sind auch Notare ausFrankreich (104), Italien (31), Spanien und Portugal (7) undanderen europäischen Ländern dokumentiert.Erschlossen werden die Zeichen durch verschiedene Indices, sovor allem durch ein Personen- und Ortsregister und ein Registerder Diözesen, in denen die geistlichen Notare inkardiniert warenoder, wenn es sich um Laien handelt, aus denen sie stammten.Über die knappen, den Zeichen beigefügten Angaben und dieRegister hinaus enthält der Band keine weiteren biographischenDaten, die gleichwohl bereits in umfangreichem Maße währendder Bearbeitung erhoben wurden. Albrecht Liess deutet in seinerEinführung (S. 9-16), die auch einen Überblick über denForschungsstand bietet, vorsichtig die Möglichkeit eines zweitenBandes an; dass eine Publikation des zusätzlichen biographischenMaterials sowie eine Erfassung der Notarszeichen in den fränki-schen Staatsarchiven Bamberg, Nürnberg und Würzburg aus derZeit zwischen 1400 und 1600 in hohem Maße wünschenswertsind, steht außer Zweifel.Im Übrigen kann man nur hoffen, dass das bewundernswerteGemeinschaftswerk aus den bayerischen staatlichen ArchivenSchule macht und Nachahmer in anderen Regionen und Archivenfindet.

Irmgard Fees, München

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WILLIAM SAFFADY, MANAGING ELECTRONIC RECORDS

Facet Publishing, London 2009. 244 S., brosch. 52,95 £.ISBN 978-1-85604-699-2

Seit 1992 gibt es das Buch „Managing Electronic Records“ vonWilliam Saffady, das nun in der vierten, aktualisierten Auflagevorliegt. Das Werk ist inzwischen ein gereiftes Kompendium, daswohl kaum eine praktische Frage der Verwaltung elektronischerUnterlagen unbeachtet lässt. Es besticht durch klares Layout,regelmäßig eingestreute Merksätze und nützliche Checklisten undÜbersichtstabellen. Allein schon in dieser Hinsicht verdient dasBuch eine Kaufempfehlung, der Leser möge sich aber, bitte ohnedie Lektüre danach abzubrechen, auf folgenden Umstandeinstellen: Archivare in unserem Sinne sind seine Zielgruppenicht, eine Aufbewahrung über mehr als zwanzig Jahre wirdkaum bedacht. Konzepte, die bei wirklich langfristigen Archivie-rungsaufgaben im Vordergrund stehen, wie Emulation oderFormatmigration, werden nur nebenbei als kostenträchtige Spezi-allösungen erwähnt. Auch geht es nicht um elektronische Aktendeutscher Tradition, sondern um Records, das heißt um digitaleObjekte, die zum Nachweis einer Geschäftstätigkeit ausgewähltworden sind. Gleichwohl beginnt jedes Gebäude mit einemGrundstein, und Saffady bietet auf dem für Archivare heiklenUntergrund der IT ein gutes Fundament.Nach dem thematischen Einstieg, der Problemfelder aufdeckt undLösungsprinzipien darstellt, folgt jeweils ein enzyklopädischesKapitel über Datenträgerformate und Dateiformate. Eine Vielzahlvon Materialarten von der Textverarbeitungsdatei bis zum digi-talen Video wird besprochen, und alle erdenklichen Datenträger-formate von den ersten Magnetbändern bis zu optischen Speicher-medien werden vorgestellt.Kapitel vier ist der Inventarisierung elektronischer Unterlagengewidmet. Saffady teilt hier detailliert mit, welche Angaben überUnterlagenbestände je nach Kontext der Verwaltungsaufgabe zuerheben sind, um langfristig eine funktionsfähige Informations-versorgung sicherzustellen. Zur Methodik der Erhebung gibt ertelefonischen oder persönlichen Interviews gegenüber Fragebo-genaktionen den Vorzug, da durch Interviews verlässlichereAngaben zustande kommen, da gleichzeitig eine Beobachtung despraktischen Umgangs mit den Unterlagen möglich ist, und daMissverständnisse frühzeitig ausgeräumt werden können. FürAnfänger sehr nützlich sind auch Saffadys Schätzungen über denZeitbedarf einer solchen Befragung, die in größeren Einrich-tungen mehrere Monate in Anspruch nehmen kann. Die Proble-matik, dass im E-Mail-Zeitalter viele Informationen mehrfachvorhanden sind, und die Lösung (das Federführungsprinzipanzuwenden) wird nicht angesprochen.Das fünfte Kapitel behandelt die Bestimmung von Aufbewah-rungsplänen. In der Einleitung stellt Saffady fest, dass unterUmständen die Auswahl erhaltungswürdiger Unterlagen teurersein kann als das unterschiedslose Erhalten aller entstandenenUnterlagen. Diese Einschätzung mag aus der Perspektive einerAufbewahrung zwischen drei und zehn Jahren zutreffen, dürfteaber bei längeren Zeiträumen sehr kritisch zu hinterfragen sein.Die Ausführungen über die rechtlichen Anforderungen an dieAufbewahrung elektronischer Unterlagen nach amerikanischemRecht, mit gelegentlichen Darstellungen britischer und australi-scher Normen, sind für europäische Anwender kaum gewinnbrin-gend. Spannender wird es bei den aufgabenorientierten Aufbe-wahrungsfristen.

Für E-Mails wird eine einheitliche Aufbewahrungsfrist von dreibis zehn Jahren vorgeschlagen. Für E-Mails im internenGeschäftsgang soll nur die Nachricht bei ihrem Urheber so langeaufgehoben werden, während die übrigen (an andere Teilnehmerversendeten) Kopien nach einer verkürzten Frist gelöscht werden,da sie ja sonst mehrfach vorhanden wären. Dieses Vorgehenleuchtet ein, da jeder über den Empfang hinausgehende Umgangmit einer E-Mail (Empfangsbestätigung, Beantworten, Weiter-leiten) zu einem neuen Dokument führt – anders als beipapiernen Akten, die physisch von Bearbeiter zu Bearbeiter laufenund dabei Bearbeitungsvermerke aufnehmen.Für längere Aufbewahrungsfristen empfiehlt der Autor die Über-führung der E-Mails in ein echtes Records-Management-Systemoder die Papierablage. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist auch fürdie Erhaltung der Attachments durch Abtrennung und gesonderteAufbereitung und Lagerung Sorge zu tragen.Kapitel sechs handelt von der Verwaltung wesentlicher Unterlagen(vital records). Vital Records sind Unterlagen, deren Untergangoder Diebstahl das Funktionieren der Institution, die sie benutzt,in Gefahr bringen kann. Sie unterliegen nicht zwangsläufig langenAufbewahrungsfristen, sondern können unter Umständen nachkurzer Zeit ihren Status verlieren. Interessant und im Kontext derBehördenberatung recht nützlich sind die Ausführungen zumRisikomanagement. Risiko wird definiert als das Produkt aus denKosten eines Schadensereignisses und der Wahrscheinlichkeitseines Auftretens; einige Szenarien werden erläutert. Abschlie-ßend werden Schutzmaßnahmen von Verlust und Missbrauchwesentlicher Unterlagen erläutert.Im siebten Kapitel befasst sich der Autor mit der Aufbewahrungvon digitalen Objekten und Datenträgern. Das Kapitel wirkt sehrheterogen, denn seine Bestandteile beziehen sich einerseits aufdas zweite Kapitel zu Datenträgern, andererseits auf das dritteKapitel zu Dateiformaten. Zunächst geht es um „Labels andNames“, und Saffady zeigt hier die Wichtigkeit eines einheitlichenBenennungsschemas für elektronische Inhalte. Bei größerenSammlungen rät er zur Benutzung kurzer identifizierenderNamen, die mittels einer Datenbank mit weiteren Angabenversehen werden sollten. Bei Dateisystemen plädiert er für eineOrganisation nach Dateiformaten (eine etwas weltfremde Sicht)oder nach thematischen Zusammenhängen oder Klassifikationen.Die folgenden Ausführungen zu Electronic Content Management(ECM) bestehen aus der Aufzählung von möglichen Fähigkeitensolcher Software, die an einen Werbekatalog erinnern. KritischeÜberlegungen zu den genannten Fähigkeiten oder eine Gewich-tung ihrer Notwendigkeit fehlen. Dies geschieht wohl nichtgrundlos, denn der Autor setzt sich anschließend intensiver mitRecords Management Applikationen (RMA) auseinander, die jasein eigentliches Themengebiet sind. Records ManagementSysteme unterscheiden sich von ECM durch ihre Perspektive aufdefinierte Aufbewahrung digitaler Unterlagen und deren gradu-elle Ausscheidung aus dem Arbeitsprozess und spätere Löschung,während ECM meist alle Inhalte unterschiedslos für die aktiveNutzung vorhalten. Als Voraussetzung der Einführung einerRMA hält Saffady, wie auch hiesige Erfahrung lehrt, eine gründ-liche organisatorische Vorbereitung für unabdingbar, insbeson-dere eine klassifikatorische Grundlage (Aktenplan).Das Kapitel enthält ferner Informationen über hierarchische Spei-chersysteme (Hierarchical Storage Management HSM), die digi-tale Inhalte, orientiert an der Zugriffshäufigkeit, auf unterschied-liche Trägersysteme verteilen, um die Speicherkosten zu opti-mieren. Hinzu kommen Ausführungen zur Lagerung und zur

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Behandlung digitaler Medien, zu deren Kauf und zu geeignetenRegalanlagen.Das Buch hat Index und Glossar, die Literaturangaben sind aberin der neuesten Auflage weggefallen. Stattdessen bietet Saffadyeine Liste von Schlüsselbegriffen, die in großen Bibliothekskata-logen anzuwenden sind und eine stets aktuelle Literaturversor-gung sicherstellen sollen. Einige URLs ergänzen das Angebot; dieAdresse der National Archives UK, die bei Saffady noch als PublicRecords Office firmieren, ist jedoch zum Erscheinungsjahr 2009schon lange nicht mehr aktuell. Aber auch diese kleine Unzuläng-lichkeit mindert ebenso wenig wie die übrigen die Kaufempfeh-lung, denn es dürfte schwerfallen, elektronische Unterlagen aufDauer zu erhalten, ohne ihre Entstehungsprozesse verstanden zuhaben.

Kai Naumann, Ludwigsburg

HERMANN SCHREYER, DAS STAATLICHE ARCHIVWE-SEN DER DDR

Ein Überblick. Droste Verlag, Düsseldorf 2008. XII, 308S., geb. 42,- C= . ISBN 978-3-7700-1626-6 (Schriften desBundesarchivs 70)

Die Arbeit vermittelt einen umfassenden Überblick über diestrukturelle Entwicklung des Archivwesens, die fachliche Arbeitder Archive und die Leistungen der Archivare in den 40 Jahrender DDR. Sie schafft damit die Möglichkeit, Gewinn, Verlust undNachwirkung dieser Sondererscheinung in der Geschichte desdeutschen Archivwesens zu beurteilen. Den Ausgangspunkt derin vier Zeitabschnitte gegliederten Darstellung bilden die Jahre1945-1957, die als eine noch „bürgerliche“ Phase des staatlichenArchivwesens beschrieben werden. Der Autor behandelt dann dieZeit des „Aufbaus eines sozialistischen Archivwesens“ bis zumEnde der Ulbricht-Ära (1958-1968), danach die Periode bis 1982,die er als Höhepunkt und Abschluss der „sozialistischen Umge-staltung“ charakterisiert, und schließlich die Jahre 1983 bis1989/90, die von der insgesamt stagnierenden Entwicklung in derDDR geprägt waren.Innerhalb der Abschnitte dieses Grundgerüsts wendet sich dieDarstellung zunächst jeweils den Vorgängen im zentralen Bereichzu (Hauptabteilung Archivwesen bzw. seit 1953 Staatliche Archiv-verwaltung im Ministerium des Innern der DDR; nachfolgend:StAV). Anschließend werden die Entwicklung in den unterstelltenStaatsarchiven und danach das staatliche Archivwesen außerhalbder StAV-Unterstellung dargestellt. Berücksichtigung findetaußerdem, entsprechend der im Staat beanspruchten „führendenRolle“, das Archivwesen der SED. Mit dieser detaillierten Gliede-rung macht der Autor sichtbar, in welcher Weise die Perioden dergesellschaftlichen Umgestaltung die Entwicklung des Archivwe-sens in der DDR entscheidend bestimmt haben. Dem Verfahren,die Darstellung in dieser Form zu periodisieren, ist ohneEinschränkung zuzustimmen. Als unvermeidliche Folge ergibtsich, dass die Geschichte der einzelnen Institutionen wie auch dieEntwicklung auf den verschiedenen Feldern der Archivarbeitnicht zusammenhängend verfolgt werden kann. Der Autorkommt den Bedürfnissen in dieser Richtung durch ein entspre-

chendes Verweissystem sowie (nicht ganz fehlerfreie) Indizes undRegister entgegen und nimmt hie und da auch Wiederholungenin Kauf. Seine Arbeit trägt den Charakter einer handbuchmä-ßigen Zusammenfassung des Erfahrungs- und Forschungs-standes. Sie berücksichtigt in voller Breite die offiziellen und fach-wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus dem Archivwesen derDDR selbst wie die seit der Wende von 1989/90 erschienenenLiteratur einschließlich der aktuellen Forschungen zur DDR-Geschichte.Darüber hinaus kann sie sich auf bisher kaum ausgewertete archi-valische Quellen stützen. Aus den herangezogenen Akten der StAVund anderer zentraler Stellen, insbesondere des Ministeriums fürStaatssicherheit, ergeben sich Aufschlüsse und werden Hinter-gründe sichtbar, die auch für Miterlebende überraschend seinkönnen. Die umfassend gegebenen Nachweise im Anmerkungs-apparat wie im Quellen- und Literaturverzeichnis vermittelnAnregungen zu weiterführenden Spezialforschungen.Die entscheidende Weichenstellung für die spezifische Entwick-lung des Archivwesens in der DDR erkennt Schreyer in Vorgängendes Jahres 1958. Auf dem V. Parteitag der SED wurde der „GroßePlan des sozialistischen Sieges“ beschlossen, der für alle Bereichevon Staat und Gesellschaft einschneidende Veränderungenerwarten ließ. Für das Archivwesen war schon kurz zuvor – Zufallder Geschichte – eine Personalentscheidung getroffen worden, mitder eine zügige Umsetzung dieser „Generallinie“ gewährleistetwerden konnte: Mit Wirkung vom 1. 4. 1958 war Karl Schirdewanals Leiter der Staatlichen Archivverwaltung im Ministerium desInnern eingesetzt worden. Bekanntlich nahm dieser bewährteParteifunktionär zuvor eine Spitzenstellung im Politbüro der SEDein, hatte sich aber in parteiinternen Auseinandersetzungen gegenUlbricht gestellt und wurde im Endergebnis in das ihm völligfremde Gebiet des Archivwesens strafversetzt. Dieser Bereich, dersich bis dahin in der politisch-gesellschaftlichen Entwicklungeher in der Nachhut befunden hatte, wurde nun zu einem Objekterhöhter Aufmerksamkeit der Partei- und Sicherheitsorgane. Under geriet zugleich in den Sog einer planmäßigen, zielbewusstenKaderpolitik, mit der Schirdewan seine einschlägigen Parteierfah-rungen einsetzte, um das ideologisch „verwahrloste“ Archivwesen– so seine persönliche Einschätzung im Rückblick von 1994(S. 83) – durch konsequente politische Leitungs- und Erziehungs-arbeit zu einer „sozialistischen Einrichtung des Arbeiter- undBauernstaates“ umzugestalten, in der die Mitarbeiter „dieBeschlüsse der Partei der Arbeiterklasse und der Regierung derDDR stets zur Richtschnur ihres Handelns machen“ (S. 93).Schreyer zeichnet ein Bild der vielgestaltigen Maßnahmen, dievon Schirdewan und seinen Nachfolgern auf dem Weg zu diesemZiel in Gang gesetzt worden sind. Für nicht wenige Mitarbeiter,die den entsprechenden Anforderungen zurückhaltend oderablehnend gegenüberstanden, entwickelte sich, wie er zeigt, einebedrückende Arbeitsatmosphäre. Es gab Maßregelungen gegenparteilose Leiter, die nicht in der Lage oder bereit waren, dieVorgaben zu erfüllen. Eine Anzahl von Archivaren ging bis 1961„in den Westen“; andere suchten sich später berufliche Arbeits-möglichkeiten außerhalb des Bereichs der Staatlichen Archivver-waltung. Zwar konnte das gestellte Ziel nicht in dem gewünschtenMaße erreicht werden; die vom Autor dargestellten Analysen undAktionen der StAV zur „Verbesserung“ der Kadersituation lassenin dieser Hinsicht eine durchaus zutreffende, realistischeEinschätzung erkennen. Auf jeden Fall aber war das staatlicheArchivwesen infolge seiner Zugehörigkeit zum Ministerium desInnern, das faktisch ein reines Polizeiministerium war, einem

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ständig verstärkten politisch-ideologischen Druck besonders inRichtung auf konsequente Westabgrenzung und entsprechendeKontaktverbote ausgesetzt. Es hatte in spezieller Weise unter einerDoktrin polizeilicher „Ordnung und Sicherheit“ zu leiden, derenAuswirkungen sich zu einem regelrechten Sicherheitswahn stei-gerten. Ein Blick in die für alle unterstellten Einrichtungenverbindliche Geheimhaltungsordnung von 1973, wie er vonSchreyer vermittelt wird, macht die Dimension polizeilicherKontrolle deutlich. In zunehmendem Maße wurde der Personal-bestand der direkt der StAV unterstellten Staatsarchive auch mitausgemusterten Polizei- und Sicherheitskadern durchsetzt, so dasssich das bittere Spottwort vom Archivwesen als „Heldenfriedhofdes MdI“ verbreitete. Noch im Wendejahr 1990 fand diese Praxiseine offene oder verdeckte Fortsetzung. Neben dem Einfluss desPolizeiministeriums verstärkte sich vor allem die Aufmerksamkeitdes Ministeriums für Staatssicherheit und seiner Organe auf dasArchivwesen. Aus der von Schreyer herangezogenen Quellenüber-lieferung wird das heute kaum noch vorstellbare Ausmaß der vonhier ausgehenden Überwachung und Einflussnahme auf offi-ziellen (gleichwohl geheimen) wie inoffiziellen Wegen erkennbar.Im Rahmen der „sozialistischen Umgestaltung des Archivwesens“geht Schreyer auch auf die Versuche ein, sich von der „bürgerli-chen Archivlehre“ vor allem in Westdeutschland zu distanzierenund ihr eine „marxistisch-leninistische Archivwissenschaft“entgegenzusetzen. Dieses mehr oder weniger krampfhafte Unter-nehmen, mit dem das Archivwesen seinen Beitrag zur „Klassen-auseinandersetzung“ mit der Welt des Kapitalismus leisten sollteund für das – oft nur mit obligatorischen Lippenbekenntnissen –das Vorbild des sowjetischen Archivwesens herangezogen wurde,kann im Nachhinein wohl nur als Kuriosum bewertet werden.Die StAV sah sich in diesem Zusammenhang vor die schwierigeAufgabe gestellt, die von Seiten der Bundesrepublik entwickelteEntspannungspolitik gegenüber den Mitarbeitern der Archive alsein Mittel des „verschärften Klassenkampfes“ zu entlarven undalle Tendenzen zu einer „Konvergenztheorie“ auf dem Gebiet desArchivwesens zu unterbinden.Durch die verstärkten Kontakte, die sich nach dem Kulturab-kommen zwischen der Bundesrepublik und der DDR seit 1986ergaben, wurde diese Aufgabe nicht leichter. Die zersetzendeWirkung der Entspannungspolitik auf das Herrschaftssystem inder DDR wird auch hier sichtbar. Dass gerade die „feindliche“Theorie von der Konvergenz der Systeme für manche ihrer seiner-zeitigen Gegner heute zur Grundlage der Selbstverteidigunggeworden ist – „Wir haben doch alle auf der Basis der gleichenTraditionen an den gleichen Problemen gearbeitet“ – sei alsGlosse zur Archivgeschichte der DDR nachgetragen.Besondere Aufmerksamkeit richtet der Autor auf die Entwicklungdes Benutzungsregimes. Schon nach der Benutzungsordnung von1951 hatten sich Historiker aus Westdeutschland und demAusland mit ihren Benutzungswünschen nicht direkt an diebetroffenen Archive, sondern an die Hauptverwaltung Archiv-wesen bzw. die Staatliche Archivverwaltung zu wenden. Seit den60er Jahren sahen sich westliche Antragsteller dabei zunehmendBehinderungen und Ablehnungen ausgesetzt, die teilweise unsin-nige und schikanöse Ausmaße annahmen. Die Darstellung lässterkennen, wie das Auskunfts- und Genehmigungsverfahren imZuge der Westabgrenzung bewusst für den Kampf gegen denAlleinvertretungsanspruch der westdeutschen Regierungspolitikinstrumentalisiert wurde – ein Anspruch, der nicht ohne Auswir-kungen auf die internationalen Beziehungen des DDR-Archivwe-sens war und zum Beispiel die Teilnahme an den Internationalen

Archivkongressen in Brüssel 1964 und Washington 1966 verhin-derte. Ein Blick in die Leitungsdokumente zur Benutzungsord-nung zeigt insgesamt eine Vorstellungswelt, die an feudalstaatli-ches Archivrecht erinnert. Für die maßgebenden Stellen imArchivwesen der DDR gab es prinzipiell kein Recht für Jedermannauf unbeschränkten Zugang zu den Archiven. Bei der Entschei-dung über Benutzungswünsche aus dem Westen hatte die StAVgrundsätzlich die Interessen von Partei und Regierung im Auge,hatte in erster Linie die Frage nach möglichem Schaden für dieDDR – in entsprechend hypertropher Auslegung der Sicherheits-bedürfnisse – und möglichem Nutzen für die eigenen politischenZiele zu berücksichtigen.Im Zusammenhang mit der Benutzungsproblematik machtSchreyer auch darauf aufmerksam, dass in der DDR größere Teileder archivischen Gesamtüberlieferung teilweise oder ganz derwissenschaftlichen Benutzung entzogen waren. Da gab eszunächst Bestände, die in den zuständigen staatlichen Archivengenerell gesperrt waren, wie z. B. solche von kirchlichen Organi-sationen und jüdischen Gemeinden. Darüber hinaus aber hattedas Ministerium für Staatssicherheit – insbesondere bei Gelegen-heit der schon in den 1950erJahren erfolgten Rückgaben beschlag-nahmter Akten von Seiten der Sowjetunion – umfangreicheAktenbestände von Behörden aus der Zeit von 1933 bis 1945sowie von Organisationen und Gliederungen der NSDAP an sichgezogen. Dieses „MfS-Archiv“, von dessen Existenz und beträcht-lichem Umfang überhaupt nur wenige wussten, war ausschließ-lich für die Zwecke der Staatssicherheit zugänglich. Nicht zuvergessen ist ferner, dass die SED schon frühzeitig ein eigenesParteiarchivwesen aufgebaut hat. Das an der Spitze stehendeZentrale Parteiarchiv erhob dabei, entgegen gesetzlichen undarchivwissenschaftlichen Normen, Anspruch auf Teile staatlicherAktenbestände, die aus der Unterdrückungsfunktion gegen dieArbeiterbewegung erwachsen waren; es hat über 100.000 Akten-einheiten aus den Jahren 1848 bis 1945 den zuständigen Staatsar-chiven vorenthalten bzw. entzogen und sich angeeignet. Für dasZentrale Parteiarchiv war dabei ausdrücklich festgelegt, dass es„kein öffentliches, jedermann zugängliches Archiv“ sein sollte (S.272). Was das auf Dauer für die wissenschaftliche Forschungbedeutet hätte, wird klar, wenn wir bedenken, dass sich, entspre-chend der angemaßten „führenden Rolle“ der Partei, die gesamteGeschichte der DDR primär in den Akten der SED-Organisa-tionen widergespiegelt hat.An dieser Stelle macht sich das Grundproblem der Diskrepanzzwischen Anspruch und Wirklichkeit bemerkbar, das das gesell-schaftliche Leben in der DDR allgemein bestimmte. Im vorlie-genden Falle handelte es sich um den Anspruch, den StaatlichenArchivfonds (kurz: StAFO) – eine vielgerühmte, grundlegendeErrungenschaft der „marxistisch-leninistischen Archivwissen-schaft“, zu verstehen als Gesamtheit des in staatlichem Eigentumbefindlichen Archivgutes – nach einheitlichen Grundsätzen undNormen durch die Staatliche Archivverwaltung zu organisierenund zu leiten. Dieses Prinzip hatte durch die genannten Sonderar-chive und weitere dem Sicherheitswahn geschuldete Vorgänge,zum Beispiel bei Entscheidungen über die Archivierung vonGeheimsachen, erhebliche Einschränkungen erfahren.Dennoch war mit dem „StAFO“ ein Wirkungsfeld ins Augegefasst, das wesentlich breitere Bereiche umfasste als im „bürgerli-chen“ Archivwesen.Dazu gehörte vor allem das Archivgut der volkseigenen Wirt-schaft, aber ebenso auch die archivische Überlieferung der vielfäl-tigen Einrichtungen, die zuvor in der Form von juristisch unter-

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schiedlich konstituierten Selbstverwaltungskörperschaften,Anstalten, Stiftungen usw. organisiert waren. Die Veröffentli-chung von Schreyer zeigt, wie die damit gegebenen Möglichkeiteneiner zentral geleiteten archivischen Fachverwaltung für grundle-gende organisatorische Maßnahmen und für die Bewältigung derAufgaben des Archivwesens mit beachtlichen Erfolgen genutztwerden konnten, in der Praxis aber oft auch an unüberwindlicheGrenzen stießen.In ihrer Gesamtheit erfahren die fachlichen Leistungen desArchivwesens in der DDR bei Schreyer eine angemessene Würdi-gung. Hervorgehoben wird als positiver Ausgangspunkt derKomplex der Rechtsvorschriften, mit denen die HauptabteilungArchivwesen im Ministerium des Innern in den Jahren 1949 bis1951 entscheidende Grundlagen für die gesamte weitere Entwick-lung gelegt hat. Die „Verordnung über das Archivwesen“ vom13.7.1950 und andere zuvor und danach erlassene Bestimmungendokumentieren einen bemerkenswerten, von wenigen Fachleutenunter Leitung von Otto Korfes vollbrachten Kraftakt, der imRückblick hohe Anerkennung verdient. Mit der Errichtung vonVerwaltungsarchiven wurde erstmalig der Versuch unternommen,das „Vorfeld“, die lebende Verwaltung, in den archivischen Griffzu bekommen. Die Bildung von Betriebsarchiven war die Konse-quenz aus der Überführung der wesentlichen Wirtschaftsbereichein Volkseigentum und sicherte auch das Archivgut der enteig-neten Vorgängerbetriebe. Ausgehend von diesen Grundlagen, diein den nachfolgenden „Verordnungen über das staatliche Archiv-wesen“ von 1965 und 1976 systematisch zusammengefasst, inihrer archivwissenschaftlichen Begrifflichkeit präzisiert undweiterentwickelt worden sind, haben die Archivare in der DDR inden Jahrzehnten danach in Kernbereichen der archivischenAufgaben gute professionelle Arbeit geleistet. Der Autor würdigteine Reihe von Persönlichkeiten, die sich an ihrer Stelle, mit ihrenLeistungen und ihrer persönlichen Haltung besondere Verdiensteerworben haben. Er betont die Bedeutung der „Ordnungs- undVerzeichnungsgrundsätze“ von 1964, die im Ergebnis einerbreiten Fachdiskussion zustande gekommen und in der Folgezeitzur selbstverständlichen Arbeitsgrundlage ganzer Archivarsgene-rationen geworden sind. Heute dürfte unbestritten sein, dassohne dieses Unternehmen einer einheitlichen Normierung derVerzeichnungspraxis die Konversion von Findbüchern in Daten-banken größte Schwierigkeiten verursacht hätte und überhaupteine EDV-gerechte Erschließung der Archivbestände schwervorstellbar wäre. Als grundlegende Leistung erscheinen auch dietheoretischen und praktischen Ergebnisse auf dem Gebiet derarchivischen Bewertung, deren nachhaltige Wirkung einegenauere Untersuchung lohnen würde. Der Komplex von Regel-werken und Richtlinien , der von den „Grundsätzen der Werter-mittlung“ aus dem Jahre 1965 bis zu den späteren Schriftgutbe-wertungsgrundsätzen, Dokumentationsprofilen usw. reicht, wäreohne zentrale Leitung kaum denkbar gewesen. Bei den Hinder-nissen der Umsetzung in die Praxis wirkten sich nicht zuletztauch die Mängel eines primär auf „Kommando“ orientiertenLeitungssystems aus, bei dem es nicht immer gelingen konnte,eine fachliche Leitung gegenüber nicht direkt unterstellten Insti-tutionen „durchzusetzen“.Unter den bemerkenswerten Leistungen, die in der Geschichte desArchivwesens der DDR hervorzuheben sind, weist der Verfasserauch auf bestimmte Publikationsunternehmen hin, die insbeson-dere in den Schriftenreihen der Staatsarchive Potsdam, Dresdenund Weimar erschienen sind. Er würdigt eine Reihe von Fachver-öffentlichungen, die über die Grenzen der DDR hinaus Aufmerk-

samkeit und Anerkennung gefunden haben. Hierzu gehört anerster Stelle die 1962 erschienene, mehrfach wieder aufgelegte„Archivverwaltungslehre“ von Gerhart Enders. Verwiesen wirdauch auf Veröffentlichungen zu Ausbildungszwecken wie dieLehrbriefe für das Fachschulfernstudium, die teilweise bis zurHochschulausbildung Verwendung finden konnten. Dem Hoch-schullehrbuch von 1984 („Archivwesen der DDR. Theorie undPraxis“) wird eine erhebliche Ideologielastigkeit bescheinigt, diees als Abbild der Situation am Ende der DDR erscheinen lässtund – trotz beachtenswerter Fachartikel – einer dauerhaftenWirkung im Wege steht. Generell wird sichtbar, dass die archiva-rische Ausbildung auf Hoch- und Fachschulebene in der DDR einhohes, auch international anerkanntes Niveau erreicht hat. DemRezensenten sei erlaubt, an dieser Stelle sein Bedauern über denVerlust des Lehrstuhls für Archivwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin zu artikulieren, der 1991 einer vorschnellenund verfehlten Strukturentscheidung zum Opfer gefallen ist.Das Werk von Hermann Schreyer erfüllt das Bedürfnis nacheinem kurz gefassten Handbuch, wie es nach dem Stand derForschung und den gegebenen Bedingungen hinsichtlich Bearbei-tungszeit und Umfang jetzt möglich war. Es bietet einen sehrguten Gesamtüberblick, wobei das Schwergewicht auf die StAVund die ihr direkt unterstellten Staatsarchive gelegt ist. Den Kernbilden die Entwicklung auf den Gebieten von Gesetzgebung,Struktur und Organisation sowie die offiziellen Dokumente,Verlautbarungen, Veranstaltungen usw. Deutlich wird die vonideologischen Vorgaben geprägte und von überzogenem Leitungs-denken bestimmte Rolle herausgearbeitet, die die StAV seit derZeit Schirdewans gespielt hat. Die von ihr ausgegangenen, diejeweilige „Generallinie“ der SED umsetzenden Grundsatzpapierewerden mit der ihnen zukommenden Aufmerksamkeit charakteri-siert. Für den fachkundigen Leser werden ebenso die positivenSeiten der durch die StAV in Gang gesetzten Diskussionen, dervorgelegten oder initiierten Regelwerke, Dokumente und sons-tigen Veröffentlichungen zur Theorie und Praxis des Archivwe-sens erkennbar. Neben den gesetzten Schwerpunkten kann dieDarstellung nicht alle Zweige des Archivwesens gleichmäßigberücksichtigen und nicht auf allen Gebieten der Archivarbeit insEinzelne eindringen. So bleiben etwa Sonderbereiche wie dieMedien-, Universitäts- und Literaturarchive weitgehend außer-halb der Betrachtung; und im Rahmen des angestrebten Über-blicks war es auch nicht möglich, zusammenfassende Aussagenüber die Ergebnisse in den einzelnen archivischen Aufgabenberei-chen von der Aktenübernahme und Bestandsentwicklung überErschließung und Benutzung bis zur Sicherungsverfilmung,Konservierung und Restaurierung zu machen. Der Autor bietetaber eine Fülle von Ansatzpunkten, an denen sich weiterführendeUntersuchungen anschließen lassen. Das gilt auch für dieGeschichte der „Archivmitteilungen“, die als ein gut geführtesFachorgan, trotz zunehmender Ideologisierung, eine wichtigeRolle in der Fachdiskussion gespielt haben. Die Entwicklung aufdem Gebiet der Archivtechnik verdient ebenfalls eine genauereBetrachtung, bei der wohl ein immer größerer Rückstand, nichtzuletzt bei der technischen Ausrüstung, zu konstatieren sein wird.Von Archivbauten hatte der Autor überhaupt wenig zu berichten;der erwähnte einzige Neubau für das Zentralarchiv (S. 61) erweistsich bei genauerem Hinsehen als eine vom ursprünglichenBauherrn nicht mehr benötigte Erweiterung zu einem schonvorhandenen Gebäude.Schreyer hat ein Buch vorgelegt, in dem sich die Miterlebendenaus der DDR in ihrer Mehrzahl wiederfinden können. Nicht

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ausbleiben wird dennoch, dass es bei ihnen wie auch bei west-deutschen und ausländischen Fachkollegen im Einzelnen wie imGanzen unterschiedliche und wohl auch gegensätzliche Urteilegeben wird – je nach den persönlichen Erfahrungen und der Posi-tion, die sie amtlich und bewusstseinsmäßig innerhalb oderaußerhalb der Grenzen des Archivwesens der DDR besaßen.Auseinandersetzungen darüber können weiterführend wirken,wenn sie von der Bereitschaft zu gegenseitigem Zuhören getragenwerden. Der Autor bekennt sich ausdrücklich zu den subjektivenAusgangspunkten seiner Betrachtung (S. 4). Er verbirgt seinegrundsätzlich kritische, der herrschenden Ideologie entgegenge-setzte Haltung nicht und bringt sie gegebenenfalls auch ironischkommentierend zum Ausdruck. In Kontrast zu der DDR-üblichenSchönfärberei werden die Mängel und negativen Erscheinungenklar benannt, die die Wirkung auch guter und vorwärtsweisenderIdeen und Erfahrungen nicht selten beeinträchtigt haben. DieDarstellung ist dennoch überall von dem Bemühen um sachlicheArgumentation und gerechte Beurteilung geleitet. Gerade diesesMerkmal kritischer Sachlichkeit macht das Werk zu einer vertrau-enswürdigen Informationsquelle auch für westdeutsche Archivare,die sich bisher eher wenig für das Leben ihrer Berufskollegen inder DDR interessiert haben und vor 1989/90 – wenn überhaupt –auch nur Träger offizieller Funktionen und „Reisekader“ kennenlernen konnten. Für sie wie für die „Nachgeborenen“ eignet sichdas Buch für ein ernsthaftes Bemühen um Verständnis, wenigerfür eine Untermauerung eingefahrener Vorurteile. Wie qualifi-zierte und engagierte Archivare in der DDR unter oft widrigen,auch technisch und nicht zuletzt räumlich unzureichendenBedingungen professionell und mit hohem Berufsethos gearbeitethaben, wird auf vielen Gebieten vorstellbar. Es wird bewiesen,dass es – trotz allem – auch für die Archivare in der DDR ein„richtiges Leben im falschen“ gegeben hat. Das Archivwesen derDDR wird nicht nur eine „Fußnote“ in der Geschichte des deut-schen Archivwesens bleiben – um auch im Hinblick auf unserenFachbereich einer zuweilen zitierten, von geringem historischemBewusstsein zeugenden allgemeinen Einschätzung der DDR-Geschichte zu widersprechen. Auf archivwissenschaftlichem wiearchivpraktischem Gebiet hat es Ergebnisse vorgelegt und Anre-gungen gegeben, die im nationalen und internationalen RahmenAufmerksamkeit gefunden haben und aufgenommen wordensind. Manche Leistungen von nachhaltiger Wirkung wären danoch zu entdecken, wenn man sich die Mühe machte, sie hinterder ideologischen Verkleidung hervorzuholen. In der hier bespro-chenen Veröffentlichung über das staatliche Archivwesen derDDR sind Möglichkeiten dazu sichtbar gemacht. Nicht zuletztdafür ist dem Autor zu danken, der die selbstgestellte, gerade fürden Zeitgenossen und Mitbetroffenen nicht einfache Aufgabe ineindrucksvoller Weise bewältigt hat.

Gerhard Schmid, Weimar

SONDERSAMMLUNGEN IM 21. JAHRHUNDERT

Organisation, Dienstleistungen, Ressourcen. Im Auftragder Klassik Stiftung Weimar/Herzogin Anna Amalia Bi-bliothek hrsg. von Graham Jefcoate und Jürgen Weber.XIV, 172 S., 2 Abb., kart. 38,- C= . ISBN 978-3-447-05743-1(Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 54)

Sondersammlungen gewinnen in Bibliotheken in den letztenJahren einen immer größeren Stellenwert. Neben der Tatsache,dass sie für Forschung und Lehre von ganz erheblichem Interessesind, gehören Sondersammlungen auch zum „kulturellen Erbeder Bibliotheken“ (S. VII), das es zu erhalten, zu erschließen undder Öffentlichkeit in adäquater Form zugänglich zu machen gilt.In diesem Kontext erkennen Bibliotheken zunehmend das jenenBeständen innewohnende Potenzial hinsichtlich Imagesteigerungund Akzeptanz der Bibliotheken in der Öffentlichkeit.So verwundert es nicht, dass es die Herzogin Anna AmaliaBibliothek (HAAB) war, die als ausgewiesene Forschungsbiblio-thek mit zahlreichen Sondersammlungen in ihren Beständenbereits im Jahr 2005 in Zusammenarbeit mit der Universitätsbi-bliothek der Radboud Universität Nijmegen und der InitiativeFortbildung für wissenschaftliche Spezialbibliotheken undverwandte Einrichtungen e. V. eine Tagung zum Thema„Zwischen Kulturmanagement und Forschung: Sondersamm-lungen im 21. Jahrhundert. Organisation, Dienstleistungen,Ressourcen“ ausrichtete. Aus dieser Tagung ist der hier vorzustel-lende Sammelband hervorgegangen. Ergänzt um zwei im Jahr2006 gehaltene Vorträge – es handelt sich um den grundlegendenBeitrag Paul Raabes zur Thematik der Sondersammlungen alskulturelle Aufgabe und einen speziell auf die Herausforderungenund Chancen von Sondersammlungen in den USA abzielendenAufsatz aus der Feder von Alice Prochaska –, versammelt derBand insgesamt 14 Beiträge von internationalen Fachleuten ausBibliotheken in den USA, Großbritannien, den Niederlanden,Österreich und Deutschland.Thematisch wird dabei ein breites Spektrum unterschiedlicherAspekte behandelt: Es reicht von sehr grundsätzlichen Aussagenzum Zustand von Sondersammlungen über konkrete Überle-gungen zu Fragen des Projektmanagements und der Finanzierungbis hin zu Betrachtungen zur zukünftigen Entwicklung vonSammlungen und damit auch zur Rolle der Sondersammlungsbi-bliothekare. Beiträge zur Vermittlung der Sondersammlungsbe-stände durch Bibliotheken sowie deren Bedeutung in Forschungund Lehre und nicht zuletzt zu dem weiten Bereich der Digitali-sierung und überregionalen Vernetzung erweitern die Themen-vielfalt und runden sie gleichzeitig ab. Insgesamt bieten dieBeiträge, die sich auf hohem wissenschaftlichem Niveau bewegen,einen auf greifbare Beispiele ausgerichteten und an profundenpraktischen Erfahrungen reichen Einblick in die sehr heterogenenAnforderungen, die Sondersammlungen für Bibliotheken mit sichbringen. Gleichzeitig werden die Chancen herausgearbeitet, diejene Bestände für die Institutionen bereithalten.Aus der Vielzahl der Einzelbeiträge können im Folgenden nureinige beispielhaft ausgewählt und kurz vorgestellt werden.Graham Jefcoate, Leiter der Universitätsbibliothek der RadboudUniversiteit Nijmegen, setzt sich mit der Definition des BegriffesSondersammlung auseinander, um vor allem zu betonen, dassjene Sammlungen in wissenschaftlichen Bibliotheken in einerPhase der Erneuerung und Veränderung begriffen sind, die auchAuswirkungen auf die Anforderungen an die Kuratoren der

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Sondersammlungen zeitigt. Vor allem der Paradigmenwechsel inder Informationswelt hat dazu geführt, dass „'traditional' specia-list knowledge and a range of 'new' professional skills“ (S. 13)vereinigt werden müssen. Alice Schreyer, Leiterin des SpecialCollections Research Center an der University of Chicago Library,bringt mit ihrem Beitrag „From Treasure Room to ResearchCenter“ am Beispiel der USA jene Entwicklung auf den Punkt,die Sondersammlungen im 20. Jahrhundert durchlaufen haben:von exklusiven Schatzkammern, deren Stücke es zu behüten undabzuschirmen galt, hin zu Ressourcen, mit denen in Forschungund Lehre intensiv gearbeitet wird und die in digitaler Form einernunmehr globalen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. ZuRecht betont sie aber auch, dass Sondersammlungen insofern„weiterhin ihrer Rolle als Schatzkammer gerecht werden müssen“,als es gilt, „die kustodischen und kuratorischen Pflichten“(S. 107) gegenüber den Materialien zu erfüllen. Dass dies erst teil-weise erreicht wird, zeigt eine von Jürgen Weber verfasste, aufeiner empirischen Erhebung fußende Untersuchung zumZustand der Sondersammlungen in deutschen Bibliotheken. DerLeiter der Abteilung Sondersammlungen und Bestandserhaltungder HAAB weist dabei nicht zuletzt auf die „Konzeptarmut“(S. 22-23) bezüglich Bestandserhaltung, Verwaltung und Entwick-lung der Sammlungen hin. Zu diesem Befund passen auch dieErgebnisse von Richard Ovenden, der aus der Sicht der BodleianLibrary (Oxford) auf die stetig wachsende Bedeutung von effek-tivem Projektmanagement, nachhaltigen Finanzierungsmodellenund der Professionalisierung von Fundraising-Aktivitäten eingeht.

Vor allem wird dabei auf das Vertrauen der Geldgeber, und dasheißt: nicht zuletzt dasjenige der Öffentlichkeit, abgestellt,welches es aus Sicht der Bibliotheken zu gewinnen gilt. Schließ-lich sei auf den Beitrag von Thomas Stäcker, Leiter der AbteilungAlte Drucke/Digitalisierung an der Herzog August BibliothekWolfenbüttel, hingewiesen, der sich mit der Vernetzung von digi-talen (Alt)Beständen beschäftigt. Einmal mehr wird dabei betont,dass es längst nicht mehr nur um eine vermehrte Einstellung vonDigitalisaten ins Web geht, dass vielmehr die Hypertextualitätdes Internets neue Formen der Erschließung und Repräsentationnötig macht, ja, mehr noch, dass Formen der kooperativen, Insti-tutionen übergreifenden Zusammenarbeit entwickelt werdenmüssen, um einen virtuellen Forschungsraum aufzubauen. Indiesen Kontext ist zuletzt der Aufsatz Maria Effingers einzu-ordnen, welcher ausführlich das Konzept der Virtuellen Fachbi-bliotheken sowie die Aktivitäten von Sondersammlungsgebietenim Rahmen derselben am Beispiel der UniversitätsbibliothekHeidelberg darlegt.Neben einer beeindruckenden fachlichen Breite zeichnet sich derTagungsband vor allem durch einen konsequent verfolgten inter-nationalen Ansatz aus, der den Leser in die Lage versetzt, überden nationalen Tellerrand hinaus zu blicken und nicht zuletztdadurch anregende Impulse zu bekommen. Abschließend bleibtdeshalb nur, dem gelungenen Band, dessen Erscheinen man sichallenfalls etwas zeitnaher zur Tagung gewünscht hätte, weiteVerbreitung zu wünschen.

Tina Holzbach, Weimar

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DAS ARCHIVIERUNGSMODELL„JUSTIZ“ DES LANDESARCHIVSNORDRHEIN-WESTFALEN

WORK IN PROGRESS: KONZEPT UNDSTAND DER ARCHIVIERUNGSMODELLE IMLANDESARCHIV NRWDer fachliche Anspruch, die Überlieferungsbildung für alleStellen der Landesverwaltung in NRW zu koordinieren und zuoptimieren, und die politische Vorgabe, die jährliche Übernahme-menge an konventionellem Archivgut auf 1 % der Gesamtproduk-tion der anbietenden Einrichtungen zu reduzieren, begleiten dasLandesarchiv Nordrhein-Westfalen (LAV) seit seiner Einrichtung2004 und bilden auch heute noch zwei Grundpfeiler seiner strate-gischen Ausrichtung. Im Mittelpunkt aller Bemühungen, beidenAnsprüchen gerecht zu werden, steht die Erstellung von Archivie-rungsmodellen auf der Grundlage eines vom LAV entwickeltenFachkonzeptes.1 Dieses Fachkonzept sieht für jeden Verwaltungs-zweig des Landes die Festsetzung eines fachlich begründetenBewertungskatalogs, verbindliche Vorgaben zum Aussonderungs-verfahren sowie die Vorlage von Mengenprognosen vor, die dasangestrebte Übernahmevolumen planbar und somit steuerbarmachen sollen. Die Erstellung der Archivierungsmodelle ist eineAufgabe abteilungsübergreifender Projektgruppen, die ihreEmpfehlungen auf der Grundlage bisheriger Übernahmeerfah-rungen im Land und bei anderen Archivverwaltungen, vonBehördeninterviews, horizontal-vertikalen Aufgaben- und Schrift-gutanalysen sowie von Abstimmungen mit Vertretern andererArchivsparten und der Verwaltung erarbeiten. Dabei ist dieReihenfolge der Modellerstellung, also die Priorisierung derVerwaltungszweige, durch das Fachkonzept „Archivierungsmo-delle“ geregelt. Das LAV bemüht sich, eine Rangliste primärquantitativer Relevanz abzuarbeiten, um auf diese Weisemöglichst rasch zu einer umfassenden Breitenwirkung bei derEinführung fachlicher Standards sowie einer möglichst weitreichenden Mengenprognostik zu gelangen.Auf seinem Weg zur angestrebten flächendeckenden Steuerungder Überlieferungsbildung durch Archivierungsmodelle hat dasLAV trotz allgegenwärtiger Personalnot und einiger strukturellerUmbrüche inzwischen vier wichtige Verwaltungsbereiche bear-beitet und entsprechende Modelle vorgelegt: Finanzverwaltung(2006), Polizei (2006), Personalverwaltung (2009) sowie Justiz(2008/2009). Die vergleichsweise lange Bearbeitungsdauer derhier genannten Modelle2 ist freilich nicht allein auf die schwie-riger werdenden Rahmenbedingungen archivischer Arbeit inZeiten knapper Kassen zurückzuführen – sie ist vielmehr aucheine direkte Folge des genannten Priorisierungsverfahrens. Insbe-sondere mit den Modellen „Finanzen“ und „Justiz“ hat das LAV

bewusst zwei besonders produktions- und überlieferungsrele-vante Verwaltungszweige an den Beginn seiner Arbeit zur Erstel-lung der Archivierungsmodelle gestellt, deren Bewältigung einüberdurchschnittliches Maß an Zeit und Engagement bean-spruchte. Eine nicht weiter rückläufige Personalbemessungvorausgesetzt, hofft das Landesarchiv für die sich anschließenden„kleineren“ Verwaltungszweige auf geringere Bearbeitungszeit-räume.

PROBLEMFALL JUSTIZ: ZUR NOTWEN-DIGKEIT UND ENTSTEHUNG EINESARCHIVIERUNGSMODELLSFür alle betroffenen staatlichen Archive des Bundes und derLänder stellt der Bereich der Justiz mit seiner enormen Schriftgut-produktivität traditionell eine große arbeitsökonomische undorganisatorische Herausforderung dar.3 Daher ist es wenigverwunderlich, dass es in Deutschland seit den 1930er Jahrenimmer wieder Bemühungen gegeben hat, die Überlieferungsbil-dung für diesen Bereich staatlichen Handelns archivfachlich zusystematisieren und modellhaft zu erfassen. Begünstigt wurdenund werden diese Bemühungen dadurch, dass sich der Bereichder Justiz nicht nur durch seinen enormen Dokumentenausstoß,sondern auch durch seine hohe, weitgehend länderübergreifendgeregelte Verwaltungsstabilität und Übersichtlichkeit auszeichnet.Die über Jahrzehnte hinweg konstanten Aufgabenstrukturen undArbeitsmethoden der Justizbehörden sowie flächendeckend etab-lierte Akten-, Aufbewahrungs- und Aussonderungsordnungenerleichtern den systematischen Zugang zum Schriftgut und habendie Ausarbeitung einer ganzen Reihe von Aktenanalysen undBewertungsvorschlägen begünstigt.4 1999 wurden diese bishe-rigen Ansätze dann durch die Vorlage der „Empfehlungen zurArchivierung von Massenakten der Rechtspflege“5 einer imAuftrag der Archivreferentenkonferenz des Bundes und derLänder (ARK) eingesetzten Arbeitsgruppe ersetzt. Die „Empfeh-lungen“, die für die Bereiche der ordentlichen Gerichtsbarkeit, derFachgerichtsbarkeit sowie des Justizvollzugs einheitliche Bewer-tungsvorschläge enthalten, fanden umfassenden Eingang in diearchivische Praxis des Bundes und der Länder. In jeweils spezifi-zierter und den regionalen Verhältnissen angepasster Formwurden sie zum Ausgangspunkt für die meisten in der Folgezeitentwickelten Bewertungsmodelle und Bewertungspraktiken derLänder.6

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Auch in Nordrhein-Westfalen etablierten sich die „Empfeh-lungen“ als allgemeine Bewertungsgrundlage für die Archivierungvon Schriftgut der Justiz. Doch obwohl sich diese Praxis der dreizuständigen Archivabteilungen im LAV bewährte, erfüllt derBericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe die im Konzept „Archi-vierungsmodelle“ formulierten Ansprüche an ein fachgerechtesModell im Rahmen einer allgemeinen Überlieferungsstrategie desLAV nicht hinreichend. Erstens nämlich ist auf Grund der spezi-fisch länderübergreifenden Zielvorgaben der ARK-AG die hori-zontale und vertikale Bewertungsperspektive, die ein Kernelementdes Archivierungskonzeptes ausmacht, im Bericht nicht im Detailausgebildet. So beziehen die „Empfehlungen“ weder die landes-spezifische ministeriale Ebene in den Archivierungsprozess mitein, noch stimmen sie die Bewertungsentscheidungen zueinzelnen Aufgabenbereichen unter den verschiedenen Instanz-ebenen systematisch miteinander ab. Auch die Einbindung desAufgabenbereichs „Justiz“ in den Gesamtbewertungsrahmen allerVerwaltungszweige des Landes sowie die Kooperation des LAVmit den verschiedenen anderen Archivsparten („Überlieferungs-bildung im Verbund“)7 sind integrative Bestandteile des Fachkon-zepts „Archivierungsmodelle“, die über die Fachperspektive der„Empfehlungen“ hinausreichen. Zweitens enthalten die „Empfeh-lungen“ zahlreiche Bewertungshinweise, die in der praktischenUmsetzung weiter konkretisiert und in der Praxis vereinheitlichtwerden mussten. Und drittens schließlich beschränken sich die„Empfehlungen“ auf den rein qualitativen Aspekt der Archivie-rung von Justizunterlagen. Der Aspekt der Mengensteuerung, derein konstitutives Element der Archivierungsmodelle ausmacht,bleibt dabei naturgemäß unberücksichtigt.Trotzdem konnte die 2004 eingesetzte „Projektgruppe zur Bewer-tung von Unterlagen der Justiz (PG Justiz)“ inhaltlich in weitenTeilen auf die Vorarbeit der „Empfehlungen“ zurückgreifen. Dasystematische Funktions- und Schriftgutanalysen für die Staats-anwaltschaften, die Ordentliche Gerichtsbarkeit, die Fachgerichtesowie Teile des Justizvollzugs von der ARK-AG bereits durchge-führt und dokumentiert worden waren, konnte die PG des LAVhier auf einen guten Teil eigener Arbeit verzichten. Allerdingsergänzte sie die Analysen der „Empfehlungen“ noch durchgezielte Recherchen zu Einzelfragen, einen horizontal-vertikalenAbgleich in der Überlieferungsbildung und durch die Ergebnissedreier in den letzten Jahren beim Landesarchiv betreuter Transfer-arbeiten.8 Für das Justizministerium, die Oberbehörde des„Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug“, für Sonderein-richtungen des Justizvollzugs sowie die Aus- und Fortbildungs-einrichtungen des Landes stellte sich die Ausgangslage derProjektgruppenarbeit anders dar, da diese Bereiche der Rechts-pflege in den „Empfehlungen“ nicht oder nur kursorisch behan-delt werden. Für sie führten die Mitglieder der PG mit Hilfe vonErhebungsbögen und (wenn möglich) nach dem „Vier-Augen-Prinzip“ Einzelanalysen zur Behördenentwicklung, zum Aufga-benprofil, zur Aufgabenerledigung, zu den vorhandenen Schrift-gutstrukturen, zu den praktisch möglichen Aussonderungsver-fahren sowie last but not least inhaltlich zu allen potentiell archiv-würdigen Aktenplanpositionen durch.Parallel hierzu arbeitete die PG an den notwendigen Mengenerhe-bungen. Zur Bestimmung der Gesamtproduktionsmenge wurdenin einzelnen Dienststellen der Justiz an Hand des Schriftgutkata-loges der Aufbewahrungsbestimmungen9 der Umfang eines Jahr-gangs der einzelnen Schriftgutserien gemessen oder ausgezähltund nach der Bevölkerungszahl des betreffenden Amtssprengels(im Justizvollzug nach der Belegungskapazität der Anstalten) auf

die Landesebene hochgerechnet.10 In einer tabellarischen Zusam-menstellung entstand so eine Umfangsangabe des jährlich entste-henden und grundsätzlich dem LAV anzubietenden Schriftgutes.Zur Bestimmung der zu erwartenden jährlichen Übernahme-mengen wurden die bisherigen Übernahmeerfahrungen auf dieeinzelnen Positionen des Archivierungsmodells hochgerechnet. InKombination beider Hochrechnungen ließ sich so eine Übernah-mequote von insgesamt 1,37 % prognostizieren.Eine wichtige Ergänzung der internen Projektgruppenarbeitbildete ein Workshop zur Archivierung von Unterlagen der Justiz,

1 Vgl.: Martina Wiech, Steuerung der Überlieferungsbildung mit Archivie-rungsmodellen. Ein archivfachliches Konzept des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, in: Der Archivar 58 (2005), S. 94-100, sowie dies.: Steuerung derÜberlieferungsbildung mit Archivierungsmodellen. Eine Konzeption für dasLandesarchiv NRW, auf: www.archive.nrw.de/LandesarchivNRW/BilderKartenLogosDateien/FK_2006_06_30.pdf [2006].

2 Allein die Projektgruppe „Justiz“, die 2004 eingesetzt wurde, tagte insgesamt16 Mal. Sie konnte ihre Arbeit im Frühjahr 2008 abschließen.

3 Allein in Nordrhein-Westfalen beläuft sich die Aktenproduktion pro Jahr aufca. 49.000 lfm.

4 Einen Überblick über die älteren Bewertungsvorschläge bieten die Empfeh-lungen zur Archivierung von Massenakten der Rechtspflege. Abschlußberichtder Bund-Länder-Arbeitsgruppe zu Fragen der Bewertung und Archivierungvon Massenakten der Justiz in Deutschland. Redaktion: Rainer Stahlschmidt,Düsseldorf 1999 (= Der Archivar. Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen,Beiheft 2; künftig zit. als: Empfehlungen 1999), S. 5-6, sowie Jürgen Treffeisen,Die Transparenz der Archivierung – Entscheidungsdokumentation bei derarchivischen Bewertung, in: Nils Brübach (Hg.), Der Zugang zu Verwaltungs-informationen – Transparenz als archivische Dienstleistung, Marburg 2000 (=Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 33), S. 177-197, hier: S. 190-191.

5 Empfehlungen 1999.6 So etwa in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein; vgl. dazu: Barbara

Hoen/Konrad Krimm/Jürgen Treffeisen: Erweitertes Auswahlmodell beiMassenakten der Justiz. Ergänzungen zu den Empfehlungen zur Archivierungvon Massenakten der Rechtspflege (Abschlußbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zu Fragen der Bewertung und Archivierung von Massenaktender Justiz in Deutschland, 1999), auf: www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/25/bewertung_massenakten_justiz.pdf [2001]; Robert Knull, Rechthaben – Recht kriegen! Die Überlieferung der Amtsgerichte im Landesarchiv,in: VKA-Mitteilungen 2004, S. 18-27, hier v.a.: S. 22.

7 Vgl. Wiech, Steuerung, S. 5.8 Mathias Jehn: Dokumentationsprofil oder Samplebildung? Überlieferungs-

bildung am Beispiel von Prozessverfahrensakten der StaatsanwaltschaftBochum, in: Alexandra Lutz (Hg.): Neue Konzepte für die archivische Praxis.Ausgewählte Transferarbeiten des 37. und 38. wissenschaftlichen Kurses an derArchivschule Marburg, Marburg 2006, S. 157-188; Karin Schwarz: Automati-siertes Bewertungsverfahren für Prozessakten der Justiz am Beispiel des elek-tronischen Bürosystems SHARK in der Arbeitsgerichtsbarkeit, [2005, unveröf-fentlicht]; Christoph Schmidt: Zur Bewertung und elektronisch gestütztenAussonderung von Verfahrensakten der Sozialgerichte in Nordrhein-Westfa-len, in: Volker Hirsch (Hg.): Archivarbeit – die Kunst des Machbaren. Ausge-wählte Transferarbeiten des 39. und 40. wissenschaftlichen Kurses an derArchivschule Marburg, Marburg 2008, S. 213-242.

9 Grundlage der damaligen Erhebungen bildeten die „Bestimmungen über dieAufbewahrungsfristen für das Schriftgut der ordentlichen Gerichtsbarkeit,der Staatsanwaltschaften und der Justizvollzugsbehörden. Aufbewahrungsbe-stimmungen (AufbewBest)“. Diese bundeseinheitliche Norm mit ihren späte-ren Änderungen wurde in den Bundesländern jeweils durch Erlass des Justiz-ministeriums übernommen, in Nordrhein-Westfalen zuletzt durch eine AVdes JM vom 27. Juli 2004 (JMBl. NRW 2004, S. 205), zuletzt geändert durchdie AV des JM vom 21.12.2006 (JMBl. NRW 2007, S. 30). Die Projektgruppemusste lediglich 20 in diesen Bestimmungen nicht genannte, überwiegend ver-waltungsinterne Serien zusätzlich berücksichtigen.Inzwischen wurden die alten Aufbewahrungsbestimmungen durch landesge-setzlich fundierte Vorschriften abgelöst. So ist die Aufbewahrung des Schrift-gutes der Justiz nun in den §§ 77-78 des Ausführungsgesetzes zum Gerichts-verfassungsgesetz (PrGS. NRW S. 78, zuletzt geändert durch Artikel 1 desGesetzes vom 29. Januar 2008 (GV. NRW. S. 128)) geregelt. Die konkreten Auf-bewahrungsfristen bemessen sich nach den Vorschriften der „Verordnungüber die Aufbewahrung von Schriftgut in der Justiz und Justizverwaltung desLandes Nordrhein-Westfalen (AufbewahrungsVO NRW) vom 6. Mai 2008(GV. NRW. S. 404).

10 Erhebungsgrundlage war für die Gerichtsbarkeit die Gerichtseingesessenen-statistik 2002, für den Justizvollzug die Statistik zur Haftplatzkapazität in denJustizvollzugsanstalten für die Jahre 1990-2007. Beide Statistiken sind im Int-ranet bzw. Internetangebot der Justizverwaltung verfügbar: http://lv.justiz.nrw.de/Organisation_1/statistiken/einwohnerzahlen/gerichtseingesessene2002.xls sowie: www.callnrw.de/broschuerenservice/download/ 110/Justizvollzug.pdf.

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der am 21.06.2005 in Kooperation mit dem JustizministeriumNordrhein-Westfalen durchgeführt wurde. Das Ziel des Work-shops, an dem 40 Vertreter von Archiven, Wissenschaft und Justizteilnahmen, bestand im Informationsaustausch und in derFormulierung gemeinsamer Anforderungen an das in Entstehungbegriffene Archivierungsmodell. In mehreren Arbeitsgruppenwurden archivische wie außerarchivische Positionen zu den Berei-chen Überlieferungsbildung, Kommunikation und Kooperationerläutert und diskutiert. Hinzu kamen Überlegungen und Anre-gungen zu möglichen Parallelüberlieferungen aus anderenVerwaltungszweigen, die die bereits im Zuge der Einzelanalysenerarbeiteten Erkenntnisse ergänzen konnten. Die Ergebnisse desWorkshops flossen in die weitere Arbeit der Projektgruppe ein.11

Obwohl auch im Bereich der Justiz in zunehmenden Maße Fragendes E-Government eine Rolle spielen, orientieren sich die Bewer-tungsentscheidungen der Projektgruppe und die mit diesenEntscheidungen verbundenen Bewertungsverfahren nochvornehmlich an den spezifischen Eigenschaften konventioneller,also analog angelegter Unterlagen. Dies hat zwei Gründe. Zumeinen ist absehbar, dass trotz deutlicher Entwicklungstendenzenhin zu einer flächendeckend etablierten papierarmen Verwaltungin der Justiz die Führung von konventionellen Unterlagen kurz-bis mittelfristig weiterhin dominant bleiben wird. Zum anderenerfordert eine langfristig relevante Positionierung eines ressort-spezifischen Archivierungsmodells eine systematische Anbindungan übergreifende archivfachliche und technologische Konzeptezum nachhaltigen Umgang mit elektronischen Unterlagen.Entsprechende Konzepte werden im LAV derzeit (auch im länder-übergreifenden Zusammenhang) erarbeitet, liegen aber nochnicht vollständig vor, so dass eine erfolgreiche Verzahnungbislang nur punktuell möglich war. Trotzdem hat sich die Projekt-gruppe bemüht, die bereits im Einsatz befindlichen Registratur-systeme und Fachanwendungen so weit wie möglich zur Vereinfa-chung des Bewertungsverfahrens zu berücksichtigen und zunutzen. In einzelnen Fällen wurden zudem bereits elektronischgeführte Unterlagen (v. a. Register bei den Amtsgerichten) alsarchivwürdig gekennzeichnet, wobei allerdings bislang keinenäheren Entscheidungen zu den zusätzlich benötigten Metadaten,den Austauschformaten usw. getroffen wurden.Die Projektgruppe war sich bewusst darüber, dass einige der imArchivierungsmodell festgelegten Bewertungsentscheidungen undAussonderungsverfahren (vor allem im Hinblick auf Unterlagen-bewertung durch Autopsie) nach der Etablierung einer elektroni-schen Aktenführung revisionsbedürftig oder zumindest zu präzi-sieren sein werden. Der sich in diesem Kontext anbahnendePerspektivenwechsel für die Überlieferungsbildung wird dasBlickfeld archivischer Bewertungspraxis zwangsläufig erweitern.In einem zukünftigen Prozess der Bewertung werden nicht nurAspekte der Überlieferungsbildung im engeren Sinne, sondernauch Fragen der technischen Standardisierung, des Metadatenma-nagements, der Bestandserhaltung, der Erschließung und derBenutzung zu integrieren sein. Eine langfristig in diese Richtunggehende Weiterentwicklung und Anpassung des Archivierungs-modells „Justiz“ ist daher nicht allein im Zuge von Pflege, Evalua-tion und ressortspezifischer Nachbearbeitung zu leisten. Sie erfor-dert vielmehr eine verstärkte Kooperation zwischen allen andiesem Prozess beteiligten Stellen innerhalb und außerhalb desLAV sowie eine entsprechende Fortschreibung und Weiterent-wicklung des Fachkonzepts „Archivierungsmodelle“.

GLIEDERUNG UND IHNALTLICHESCHWERPUNKTE DES ARCHIVIERUNGS-MODELLS

Die Projektgruppe hat ihre Bewertungsentscheidungen in Arbeits-schritten entwickelt, die sich an einzelnen Rechts- oder Verwal-tungsbereichen orientierten und in denen jeweils die einschlä-gigen Schriftgutserien im horizontalen und vertikalen Vergleichgegeneinander abgewogen wurden. Aus praktischen Gründenorientiert sich ihr Abschlussbericht jedoch am Aufbau derLandesjustiz nach Behörden- bzw. Gerichtstypen. Im Einzelnenwerden dabei die Bereiche Justizministerium, Verfassungsgericht,Ordentliche Gerichtsbarkeit und Anklagebehörden, Fachgerichts-barkeit, Justizvollzug, Aus- und Weiterbildungseinrichtungensowie der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug behandelt.Innerhalb dieser Obergruppen erfolgt dann (wo notwendig) eineweitere Differenzierung nach Behörden- bzw. Gerichtstypen,angegliederten Organisationseinheiten und Abteilungen. Da fürdie Bereiche der Gerichte, der Staatsanwaltschaften und desJustizvollzugs in den „Empfehlungen“ bereits umfassende Funk-tions- und Schriftgutanalysen vorliegen, wurde in den einzelnenUnterkapiteln zu diesen Bereichen hierauf weitgehend verzichtet.Einer knappen Darstellung der Strukturen, Zuständigkeiten undAufgabenbereiche der jeweiligen Behörden und Gerichte schließtsich eine an dem System der laufenden Nummern der Aufbewah-rungsvorschriften sowie (wo es für die praktische Arbeit sinnvollist) der zuständigen Organisationseinheiten orientierte Bewer-tungstabelle an. Die Bewertungsentscheidung und das anzuwen-dende Aussonderungsverfahren werden stichpunktartig wiederge-geben; zudem finden sich hier Angaben zur voraussichtlichenjährlichen Übernahmemenge. Begründungen und Erläuterungenzu einzelnen Bewertungsentscheidungen schließen sich demTabellenteil an, sofern die Bewertungen von den Entscheidungenin den „Empfehlungen“ wesentlich abweichen, konzeptionell einbesonderes Gewicht haben oder eines Kommentars bedürfen.Entsprechendes gilt für die Mengenprognosen, die am Ende jedesEinzelkapitels noch einmal kurz subsumiert werden.Die Ausführungen zu den Bereichen Justizministerium, zueinzelnen landesspezifischen Sondereinrichtungen des Justizvoll-zugs, zu den Aus- und Weiterbildungseinrichtungen sowie zumLandesbeauftragten für den Maßregelvollzug sind ähnlich struk-turiert, wurden aber um ausführlichere Funktions- und Schrift-gutanalysen in der einleitenden Aufgabenbeschreibung sowie inder Kommentierung der Bewertungsentscheidungen ergänzt.Welche inhaltlichen Schwerpunkte der Überlieferungsbildung hatdie Projektgruppe nun für die wichtigsten Bereiche der Gerichteund der Justizverwaltung gesetzt?Für den Bereich „Justizministerium“ orientieren sich die meistenBewertungsentscheidungen an der zentralen Funktion des Minis-teriums als oberster Landesbehörde. Das Justizministerium wirktan Gesetzgebungsverfahren des Landes, des Bundes und der EUmit, konzipiert strategische Richtungsentscheidungen, ist für diePersonal- und Organisationsentwicklung von Gerichten undJustizverwaltung verantwortlich und übernimmt im Rahmenseiner gesetzlichen Befugnisse Steuerungs- und Aufsichtsfunk-tionen. Zudem stellt die oberste Landesbehörde die Funktions-tüchtigkeit von Rechtspflege und Justizverwaltung durch eineausreichende Personal- und Sachmittelausstattung sicher undträgt Sorge für die Ausbildung. Dem entsprechend betrachtet dasLAV generell alle Grundsatzangelegenheiten sowie alle fachlichen

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Vorgänge, die durch das Ministerium in Federführung oder mitmaßgeblicher Beteiligung erarbeitet werden und von konzeptio-neller Bedeutung für die Justiz in NRW sind, als (potentiell)archivwürdig. Ebenfalls potentiell archivwürdig sind alle Unter-lagen zu Großen Anfragen aus dem Landtag, für deren Beantwor-tung das Justizministerium zum federführenden Ressortbestimmt wurde, sowie Einzelangelegenheiten, die entwedererhebliche Auswirkungen auf den Geschäftsbereich haben oderdie einen exemplarischen Charakter aufweisen. Von den imRahmen der Arbeit in bundesweiten Gremien entstandenenUnterlagen werden nur diejenigen Akten archiviert, für die NRWfederführend verantwortlich ist. Bei der genaueren Bewertung derUnterlagen des Ministeriums zeigen sich freilich immer wiederzwei Probleme: Zum einen bilden sich wichtige Entscheidungs-prozesse oft nicht in den Akten ab, da sie auf der Grundlagemündlicher Verhandlungen zu Stande kommen, die nicht doku-mentiert sind. Und zum anderen entsteht bei zahlreichenAufgaben, mit deren Erledigung alle Ebenen befasst sind (Minis-terium, Mittel- und Unterbehörden), zu ein und derselbenAufgabe an verschiedenen Stellen qualitativ unterschiedlichesMaterial. Während die Ober- und Mittelbehörden als Bünde-lungsinstitutionen die dichteste Überlieferung produzieren, beider vor allem politische Überlegungen im Mittelpunkt stehen,trifft man in den Dienststellen auf unterster Ebene die ausführ-lichsten und für den Einzelfall unter Umständen informativstenUnterlagen an. Trotz gleicher Thematik ist daher aufgrund derunterschiedlichen Qualität der Überlieferung mitunter eineDoppelüberlieferung in Kauf zu nehmen – eine Feststellung, diesich in einigen Bewertungsentscheidungen zur Ministerialüberlie-ferung deutlich widerspiegelt.Den mengenmäßig größten Anteil an der Überlieferungsbildungfür den Justizbereich in Nordrhein-Westfalen machen die ordent-lichen Gerichte und die Staatsanwaltschaften aus. In zwei Ober-landesgerichten, 19 Landgerichten, 130 Amtsgerichten, drei Gene-ralstaatsanwaltschaften und 19 Staatsanwaltschaften werden proJahr insgesamt rund 43.000 lfm Schriftgut produziert, von denendas Landesarchiv fast 1.320 lfm pro Jahr übernimmt. Die Schwer-punkte bilden hierbei die Amtsgerichte sowie die Staatsanwalt-schaften. Dies hat zunächst seine Ursache darin, dass die Amtsge-richte die sehr schriftgutintensiven Aufgaben der freiwilligenGerichtsbarkeit wahrnehmen. Als archivwürdig werden ausdiesem Bereich die Partnerschaftsregister, die Vereinsregister unddie Genossenschaftsregister inklusive der dazu gehörigen Aktenangesehen. Hinzu kommen die Musterregister, die Seeschiffsre-gister sowie die Binnenschiffsregister ohne die dazu gehörigenAkten. Die Handelsregister sind archivwürdig, die Handelsregis-terakten werden in Auswahl archiviert. Auch die Grundbücherund die Berggrundbücher sind einschließlich der älteren Schichtder Grundakten komplett archivwürdig. Die jüngere Schicht derGrundakten, die dem LAV perspektivisch immerhin in einemjährlichen Volumen von rund 4.500 lfm pro Jahr angebotenwerden, betrachtet das LAV als nicht archivwürdig. Allerdingssteht hierzu eine endgültige Regelung noch aus, die auch dieBelange der Justizverwaltung und die der betroffenen Bürge-rinnen und Bürger zur dauernden Aufbewahrung dieser Unter-lagen berücksichtigt. Ebenfalls in den Bereich der freiwilligenGerichtsbarkeit fällt die Bearbeitung von Vormundschafts-, Pfleg-schafts-, Beistandschafts- und Betreuungsangelegenheiten, vonNachlassverfahren, von Verfahren zu Landwirtschaftssachensowie bestimmte Beurkundungstätigkeiten (u. a. Todeserklä-rungen). Mit Ausnahme der Todeserklärungen, die komplett

archivwürdig sind, erfolgt für diese Unterlagen in der Regel einenach einem Zeitschnitt differenzierte Komplett- bzw. Auswahlar-chivierung. Ebenfalls nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt(Stichjahr: 1950) übernimmt das Landesarchiv die Urkunden-rollen und Register der Notare.Den zweiten großen Überlieferungsbereich der ordentlichenGerichte sowie der Staatsanwaltschaften machen die Zivil- undStrafprozesse aus. Für den Bereich der Zivilprozesse liegt derÜberlieferungsschwerpunkt auf den Verfahrensakten der Landge-richte. Das Ziel der Überlieferungsbildung besteht hier in derErfassung besonderer Einzelfälle, die Abbildung eines exemplari-schen Querschnitts sowie der Auswahl regional- und zeittypischerFälle. Um alle drei Bereiche adäquat berücksichtigen zu können,einigte sich die Projektgruppe auf ein dreiteiliges Bewertungsver-fahren. Die Archivierung „besonderer“ Einzelfälle wird durchErstellung einer Vorauswahlliste sowie eine Separation der Aktenbei Gericht vorbereitet. Auf diese Einzelfälle wird nachbestimmten Kriterien teils vom Archiv hingewiesen, teils werdensie vom Gericht (mit Hilfe der digitalen Aktenverwaltung nachJUDICA) eigenständig herausgesucht. Auf der Grundlage dieserVorauswahl treffen die zuständigen Abteilungen im LAV danneine endgültige Auswahl. Die Archivierung eines aussagekräftigenQuerschnitts wird durch die vollständige Übernahme der Titel-sammlungen und der entsprechenden Aktenregister dergenannten Landgerichte gewährleistet, für die bereits Überliefe-rungstraditionen bestehen. Die 4. Zivilkammer des LandgerichtsDüsseldorf, zuständig vorrangig für Patentrechtsstreitigkeiten,wird hierbei besonders berücksichtigt, weil sie für dieses Fachunter den deutschen Landgerichten eine Sonderstellungeinnimmt und auch starke internationale Beachtung genießt. DieAbbildung regional- und zeittypischer Fälle erfolgt durch einejährlich rotierende Aktenautopsie in den genannten acht Landge-richten. Ergänzt wird die Überlieferung der Landgerichte durcheine kleinere Übernahmemenge an Akten und Titelsammlungenbei den Amtsgerichten. Auf eine Autopsiebewertung aller Zivil-prozessakten bei allen Amtsgerichten wird allerdings aus arbeits-ökonomischen Gründen verzichtet.Der Schwerpunkt der Überlieferungsbildung bei Strafverfahrenliegt auf den Akten der Staatsanwaltschaften. Das Ziel der Über-lieferungsbildung besteht auch hier in der Dokumentationherausragender Einzelfälle sowie in der Abbildung eines exempla-rischen Querschnitts des „alltäglichen“ Dienstgeschäftes. Daserste Ziel wird durch ein zweistufiges Bewertungsverfahren derEinzelfallakten erreicht. Zunächst wird durch die Justizbediens-teten eine Vorauswahl aus den auszusondernden Prozessjahr-gängen erstellt. Dabei werden Akten berücksichtigt, die folgendeEigenschaften haben:– Verfahren aus den Schwerpunktabteilungen Wirtschaft,

Umwelt, Korruption sowie aus der politischen Abteilung;– Weglegung mehr als 10 Jahre nach Anlegung der Akte;12

– Entscheidung durch den BGH in der Sache;– Lebenslange Freiheitsstrafe;

11 Zum Verlauf des Workshops vgl.: Martina Wiech: Moderne Justizakten alszukünftige Quellen historischer Forschungen. Workshop zur Archivierungvon Unterlagen der Justiz in der Justizakademie Nordrhein-Westfalen, in: DerArchivar 58 (2005), S. 302-303.

12 Ersatzweise (wenn das genannte Kriterium nicht problemlos anwendbar ist):Aufbewahrungsfrist > 15 Jahre (Erwachsene) / > 10 Jahre (Jugendliche).Wird die Vorauswahl automatisch mit Hilfe von MESTA erstellt, wird das Vor-auswahlkriterium „Weglegedatum“ durch das Kriterium „Freiheitsstrafe“ersetzt ( 6 Jahre / Erwachsene, 4 Jahre / Jugendliche).

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– Fälle, über die dem JM berichtet werden musste (Benennungdurch LAV nach Listen des JM);

– Verfahren, über die die Presse informiert wurde (auf Grund-lage der Pressemitteilungen und der Medienberichterstattung);

– mit „Staatsarchiv ja“ gekennzeichnete Fälle.13

Auf der Grundlage dieser Vorauswahl wird die endgültigeAuswahl archivwürdiger Unterlagen durch Autopsie vor Ortdurchgeführt, wobei der Schwerpunkt der Auswahl auf besondersschweren, juristisch bedeutenden oder öffentlichkeitswirksamenFällen liegt. Archiviert werden in der Regel nur die Hauptakten-,Bewährungs-, Vollstreckungs- und Gnadenhefte sowie ggf.einzelne Sonderbände; in Ausnahmefällen können auch Hand-akten oder Berichtshefte übernommen werden. Die Abbildungeines möglichst repräsentativen Querschnitts erfolgt durch dieÜbernahme der Titelsammlungen sowie der dazu gehörigenHauptverfahrensregister der Staatsanwaltschaften Duisburg,Münster und Bielefeld. Ergänzt wird die Überlieferung der Staats-anwaltschaften durch alle Strafverfahrensakten der Generalstaats-anwaltschaften, die wegen der ihnen zu Grunde liegenden gravie-renden Tatvorwürfe in der Regel komplett archivwürdig sind.Die Überlieferungsbildung für den Bereich „Justizvollzug“konzentriert sich zum einen auf die strategisch relevanten Unter-lagen des Justizministeriums, zum anderen auf die operativentstandenen Akten der zur Zeit 36 Justizvollzugsanstalten sowieder sechs Jugendarresteinrichtungen. Von den zu jedem Insassenangelegten Gefangenenpersonalakten werden nur besondere Fällenach Kennzeichnung durch die Justizvollzugsanstalten gesichtet.Eine Autopsie der nicht gekennzeichneten Akten findet ausarbeitsökonomischen Erwägungen nicht statt. Um neben derDokumentation der so erfassten „besonderen“ Fälle auch einenQuerschnitt der Gefangenenpersonalakten zu überliefern, werdenalle 5 Jahre (in den Aussonderungsjahren auf 0 und 5) aus allenJVAs Akten von Insassen übernommen, deren Nachname miteinem „B“ beginnt. Hinzu kommt eine Komplettübernahme derGefangenenbücher und -karteien, die in sehr dichter Form denEingriff des Staates in die Freiheit des Bürgers dokumentierenund die für vielfältige Fragestellungen offen sind, die von derJustizstatistik nicht abgedeckt werden (u. a. die Verteilungverschiedener Nationalitäten auf die Justizvollzugsanstalten).Obwohl es sich hierbei um konservatorisch mitunter problemati-sche Unterlagen handelt, die zudem in Teilen eine Mehrfachüber-lieferung darstellen, sind sie vollständig archivwürdig.14

Bei den Gerichten der Fachgerichtsbarkeit konzentriert sich dieÜberlieferungsbildung des LAV darauf, juristisch, regional,ökonomisch oder allgemein zeitgeschichtlich bedeutsame Einzel-verfahren zu erfassen und zu archivieren. In allen vier Bereichender Fachgerichtsbarkeit sind hierzu für das Gros der Verfahrens-akten mehrstufige Aussonderungsverfahren vorgesehen. Dabeiwird zunächst nach festen Kriterien (einzelne Sachgebiete, Längeder Aufbewahrungsfrist, Durchführung eines Berufungs- bzw.Revisionsverfahrens usw.) und (wo möglich) mit Hilfe der in derJustiz verwendeten Registratursysteme eine Vorauswahl getroffen,die dann vom zuständigen Archivar oder der zuständigen Archi-varin in Autopsie zu bewerten ist. Die so entstehende Auswahlkann bei Bedarf durch Einzelfälle ergänzt werden, die vom Archivauf anderem Wege identifiziert werden können (z. B. mit Hilfejuristischer Entscheidungsdatenbanken). Die Auswahl der heraus-ragenden Einzelfälle wird ergänzt durch die zyklische Über-nahme von Titelsammlungen bei ausgewählten Gerichten. Aufdiese Weise wird zumindest exemplarisch auch die Dokumenta-tion des „Normalen“ in der Arbeit der Fachgerichte sichergestellt.

ARCHIVIERUNGSMODELLE RELOADED –EIN RÜCK- UND AUSBLICK VIERVERWALTUNGSZWEIGE SPÄTER

Mit der Fertigstellung und Veröffentlichung der beiden jüngstenArchivierungsmodelle „Justiz“ und „Personalverwaltung“,15 dieden Kanon der vorliegenden Modelle auf vier Verwaltungsbe-reiche erweitern, hat die Projektgruppenarbeit im LAV einenPunkt erreicht, der eine erste Zwischenbilanz ermöglicht.Insgesamt, dies ist die erste und wahrscheinlich wichtigste Fest-stellung, hat sich das Fachkonzept „Archivierungsmodelle“ nichtnur in der fachlichen Debatte, sondern auch in der praktischenArbeit bewährt. In einem angemessenen Zeitraum ist es dem LAVNRW gelungen, für vier der produktionsstärksten Gruppen vonRegistraturbildnern in der Landesverwaltung fachlich gut begrün-dete, zwischen den Archivabteilungen abgestimmte Bewertungs-kataloge aufzustellen und Aussonderungsverfahren festzulegen,die die praktische Arbeit vor Ort tatsächlich erleichtern. Zudemkonnte mit Hilfe der in den Modellen verankerten Mengenprog-nosen der Nachweis erbracht werden, dass das LAV die politi-schen Vorgaben zur Begrenzung der jährlichen Übernahme-mengen einhält und somit einen konkreten Beitrag zur Kostenre-duzierung im Archivwesen leistet. Doch auch im Hinblick auf dieinterne Entwicklung des Landesarchivs haben die Archivierungs-modelle und die Arbeit an ihnen positive Auswirkungen gezeigt:Kommunikationsstrukturen konnten durch die gemeinsamenBemühungen in einem gemeinsamen Projekt verbessert, Redun-danzen in den Arbeitsprozessen abgebaut werden. Daher ist esnicht verwunderlich, dass das Konzept „Archivierungsmodelle“nach anfänglichen Zweifeln an der einen oder anderen Stelle auchinnerhalb des LAV auf eine breite Akzeptanz bauen kann.Eine zweite und neben dem Hinweis auf die Erfolge der Archivie-rungsmodelle ebenfalls wichtige Feststellung im Resümee nachvier Verwaltungszweigen lautet: Es gibt für das Fachkonzept„Archivierungsmodelle“ einen systematischen und fortgesetztenWeiterentwicklungsbedarf. Die Gründe hierfür erwachsen zumeinen aus den sich wandelnden Rahmenbedingungen archivischerArbeit in den letzten fünf Jahren. So hat sich in dieser Zeit nichtnur die personelle Ausstattung des LAV in Relation zu den ihmzugewiesenen Aufgaben kontinuierlich verschlechtert – auch dieWeiterentwicklung der Verwaltungsstrukturen ist in dieser Zeitdynamisch vorangeschritten. Mehr und schneller denn je wurdenim Laufe der aktuellen Legislaturperiode Behörden umstruktu-riert, Aufgaben, Aufgabenbereiche und ganze Verwaltungszweigehin- und hergeschoben. Hinzu kommt die zunehmend an Fahrtgewinnende digitale Unterstützung des Verwaltungshandelns, dieinzwischen auch in NRW alle Ressorts erfasst hat. Für die Arbeitan den Archivierungsmodellen erwachsen aus diesen externenVeränderungen erhöhte Anforderungen an die Flexibilität derModellstrukturen, an die Verfahrensökonomie in der Bewertungsowie die Verzahnung der analogen und der digitalen Überliefe-rungsbildung. Mit dem 2009 begonnenen Aufbau eines digitalenArchivs und der parallel dazu geschaffenen personellen Infra-struktur (Kompetenzteam „Digitales Archiv“, Projektgruppe„Behördenberatung“)16 hat das LAV inzwischen die Rahmenbe-dingungen geschaffen, die eine solche systematische Verzahnungerst möglich werden lässt. Ob und wie es innerhalb dieserRahmenbedingungen gelingt, analoge und digitale Überliefe-rungsbildung tatsächlich miteinander in Einklang zu bringen,

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werden die Entwicklungen der kommenden Monate und Jahrezeigen.Der Weiterentwicklungsbedarf des Fachkonzepts „Archivierungs-modelle“ erwächst jedoch nicht allein aus externen Verände-rungen, sondern auch aus den ganz praktischen Erfahrungen, dieim Zuge der Projektarbeit für die ersten Modelle gesammeltwerden konnten. Von den zahlreichen größeren und kleinerenLehren, die sich nach rund fünf Jahren ziehen lassen, seien andieser Stelle drei Korrekturbereiche benannt. Zum einen handeltes sich dabei um die Frage der Zeitökonomie innerhalb desProjektmanagements. Obwohl die bisher erstellten Archivierungs-modelle bereits in der Planungsphase als besonders arbeitsauf-wendig erkannt worden waren und manche Verzögerung imProjektablauf äußeren Einflüssen geschuldet war, bleibt dochselbstkritisch anzumerken, dass das LAV sich eine höhereGeschwindigkeit bei der Modellerstellung gewünscht hätte unddiese auch einkalkuliert hatte. Es bleibt daher zu prüfen, ob esarbeitsorganisatorische Möglichkeiten gibt, die Projektarbeitohne Qualitätsverluste zeitlich zu straffen, sie gegen die negativenAuswirkungen personeller Fluktuation abzusichern und so dieFrequenz in der Modellerstellung zu erhöhen. Ein zweiter Kritik-punkt, der sich aus den Erfahrungen der letzten vier Modellerstel-lungen ergibt, betrifft die Binnenökonomie der Archivierungsmo-delle. Zwar wurde die Frage, welche Bewertungsaufwände mitdem aktuell vorhandenen Personal zu leisten sind, in allenProjektphasen implizit immer wieder aufgeworfen, doch fehlte esbislang an einer systematischen Verortung dieser Frage. In Zeiteneiner immer knapper werdenden Personaldecke hat dies aneinzelnen Stellen im LAV dazu geführt, dass fachlich ambitio-nierte Bewertungsentscheidungen und Bewertungsverfahren sichals praktisch kaum noch umsetzbar erweisen, sobald Stellenwegfallen oder nach einer Pensionierung nicht neu besetzt werdenkönnen. Um solche Szenarien in Zukunft zu vermeiden, ist einekonkrete Verankerung auch archivökonomischer Aspekte in einerüberarbeiteten Version des Fachkonzepts notwendig.Ein dritter Kritikpunkt betrifft die Zusammenarbeit des LAV mitGeschichtswissenschaft, Verwaltung und anderen Archivsparten.Die bislang beschrittenen Wege der Kooperation waren arbeits-aufwendig und wurden insbesondere bei den beteiligten nicht-staatlichen Archiven nicht immer als effektiv und zielführendangesehen. Aus Sicht des LAV bleibt daher für die Zukunft zuklären, welche konkreten Ziele der Zusammenarbeit bei derErstellung von Archivierungsmodellen fachlich wünschenswertund praktisch erreichbar sind, um dann in einem zweiten Schrittgeeignete Umsetzungsmöglichkeiten zu finden.Vor diesem Hintergrund markieren die Fertigstellung der Archi-vierungsmodelle „Justiz“ und „Personalverwaltung“ nicht nurEndpunkte größerer fachlicher Arbeitsprozesse, sondern auch denBeginn einer Phase der konzeptionellen Evaluation und Revision.Vieles von dem, was vor fünf Jahren als Fachkonzept beschlossenwurde, hat sich bewährt. Anderes bedarf der Neuinterpretationoder der Verbesserung, und über manches sind die Entwick-lungen der letzten Jahre inzwischen hinweggegangen. Das LAVwird daher in absehbarer Zeit eine Überarbeitung des Fachkon-zeptes „Archivierungsmodelle“ anstoßen und auf der Grundlagedieser Überarbeitung seine Arbeit an den Archivierungsmodellenfortsetzen.Die vollständige Dokumentation des Archivierungsmodells Justizsowie weitere Dokumente zur Überlieferungsbildung im LAV

finden Sie im Internet unter „www.archive.nrw.de/Landesar-chivNRW/Archivfachliches/Ueberlieferungsbildung/index.html“.

Christoph Schmidt, Münster

13 Mittelfristig ist es geplant, die manuelle Vorauswahl durch eine automatisierteVorauswahl mit Hilfe der in NRW bei den Staatsanwaltschaften flächende-ckend eingesetzten Fachanwendung „MESTA“ zu ersetzen.

14 Eine Archivierung der elektronischen Gefangenenkartei (BASIS) für denErwachsenenstrafvollzug ist derzeit auf Grund der Löschungsvorschrift in§184 StVollzG nicht möglich. Da es seit der sukzessiv 1995 bis 1999 durchge-führten Einführung von BASIS in den Justizvollzugsanstalten nur in einigenwenigen Häusern eine zusätzliche Sicherheits-Überlieferung in Form vonPapierausdrucken aus der BASIS-Datenbank gibt, die als Fortsetzung der älte-ren Gattungen Buch und Kartei angesehen und archiviert werden könnte,droht wegen der bisher im Gesetz bindend vorgeschriebenen Daten-Löschungsauflagen ein zwischenzeitlicher Abbruch dieser Überlieferung; par-tiell ist er bereits eingetreten. Allerdings ist für die geplante landesrechtlichfundierte Neuregelung des Erwachsenenstrafvollzugsrechts mit einer archi-vierungsfreundlichen Regelung zur Anbietungspflicht zu rechnen.

15 Ein Bericht über das Archivierungsmodell „Personalverwaltung“ erscheint imnächsten Heft des „Archivar“.

16 Über die Strategien der digitalen Archivierung im LAV berichtet Ralf-MariaGuntermann im nächsten Heft des „Archivar“.

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EIN JAHRPERSONENSTANDSGESETZ (PStG)– ERFAHRUNGEN AUS NRW

Am 1. Januar 2009 trat das Personenstandsreformgesetz vom19. Februar 2007 mit dem novellierten Personenstandsgesetz voll-ständig in Kraft. Seitdem werden die standesamtlichen Personen-standsregister, wie es sie seit 1874/1876 gibt, erstmals nach Ablaufeiner bestimmten Frist nicht mehr weiter geführt und somit archi-vierbar (§ 5 Abs. 5 PStG).1 Seit dem 1. Januar 2009 sind die Stan-desämter und Standesamtsaufsichtsbehörden verpflichtet, diePersonenstandsregister den zuständigen Archiven anzubieten (§ 7Abs. 3 PStG). Gleichzeitig können nun die Register nach Ablaufdieser Fortführungsfristen nach Archivrecht ein- und durchge-sehen werden (§ 61 PStG). Außerdem werden die Personenstands-register frühestens ab dem 1. Januar 2009 und spätestens ab dem1. Januar 2014 elektronisch geführt (§ 3 Abs. 2, § 75 PStG).Dies sind im Wesentlichen die für das Archivwesen relevantenPassagen dieses knapp 80 Paragraphen umfassenden Bundesge-setzes, die allerdings erhebliche Konsequenzen für die Archive inKommunen und Ländern haben. Dennoch oder gerade deshalbwurde diese Novelle sowohl von Archivarinnen und Archivarenals auch von der Archivkundschaft lange gewünscht und mitvorbereitet. Das neue Gesetz ist durchweg „schlank“ gehalten –ein Fortschritt gegenüber der nun überholten Fassung. Ein Grunddafür ist, dass viele Regelungen in der Verordnung zur Ausfüh-rung des Personenstandsgesetzes (Personenstandsverordnung –PStV) des Bundes2 , in der Allgemeinen Verwaltungsvorschriftzum Personenstandsgesetz (PStG-VwV) des Bundes sowie inLandesverordnungen und -erlassen getroffen werden.3

Die Ermächtigung der Länder, bestimmte Ausführungsdetails desPStG in eigener Regie zu regeln, führt naturgemäß zu unter-schiedlichen Umsetzungen des Gesetzes. Konkret betrifft dieserstens die Festlegung, welche Archive für Erst- und welche fürZweitbücher zuständig sind. In Nordrhein-Westfalen regelt dieVerordnung zur Durchführung des Personenstandsgesetzes(PStVO – NRW), dass die Erstbücher den zuständigen kommu-nalen Archiven und die Zweitbücher den beiden Personenstands-archiven im Landesarchiv NRW anzubieten sind (§ 4 PStVO –NRW).4 Zusätzlich wird in einem Erlass des Innenministeriumsdes Landes Nordrhein-Westfalen vom 11. März 2009 geklärt, wiedie Anbietung und Archivierung der Zweitbücher beim Landesar-chiv NRW zu erfolgen hat.5 Beispielsweise wird darin die Bereit-stellung von Anbietungslisten vorgeschrieben. Dieser Erlass giltallerdings nicht für die Anbietung der Erstbücher an die Kommu-nalarchive, womit die Archivierungspraxis auch innerhalb einesLandes differiert. Zweitens mussten die Archive die archivrecht-liche Nutzung nach Ablauf der in § 5 Abs. 5 PStG festgelegtenFortführungsfristen (für Geburtsregister 110 Jahre, für Heiratsre-gister 80 und für Sterberegister 30 Jahre) normativ und praktischumsetzen. Die archivrechtlichen Auslegungen führten zu unter-

schiedlichen Regelungen nicht nur zwischen den Bundesländern,sondern teilweise auch innerhalb der einzelnen Bundesländer. Fürdas Landesarchiv NRW wurde beispielsweise folgende Festlegungzwischen Archiv und Fachaufsicht getroffen:1) Personenstandsregister sind personenbezogene Unterlagen

gemäß § 7 Abs. 2 ArchivG NW.2) Die Grundlage zur Berechnung der Sperrfristen bildet der

Abschlussvermerk des betreffenden Jahresbandes. Die Datenevtl. später hinzugefügter Randvermerke und Hinweismittei-lungen werden zur Berechnung der personenbezogenen Sperr-fristen nicht berücksichtigt. Daraus folgt, dass die personenbe-zogenen Sperrfristen nach § 7 Abs. 2 ArchivG in allen mögli-chen Fällen bereits mit Ablauf der Fortführungsfristen derRegister abgelaufen sind. (…)

3) Bei der darüber hinaus notwendigen Prüfung, ob schutzwür-dige Belange einer Person durch eine Benutzung beeinträchtigtwürden (§ 7 Abs. 5 b) ArchivG NW), können und müssen„irregulär“ vorgenommene Eintragungen (z. B. von Adoptions-hinweisen) nicht systematisch berücksichtigt werden. Dasvereinzelte Vorkommen solcher Eintragungen rechtfertigt keinegenerelle Sperrung oder Einzelblattkontrolle ganzer Register-bände in der Benutzung.

4) Zur Einhaltung von § 7 Abs. 5 b) ArchivG NW beschränktsich das LAV in der Regel darauf, alle Benutzer dazu anzu-halten, eine Verpflichtungserklärung zur Sicherung schutzwür-diger Belange von Personen zu unterzeichnen. Diese Erklärungdient auch dazu, die Benutzer für die datenschutzrechtlichenAspekte einer Benutzung zu sensibilisieren. Darüber hinausspricht nichts dagegen, archivierte Registerbände zurKomplettdurchsicht den Benutzern zur Verfügung zu stellen.

Dabei ist zu beachten, dass diese Vereinbarung ausschließlich fürdas Landesarchiv getroffen wurde. Ein Jahr Personenstandsgesetzbedeutet also auch ein Jahr differenzierte Regelungen zur Umset-zung des Personenstandsgesetzes. Im Folgenden möchte ich diePraxis der Anbietung, Übernahme, Archivierung, Bereitstellungund Benutzung der Personenstandsregister aus Sicht des Person-standsarchiv Westfalen-Lippe (Dezernat Ostwestfalen Lippe 4) imLandesarchiv NRW schildern und dabei auch Fragen undHerausforderungen ansprechen, die sich nach der systematischenArchivierung der analogen Personenstandsregister ergeben.6

BEHÖRDENBERATUNG UND ÜBERNAHMEAls das neue Personenstandsgesetz im Jahr 2007 verabschiedetwurde, war sofort klar, dass auf das Personenstandsarchiv West-falen-Lippe eine große Menge von Personenstandsregistern

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zukommen wird. Um den anstehenden Arbeitsaufwand besserabschätzen zu können, wurden zunächst Hochrechnungen ange-stellt, um die Anzahl der insbesondere in 2009 in Detmold zuarchivierenden Sterbezweitbücher einschätzen zu können. DieHochrechnung ergab, dass das Personenstandsarchiv in Detmoldvoraussichtlich ca. 29.000 Sterbezweitbücher im Jahr 2009 und ab2010 jährlich etwa 720 Register übernehmen wird. Die Archivie-rung insbesondere der Register in 2009, die ca. 1 km Schriftgutumfängt, bedurfte einer gründlichen logistischen Vorbereitung.Eine der wichtigsten Vorarbeiten war daher die Abstimmung desÜbernahme-Verfahrens mit dem Innenministerium, derenErgebnis in Form eines Erlasses den abgebenden Behörden vorge-schrieben wurde. Unter anderem wurden die Standesamtsauf-sichtsbehörden in den Kreisen und kreisfreien Städtenverpflichtet, die vom Landesarchiv vorgegebenen Anbietungs-listen vor Anlieferung auszufüllen, die Anlieferung terminlichabzustimmen und die Transportkosten zu tragen. Auf dieser Basisfunktionierte die Anbietung und Anlieferung bisher beinahereibungslos, abgesehen von einzelnen „Reklamationen“ beimAusfüllen der Anbietungslisten. Das Personenstandsarchiv inDetmold hat im ersten Quartal 2009 3.275, im zweiten Quartal2.009 und im dritten Quartal 12.057 Register aus 17 Kreisen undkreisfreien Städten übernommen und erschlossen. ZahlreicheSterbezweitbücher werden noch im vierten Quartal, etliche auchim ersten Quartal 2010 archiviert werden, so dass wahrscheinlichin der ersten Hälfte des Jahres 2010 die vermuteten 29.000 Registerübernommen werden können. Erst dann wird sich herausstellen,inwieweit die Hochrechnungen wirklich zutreffen.

Die Basis für den Erfolg einer solchen Übernahmeaktion ist einegute Kooperation mit den Standesamtsaufsichtsbehörden in denKreisen und kreisfreien Städten. Allerdings schlägt sich auch hierdie teilweise problematische Finanzsituation vieler Kommunennieder; in Einzelfällen gab es Auseinandersetzungen um die Über-nahme der Transportkosten.

Die Einführung des neuen Personenstandsgesetzes bedeutet fürdas Personenstandsarchiv Westfalen-Lippe bereits seit 2008 einenbisher nicht gekannten Aufwand für Behördenberatungen. Dennes wandten und wenden sich nicht nur die 27 Standesamtsauf-sichtsbehörden an das Archiv, die nun die Zweitbücher anbietenmüssen, sondern auch zahlreiche Standesämter. Die Behördenbe-ratung ist im Jahr 2009 gegenüber 2008 um fast 100 Prozentgestiegen. Hinzu kommen der Beratungsbedarf im Kollegenkreisund die Beteiligung am Fortbildungsangebot, etwa des LWL-Archivamtes (s. www.lwl.org/waa-download/pdf/Personenstands-reform.pdf) oder der Archivschule Marburg.

BEREITSTELLUNG UND BENUTZUNGMit der Übernahme der Register, der elektronischen undanalogen Anbietungslisten beginnt gleichzeitig deren Bereitstel-lung, und zwar mit der Zuordnung der Register zu einem Bestandund schließlich der Vergabe der Signaturen in diesen Listen. DieseErschließungsarbeit wird von den vorhandenen Kräften im Perso-nenstandsarchiv geleistet, wobei andere Arbeiten wie insbeson-dere die Erfassung der Hinweise und Randvermerke/Folgebeur-kundung zwischenzeitlich zurückstehen müssen, so dass hier –ohne zusätzliches Personal – Rückstände aufgebaut werden.Zeitnah werden die in Excellisten geführten Zugangslisten in dieErschließungssoftware des Landesarchivs NRW V.E.R.A. konver-tiert. Für die Bereitstellung wurden drei neue Bestände gebildet,

die der im Personenstandsarchiv in Detmold üblichen Strukturie-rung nach Regierungsbezirken folgen. So gibt es für die Regie-rungsbezirke Arnsberg, Detmold und Münster je einen Bestandfür die Zweitbücher ab dem 1. Juli 1938. Diesen Beständen wirdfür jedes Standesamt, in dem die Bücher erstellt wurden, einFindbuch zugeordnet. Die Signaturen beziehen sich aber auf denBestand, also z. B. für ein Sterbezweitbuch aus Münster: P 19 (fürRegierungsbezirk Münster) Nr. 55 (laufende Nummern als Signa-turen). Sobald die Signaturen eines Zugangs vergeben und dieListen erneut ausgedruckt sind, werden die Zugangslisten alsvorläufige Findmittel im Lesesaal bereitgestellt. Die V.E.R.A.-Find-bücher sollen in naher Zukunft auch online verfügbar sein, auchwenn sie erst dann abgeschlossen sein werden, wenn alleanalogen Sterbe-, Geburts- und Heiratszweitbücher für die Zeitvon 1938 bis 2013 übernommen und erschlossen wurden.Die Bereitstellung der Personenstandsregister nach Ablauf derFortführungsfrist und nach Archivrecht, wie es für das Landesar-chiv NRW festgelegt wurde, wurde zwischen den beiden Perso-nenstandsarchiven in Brühl und Detmold abgestimmt.In Detmold erfolgt sie entsprechend § 4 Abs. 1 der Archivbenut-zungsordnung Nordrhein-Westfalen (ArchivBO NW) vom 27.September 1990 in erster Linie im Lesesaal und erst in zweiterLinie schriftlich. Im Personenstandsarchiv Rheinland in Brühlwird von dieser Linie abgewichen, da sich die Personenstandsre-gister in einem anderen Gebäude als der Lesesaal befinden, sodass die Register nicht im Lesesaal bereitgestellt werden können.Deshalb kann zurzeit nur aus den Registern schriftlich Auskunftgegeben werden.In Detmold rechnete man ab dem 2. Januar 2009 mit einemAnsturm von schriftlichen Anfragen und von familienhistorischmotivierten Benutzerinnen und Benutzern im Lesesaal. Ein JahrErfahrung zeigt, dass die schriftlichen und telefonischenAnfragen Dritter leicht gestiegen (ca. um acht Prozent) und dahergut zu bewältigen sind. Allerdings verschob sich der Inhalt derAnfragen von den älteren Kirchenbuchduplikaten und Zivil-standsregister auf die Personenstandsregister ab 1874. Völliganders ist die Entwicklung im Lesesaal. Dort stieg die Anzahl derausgehobenen Archivalien auf etwa das Doppelte an.Dies ist selbstverständlich auf das starke Interesse an Familienfor-schung und personenbezogenen Daten zurückzuführen. Aller-dings ist die hohe Zahl der ausgehobenen Archivalien auch damit

1 Gesetz zur Reform des Personenstandsrechts (Personenstandsrechtsreformge-setz – PStRG) vom 19. Februar 2007 (BGBl. I S. 122) (www.bgblpor-tal.de/BGBL/bgbl1f/bgbl107s0122.pdf) [zuletzt abgerufen am 18. 12. 2009].

2 Personenstandsverordnung vom 22. November 2008 (BGBl. I S. 2263)(www.gesetze-im-internet.de/pstv/BJNR226300008.html) [zuletzt abgerufenam 18. 12. 2009].

3 S. www.standesbeamte-wl.de/M/M9103.pdf [zuletzt abgerufen am 18. 12.2009].

4 Verordnung zur Durchführung des Personenstandsgesetzes (Personenstands-verordnung NRW – PStVO NRW) vom 16. Dezember 2008 (GV.NW 2008, S.859) (www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/XMMGVB0838.pdf) [zuletzt abgerufen am 18. 12. 2009].

5 Unveröffentlichter Erlass zur Archivierung der nicht mehr fortzuführendenZweitbücher vom 11. März 2009.

6 S. ausführlicher dazu Bettina Joergens, Das Landesarchiv NRW im Epizen-trum der Novelle? Erschließung, Bereitstellung und Benutzung der Personen-standsregister im Landesarchiv NRW, in: Archivpflege in Westfalen-Lippe(2009), H. 71, S. 32-37 und dies., Open Access zum Personenstandsarchiv:Bereitstellung, Service und Kooperationen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, in: Archiv-Nachrichten Niedersachsen (2009), Heft 13 [im Druck].

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zu erklären, dass vielen Kundinnen und Kunden kein exaktesDatum zu einer Geburt, einer Heirat oder einem Sterbefallvorliegt und sie Register mehrerer Jahrgänge durchsehen müssen,um die gewünschte Information zu erhalten. Auf diese Weisewerden relativ viele Archivalien für ein einfaches, schnelles Durch-blättern bewegt, was nicht nur den Büchern schadet, sondernauch die Magazinmitarbeiter belastet.Aus diesem Grund ist es dringend geboten, soweit möglich,Namensverzeichnisse bereitzustellen. Die Standesbeamten warenund sind verpflichtet, zu den Personenstandsregistern alphabe-tisch und dann chronologisch geführte Namensverzeichnisseanzulegen; seit 1928 müssen auch zu den Zweitbüchern Namens-verzeichnisse geschrieben werden. Faktisch existieren jedoch nichtzu jedem Register, insbesondere zu den Zweitbüchern bzw.Nebenregistern Namensverzeichnisse, so dass beispielsweise beiden Namenverzeichnissen zu den Beständen des DetmolderPersonenstandsarchivs erhebliche Lücken nachgewiesen werden.Aus diesem Grund werden seit 2004 in einem groß angelegtenProjekt die Standesämter gebeten, die hier fehlenden Namensver-zeichnisse entweder in Kopie oder leihweise an das Personen-standsarchiv abzugeben, damit sie hier eingescannt werdenkönnen. Inzwischen wurden gut 100.000 Scans angefertigt und alsPDF-Dateien gespeichert. Dies entspricht einer Zahl von ca. 5.500Namensverzeichnissen. Trotz dieser statistischen Angaben ist dieMenge der gescannten Verzeichnisse kaum mit der Anzahl nochzu leistender Scans in Verhältnis zu setzen, da die Anzahl derNamensverzeichnisse nicht analog zu der Menge der Registerberechnet werden kann. Denn die Namensverzeichnisse werdenin sehr unterschiedlicher Form geführt: teilweise als eigener Band,teilweise als ein in das Register eingelegtes Heft oder eingelegterBogen, teilweise für einen Jahrgang, manchmal für mehrere Jahr-gänge, einige beziehen sich nur auf einen Registertyp, etliche abergleichermaßen auf Geburten, Heiraten und Sterbefälle. Die Scan-leistung bezieht sich hauptsächlich auf die Verzeichnisse, die sichnoch nicht hier im Archiv befanden. Ab dem Jahr 2010 werdendiejenigen Namensverzeichnisse digital im Lesesaal bereitgestellt,deren Fortführungsfrist abgelaufen ist, so dass eine effizientereRecherche ermöglicht und die Anzahl der auszuhebenden Archi-valien reduziert wird.Das Projekt „Namensverzeichnisse“ muss allerdings weiter entwi-ckelt werden, um insbesondere die noch bestehenden digitalenLücken zu schließen. Dabei sind die Namensverzeichnisse, derenFortführungsfristen abgelaufen sind, prioritär zu behandeln. DieErgänzung kann auf zwei Wegen erfolgen: Zum einen sollversucht werden, die in den Standesämtern elektronisch in denProgrammen ELVIS und AUTISTA angelegten Namensverzeich-nisse zu übernehmen. Zum anderen müssten die analog vorlie-genden Namensverzeichnisse ergänzend eingescannt werden, umsie ebenso im digitalen Lesesaal zu präsentieren. Allerdings führtdies zu der grundsätzlichen, auch bundesweit zu entscheidendenFrage der Digitalisierung und/oder Verfilmung der Personen-standsregister zu deren Schutz.

ELEKTRONISCHE REGISTERWährend die Archive (wenigstens teilweise) zu einer Routine beider Übernahme und Archivierung analoger Personenstandsre-gister kommen, steckt die Einführung der elektronischen Regis-terführung und die Archivierung der elektronischen Registernoch in der konzeptionellen Phase. Ein wesentlicher Grund für

die Novellierung des Personenstandsgesetzes ist das Ziel, künftig,spätestens ab 1. Januar 2014, die Personenstandsdokumentationelektronisch zu führen (§ 3 Abs. 2, § 75 PStG). Neben diesergesetzlichen Vorgabe sind für die Einführung der elektronischenRegister die Personenstandsverordnung des Bundes (PStVO) unddie Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Personenstandsge-setz des Bundes (PStG – VwV) relevant, wobei letztere immernoch nicht verabschiedet wurde.Das Vorhaben „Personenstandswesen“ ist als eines der priori-sierten Fachprojekte des Aktionsplans „Deutschland-Online“komplex und steht im größeren Kontext des „E-Government“. Esgliedert sich neben der Formulierung der untergesetzlichenVorschriften in zwei Teilprojekte:1) Die inzwischen abgeschlossene Machbarkeitsstudie (Mach-

ZentPers), in der – sehr verkürzt wiedergegeben – die Einfüh-rung einer zentralen elektronischen Führung der Personen-standsregister in Bayern geprüft wurde, und zwar mit demErgebnis, dass eine zentrale Registerführung mit reinemClient-Zugriff am wirtschaftlichsten ist und die Anforde-rungen am besten erfüllt (www.stmi.bayern.de/buerger/staat/personenstandsrecht/detail/1 6839/index.php).

2) In dem Teilprojekt „XPersonenstand“ wird ein herstellerunab-hängiges, offenes und interoperables Datenaustauschformatauf XML-Basis definiert. Die Federführung liegt bei der StadtDortmund. Die Spezifikation „XPersonenstand“ soll lautveröffentlichter Planung im April 2010 mit dem Modul 5„Kommunikation Standesamt – Andere“ abgeschlossenwerden. „Andere“ sind nicht zuletzt Archive, deren Anforde-rungen – leider – erst zum Ende des Projektes einfließenwerden. Ansprechpartner auf der archivischen Seite ist der IT-Unterausschuss der Bundeskonferenz der Kommunalarchive,der schon seit längerem mit den Vorbereitungen zur Einfüh-rung der elektronischen Personenstandsregister befasst ist undauch an der Formulierung der entsprechenden Passagen in derPersonenstandsverordnung des Bundes beteiligt war (www.xrepository.deutschland-online.de/xrepository).

Mit der auf gesetzlichen und untergesetzlichen Vorschriften basie-renden Entwicklung einer offenen, externen Schnittstelle werdenwesentliche archivische Anforderungen erfüllt. Ob dies bei derSpezifikation ebenso gelingt, wird von der Kommunikationzwischen dem BKK-IT-Unterausschuss und der Projektgruppe„XPersonenstand“ abhängen.Im Jahr 2009 wurden langjährige Planungen zur Novellierung desPersonenstandsrechts und damit zur Archivierung der Personen-standsregister erstmals umgesetzt. Dies bedeutet(e) für alle Betei-ligten ein Umdenken und Fortbilden, denn für Standesbeam-tinnen und -beamte kommt die Abgabe „ihrer“ Register einemEpochenwechsel gleich, und für viele Archivarinnen und Archi-vare waren Personenstandsregister, Namensverzeichnisse undSammelakten zunächst völlig fremdes Schriftgut. Inzwischenwerden auch außerhalb von Nordrhein-Westfalen Personen-standsarchive geplant; und es konnten erste Erfahrungen bei derÜbernahme der Register sowie der Bereitstellung dieses neuenSchriftguts bei starker Nachfrage gesammelt werden. Künftigwird es darum gehen, analoge Register zu digitalisieren und –ebenso wie elektronische und digitalisierte Register und Namens-verzeichnisse – für die Forschung zur Verfügung zu stellen, nichtzuletzt, um auch die historische Wissenschaft stärker für diesesSchriftgut zu interessieren.

Bettina Joergens, Detmold

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NEUAUFLAGE DERBESTÄNDEÜBERISCHT IN DERABTEILUNG WESTFALEN DESLANDESARCHIVS NRW

Selbstverständlich ist es nicht, dass Archive ihre Beständeüber-sichten regelmäßig überarbeiten und veröffentlichen. In derheutigen Abteilung Westfalen des Landesarchivs NRW, demfrüheren Staatsarchiv Münster, hat die kontinuierliche Arbeit andiesem Überblick über die Bestände des Hauses allerdings Tradi-tion. Bereits 1954 erschien eine erste Beständeübersicht aus Anlassdes „Tages der Westfälischen Geschichte“, der damals in Münsterstattfand und der vom Verein für Geschichte und AltertumskundeWestfalens e. V. jährlich veranstaltet wird. Die Beständeübersichtwurde damals maschinenschriftlich, auf 21 Seiten und in geringerAuflagenhöhe hergestellt und zählte nur die alten Bestände vor1816, die Gutsarchive, Nachlässe und Sammelbestände auf, ohneaber die Behörden des 19. und 20. Jahrhunderts zu berücksich-tigen. Ihr folgte 1962 eine Übersicht, die diesem Mangel abhalfund die Liste der Bestände darüber hinaus mit Umfangsangaben(in Paketen) und Findbuchsignaturen versah. Der damaligeDirektor des Staatsarchivs Münster, Joseph Prinz, bezeichnete siein seinem Vorwort als „Notbehelf“. Dieser Notbehelf leistete inder Folge aber so gute Dienste, dass 1971, 1979, 1984, 1990, 2004und zuletzt 2009 Neuauflagen im Druck erschienen, denengemeinsam ist, dass sie immer wieder schnell vergriffen waren.Insgesamt sind also seit 1954 acht (!) Auflagen veröffentlichtworden. So ist es etwas irreführend, wenn 2009 die 5. Auflageerschien – dafür kamen 1971 und 1984 jeweils zweite Auflagenheraus, und die dazwischen liegende Auflage von 1979 erhielt garkeine Zählung, sondern wurde nur als „erweiterte Neubearbei-tung“ bezeichnet. Auch die allererste Beständeübersicht von 1954blieb bei der Nummerierung der Auflagen unberücksichtigt.Seit der „erweiterten Neubearbeitung“ von 1979 wurde dieeinfache Auflistung der Bestände durch immer präzisere Beschrei-bungen mit Angaben zur Laufzeit, zum Umfang, zur Geschichtedes Registraturbildners, zum Inhalt des Bestandes, zum Erschlie-ßungszustand, zur Ergänzungsüberlieferung im Hause oder inanderen Archiven und zu einzelnen Literaturangaben ausge-weitet. Die Bezeichnung „Kurzübersicht“ blieb jedoch bis heuteerhalten. Wenn man den jüngst erschienenen, 614 Seiten umfas-senden Band in die Hand nimmt, der neben einem Personen- undeinem Ortsindex auch wieder einen ausführlichen Sachindexenthält, stellt sich die Frage, wie denn wohl die „Langübersicht“aussähe. Die „Kurzübersicht“ orientiert sich an dem Anspruch,für die alten Bestände und die Gesamtheit der Nachlässe eigenesehr ausführliche Bestandsübersichten in Buchform zu erstellen.Das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, heute der in Düsseldorf ansäs-sige Teil der Abteilung Rheinland des Landesarchivs, hat dafür

mit bisher sieben Bänden seit 1957 hohe Maßstäbe gesetzt1(undgleichzeitig in den 1974, 1984 und 1994 erschienenen Kurzüber-sichten2 bei den alten Beständen an einer reinen Auflistung festge-halten), an denen sich das Staatsarchiv Münster, jetzt die Abtei-lung Westfalen des Landesarchivs, orientiert hat. So erschienenzwischen 1964 und 2006 ausführliche Beständeübersichten zufolgenden Beständegruppen:• Reichskammergericht• Territorialarchive von Paderborn, Corvey, Reckenberg, Rheda

und Rietberg• Territorialarchive von Minden, Ravensberg, Tecklenburg,

Lingen und Herford• Territorialarchiv des Herzogtums Westfalen (bisher ein Band

erschienen)

1 Landes- und Gerichtsarchive von Jülich-Berg, Kleve-Mark, Moers und Gel-dern. Bestandsübersichten. Bearbeitet von Friedrich Wilhelm Oediger. Sieg-burg 1957. X, 472 S. (unveränderter Nachdruck); Kurköln (Landesarchiv undGerichte), Herrschaften, Niederrheinisch-Westfälischer Kreis, Ergänzungenzu Band 1. Bearbeitet von Friedrich Wilhelm Oediger. Siegburg 1970; DieBehörden der Zeit 1794-1815. Teil I: Die linksrheinischen Gebiete. Bearbeitetvon Ingrid Joester. Siegburg 1987; Stifts- und Klosterarchive. Bestandsüber-sichten. Bearbeitet von Friedrich Wilhelm Oediger. Siegburg 1964; Archive desnichtstaatlichen Bereichs (Städte und Gemeinden, Korporationen, Familien-und Hofesarchive, Sammlungen, Nachlässe), Handschriften. Bearbeitet vonFriedrich Wilhelm Oediger. Siegburg 1972; Die Lehnsregister des HerzogtumsKleve. Bearbeitet von Emil Dösseler und Friedrich Wilhelm Oediger. Siegburg1974; Reichskammergericht. Teil I: A-B. Bearbeitet von Hugo Altmann undPaul Hoffmann. Siegburg 2003; Teil II: C-D. Bearbeitet von Wolfgang Antwei-ler und Brigitte Kasten unter Mitarbeit von Paul Hoffmann. Siegburg 1988;Teil III: E-G. Bearbeitet von Wolfgang Antweiler und Brigitte Kasten unterMitarbeit von Paul Hoffmann. Siegburg 1989; Teil IV: H. Bearbeitet von Wolf-gang Antweiler und Brigitte Kasten unter Mitarbeit von Paul Hoffmann. Sieg-burg 1990; Teil V: I-L. Bearbeitet von Wolfgang Antweiler und Brigitte Kastenunter Mitarbeit von Paul Hoffmann. Siegburg 1991; Teil VI: M-O. Bearbeitetvon Margarete Bruckhaus und Roland Rölker unter Mitarbeit von Paul Hoff-mann. Siegburg 1993; Teil VII: P-R. Bearbeitet von Margarete Bruckhaus undRoland Rölker unter Mitarbeit von Paul Hoffmann. Siegburg 1995; Teil VIII:S-T. Bearbeitet von Margarete Bruckhaus und Roland Rölker unter Mitarbeitvon Paul Hoffmann. Siegburg 1998; Teil IX: U-Z und Nachträge. Bearbeitetvon Margarete Bruckhaus und Roland Rölker unter Mitarbeit von Paul Hoff-mann. Siegburg 1999; Teil X: Prozessakten des Hauptstaatsarchivs Düsseldorfim Rijksarchief Limburg in Maastricht (Bestand 02.01.). Bearbeitet von Mar-tina Wiech unter Mitarbeit von Paul Hoffmann und Th. J. van Rensch. Sieg-burg 2002.

2 Die Bestände des Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchivs, Kurzüber-sicht. 3. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Düsseldorf 1994.

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• Behörden der Übergangszeit 1802-1816

• Nachlässe aus Politik und Verwaltung3

Für die historische Forschung mit ihren Spezialfragen sind dieseausführlichen Bestandsbeschreibungen, die bis auf die Aktentitel-ebene gehen, ohne Frage eine große Hilfestellung. Für den erstenEinstieg und für die Übersicht über sämtliche Bestände hat die„Kurzübersicht“ aber ihren eigenen Wert. Sie gibt BenutzernOrientierung im Archiv, hat sich aber auch im täglichen Gebrauchder Archivarinnen und Archivare bei der Beantwortung schriftli-cher Anfragen und der Benutzerberatung im Lesesaal und amTelefon tausendfach bewährt – sie bildet quasi das Rückgrat desHauses und ist aus unserem Archivalltag gar nicht wegzudenken.

Die jüngst erschienene 5. Auflage der Beständeübersicht trägtgegenüber der 4. Auflage den enormen Erschließungsleistungender letzten Jahre Rechnung. Nachdem „Mummert und Partner“im Rahmen eines Organisationsgutachtens im Jahre 2001 hoheErschließungsrückstände festgestellt hatten,4 hat sich das Landes-archiv insgesamt, aber auch die Abteilung Westfalen mit der Abar-beitung dieser Rückstände seit 2004 prioritär befasst. Die größtenRückstände bestanden bei den Behördenakten der Zeit nach 1945.So sind inzwischen die im Hause befindlichen Akten der Polizei,der Bergverwaltung, der Land- und Forstwirtschaft, der Kultus-verwaltung, der Gewerbeaufsicht und der Versorgungsverwaltungvollständig verzeichnet worden. Große Schneisen wurden bei derErschließung der Akten des NS-Folgerechts geschlagen, nament-lich bei der Verzeichnung der „Ämter für gesperrte Vermögen“,

der Rückerstattungsakten der Devisenstelle bei der Oberfinanzdi-rektion Münster, der Akten der Staatsanwaltschaft Dortmund –Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen – undder Wiedergutmachungsakten der Regierung Arnsberg. ImBereich der alten Bestände wurden die „Manuskripte“ neuerschlossen, außerdem die Akten des Stifts St. Andreas inLübbecke und der Johanniterkommende Herford. Von den biszum Stichjahr 2003 noch gar nicht erschlossenen Urkundenwurden die dem Landesarchiv des Fürstbistums Münster zuge-ordneten „Ostfriesischen Urkunden“ und die Lehnsurkunden desHerzogtums Westfalen erschlossen, im Bereich der Aktenüberlie-ferung der Bestand Kloster St. Mauritz und Simeon in Minden,darüber hinaus der Mischbestand Aufschwörungstafeln. Aucheine Reihe von Nachlässen, u. a. von Girolamo Marchese Lucche-sini, Bernhard Reismann und Eduard Schulte, wurdenverzeichnet.Die Erschließung der einzelnen Archivalien im Findbuch führtimmer auch zu detaillierteren, präziseren Kenntnissen der Archi-varinnen und Archivare über die Bestände, die in die Bestände-übersicht Eingang finden. Formale Angaben bezüglich Laufzeitund Umfang der Bestände fallen dabei quasi nebenbei ab. DieArbeit an der Beständeübersicht wird in der Abteilung Westfalenals integraler Teil der Erschließungsarbeit und somit als Dauer-aufgabe betrachtet. Alle Informationen aus der Verzeichnungsar-beit fließen in die Datenbank V.E.R.A. (Verwaltungs-, Erschlie-ßungs- und Recherchesystem für Archive) ein, die die „Urmutter“der Erschließung darstellt und aus der heraus nun schon zumzweiten Mal die Ausgabe der Beständeübersicht in die Textverar-beitung zur Weiterbearbeitung für den Druck angestoßen wurde.Die Erfahrung mit den Gewohnheiten der Benutzer zeigt, dasstrotz der seit 1998 im Internet präsentierten und dort regelmäßigaktualisierten Beständeübersicht die Nachfrage nach einem Buchzum Blättern und Nachschlagen immer noch ungebrochen ist.Wenn dieser Trend anhält, ist es das Ziel der Abteilung Westfalen,in Abständen von etwa fünf Jahren weitere Auflagen folgen zulassen, um so stets für Aktualität bürgen zu können.Erhältlich ist die Beständeübersicht beim Landesarchiv NRWAbteilung Westfalen, Bohlweg 2, 48147 Münster, Tel. 0251-4885127,Fax: 0251-4885100, E-Mail: [email protected] oder über denBuchhandel mit folgenden bibliographischen Angaben:Die Bestände des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen AbteilungWestfalen. Kurzübersicht, 5. aktualisierte Auflage, Düsseldorf2009 (= Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-West-falen 18); XIV, 614 Seiten, gebunden, ISBN: 978-3-932892-25-7,15 C= .

Mechthild Black-Veldtrup, Münster

3 Behörden der Übergangszeit 1802-1816. Bearbeitet von Wilhelm Kohl und Hel-mut Richtering. Münster 1964; Gerichte des alten Reiches. Teil I: Reichskam-mergericht A-K. Bearbeitet von Günter Aders unter Mitwirkung von HelmutRichtering. Münster 1966; Teil II: Reichskammergericht L-Z. Reichshofrat.Bearbeitet von Günter Aders unter Mitwirkung von Helmut Richtering.Münster 1968; Teil III: Register. Bearbeitet von Helmut Richtering. Münster1973; Nachlässe aus Politik und Verwaltung. Bearbeitet von Manfred Wolf.Münster 1982; Territorialarchive von Paderborn, Corvey, Reckenberg, Rhedaund Rietberg. Inventar. Bearbeitet von Martin D. Sagebiel und LeopoldSchütte. Münster 1983; Territorialarchive von Minden, Ravensberg, Tecklen-burg, Lingen und Herford. Bearbeitet von Wilfried Reininghaus. Münster2000; Helmut Müller, Herzogtum Westfalen. Das Territorialarchiv des Her-zogtums Westfalen. Band 1. Münster 2006.

4 Dazu Wilfried Reininghaus: Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Entste-hung, interne Organisation, Aufgaben und aktuelle Ziele. In: Der Archivar 57(2004), S. 295-300, hier S. 295.

Cover der neuen Beständeübersicht der Abteilung Westfalen des LandesarchivsNRW]

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„ARCHIVES AND LIBRARIES:FROM MEMORY OF THE PAST TOTHE WEB“: INTERNATIONALETAGUNG IN CAGLIARI25./26. 11. 2009

Vor dem Hintergrund eigener fortschreitender Aktivitäten imNetz hatte der italienische Consiglio Nazionale delle Ricerche(CNR, der deutschen Max-Planck-Gesellschaft vergleichbar) nachCagliari eingeladen. Ziel war der Erfahrungsaustausch zwischenden Institutionen und der historischen Forschung, wie einleitendLuca Codignola Bo (Genua), Direktor des Instituts für dieGeschichte des mediterranen Europas im CNR, herausstellte. DerNeuzeithistoriker Matteo Sanfillipo (Viterbo) zog ein Resümeeüber ein Vierteljahrhundert Einsatz von Computern in derWissenschaft. Er unterstrich die Notwendigkeit neuer Lehrin-halte im Internet. Die Lehre sei viel leichter, aber auch differen-zierter geworden. Er würdigte den vom Staatsarchiv Florenz 2004herausgegebenen Studienführer „Passato digitale“. Der Philoso-phiehistoriker Gino Roncaglia (Viterbo) legte eine einerseitsselbstkritische Wertung elektronischer Texte vor. Die Netzver-sionen seien oft zu simpel und zu modular. Andererseits pries erdie Vorzüge des eBooks, das die Mobilität beim Lesen weitererhöhe. Maria Manuel Borges (Coimbra) sieht die akademischeWelt durch die Informationstechnologie von Grund auf verwan-delt. Mehrfach sprach sie die Möglichkeiten zur Selbstarchivie-rung der Forschungsergebnisse vor allem in den Naturwissen-schaften als ein wichtiges Resultat der neuen Technologien an. Siepries auch das Europeana-Projekt als attraktiven Einstieg inWissenswelten.Claire Seguin (Quebec) präsentierte das Netz-Angebot der Biblio-théque Gaston-Miron, die in Paris sitzt und dem kanadischenVerbund aus Nationalbibliothek und Nationalarchiv zugeordnetist. Die Bibliothéque Gaston-Miron verfügt als Brückenkopf vomfrankophonen Kanada nach Frankreich über eine Totaldigitalisie-rung aller seiner einschlägigen Bestände, von Zeitungen bis zugenealogischen Sammlungen. Sie versteht sich auch als Pionierin-stitut für die kanadische Mutterinstitution. Marciella Guercio(Urbino), die einen Lehrstuhl für Archivwissenschaften bekleidet,mahnte zur neuen Verantwortung der Bestandserhaltung im digi-talen Zeitalter. Sie analysierte die Fragilität des Materials, aucham Beispiel von „bad practice“, und verwies auf die notwendigeQuellenkritik elektronischer Unterlagen. Authentizität imRahmen internationaler Standards war ihr Leitziel. José AntonioBrandão (Kalamazoo/USA) erwies sich als heftiger Kritiker von zugroßen Datenmengen im Netz: „It's too much on the web“. DerHistoriker ging sogar so weit zu behaupten, dass der Zugang zum

Web die intellektuelle Entwicklung behindere, u. a. weil zu vieleInformationen ohne Prüfung ungefiltert im Netz zu finden seien.Er legt großen Wert auf unmittelbaren Kontakt mit Archiven undanderen Benutzern und begründete seine kritische Haltung gegen-über hohen Investitionskosten für die Digitalisierung auch mitden geringen Zugriffsquoten auf das einzelne Digitalisat.Zwei spanische Archivare berichteten über gewaltige Digitalisie-rungskampagnen in ihrem Land, die mit Geldern des Staatesfinanziert werden. Alberto Torra Pérez teilte mit, dass das Archivder Krone von Aragon in Barcelona binnen kurzem eine MillionImages im Netz verfügbar gemacht habe. Weitere 2,8 Millionenwerden folgen. Ein Schwerpunkt waren die Register der Krone, zudenen aber weitere Erschließungsinformationen fehlen. Beidurchschnittlich 200 Seiten erschließt sich der Inhalt demOnline-Benutzer nur durch Suchen über das gesamte Registerhinweg, denn die Indizes sind nicht mitdigitalisiert worden. DerDigitalisierung wird ein Rückgang der Besucherzahlen um einDrittel seit 2000 zugeschrieben. Maria Jesus Álvarez CocaGonzalez referierte über das spanische Nationalarchiv in Madrid,das seine Digitalisierungsstrategie an europäische Projekte(APEnet, Europeana) ausrichtet, zugleich aber mit dem Archiv-portal der spanischsprachigen Länder (Pares) massiv Lateiname-rika einbezieht.Andrea Bozzi (Livorno) führte vor, wie textkritische philologischeEditionen mit Hilfe technischer Möglichkeiten erleichtert werden.Marin Laak (Literaturmuseum von Estland) führte ein für ihrLand wichtiges Großprojekt über den Dichter Kreutzwald vor, dasin einer interaktiven Informationsumgebung eingebettet ist.Grundlage waren umfängliche Nutzerstudien, die insbesonderedie neuen Medien auf ihre Tauglichkeit bei Jugendlichen unter-suchten. Esa-Pekka Keskitalo (Helsinki) stellte die FinnischeNationalbibliothek als elektronischen Dienstleister vor. Er unter-schied konzeptionell zwischen deren Rolle als „data provider“und „service provider“. Bis 2011 sollen 360.000 Bücher und(exemplarisch) eine Million Seiten Archivgut im Rahmen derEuropäischen Digitalen Bibliothek digitalisiert werden. MarinellaFerrai Cocco Ortu und Carla Ferrante (Cagliari) präsentierten fürdas sardinische Staatsarchiv das Projekt CARSTOS, in demzentrale Kartenserien digitalisiert worden sind. Die Katasterauf-nahme des Jahres 1841/51 ist mit 1.697 Karten ins Netz gestelltworden. Die Images werden auf vier Ebenen intensiv nach EAD-

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Regeln erschlossen. Der Index enthält 37.700 topographischeBegriffe, zu denen Geo-Referenzdaten bereitgehalten werden. Alsweiteres Kartenprojekt ist eine Kartenserie von 1697 digitalisiertworden. Im Referat kam die Mitwirkung der italienischen Archiveam Portal www.archividelmediterraneo.org zur Sprache. Länder-übergreifend stellen nach seschsjähriger Vorplanung die Mittel-meeranrainer ausgewählte Forschungsmaterialien ins Netz.Bettina Martin-Weber (Koblenz) berichtete über Portale undInternetangebote des Bundesarchivs in strukturierter UmgebungDas SED-/FDGB-Portal dient dabei als Pilotprojekt für denAufbau eines nationalen Archivportals in Deutschland. DerBerichterstatter stellte www.archive.nrw.de als archivübergrei-fendes Verbundportal für ein Bundesland vor, das modular umFindbücher und Digitalisate erweitert wird. Thomas O'Connor(Maynooth/Irland) demonstrierte eindrucksvoll, wie im Projekt„Irish in Europe“ Fundmaterial in zahlreichen europäischenArchiven in einer nachnutzbaren, offenen Datenbank organisiertwerden kann. Stefano Vitelli (Staatsarchiv Lucca) ging im Schluss-referat der Frage nach, ob Archive in Zukunft noch ihre Aufgabeals kulturelle Vermittler wahrnehmen können. Seine Antwort fielambivalent aus. Die Vermittlung durch Archive werde nicht über-flüssig, aber komplizierter. Die virtuelle Vermittlung müsseselbsterklärende Modelle entwickeln und zugleich den Rückgriffauf hierarchische Strukturen erlauben. Er plädierte auf dieVerknüpfung strukturierter Zugriffe (nach Provenienzprinzip)

mit thematisch ausgerichteten Zugriffen. Offen blieben am Endeseine Fragen nach dem notwendigen Erschließungsapparat (appa-rato descrittivo) für analoge und digitale Unterlagen.Will man die Ergebnisse der Tagung aus deutscher Sicht zusam-menfassen, so bleibt der große Elan bei der Digitalisierung insüd- und nordosteuropäischen Ländern haften. Die Diskussionenund Hintergrundgespräche zeigten aber auch, dass die für dieDigitalisierung verwendeten Mittel aus Sicht der Archive nichtimmer optimal angelegt waren. Es wurde digitalisiert, weil es dieRegierung so wollte! Aus fachlicher Sicht wären andere Arbeiten,zum Beispiel die Erschließung, von höherer Priorität gewesen. Sostehen jetzt in Spanien Digitalisate im Netz, die nicht ohneAufwand im Detail benutzbar sind. Das scheinbar langsamereDigitalisierungs-Tempo in Deutschland mit dem Findbuch alsunbedingt notwendige Zwischenstation ist wohl ein angemes-sener und kein überstürzter Weg. Der große Vorteil von Digitali-saten im Netz erwies sich aber an zwei Beispielen. Wenn dieKanadier ihre Quellen in Paris und die Iren in europäischen Fest-landarchiven digitalisieren, schaffen sie einen Komfort, der sichlangfristig auszahlen wird. Überhaupt waren themenorientierteEinstiege bei Digitalisaten ein wiederkehrender Baustein, überden sich weiter nachzudenken lohnt.

Wilfried Reininghaus, Düsseldorf

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Das Wetter meinte es gut mit den Teilnehmern des 79. DeutschenArchivtags, der vom 22. bis 25. September 2009 bei noch sommer-lichen Temperaturen in Regensburg stattfand.1 Das anhaltendeBlau des Himmels stellte den idealen Kontrast zum grauen Betonder Universität dar, die dem Kongress einen kompakten unddamit sehr übersichtlichen, der Kommunikation förderlichenTagungsbereich mit vielen Hörsälen bei kurzen Wegen bot. Unddas historische Ambiente der gastgebenden Stadt kam bei dieserWetterlage umso besser zur Geltung. Eingefunden hatten sich inRegensburg rund 850 Teilnehmer, darunter zahlreiche Kollegin-nen und Kollegen aus dem Ausland, das mit 13 Ländern vonBelgien bis zur Ukraine vertreten war.Wie schon im Vorjahr wardamit wieder ein erfreulicher Spitzenwert erreicht. Neben derbesonderen Attraktivität der Welterbestadt hat hier sicher auchdie hohe Aktualität des Rahmenthemas eine Rolle gespielt:„Archive im digitalen Zeitalter. Überlieferung – Erschließung –Präsentation“.

ERÖFFNUNGSVERANSTALTUNG UNDFACHPROGRAMMSichtbar wurde die hohe Teilnehmerzahl schon bei der Eröffnungdurch den VdA-Vorsitzenden Robert Kretzschmar am Abend des22. September im voll besetzten Auditorium Maximum.Wenigerder auch für das Archivwesen epochalen Wende ins digitaleZeitalter als der Geschichte des örtlichen Stadtarchivs und demAbtransport Regensburger Archivalien nach München zu Beginndes 19. Jahrhunderts war freilich das kurzweilige Grußwort vonOberbürgermeister Hans Schaidinger gewidmet, auf das imanschließenden Grußwort Dr.Wolfgang Heubisch, Staatsministerfür Wissenschaft, Forschung und Kunst des Freistaats Bayern,kurz, aber nicht minder kurzweilig einging, um sodann aus derSicht der Politik die Bedeutung der Archive im digitalen Zeitalterzu unterstreichen. Dr. Anna Pia Maissen vom Verein Schweizeri-scher Archivarinnen und Archivare und Dr. Fred J.W. van Kan ausArnheim in den Niederlanden überbrachten die Grüße für dieausländischen Archivtagsteilnehmer und den InternationalenArchivrat (ICA).In seiner Eröffnungsansprache betonte Kretzschmar, dass inRegensburg zum ersten Mal ein Archivkongress ganz den Auswir-kungen des digitalen Zeitalters auf das Archivwesen gewidmetsei; selbstverständlich habe der Deutsche Archivtag schon seitden Anfängen des Netzes in einzelnen Veranstaltungen undSektionen immer wieder damit verbundene Fragestellungen

ARCHIVE IM DIGITALEN ZEITALTER79. DEUTSCHER ARCHIVTAG 2009

Tagungsbericht von Robert Kretzschmar

MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES VdA

aufgegriffen und gezielt die Chancen des Internets für die Er-schließung auf dem 68. Deutschen Archivtag 1997 in Ulm disku-tiert,2 erstmals jedoch nehme man in Regensburg die Veränderun-gen des Archivwesens im digitalen Zeitalter umfassend in denBlick. Betroffen davon seien heute alle Archive und alle Arbeitsfel-der in ihrer Vernetzung, von der Überlieferungssicherung bis zurhistorischen Bildungsarbeit. Als Leitfragen für die kommendenTage formulierte er: „Welche Konzepte werden bereits wo mitwelchen Erfolgen angewandt? Welche Rolle kommt den Archivenim digitalen Zeitalter zu? Vollzieht sich derzeit geradezu einFunktionswandel? Welche Strategien sind für die Zukunft zuverfolgen?“ Diese Fragen stellten sich, so Kretzschmar, auch beimWiederaufbau des Historischen Archivs der Stadt Köln, dessenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Vorsitzende unter großemBeifall der fortgesetzten Solidarität und Unterstützung desVerbands deutscher Archivarinnen und Archivare und seinerMitglieder versicherte.3

„digital.past – Geschichtswissenschaften im digitalen Zeitalter“war der Titel des Vortrags, den in der Eröffnungsveranstaltungsodann Peter Haber von der Universität Basel hielt. Zielte derRegensburger Archivtag auf eine Standortbestimmung der Archi-ve in der digitalen Welt, so lieferte Haber dazu eine Folie aus derSicht der Geschichtswissenschaft, wenn er unter anderem dieNotwendigkeit einer Quellenkritik für digitale Unterlagen an-sprach und die sich aktuell entwickelnden Formen interaktiver,kollaborativer Forschung beschrieb.4

Unmittelbar daran anknüpfen konnte die Gemeinsame Arbeits-sitzung, mit der das Tagungsprogramm am 23. September unterder Leitung von Daniel Nerlich aus Zürich fortgesetzt wurde:„Dornröschen aufgewacht? Neue Arbeits- und Kommunikations-formen im Archiv“, war sie überschrieben.5 Während Christian

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1 DerTagungsband, in dem ein Bericht zu den Ergebnissen, der Eröffnungsvor-trag, die Referate der Gemeinsamen Arbeitssitzung sowie der vier Sektionen,Berichte zur Diskussion in den Sektionen, die Podiumsdiskussion und einzel-ne weitere Beiträge abgedruckt werden, ist in Vorbereitung.

2 Vom Findbuch zum Internet. Erschließung von Archivgut vor neuen Heraus-forderungen. Referate des 68. Deutschen Archivtags 1997 in Ulm. Redaktion:Diether Degreif (Der Archivar, Beiband 3). Siegburg 1998.

3 Der Einsturz des Stadtarchivs stand in Regensburg auch auf derTagesordnungder VdA-Mitgliederversammlung, wo eine Resolution dazu verabschiedetwurde; vgl. den Abdruck in: „Archivar“ 62 (2009) S. 453.

4 Peter Haber hat den Schlussteil seinesVortrags („Sechs Stichworte für eine Di-gitale Geschichtswissenschaft“) in seinemWeblog (http://weblog.histnet.ch/)publiziert.

5 Vgl. den nachstehenden Einzelbericht.

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Keitel hier unter dem Titel „Benutzerinteressen annehmen undsignifikante Eigenschaften festlegen. Digitale Überlieferungen inArchiven“ Überlegungen zur Bewertung und Übernahme digita-ler Unterlagen anstellte, die in starkem Maße auch quellenkriti-sche Aspekte berühren, so griff Mario Glauert in seinem Vortrag„Archiv 2.0. Vom Aufbruch der Archive zu ihren Nutzern“ dieFrage nach den Möglichkeiten interaktiver und kollaborativerKommunikationsformen aus archivischer Sicht im Blick auf dieNutzer und die am Archivwesen interessierte Öffentlichkeit auf.In vier Sektionen, die am 23. und 24. September stattfanden,wurden sodann die Folgen der allgemeinen Digitalisierung aufzentralen archivischen Arbeitsfeldern näher beleuchtet. Sektion 1unter der Leitung von Ulrike Gutzmann diskutierte den aktuel-len Stand der Bewertung elektronischer Unterlagen und derdaraus resultierenden Überlieferungsbildung, während sichSektion 2 unter dem Vorsitz von Michael Häusler mit Bildungsar-beit im Netz befasste. Archive als Online-Informationsdienstlei-ster standen im Blickpunkt der von Gerald Maier geleitetenSektion 3. Und die Bedeutung von Open access für die Archivewar das Thema von Sektion 4, für die Robert Zink verantwortlichwar.Aufgegriffen wurde das Rahmenthema auch in den Veranstaltun-gen der Fachgruppensitzungen und des Arbeitskreises für Archi-vpädagogik und Historische Bildungsarbeit, wie an den folgen-den Einzelberichten deutlich wird.6 Eine eigene Informationsver-anstaltung unter dem Vorsitz von Gerald Maier war dem aktuel-len Sachstand bei internationalen, nationalen und interdiszi-plinären Portalen gewidmet; Maier selbst als „Bundesratsbeauf-tragter für die Digitalisierung von Kulturgut“ und WendelinBieser vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur undMedien sowie Angelika Menne-Haritz vom Bundesarchiv berich-teten über die „Europeana“, die „Deutsche Digitale Bibliothek“,das „Netzwerk SED-/FDBG-Archivgut“ und die aktuellen En-wicklungen für ein europäisches und deutsches Archivportal.Die abschließende Podiumsdiskussion am 24. September zur

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Rolle der Archive im digitalen Zeitalter sollte der Zusammenfas-sung und dem Ausblick dienen. Moderiert von Robert Kretz-schmar und unter Rekurs auf die vorangegangenen Veranstaltun-gen tauschten sich die vier Sektionsleiter (Ulrike Gutzmann,Michael Häusler, Gerald Maier und Robert Zink) mit UteSchwens von der Deutschen Nationalbibliothek, die bibliotheka-rische Sichtweisen einbrachte, und Veit Scheller vom ZDF-Unternehmensarchiv als Vertreter eines audiovisuellen Archivsüber die Ergebnisse des Archivtags aus, wozu sie auch in einenDialog mit dem Plenum traten. Herausgestellt wurde dabei, dassdas digitale Zeitalter auf allen Arbeitsfeldern des Archivwesensangekommen ist, dass es positive Ansätze zur Bewältigung derdamit verbundenen Veränderungen und Möglichkeiten gibt, dassaber vieles, das erst in Ansätzen greifbar ist, weiter entwickelt undausgebaut werden muss. Dringender Handlungsbedarf zeichnetsich nach wie vor für die Sicherung originär digitaler Überliefe-rung ab; in der Praxis ist hier erst wenig geschehen und profes-sionelles Records management wird im digitalen Zeitalter umsodringlicher. Übergreifende Fachportale, für die sich eine verstärk-te Kooperation mit den Bibliotheken empfiehlt, bieten vielversprechende Perspektiven, stecken aber noch in den Kinder-schuhen. Interaktive und kollaborative Elemente sind im Archi-vwesen noch weitgehend unterentwickelt; hierzu gibt es ersteinige wenige, freilich positive Beispiele, insbesondere in derBildungsarbeit und bei der Bereitstellung von Bildbeständen.Dass solche Module nicht als Konkurrenzunternehmen sondernals Weiterentwicklung bestehender Strukturen zu implementierensind, wurde in der Diskussion betont. Beim Themenkomplex„Open access für Archive“ wurde resümiert, dass davon berührterechtliche Fragen in archivischen Fachkreisen nach wie vorkontrovers gesehen werden und es folglich einer Verständigungbedarf, für die Best-practice-Beispiele herangezogen werdensollten.Insgesamt wurde auf dem 79. Deutsche Archivtag greifbar, dassin den Archiven als Teil der digitalen Welt viel in Bewegung

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Das Foyer in der Regensburger Universität

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geraten ist und die mit dem digitalen Zeitalter verbundenenAnforderungen und Chancen zunehmend in das Bewusstseintreten. Gezeigt hat sich aber auch, dass die Archivarinnen undArchivare sich alles andere als beruhigt zurücklehnen können.Die Archivwissenschaft bedarf der konsequenten Weiterentwick-lung und dies gilt auch für den quellenkritischen, hilfswissen-schaftlichen Blick auf das Archivgut. Nicht zuletzt stellt sichdabei die Frage, ob die herkömmliche Terminologie ausreicht,aus archivischer Perspektive aktuelle Phänomene und Werkzeugezu beschreiben, oder ob nicht vielmehr bereits jetzt in der Folgeder technischen Entwicklung eine zweite, sehr anglisierte Spracheim Archivalltag neben das bewährte Vokabular getreten ist unddie Erweiterung des herkömmlichen Archivguts um die digitaleÜberlieferung auch neue Fachbegriffe verlangt.Dass das digitale Zeitalter als solches für die Archive eine epocha-le Wende bedeutet, ist unverkennbar. Auch wenn die archivischen

Kernaufgaben dieselben bleiben, so ist doch die Rolle der Archivein der digitalen Welt durch das völlig veränderte Maß an Öffent-lichkeit eine andere geworden: Die Archive können heute infrüher ungeahnter Weise Archivgut allgemein zugänglich machenund in einen Dialog mit ihren Nutzern und der Öffentlichkeittreten. Die für das Selbstverständnis der letzten Jahre so charakte-ristische Öffnung der Archive erfährt dadurch nochmals eineWeiterung in ganz neuen Dimensionen für die Kommunikationund das Wirken; interaktive und kollaborative Elemente könnendabei Bedeutung erlangen. Gerade aus dieser Perspektive stelltsich auch für den Wiederaufbau des Stadtarchivs Köln die Frage,wie ein „Bürgerarchiv“ im digitalen Zeitalter auszugestalten ist.Kurzum: der Regensburger Archivtag stand sicher näher amBeginn der Fachdiskussion über das Archivwesen in der digitalenWelt als an ihrem Abschluss. Dass erstmals auf einem DeutschenArchivtag aus Veranstaltungen heraus getwittert wurde, sprichtfür sich.

BESONDERE PROGRAMMPUNKTEErstmals wurden am 22. September in einer besonderen Veran-staltung noch vor der Eröffnung alle, zum ersten Mal an einemDeutschen Archivtag teilnehmen, sowie alle neuen VdA-Mitglie-der vom Vorsitzenden des VdA und einigen Vorstandsmitgliedernbegrüßt; Gegenstand des regen Gesprächs waren die Ziele undStrukturen des Verbands und die Angebote des Deutschen Ar-chivtags.Zum zweiten Mal wurden am 22. und 24. September im Rahmendes Archivtags den VdA-Mitgliedern spezielle Fortbildungsveran-staltungen angeboten, für deren Teilnahme ein Zertifikat ausge-stellt wird; Themen der sieben Veranstaltungen, die auf großeNachfrage stießen, waren 1) Umgang mit digitalen Bildüberliefe-rungen, 2) Präsentation digitalisierter Urkunden im Netz, 3)Austauschformate bei der Retrokonversion von Findmitteln, 4)Archivierung elektronischer Unterlagen in der Praxis, 5) Einsatzvon Statistik-Werkzeugen am Beispiel eines Archivmanagement-systems, 6) Digitalisierung von Archivgut im archivischen Alltag

Der Regensburger OB Schaidinger bei seinem Grußwort Staatsminister Heubisch bei seinem Grußwort für den Freistaat Bayern

6 Vgl. die nachstehenden Einzelberichte. Einzelne Beiträge sind auch im Mit-gliederbereich der VdA-Website zugänglich.Peter Haber beim Eröffnungsvortrag

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und 7) elektronische Vorgangsbearbeitung und Aktenhaltung beieiner Stadtverwaltung.Gut besucht war das traditionelle Gespräch mit den ausländi-schen Archivtagsteilnehmern am 22. September unter Leitung desStellvertretenden Vorsitzenden Michael Diefenbacher und desVorstandsmitglieds Katharina Tiemann, das wie gewohnt demwechselseitigen Erfahrungsaustausch diente und sich inhaltlicham Rahmenthema des Deutschen Archivtages orientierte. Schwer-punktmäßig berichteten die ausländischen Gäste über nationaleDigitalisierungsprojekte; Angelika Menne-Haritz vom Bundesar-chiv informierte in ihrer Funktion als Präsidentin von EURBICAüber das Europäische Archivportal. An den VdA wurde erneutder Wunsch herangetragen, dass die deutschen Archivarinnenund Archivare sich stärker im internationalen Kontext engagierenund mehr Präsenz im Ausland zeigen.Ebenfalls am 22. September fanden die Veranstaltungen derArbeitskreise Berufsbild sowie Archivpädagogik und HistorischeBildungsarbeit sowie die schon erwähnte Informationsveranstal-tung statt.Auf großes Interesse stieß der Lokalhistorische Vortrag, den am24. September Prof. Dr. Achim Hubel von der Universität Bam-berg zur „Denkmalpflege in der Welterbestadt Regensburg“ hielt.

FACHMESSE ARCHIVISTICADie für jedermann öffentlich zugängliche Fachmesse ARCHIVI-STICA war wiederum direkt bei den Veranstaltungsräumenuntergebracht und zog mit ihren 47 Ständen erneut zahlreicheBesucherinnen und Besucher an. Viele Archivtagsteilnehmernutzten auch die Möglichkeit, sich am 22. September in vierAusstellerforen mit insgesamt 17 Präsentationen über neuesteProdukte und Dienstleistungen zu informieren.

BEGLEITPROGRAMMOrte geselligen Beisammenseins waren der Empfang desBayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft, Forschung undKunst am 22. September im Anschluss an dieEröffnungsveranstaltung sowie der Begegnungs- undGesprächsabend für Archivtagsteilnehmer, Messeaussteller undGäste am 23. September in den historischen Räumen desKulturzentrums „Leerer Beutel“. Am 24. September fand in derStiftskirche Unserer lieben Frau zur Alten Kapelle ein Konzertmit barocker Orgelmusik statt.Zur Welterbestadt Regensburg mit ihrem historischen Stadtbild,dem Dom und dem Reichstagsmuseum sowie zu den Archivenund Bibliotheken vor Ort wurde am 22. und 25. September eineReihe von Führungen angeboten, darunter auch thematischeFührungen zu den Digitalisierungsprojekten derUniversitätsbibliothek und zum dortigen digitalisiertenHistorischen Werbearchiv. Die Ganztagsexkursion am 25.September führte unter der Führung von Maria Rita Sagstetterund Johannes Laschinger in die Oberpfälzer ResidenzstadtAmberg, die Halbtagsexkursion am selben Tag unter derFührung von Rita Graf-Dallmeier zum Kloster Weltenburg undzur Befreiungshalle.

Prof. Dr. Robert KretzschmarLandesarchiv Baden-WürttembergEugenstraße 7 · 70182 StuttgartE-Mail: [email protected]: www.landesarchiv-bw.de

Das Podium bei der Abschlussdiskussion: (von links) Veit Scheller, Ute Schwens, Robert Zink, Michael Häusler, Gerald Maier, Ulrike Gutzmann, Robert Kretzschmar

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GEMEINSAME ARBEITSSITZUNG

DORNRÖSCHEN AUFGEWACHT?NEUE ARBEITS- UND KOMMUNI-KATIONSPROZESSE IM ARCHIV

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Das Auditorium Maximum der Universität bei der ersten Gemeinsamen Arbeitssitzung.

Die Gemeinsame Arbeitssitzung im gut gefüllten Audimax derRegensburger Universität trug den Titel „Dornröschen aufge-wacht? Neue Arbeits- und Kommunikationsprozesse im Archiv“und wurde moderiert von Daniel Nerlich, stellvertretender Leiterdes Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich und Vorstands-mitglied des Vereins Schweizerischer Archivarinnen undArchivare. Mit zwei Vorträgen widmete sie sich den Herausfor-derungen, die die Digitalisierung für archivarische Kern-bereichezunehmend bedeutet. Zur Diskussion gestellt wurden zum einenneue Prozesse der Bearbeitung digitaler Unterlagen und zumandern Möglichkeiten – und Grenzen – der internetbasiertenKommunikation zwischen dem Archiv und seinen Nutzern.Einführend ortete der Sitzungsleiter eine häufig feststellbareÜberforderung im Umgang mit der Archivierung digitaler Datenund auch mit sich jagenden Neuentwicklungen von elektroni-

schen Networking- und Kommunikationswerkzeugen wie bei-spielsweise Facebook, Xing und Twitter. Die Deutung desDornröschenschlafs durch den Psychoanalytiker BrunoBettelheim als ein „Sich-nach-innen-Kehren“ während derAdoleszenz aufnehmend, stellte Nerlich die Frage, ob in Analogiezur Erweckung der Prinzessin etwa auch das Ankommen derArchivarinnen und Archivare in der digitalen Welt als „Über-gangsritus von der Introvertiertheit in eine viel versprechendePhase energischer Außenaktivität“ gedeutet werden könnte.Signale in diese Richtung sendeten jedenfalls die Titel der beidenReferate, welche die neuen Aufgaben der Archive und denAufbruch zu den Nutzern thematisierten.Christian Keitel, Stuttgart, setzte sich in seinem Vortrag „Benut-zerinteressen annehmen und signifikante Eigenschaften festlegen.Einige neue Aufgaben für Archivare“ zunächst mit den Wesens-merkmalen digitaler Daten auseinander. Dabei ging er von derPrämisse aus, dass nur ansprechbare, abgegrenzte und klar defi-nierte Objekte archivierbar seien. Der Referent postulierte dieUnterscheidung, gleichzeitig aber auch das Zusammenspiel derdrei Objektarten logische Information, Daten und Informations-paket. Da jede Archivierung „in der Hoffnung auf eine künftige

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MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES VdA

Mario Glauert bei seinem Vortrag in der ersten Gemeinsamen Arbeitssitzung.

Benutzung“ erfolge, müssten zudem signifikante Eigenschaftendieser Objekte wie beispielsweise die Zeichenfolge eines Textesdefiniert werden, die später dazu dienen könnten, die Authenti-zitätsfrage zu beantworten. In der Diskussion beschwichtigteKeitel die Befürchtung von Elke Krügener, Schwerin, und DanielJost, Freiburg, nach der Realisierung der von ihm beschriebenenMethode könnten dem künftigen Benutzer wichtige Informatio-nen fehlen. Er tat dies dahingehend, dass er die digitale Archi-vierung hauptsächlich als Weg der Datenstrukturierung und -organisation präzisierte. Eine inhaltliche Auswahl oder garInterpretation erfolge in jedem Fall erst zum Zeitpunkt der späte-ren Nutzung durch den Informationsnachfrager. Und währendGabriele Stüber, Speyer, im Rückblick auf das präsentierteKonzept die Wirtschaftlichkeitsfrage stellte, hielt dem AngelaUllmann, Berlin, entgegen, dass es unter Umständen teurer zustehen kommen könnte, wenn sich die Archive heute nicht dieZeit nehmen würden, um Modelle wie das von Keitel vorgestelltezu entwickeln.

Mario Glauert, Potsdam, schlug anschließend in seinem Beitrag„Archiv 2.0. Vom Aufbruch der Archive zu Ihren Nutzern“ kom-munikative Brücken zwischen dem Archiv und seinen Nutzern.Die Frage von Thomas O’Reilly aus dem Jahr 2005 („What isWeb 2.0“) aufgreifend und an die Archivwelt anpassend, ludGlauert zur Reise durch ein neu verstandenes Internet. An einemBeispielreigen zeigte er dessen vielfältige Möglichkeiten desKommunizierens, Kooperierens oder Kommentierens. Ausgehendvon der intensiven Webnutzung jüngerer Generationen skizzierteder Referent anschaulich, welche neuen Forderungen dieseBenutzer von morgen ans Archiv stellen könnten. Weblogs, Wikisund gar noch weiter gehende Interaktionsformen würden mögli-cherweise bald eine wichtige Rolle im „Mitmacharchiv“ spielen.Dass die deutschsprachige Archivwelt von einem solchen Etikettheute weit entfernt ist, konnte Glauert in seinen Ausführungennicht verhehlen. Die Diskussion zeigte dann allerdings, dassDornröschen diesbezüglich immerhin „bereits blinzelt“.Trotzdem plädierte Klaus Graf, Aachen, entschieden dafür, nochstärker mit der „digitalen Intelligenz“ im Web zu kooperieren.Nur so könnten die Archive auch künftig wahrgenommen wer-den und damit nicht zuletzt ihre Finanzierungen sicher stellen.Ihre Bedenken gegen eine derartige „Entprofessionalisierung“äußerten freilich Gertrude Langer-Ostrawsky, St. Pölten, undBenedikt Praxenthaler, Berlin. Die Archive könnten Gefahr lau-fen, beispielsweise der Argumente für die Anstellung vonFachkräften verlustig zu gehen. Sie sollten unbedingt an ihremAlleinstellungsmerkmal festhalten, die Authentizität der (auch)im Internet angebotenen Information zu gewährleisten.Nach Verdankung der Referate und Diskussionsvoten und derAufforderung, die ausgesprochenen Einladungen zu prüfen, auchneue Arbeitsfelder zu betreten, schloss Daniel Nerlich die Sitzungmit einem aufmunternden Zitat des niederländischen KollegenChristian van der Ven: „Archives 2.0 is all about a new state ofmind. It has nothing to do with technology, except from the fact,that technology makes things possible.“

Daniel Nerlich, Zürich

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BERICHTE ZU DENSITZUNGENDER FACHGRUPPENFACHGRUPPE 1: STAATLICHE ARCHIVE

In Anlehnung an das Rahmenthema des Deutschen Archivtagsbefassten sich die staatlichen Archivarinnen und Archivare inihrer Fachgruppensitzung mit „Aktenführung, Bewertung undÜberlieferungsbildung im digitalen Zeitalter“. Die Sitzung, dieunter der Leitung der Fachgruppenvorsitzenden Dr. Maria RitaSagstetter, Staatsarchiv Amberg, stattfand, begann mit derDurchführung der Wahlen zur Bestellung der neuen Fachgrup-penvertreter. Die Wahlleitung hatte Gisela Haker, Bundesarchiv,die dem Fachgruppenvorstand seit 2001 angehört hatte und die-ses Jahr nicht mehr kandidierte, übernommen. Als Fachgruppen-vertreter wurden gewählt: Beate Friedrich, Bundesarchiv, Berlin,Beate Dördelmann, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen – Staats-archiv Münster, Raymond Plache, Sächsisches Staatsarchiv –Staatsarchiv Chemnitz, Dr. Clemens Rehm, Landesarchiv Baden-Württemberg, Dr. Maria Rita Sagstetter, Staatsarchiv Amberg. Ineinem zweiten Wahlgang wurde Dr. Clemens Rehm zum neuenFachgruppenvorsitzenden bestimmt. Die bisherige Fachgruppen-vorsitzende hatte vorher bereits erklärt, für den Vorsitz nichtmehr zur Verfügung zu stehen.Das anschließende Vortragsprogramm sah Beiträge von vierReferenten vor. Als erster sprach Dr. Jürgen Treffeisen, Landes-archiv Baden-Württemberg – Generallandesarchiv Karlsruhe,über die „Komplementäre Bewertung konventioneller Akten undelektronischer Daten“. Anhand dreier Beispiele zeigte er Kon-sequenzen auf, die sich für die Bewertung und Überlieferungsbil-dung aus dem vermehrten Einsatz von Datenbanksystemen erge-ben. Datenbanken werden in der Regel von einer zentralen, lan-desweit zuständigen Stelle geführt; der Akt der Überlieferungs-bildung wird sich daher von der bislang dezentralen zur zentra-len Bewertung entwickeln. Die Datenbanken ergänzen die kon-ventionellen Unterlagen; in der Bewertungsentscheidung sindjeweils beide Überlieferungen zu berücksichtigen. Die in denDatenbanken verfügbaren Informationen können die Vormer-kung von herkömmlichen Papierunterlagen für die Übernahmein das Archiv erleichtern. Durch die Übernahme digitalerPersonenverwaltungssysteme könnte künftig auf die nach einemSample durchgeführte Auswahlarchivierung konventionellerPersonalakten verzichtet werden. Für die Forscher hätte dies denVorteil, dass Basisdaten zu allen Personen, die in den Datenban-ken erfasst werden, vorgehalten werden können.Unter dem Titel „Hybride Aktenführung“ erläuterte Dr. Chris-toph Bachmann M.A., Bayerisches Hauptstaatsarchiv, am Beispieleiner bayerischen Behörde Probleme, die die Einführung elektro-nischer Vorgangsbearbeitungssysteme in der praktischen Umset-zung nach sich ziehen kann. Im konkreten Fall erfolgt das Ein-scannen eingehender Schreiben nur zum Teil durch die zentralePosteinlaufstelle, zum Teil bleibt es den Sachbearbeitern vorbe-halten. Da nur dem Papierakt rechtliche Relevanz beigemessen

wird und nicht dem elektronischen Ordner, sind in den Sach-gebieten digitale Entwürfe und Schreiben samt Anhängen undInnenlauf auszudrucken und zum Papierakt zu geben, was abernicht konsequent durchgehalten wird. Bei der derzeitigen Akten-führung ist folglich damit zu rechnen, dass Akten, die in elektro-nischer oder papierener Form dem Archiv zur Übernahme ange-boten werden, nicht vollständig sind. Um angesichts diesesDilemmas Abhilfe schaffen und Datenverluste vermeiden zu kön-nen, stellte Bachmann als Lösung drei mögliche Strategien vor:Nachscannung der fehlenden Papiereinläufe oder Ausdruck derfehlenden Unterlagen für den Papierakt oder Übernahme derarchivwürdigen Papierunterlagen zusammen mit dem entspre-chenden kompletten Datensatz aus dem DMS (mit Speicherungder Daten auf ein Trägermedium, das dem Papierakt beigefügtwerden kann, oder in dem noch einzurichtenden digitalenArchiv, was in der Konsequenz jedoch die Bereitstellung einesmultimedialen Benutzerarbeitsplatzes erforderlich macht). Diepraktische Erprobung steht bei dem angesprochenen Fallbeispielnoch aus.Dr. Bernhard Grau M.A., Generaldirektion der StaatlichenArchive Bayerns, referierte über „Die Einführung der digitalenLeistungsakte bei der Bundesagentur für Arbeit und ihre Aus-wirkungen auf Bewertung und Überlieferungsbildung“. ImRahmen ihrer eGovernment-Strategie plant die Bundesagenturfür Arbeit die Einführung der elektronischen Akte (eAkte) mitzentraler Datenhaltung in Nürnberg. Auch Akten über Leistun-gen aufgrund von SGB III sollen künftig ausschließlich elektro-nisch geführt werden. Zu diesem Zweck sind das systematischeEinscannen von Eingängen sowie die bedarfsbezogene Retro-digitalisierung der papierenen Vorakten (mit anschließenderVernichtung) beabsichtigt. Im Sommer 2010 soll das Projekt miteiner von IBM zu entwickelnden DMS-Lösung in den Probe-betrieb gehen. Für die zuständigen Landesarchive bedeutet dies,dass sie ab 2015, nach dem Ablauf der fünfjährigen Aufbewah-rungsfrist, erstmals mit der Anbietung elektronischer Aktendurch die Arbeitsagenturen rechnen und bis dahin Lösungen fürderen Übernahme parat halten müssen. Vor allem gilt es, sich aufein gemeinsames Aussonderungsverfahren und einheitlicheÜbernahmetechniken zu verständigen. Auch das bisherige Bewer-tungsmodell ist vor dem Hintergrund des Einsatzes modernerIT-Verfahren zu hinterfragen und auf den neuen Stand zu brin-gen. Entsprechende Lösungsansätze werden in den ARK-Arbeits-gruppen „Elektronische Unterlagen in Justiz und Verwaltung“sowie „Arbeitsverwaltung“ entwickelt.Die Einführung elektronischer Akten und Vorgangsbearbei-tungssysteme stellt nicht nur an die Behörden, sondern auch andie Archive, die für deren Beratung in Fragen der Schriftgutver-waltung zuständig sind, neue Anforderungen. Für sie gilt es, sich

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FACHGRUPPE 2: KOMMUNALE ARCHIVE

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MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES VdA

rechtzeitig in die notwendigen Veränderungsprozesse einzubrin-gen, um auf diesem Weg die Qualität und die spätere Übernah-me der elektronischen Unterlagen sichern zu können. DiesenAspekt beleuchtete der abschließende Vortrag von KerstinSchenke, Bundesarchiv – Dienststelle Koblenz. Unter dem Titel„Archivische Beratung von Bundesbehörden – Ein Modell part-nerschaftlicher Zusammenarbeit“ erläuterte sie Konzepte undInformationsangebote, die im Bundesarchiv entwickelt wurden,um dieser vielschichtigen Aufgabe gerecht zu werden. 2006

wurde dort das Kompetenzteam „Bundesarchiv – Behörden-beratung – elektronische Akten“ (BBeA) gebildet. Es veranstaltetzweimal jährlich Informationsforen für Mitarbeiterinnen undMitarbeiter von Einrichtungen und Stellen des Bundes, die mitder Umstellung auf elektronische Schriftgutverwaltung betrautsind. Des Weiteren werden neben Beratungsgesprächen vor OrtSchulungen für bestimmte Zielgruppen durchgeführt sowiebegleitende Infomaterialien im Netz bereitgestellt.

Maria Rita Sagstetter, Amberg

Erster Tagesordnungspunkt war die Neuwahl des Vorstands, dievon Hans-Joachim Hecker (München) geleitet wurde. Nach demAusscheiden von Stefan Benning M.A. (Bietigheim-Bissingen)und Dr. Michael Diefenbacher (Nürnberg) standen drei Kandi-daten/-innen zur Wiederwahl, drei weitere bewarben sich neuum einen der fünf Vorstandssitze. Gewählt wurden KatharinaTiemann (Münster), Ralf Jacob (Halle/Saale), Reinhild Kappes(Singen/Hohentwiel), Dr. Irmgard Christa Becker (Saarbrücken)und Dr. Ulrich Nieß (Mannheim). Zur Vorsitzenden der Fach-gruppe wählten die Anwesenden Katharina Tiemann. Alle Ge-wählten nahmen ihre Wahl an.Das von Stefan Benning M.A. (Bietigheim-Bissingen) moderierteoffene Themengespräch drehte sich um das Thema „Online-Dienstleistungen von Kommunalarchiven“. In drei 15-Minuten-Statements berichtete Dr. Ulrich Nieß (Mannheim), wie sich dasStadtarchiv Mannheim ausgehend von der Digitalisierung eige-ner Bestände schrittweise zu einem erfolgreichen Anbieter aufdem regionalen Markt entwickelt hat, Dr. Gerald Dütsch(Bamberg) schilderte den aufwändigen Aufbau der Online-Datenbank des Stadtarchivs Bamberg mit seinem Angebot digita-lisierter Bildquellen, und Dr. Thomas Küster (Münster) fragtenach Auswirkungen des Internets für die Fragestellungen der(regional-) geschichtlichen Forschung und deren Konsequenzenfür die Archive. Eine Zusammenfassung der drei Kurzvorträgesowie der Diskussion ist der Tagungsdokumentation zumDeutschen Archivtag zu entnehmen.Den zweiten Tagesordnungspunkt „Informationen aus derBundeskonferenz der Kommunalarchive beim DeutschenStädtetag“ moderierte Dr. Ernst Otto Bräunche (Karlsruhe), derzunächst einen kurzen Überblick über die Schwerpunkte derTätigkeit der BKK im abgelaufenen Jahr gab. Drei Themen stan-den im Mittelpunkt seiner Ausführungen: die Hilfsmaßnahmennach dem Einsturz des Stadtarchivs Köln, die auch in den kom-menden Jahren eine Daueraufgabe der BKK bleiben werden; diedurch die Neuregelung der Personenstandsgesetzgebung erheb-lich gestiegene Arbeitsbelastung der Kommunalarchive, die per-sonelle Konsequenzen haben muss; und schließlich die nachSparplänen der Stadt Karlsruhe von der Beraterfirma SteriaMummert Consulting (Dr. Gerd Schneider) durchgeführteOrganisationsanalyse des Stadtarchivs Karlsruhe, die für viele

Archive von Interesse sein dürfte, da sie zu einem Umdenken derStadt und sogar zu einer Personalvermehrung geführt hat.Dem allgemeinen Arbeitsbericht folgten die Berichte aus denUnterausschüssen der BKK.Für den Unterausschuss „Aus- und Fortbildung“ stellte Dr.Marcus Stumpf (Münster) das von der BKK verabschiedete Posi-tionspapier zum Berufsbild des Kommunalarchivars vor. Das dortgeforderte Profil mag überambitioniert erscheinen, es soll jedochden kommunalen Archivträgern nicht nur sachliche Kriterien fürNeueinstellungen an die Hand geben, sondern auch ihr Bewusst-sein für die Anforderungen archivarischer Tätigkeit schärfen undhierdurch der Neubesetzung von Archivstellen mit nicht ausrei-chend qualifiziertem Personal entgegenwirken. Des Weiteren wiesder Berichterstatter auf geplante Fortbildungsveranstaltungenhin.Dr. Peter K. Weber (Brauweiler) berichtete aus dem vor einemJahr konstituierten Unterausschuss „Bestandserhaltung“. Dieserhat ein Positionspapier erarbeitet, das von der BKK verabschiedetwurde und demnächst auf ihrer Homepage nachgelesen werdenkann. Es richtet sich in erster Linie an die Archivträger und weistbesonders darauf hin, dass aus Gründen der Wirtschaftlichkeitder Schwerpunkt der Bestandserhaltung auf der vorbeugendenAnalyse von Schadensfaktoren und Risikomanagement liegenmuss, nicht auf der nachträglichen Reparatur bereits eingetrete-ner Schäden. Die künftige Arbeit des Unterausschusses wird derErarbeitung konkreter Standards und Empfehlungen gelten.Der von Dr. Roland Müller (Stuttgart) vorgesehene Bericht ausdem Unterausschuss „Historische Bildungsarbeit“ musste ausZeitgründen entfallen.Dr. Robert Zink (Bamberg) berichtete aus der breitgefächertenArbeit des Unterausschusses „Informationstechnologie“. Zu denArbeitsschwerpunkten gehörten wie in den letzten Jahren dieFolgen der Neuregelungen auf den Gebieten der Personen-standsgesetzgebung und der Archivierung von Meldedaten. Inbeiden Bereichen besteht das Problem, dass die Hersteller dereinschlägigen EDV-Programme zwar brauchbare Fachanwen-dungen entwickelt haben, die Erfordernisse der Archivierungaber kaum oder gar nicht berücksichtigen. Der Unterausschussbemüht sich, die notwendigen Verbesserungen zu erreichen. ZurArchivierung kommunaler Websites hat der Unterausschuss

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inzwischen ein Papier zur Archivwürdigkeit vorgelegt, eineHandreichung zur technischen Durchführung ist in Arbeit.Weitere Themen waren das geplante „Archivportal D“ und dieErarbeitung eines Anforderungsprofils für ein digitalesLangzeitarchiv.Aus dem Unterausschuss „Überlieferungsbildung“ berichtete Dr.Irmgard Christa Becker (Saarbrücken), dass die Empfehlung zurÜberlieferungsbildung bei Unterlagen der Standesämter von derBKK angenommen wurde und auf deren Homepage eingesehen

werden kann. Die im „Archivar“ veröffentlichte Arbeitshilfe zurErstellung eines Dokumentationsprofils für Kommunalarchive istvom Kulturausschuss des Deutschen Städtetags offiziell gebilligtworden.Der vierte Tagesordnungspunkt, die aktuelle Viertelstunde,wurde aus Zeitgründen fallengelassen, da die hier zu behandeln-den Themen auch auf der Mitgliederversammlung des VdA amFolgetag behandelt wurden.

Horst-Dieter Beyerstedt, Nürnberg

FACHGRUPPE 3: KIRCHLICHE ARCHIVE

Seit mehreren Jahren befassen sich Kolleginnen und Kollegen ausevangelischen und katholischen Archiven mit der Suche nach deroptimalen Lösung zum Aufbau eines Online-Portals für dieBenutzung archivischer Kirchenbücher, den am meisten undintensivsten benutzten Quellen in kirchlichen Archiven. In derdiesjährigen Sitzung der Fachgruppe 3 stand die Präsentationvon Kirchen- oder Matrikelbüchern im Internet im Mittelpunktder Diskussion.Während einige Archive bei der Digitalisierung der Matrikelansetzen, die mit regionalkirchlichen Eigenmitteln oder mitUnterstützung übergeordneter Digitalisierungs-Projekte realisiertwerden sollen, richten andere Archive ihre Anstrengungen zuerstauf den Aufbau eines organisatorischen, technischen und rechtli-chen Rahmens für eine gemeinsame Plattform zur Online-Präsentation von Kirchenbüchern (www.kirchenbuchportal.de).Zur weiteren Unterstützung der Diskussion referierte der Leiterdes Diözesanarchivs im niederösterreichischen St. Pölten, Dr.Thomas Aigner, zum Thema „Von MONASTERIUM nachMATRICULA – Erfahrungen im Umgang mit der Bereitstellungarchivalischer Quellen im Internet“. Aigner, der auch Vorsitzen-der der Arbeitsgemeinschaft der DiözesanarchivarInnen Öster-reichs ist, setzte bei den Erfahrungen ein, die unter seiner Koor-dination mit dem Urkunden-Portal MONASTERIUM gewonnenwurden. Es entwickelte sich von einer in Niederösterreich begon-nenen Plattform zur Präsentation klösterlicher Urkunden zumweltweit größten digitalen Urkundenarchiv mit zur Zeit etwa140.000 digitalen Faksimiles von Urkunden aus Ländern Mittel-europas und angrenzender Regionen. Mit zunehmendem Wachs-tum entstand aus dem losen organisatorischen Rahmen für eineWebsite (www.monasterium.net) eine eigene Institution.Aufgrund dieses Erfolgs plädierte Aigner auch im Hinblick aufdie Kirchenbücher für ein Vorgehen, das ausgehend von Pilotpro-jekten auf die allmähliche Gewinnung weiterer Kooperations-partner und ein stetiges Wachstum setzt. Zu einem solchenProjekt haben sich der evangelische Verband kirchlicher Archivein Deutschland, das Bistumsarchiv Passau, das Oberösterreichi-sche Landesarchiv und das Diözesanarchiv St. Pölten zusammen-gefunden. Das vorläufige Ergebnis (Beta-Phase) kann unter

www.matricula-online.eu betrachtet werden. Das gegenwärtigeZiel ist die Gewinnung weiterer Erfahrungen und die Erhebungder Anforderungen der Nutzerinnen und Nutzer. Dazu wurdenbereits fast 800.000 Matrikelseiten digitalisiert und in Zusam-menarbeit mit der Firma AUGIAS auf einer verlinkten Website(www.matricula.findbuch.net) recherchierbar gemacht. Zu derVielzahl an Fragen, die für den Aufbau eines flächendeckendenKirchenbuchportals noch zu beantworten sind, zählen der recht-liche Rahmen und die wirtschaftliche Absicherung eines solchenVorhabens. Dies wird die Mitglieder der Fachgruppe sicherlich inden kommenden Jahren weiter beschäftigen.An die fachliche Aussprache schloss sich eine Aktuelle Stundean. Dabei erhielten die Fachgruppenmitglieder einen Berichtüber die Zerstörungen, die das verheerende Erdbeben im italieni-schen L’Aquila auch im dortigen Diözesanarchiv angerichtet hat.Die Anwesenden sandten namens der deutschen Kirchenarchi-var/innen eine Solidaritätsadresse an die Kolleg/innen inL’Aquila.Bei den anschließenden Wahlen zur Fachgruppenleitung tratendie bisherigen Amtsinhaber Prof. Dr. Hans Ammerich (Archivdes Bistums Speyer) und Dr. Michael Häusler (Archiv desDiakonischen Werkes der EKD, Berlin) nicht zu einer möglichenWiederwahl an; sie wurden mit Dank verabschiedet. Zum neuenFachgruppenvorsitzenden wurde Dr. Edgar Kutzner (Bistums-archiv Fulda) und als weitere Fachgruppenvertreterin Dr. CarliesMaria Raddatz-Breidbach (Landeskirchenarchiv Dresden) ge-wählt.Einen ebenso angenehmen wie festlichen Abschluss des Fach-gruppenprogramms stellte wiederum der Empfang der Fach-gruppe 3 dar, der diesmal auf Einladung des gastgebendenBistums Regensburg und der Evangelisch-lutherischen Landes-kirche in Bayern im Saal des Kolpinghauses stattfand. Dabeikonnten wieder zahlreiche Mitglieder des VdA-Vorstands begrüßtwerden. Wegen der künftigen Verschiebung des Archivtags umeinen Wochentag nach hinten wird geprüft, ob beim kommen-den Kongress in Dresden ein neuer zeitlicher und organisatori-scher Rahmen für diesen traditionellen Empfang gefunden wer-den muss.

Michael Häusler, Berlin

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MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES VdA

FACHGRUPPEN 4 UND 5:HERRSCHAFTS- UND FAMILIENARCHIVE, WIRTSCHAFTSARCHIVE

Rund fünfzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer zählte die schontraditionell gemeinsame und von Dr. Ulrich S. Soénius (Köln)gewohnt souverän moderierte Sitzung der Adels- undWirtschaftsarchivare auf dem Deutschen Archivtag am 23.September 2009 in Regensburg.Im ersten Vortrag stellte Bettina Hasselbring M.A. das Konzepteines digitalen Archivs beim Bayerischen Rundfunk in Münchenvor. Für das Historische Archiv bedeutet es eine große Chance,dass der Bayerische Rundfunk beabsichtigt, eine einheitliche IT-Struktur einzuführen. Dabei wird es unter anderem daraufankommen, das verwendete IBM FileNet mit der eingesetztenSoftware FAUST zu vernetzen. Das Archiv kann in diesem Pro-zess seine Kernkompetenzen einbringen, d. h. sein Know-howbei der Definition von Metadaten. Diese Leistung erbringt dasArchiv beispielsweise heute schon, indem Mitarbeiterinnen undMitarbeiter geschult werden.Hasselbring verwies ferner auf neuartige Herausforderungen wieDatenbanken und SAP-Anwendungen, für die sich aus archivi-scher Sicht derzeit noch keine Lösungen abzeichnen. Dessenungeachtet lautete ihr Appell an die Archive, alles zu tun, um„Staudämme gegen die kommende digitale Welle zu errichten.“Ein Überblick über unterschiedliche digitale Konzepte innerhalbder ARD rundete ihren Beitrag ab.Anschließend berichtete Dr. Christian Hillen über die „Digitali-sierung von Industriefilmen“ bei der Stiftung Rheinisch-Westfä-lisches Wirtschaftsarchiv Köln (RWWA). Bislang hatte dasRWWA zwar nur einzelne Filme digitalisieren lassen, damit abersogar „Verkaufserfolge“ erzielen können. Das von Hillen be-schriebene Projekt konnte realisiert werden, da der Deposital-geber, die Deutz AG, die Finanzierung der Filmdigitalisierungzugesagt hatte.Nachdem zunächst die rechtlichen Aspekte geklärt wordenwaren, konnte mit der technischen Umsetzung begonnen werden.Für die Restaurierung galt der Grundsatz, dass der ursprüngli-che, analoge Zustand der Filme möglichst erkennbar bleiben soll-te. In technischer Hinsicht strebte das RWWA eine maximaleDigitalisierungsqualität an; so gewährleistet das gewählte HD-Format auch die Sendefähigkeit in der heutigen Fernsehwelt. Von

den HD-Cam-Bändern, die von der Firma Sony entwickelt wur-den, können DVDs hergestellt werden. Mittelfristig ist angedacht,diese Bänder auch auf Server zu überspielen.Hillen betonte die positiven Erfahrungen mit der Digitalisierungvon Industriefilmen. Insbesondere vor dem Hintergrund derFinanz- und Wirtschaftskrise räumte er allerdings ein, dass eineFinanzierung der übrigen Filmbestände des RWWA aktuell nichtabsehbar sei.Im dritten Vortrag plädierte Claudia Adelberger vom BMWGrouparchiv dafür, die fortschreitende Digitalisierung derArbeits- und Lebenswelt nicht nur als Herausforderung, sondernauch als Chance zu begreifen. Das BMW-Archiv hat seit 2008den Auftrag, wie andere Abteilungen des Konzerns Einnahmenzu generieren und somit einen Mehrwert für das Unternehmenzu schaffen. Dabei kommt dem Archiv zugute, dass es schonfrühzeitig auf die Digitalisierung seiner Bestände gesetzt hat.Informationen werden kundengerecht nach Zielgruppen aufbe-reitet. Zu den Empfängern gehören – über den Weg der internenLeistungsverrechnung – vor allem Stellen wie Marketing- undPresse-Abteilung, extern aber auch Kunden und die interessierteÖffentlichkeit. Die Referentin präsentierte eine beeindruckendeReihe von Produkten, mit denen BMW Grouparchiv durchauskommerzielle Erfolge erzielt.Adelberger verschwieg aber auch nicht, dass hierfür zusätzlichesPersonal wie auch externe Dienstleister, z. B. zur Abwicklung desGeschäfts, notwendig sind. Darüber hinaus beschrieb sie denZwiespalt, dass ein zu intensives „History Marketing“ nicht zurFolge haben dürfte, dass die Kernaufgaben eines HistorischenArchivs vernachlässigt werden. Dieser Ball wurde in derDiskussion aufgenommen, indem grundsätzliche Zweifelgeäußert wurden, ob ein Historisches Archiv überhaupt als„Profit-Center“ arbeiten könne.Am Rande der Sitzung wählten schließlich die anwesendenArchivare an Herrschafts- und Familienarchiven mit Dr. Eber-hard Fritz vom Archiv des Hauses Württemberg einen neuenLeiter der Fachgruppe 4 als Nachfolger für den nicht mehr kan-didierenden Dr. Martin Dallmeier.

Detlef Krause, Frankfurt am Main

FACHGRUPPE 6:ARCHIVE DER PARLAMENTE, POLITISCHEN PARTEIEN,STIFTUNGEN UND VERBÄNDE

Der Vorsitzende Dr. Günter Buchstab eröffnete die Sitzung undkündigte an, dass er nach über 16 Jahren Amtszeit für eine weite-re Amtsperiode nicht mehr zur Verfügung stehe. Zu seinerNachfolgerin wurde auf seinen Vorschlag Dr. Monika Storm,Leiterin des Landtagsarchivs Rheinland-Pfalz, gewählt. AlsStellvertreter wählte die Fachgruppe Harry Scholz vom Archivder Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. NeueSchriftführerin ist Dr. Angela Keller-Kühne vom Archiv fürChristlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Dr. Buchstab beglückwünschte den neuen Vorstand zu seinerWahl und wünschte ihm alles Gute für seine Amtszeit. DerEhrenvorsitzende und Mitgründer der Fachgruppe, GerhardEyckers, würdigte die Verdienste Günter Buchstabs um denAufbau der Fachgruppe und hob die stets konstruktive und kol-legiale Zusammenarbeit mit ihm hervor. Seinem Engagement seies zu verdanken, so Eyckers, dass die Partei- und Parlaments-archivare heute national und auch international ein integralerBestandteil des Archivwesens sind.

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Nach Abschluss des Wahlgangs bildete der Vortrag von ProfessorHanns Jürgen Küsters, Nachfolger von Dr. Günter Buchstab imAmt des Hauptabteilungsleiters Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik, den Schwerpunktder Veranstaltung. Küsters gab einen umfassenden Überblicküber das unterschiedliche Angebot der im Netz vorhandenenPortale zur Geschichte und Zeitgeschichte. Die Palette umfasstSeiten zur Parteien- und Landesgeschichte, biographischeDarstellungen sowie Themenportale und Online-Editionen. Vonder Qualität her sind diese Präsentationen höchst unterschied-lich. Der Nutzer findet sowohl unstrukturiert ins Netz gestellteDarstellungen, Quellentexte und Audiomaterialien unbekannterHerkunft, aber auch Portale mit einem umfassenden und struk-turierten Informations- und Service-Angebot, das sowohl denpolitisch interessierten Laien, Schüler, Studenten und dasFachpublikum anspricht.Am Beispiel des von ihm in Kooperation mit der StiftungBundeskanzler-Adenauer-Haus konzipierten Internet-Portalswww.konrad-adenauer.de schilderte Küsters die Bedeutung desInternets für die politische Bildung und die zeitgeschichtlicheForschung. Unter Bezugnahme auf seinen Vortrag in derSektionssitzung 2 des Deutschen Archivtages unter dem Motto„Bildungsarbeit im Netz“ am Vormittag, in der das Portal vorge-stellt wurde, erläuterte er die enorme Bedeutung des Internetsinsbesondere für junge Menschen als Informationsquelle. InDeutschland stellen Jugendliche ca. 80% der Internet-Nutzer.Einerseits gelte es, diese Zielgruppe mit einem zeitgemäßen,attraktiven und fundierten Angebot anzusprechen, andererseitsmüssen Internet-Portale aber auch den Bedürfnissen des histori-schen Fachpublikums gerecht werden. Ziel ist es, eine breit ge-fächerte Gruppe von Internet-Nutzern ansprechen: zeitgeschicht-lich Interessierte, insbesondere Schüler, Lehrer und Studierende,aber auch die wissenschaftliche Fachwelt.Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wird dem Nutzer desKonrad-Adenauer-Portals ein großes Spektrum an Informationengeboten, das sowohl Antworten auf populäre, aber auch auf wis-senschaftliche Fragestellungen gibt. Dieses Portal ist, wie auch

das bereits 2000 vom Archiv für Christlich-DemokratischePolitik konzipierte Portal zur Kanzlerschaft Helmut Kohls einBaustein für den Aufbau eines Internet-Portals zur Geschichteder CDU. Neben den wichtigsten Daten der Biografie Adenauers,einer Fotogalerie und einer Ahnentafel finden sich auch eineZusammenstellung seiner vielfältigen Erfindungen, Patente undWürdigungen sowie ein reichhaltiger Fundus an Zitaten undTextdokumenten. Darüber hinaus bietet das Portal Plakate, Ton-und Videodokumente. Überblicksdarstellungen zeichnen dieLebensstationen Adenauers über vier Epochen deutscher Ge-schichte von 1876 bis 1967 nach. Ein weiteres Herzstück ist derTerminkalender des Bundeskanzlers, der mit zahlreichen Doku-menten hinterlegt ist. Eine umfangreiche Bibliographie, eineÜbersicht über die Schriften Konrad Adenauers sowie die direkteVerlinkung mit den einschlägigen Beständen des Archivs fürChristlich-Demokratische Politik und der Hinweis auf aktuelleVeranstaltungen und Jubiläen runden das Angebot ab.Zeitgeschichtliche Portale im Internet sind aus dem modernenArchivwesen nicht mehr wegzudenken. Sie stoßen aber, wie dieanschließende Diskussion zeigte, durch ein rigides Urheberrechtund rigide Schutzfristen für Archivalien an Grenzen. Sowohl hin-sichtlich der Liberalisierung dieser Fristen, als auch hinsichtlicheiner Harmonisierung des Urheberrechts auf gesamteuropäischerEbene besteht Handlungsbedarf, damit die Archive in der moder-nen Informationsgesellschaft ihren neuen Aufgaben gerecht wer-den können.Im Anschluss zog Dr. Buchstab eine Bilanz seiner Amtszeit alsVorsitzender der Fachgruppe. Besonders hob er die Gründungder Sektion der Partei- und Parlamentsarchivare im Inter-nationalen Archivrat 1992 hervor, der er bis 2000 vorstand.Auch verwies er darauf, dass seitens der Partei- und Parlaments-archivare wichtige Impulse für die Arbeit des Verbandes deut-scher Archivare und Archivarinnen ausgegangen seien. Die neueVorsitzende, Frau Dr. Storm, dankte in ihrem SchlusswortDr. Buchstab und der langjährigen Schriftführerin Frau Dr.Höpfinger für die geleistete Arbeit und den Kolleginnen undKollegen für das ausgesprochene Vertrauen.

Angela Keller-Kühne, Sankt Augustin

FACHGRUPPEN 7 UND 8:MEDIENARCHIVE, ARCHIVE DER HOCHSCHULEN SOWIEWISSENSCHATLICHEN INSTITUTIONEN

Die Fachgruppen 7 und 8 des VdA, Medienarchive und Archiveder Hochschulen sowie wissenschaftlichen Einrichtungen, tagtentraditionell gemeinsam beim Deutschen Archivtag in Regens-burg. Wegen der notwendigen Regularien – die Fachgruppe 8hatte ihren Vorstand zu wählen, was die Fachgruppe 7 bereits beiihrer Frühjahrstagung im Mai 2009 bewerkstelligt hatte – standin diesem Jahr nur ein zentrales Thema auf der Agenda, nämlich„Probleme mit unbekannten Nutzungsarten bei derRetrodigitalisierung“.Dabei erwies sich der von der Fachgruppe 7 besorgte Referent alsein wahrer Glücksgriff: Tobias Hillegeist, Publikationsreferent

der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und trotz seinerJugend ein ausgewiesener und gewiefter Urheberrechtsfachmannüberzeugte die rund 60 Teilnehmer der Veranstaltung und regtedas Auditorium zu einer mehr als 45-minütigen engagierten undleidenschaftlichen Diskussion an.Dem Referenten gelang es überzeugend, die bei der Entstehungder Dokumente unbekannten Nutzungsarten in den Gesamt-rahmen der für Archivgut, von der schriftlichen bis zur AV-Über-lieferung, relevanten Rechtsfelder zu stellen. Vor allem aber mach-te Tobias Hillegeist dem Auditorium deutlich, dass trotz mögli-cher vertraglicher Zusicherung von Gesamtrechten bei der Ent-

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stehung von Dokumenten, die zu dieser Zeit unbekanntenNutzungsarten bei einer Retrodigitalisierung dennoch nachträg-lich geklärt und ggf. erworben werden müssen. Dies folgt zumeinen aus der sog. Zweckübertragungslehre, wonach pauschaleVereinbarungen danach auszulegen sind, welche Rechte derVertragspartner zur Erfüllung des Vertragszwecks benötigt. Zumanderen scheiterte die Übertragung von Onlinerechten in derVergangenheit an der Vorschrift des § 31Abs. 4 (alte Fassung)UrhG, wonach eine Vereinbarung unwirksam war, durch die derUrheber Rechte an Nutzungsarten übertragen wollte, die zumZeitpunkt des Vertragsschlusses noch unbekannt waren. Dabeigilt das Recht der Onlineverwertung nach überwiegenderAnsicht seit dem Jahre 1995 als bekannt. Eine Vereinbarung,wonach der Urheber also „alle bekannten und auch unbekann-ten Nutzungsrechte überträgt“, war demzufolge nach alterRechtslage zumindest hinsichtlich der Übertragung der unbe-kannten Nutzungsrechte unwirksam.Sofern an einem Werk jedoch in der Vergangenheit alle wesentli-chen Rechte als ausschließliche sowie räumlich und zeitlichunbegrenzte Rechte an einen anderen übertragen wurden, geltengem. § 137 l UrhG auch die Nutzungsrechte eingeräumt, die zumZeitpunkt des Vertragsschlusses noch unbekannt gewesen sind.

Zu beachten ist jedoch, dass diese gesetzliche Übertragungsfikti-on nur für Rechteübertragungen ab dem 1.1.1966 gilt. Darüberhinaus ist zu beachten, dass im Einzelfall genau geprüft werdenmuss, ob die genannten Tatbestandsvoraussetzungen von § 137 lUrhG vorliegen. Beweisen müsste dies, sofern es zu einem Prozesskäme, das Archiv bzw. die Einrichtung, die sich auf § 137 l UrhGberuft.Hillegeist ging dann ausführlich auf die Urheberrechtssituationim Bereich der wissenschaftlichen Publikationen, z. B. von Hoch-schullehrern, ein, erklärte die Situation bei Schriftgutunikatenund Nachlässen und beschäftigte sich mit verschiedenen Verwer-tungsmöglichkeiten bis hin zur Internetverwertung.Sabine Happ, die neue FG 8 Vorsitzende, brachte ihre Eindrückevon dem souveränen Auftritt des Referenten nach der Veranstal-tung auf den Punkt, als sie konstatierte „Sie waren ein wirklichesHighlight“.Nachzutragen ist noch das Ergebnis der Vorstandswahlen derFachgruppe 8: Neben Sabine Happ als neue Vorsitzende wird inden nächsten vier Jahren Jens Blecher aus Leipzig die Fachgrup-pe im Gesamtvorstand des VdA vertreten.

Heiner Schmitt, Ingelheim

SITZUNGSBERICHT ARBEITSKREIS: „ARCHIVPÄDAGOGIK UND HISTORISCHEBILDUNGSARBEIT“

Der VdA-Arbeitskreis „Archivpädagogik und Historische Bil-dungsarbeit“ griff auch in diesem Jahr wieder das Thema desArchivtages auf und stellte die Sektion in den Kontext des Rah-menprogramms „Archive im digitalen Zeitalter“. Die Modera-torin Prof. Dr. Susanne Freund (FH Potsdam) führte in dieSektion unter dem Titel: „Mit den Quellen allein zu Haus –Authentisches aus dem Internet?“ ein und verwies auf die Pers-pektiven und Grenzen der Nutzung von Internetquellen.Das Grundsatzreferat hielt Dr. Vadim Oswalt (Universität Gie-ßen) zu dem Thema: „Quellen im Internet zwischen Dokumen-tation und Blog“. Oswalt ging davon aus, dass es einen be-stimmten methodisch kontrollierten und in historische Erkennt-nisprozesse eingebetteten Umgang mit Quellen gibt, für den dieArchive wesentliche Voraussetzungen schaffen. Dieser bilde denKern der Historischen Wissenschaften und werde deshalb auchin historischen Bildungsprozessen elementarisiert. Der Vortragging der Frage nach, was eigentlich das spezifisch Neue an derNutzung von Quellen in Online-Dokumentationen, Foren, Blogsetc. sei. Laut Oswalt bildet eine zentrale Neuerung der Umstand,dass die Bereiche des wissenschaftlichen und des geschichtskul-turell heterogen definierten Umgangs mit Quellen im gleichenMedium parallel existieren. Der damit einhergehende Verlust anVerlässlichkeit und die Gefahr der Manipulation erfordere fun-dierte und strukturierte Interpretationsansätze. Insofern gehörezum Verständnis des Gebrauchs von historischen Quellen imInternet die Analyse geschichtskultureller Intentionen.

In der anschließenden regen Diskussion wurde u. a. erörtert, wel-che Bedeutung Internetquellen für die Historische Bildungs-arbeit und Archivpädagogik einnehmen und inwiefern die didak-tischen Methoden hiervon beeinflusst werden. Dies betrifft nichtnur die Quellenkritik, die einen besonders sensiblen Umgangmit digitalisierten Archivalien und die Förderung von Medien-kompetenz voraussetzt.In diesem Kontext stand auch der zweite Beitrag von Dr. OliverSander (Bundesarchiv Koblenz): „Wiki und die starken Bilder.Die Kooperation von Bundesarchiv und Wikimedia“. Sander refe-rierte über die Bilddatenbank des Bundesarchivs, die seit dem 11.September 2007 im Internet unter der Adresse www.bild.bundesarchiv.de zugänglich ist. Dieses digitale Bildarchiv war Ausgangs-punkt der Kooperation des Bundesarchivs mit WikimediaDeutschland und der kostenlosen Bereitstellung von etwa 90.000Fotos auf wikimedia Commons im Dezember 2008. Sander stell-te die Anfänge, Hintergründe und Auswirkungen dieser Koope-ration vor. Ferner erläuterte er die Einordnung dieses Bestandesin den Entstehungszusammenhang.Die enormen Zugriffszahlen auf dieses Online-Angebot belegenden Bedarf nach digitalisiertem Fotomaterial, das sowohl in derschulischen und außerschulischen Bildungsarbeit als auch vonder historischen Forschung genutzt wird. Aus diesem Grundegehen auch Kommunalarchive wie das Stadtarchiv Harsewinkelin Ostwestfalen-Lippe mehr und mehr dazu über, Internet-quellen für die Öffentlichkeit bereit zu stellen. Über die Bildung

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von Netzwerken nutzen sie Synergieeffekte, um ihre Bestände fürdie Historische Bildungsarbeit und Archivpädagogik verfügbarzu machen. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür stellte EckhardMöller (Stadtarchiv Harsewinkel) am „Beispiel Erinnerungs-kultur in Ostwestfalen-Lippe“ vor. Die Projektwerkstatt Er-innerungskultur Ostwestfalen-Lippe, getragen von den KreisenGütersloh und Paderborn, erarbeitete von 2000 bis 2002 zumeinen ein Konzept für eine Dauerausstellung in der Gedenkstättedes Kriegsgefangenen-Stammlagers Stukenbrock-Senne. Zumanderen entwickelte sie Impulse für die Neugestaltung derAusstellung „Kult- und Terrorstätte der SS auf der Wewelsburg/Paderborn“. Ziel des Projektes war es, Vereine und Initiativen derRegion, die zu Themen der nationalsozialistischen Diktaturarbeiten, dauerhaft zu vernetzen. Im Rahmen dieses Netzwerkeswurde auch eine Projektgruppe Archive gebildet, die über dasEnde der Projektwerkstatt hinaus aktiv blieb. An dieser Projekt-gruppe beteiligten sich die Stadtarchive Detmold, Gütersloh undHarsewinkel, das Stadtarchiv und die LandesgeschichtlicheBibliothek Bielefeld sowie das Hauptarchiv der von Bodel-schwinghschen Anstalten Bethel. Als erstes Ergebnis wurdenArchivalien auf der Website www.lwl.org/westfaelische-geschichte/

portal/Internet/input_felder/langDatensatzebene4.php?urlI-D=185&url_tabelle=tab_websegmente online gestellt. Möllerberichtete über die konzeptionellen Strategien dieserProjektgruppe, die Struktur der Webpräsentationen und liefertedamit einen Werkstattbericht und eine Bilanz der bisherigenArbeit.Bei der von Möller skizzierten Initiative handelt es sich um einBeispiel lokaler Erinnerungskultur, die über online-Medieneinem breiten Publikum zugänglich gemacht wird.Präsentationen und Angebote für die Historische Bildungsarbeitund Archivpädagogik erlangen somit eine Breitenwirksamkeit,die zukunftweisend ist. Dies honorierten auch die zahlreichenTeilnehmer der Sektion, deren Interesse in der Abschlussdiskus-sion vor allem auf quellenkritische und methodische Problemegerichtet war. Die rege Resonanz belegt erneut die Bedeutung derHistorischen Bildungsarbeit und Archivpädagogik im Aufgaben-kanon der Archive und die zentrale Funktion medialer Vermitt-lungskompetenzen. Die zunehmende Präsenz von Internetquel-len wird auch weiterhin die Entwicklung neuer didaktischerMethoden und die Konzentration auf neue Zielgruppen in derarchivischen Bildungsarbeit erfordern.

Susanne Freund, Potsdam

BERICHTE DERARBEITSKREISE IN DERMITGLIEDERVERSAMMLUNGARBEITSKREIS BERUFSBILD

Der Arbeitskreis Berufsbild ist 2006 u. a. aus den ehemaligenArbeitskreisen Diplomarchivarinnen und -archivare und dem AKFAMI hervorgegangen und aus dem in allen Fachgruppen ver-breiteten Wunsch einer beruflichen Standortbestimmung undSelbstvergewisserung in Zeiten eines dynamisch empfundenenWandels der Rahmenbedingungen. Er wird von Vertretern allerFachgruppen, der archivischen Spitzenverbände sowie den Aus-bildungseinrichtungen getragen und tagt in der Regel zweimaljährlich in der Geschäftsstelle des VdA in Fulda. 2009 kam er nureinmal, nämlich am 9. September zusammen, konnte auf demDeutschen Archivtag aber wiederum seine Forumsveranstaltungabhalten über die in diesem Heft ebenfalls berichtet wird.Zwei zentrale Themen haben die Arbeit des Arbeitskreises in denletzten Jahren vor allem, aber nicht ausschließlich bestimmt: der

Entwurf eines fachgruppenübergreifenden Berufsbildes und derVersuch, das Tarif-Dilemma des BAT für Archivarinnen undArchivare zu beseitigen. Die neu abgeschlossenen TarifverträgeTVöD und TVL und die noch in Verhandlung stehendeEntgeltordnung bieten die aussichtsreiche Chance, hier nun imVerbund mit den benachbarten Berufsverbänden zum Erfolg zukommen. Für beide Themen kann der Arbeitskreis zum Ende derLegislaturperiode ein respektables Ergebnis vorweisen.Das im Vorfeld breit diskutierte, thesenartig formulierteBerufsbild konnte auf dem Deutschen Archivtag in Regensburg2009 als Handout bereitgestellt werden; es wurde inzwischenauch im ARCHIVAR veröffentlicht. Ein Berufsbild ist den sichverändernden Rahmenbedingungen entsprechend dynamisch.Insofern betrachtet der Arbeitskreis das Papier mit derPublikation nicht als abgeschlossen, sondern als „permanentwork in progress“. Um den Diskussionsprozess in Gang zu hal-

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MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES VdA

ten und ihm eine Plattform zu geben, soll auf der Homepage desVdA im Mitgliederbereich die Möglichkeit eines Diskussions-forums geschaffen werden.Der Unterarbeitskreis Tarif konnte mit bis zu vier Sitzungen proJahr seine Arbeit mit der Fertigstellung fein strukturierterTätigkeitsmerkmale für jede der neuen Entgeltgruppen E2-E15ebenfalls abschließen. Das eigentliche Ziel ist es aber, die speziel-len Tätigkeitsmerkmale durch allgemeine und juristisch „durch-geklagte“ Tätigkeitsmerkmale zu ersetzen und damit eine größe-re Flexibilität in der Einstufung zu ermöglichen. FachspezifischeTätigkeitsmerkmale, wie sie im BAT für Archivare seit den 1960erJahren zementiert sind, tragen einem allfälligen Berufsbildwandelkeine Rechnung und behindern eine Entwicklung. Wie schwieriges ist, einmal tarifvertraglich kodifizierte Formulierungen zu ver-ändern, zeigen die zähen aber wenig erfolgreichen Bemühungen

es AK Diplomarchivarinnen und Diplomarchivare seit 1994.Dr. Hans-Holger Paul vom Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung,der gemeinsam mit seinem Stiftungskollegen Harry Scholz denAbschlussbericht des Unterarbeitskreises auf der Forumsveran-staltung präsentierte, stand seit dieser Zeit als tariffachlicherBerater allen Initiativen mit großem tarifpolitischen Sachverstandzur Seite und war auch federführend an der Texterarbeitung desSchubladenpapiers beteiligt. Im Juni 2009 wurde er in denRuhestand versetzt. Der Vorsitzende des Arbeitskreises StefanBenning dankte Hans-Holger Paul für sein großes Engagementund seinen unschätzbaren fachlichen Rat und verabschiedete ihnauch von Seiten des Arbeitskreises. Mit Harry Scholz alsNachfolger ist für eine fachliche und institutionelle Kontinuitätgesorgt.

Stefan Benning, Bietigheim-Bissingen

ARBEITSKREIS ARCHIVPÄDAGOGIK UND HISTORISCHE BILDUNGSARBEIT

Der Arbeitskreis „Archivpädagogik und Historische Bildungs-arbeit“ hatte in diesem Jahr einen Grund zum Feiern: Zum 10.Mal konnten die Mitglieder des Arbeitskreises eine eigeneSektion im Rahmen des Deutschen Archivtages anbieten.Nachdem der schon seit 1986 bestehende Arbeitskreis im Jahr1998 in den VdA aufgenommen und dort als 2. VdA-Arbeitskreisdie Zustimmung des damaligen Vorstands gefunden hatte, steu-erten die Mitglieder 1999 in Weimar zum ersten Mal ein eigenesthematisches Angebot zum Programm des Archivtags bei. Da imJahr 2004 wegen des Internationalen Archivtages in Österreichkein Deutscher Archivtag stattfand, kommt somit in diesem Jahrdas kleine Jubiläum zustande.Das Thema der diesjährigen sehr gut besuchten Veranstaltungam Dienstagnachmittag lautete: „Mit den Quellen allein zuHaus. Authentisches aus dem Internet.“ Im Mittelpunkt derVorträge standen Überlegungen zum Umgang mit digitalisiertenQuellen im Internet im Rahmen der Historischen Bildungsarbeitder Archive.Die 23. Archivpädagogenkonferenz einschließlich der Mitglieder-versammlung fand in diesem Jahr vom 11.-13. Juni statt. Kon-ferenzort war das Landesarchiv Baden-Württemberg, StaatsarchivLudwigsburg. Angesichts stets eng bleibender Haushaltsmittelwurden neue Wege und Formen vorgestellt, archivpädagogischeAngebote auch weiterhin aufrechterhalten zu können bzw. neuaufzulegen. Erläutert wurden unter anderem Beispiele für dieEinbeziehung ehrenamtlich arbeitender Personen sowie dieNutzung vorhandener – aber zum Teil noch wenig bekannter –Instrumente wie etwa das Freiwillige Soziale Jahr Kultur. DieGastgeber der Konferenz, Dr. Peter Müller und Dr. Elke Koch,informierten die Teilnehmer über ihr Konzept zur Einbeziehungjunger Leuten im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahr Kultur,durch das sie neue Impulse für archivpädagogisches Arbeiten set-zen konnten. Dr. Gunnar Teske vom LWL Archivamt fürWestfalen berichtete über die NRW-Landeswettbewerbe „Archiv

und Jugend“, durch die den Archiven die Möglichkeit gegebenwird, mit geringem Kostenaufwand anspruchsvolle archiv-pädagogische Angebote durchführen zu können. Ebenfalls vorge-stellt wurde das Projekt „JES“. Die Abkürzung steht für „Jugendengagiert sich“; dabei geht es um generationenübergreifendeAngebote – unter anderem auch – zur Geschichte, zum Beispielbei der Unterstützung eines Heimatmuseums.Die nächste Archivpädagogenkonferenz findet im Mai/Juni 2010in Potsdam statt. Das genaue Datum wird auf der Internetseitedes Arbeitskreises mitgeteilt.Im November 2008 und im Februar 2009 traf sich ein Koordi-nierungsausschuss des Arbeitskreises in Münster. Seine Aufgabebestand in erster Linie darin, die Sektion beim Archivtag sowiedie Archivpädagogenkonferenz vorzubereiten. Darüber hinauswurden aktuelle Entwicklungen im Bereich der Archivpädagogiksowie die ersten Ergebnisse für die Sammlung der Ideen zurArchivpädagogik („Archiv konkret“) diskutiert.An den Universitäten beobachten wir ein verstärktes Interesse ander Archivpädagogik. Im Zuge der veränderten Ausbildungsan-forderungen an Bachelor- und Masterstudiengänge, die eine stär-ker praxisorientierte Ausbildung erforderlich machen, werdenOrte der Geschichtskultur zunehmend intensiver in die univer-sitären Angebote einbezogen. So melden sich einerseits Studie-rende für allgemeine und archivpädagogische Praktika in denArchiven, andererseits erhalten Kolleginnen und Kollegen, die inder Archivpädagogik tätig sind, zusätzliche Lehraufträge zurVermittlung archivpädagogischer Kenntnisse in Theorie undPraxis. Damit sind Vorteile für beide Einrichtungen verbunden.Die vorwiegend für das Lehramt Studierenden erhalten konkreteEinblicke in die Lehr- und Lernmöglichkeiten im außerschuli-schen Lernort Archiv, die sie in ihrem späteren Berufsleben nut-zen können. Die Archive ihrerseits erreichen Synergie-Effekte,indem sie die Studierenden nach einer gründlichen Einführungund Einarbeitung im Rahmen der universitären Lehrveranstal-

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tung unter Umständen für Praktika gewinnen oder für eineMitarbeit in anderer Form (als studentische Hilfskraft oder füreinzelne Projekte) einstellen können.Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten mit demThema „Helden. Verehrt – verkannt – vergessen“ endete imFebruar 2009. Wieder einmal haben die Archive mit ihren archiv-pädagogischen Angeboten und ihrer Unterstützung der Teil-nehmerinnen und Teilnehmer einen Beitrag zum Erfolg vielerArbeiten geleistet. In den Arbeitsberichten beschreiben dieJugendlichen ihre Recherche im Archiv in der Regel ausführlichund sehr konkret; sie sprachen „ihren Archiven“ fast immergroßes Lob für sehr gute Unterstützung aus. Auf Landesebenesind die Preisträger bereits bekannt, die Auszeichnung derBundespreisträger durch Bundespräsident Horst Köhler wird am6. November 2009 in Berlin stattfinden.In diesem Jahr hat die NRW-Landesregierung zum 3. Mal denschon erwähnten Wettbewerb „Archiv und Jugend“ ausgeschrie-ben. Zur Verfügung standen 100.000 Euro, die an Archive verge-ben wurden, die sich mit besonderen Projekten für und mitJugendlichen um eine finanzielle Förderung beworben hatten. 80Prozent der Kosten übernimmt das Land, wenn die Projekte derArchive den Ausschreibungskriterien entsprechen. Da auchPersonalkosten abgedeckt werden können, ist hiermit eine sehrgute Möglichkeit gegeben, zumindest für einen gewissen

Zeitraum ein archivpädagogisches Angebot zu machen, ohne dieHaushaltsmittel zu stark zu strapazieren.Das im vergangenen Jahr angekündigte Projekt des Arbeits-kreises, eine Materialsammlung mit konkreten, praktischen Tippsund Anregungen zur Historischen Bildungsarbeit und Archiv-pädagogik zu erstellen, ist angelaufen. Die ersten Module mitpraxiserprobten Beispielen liegen vor. Alle, die eigene Erfahrun-gen und weitere Tipps beisteuern können, sind zur Mitarbeit andiesem Kooperationsprojekt herzlich eingeladen. Informationengibt es auf der Internetseite der Archivpädagogen:www.archivpaedagogen.deAuf seinen Internetseiten ermöglicht es der Arbeitskreis jedem,sein Programm zur Historischen Bildungsarbeit und Archiv-pädagogik, seine vielfältigen Angebote und Aktivitäten, seinekleinen und großen Projekte vorzustellen. Diese Plattform darfnoch mehr als bisher genutzt werden. Die Seiten werden imStadtarchiv Hilden betreut, Texte und Abbildungen werden dorteingestellt. Das Internetangebot lebt von und mit den beteiligtenund interessierten Archiven.Über diese Seiten erhalten die zurzeit 250 Abonnenten in unre-gelmäßigen Abständen auch den newsletter des Arbeitskreisessowie zeitnah Rundmails mit wichtigen Informationen zurHistorischen Bildungsarbeit und zur Archivpädagogik.

Roswitha Link, Münster

ARBEITSKREIS ARCHIVISCHE BEWERTUNG

Turnusgemäß haben sich die Mitglieder des VdA-Arbeitskreises„Archivische Bewertung“ auch im Berichtsjahr 2008/2009 zuzwei Sitzungen zusammengefunden. In seiner Sitzung im Spät-herbst 2008 hat sich der Arbeitskreis intensiv mit dem Begriffund dem Konzept der Dokumentationsprofile befasst. PeterWeber hat das Dokumentationsprofil der Kommunalarchive zumBereich Politik vorgestellt, Max Plassmann und Wolfgang Müllerdas Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicherHochschulen. Obwohl beide Dokumentationsprofile sicherlichganz unterschiedlich gelagert sind, hat die Diskussion im Ar-beitskreis übereinstimmend deutlich gemacht, dass die ThemenPolitik und Hochschule spartenübergreifend ein hohes Maß anÜberschneidungen und Vernetzungen zwischen Archiven unter-schiedlicher Trägerschaft aufweisen. Wahrscheinlich gibt es kaumeinen oder sogar gar keinen lebensweltlichen Bereich, der alleinüber einen Registraturbildner und ein Archiv abzubilden ist.Dieser Befund hat für uns im Arbeitskreis den Anstoß gegeben,das Konzept der Archivierung im Verbund noch einmal neu zuüberdenken und schärfer als bisher zu profilieren. Unser Ziel istes, zu diesem Thema ein Positionspapier vorzulegen, ähnlich demgrundsätzlichen Positionspapier des Arbeitskreises von 2004.Clemens Rehm hat dazu in unserer letzten Sitzung im März 2009

mit einigen Thesen, die wir auch im Internet auf den Seiten desVdA eingestellt haben, den ersten Auftakt gemacht. Überliefe-rung im Verbund ist danach mehr als der bloße Austausch unterArchiven. Auch die geläufige Praxis in staatlichen Archiven,Unterlagen der Verwaltung durch nicht-staatliches Schriftgut zuergänzen und diese Zusammenführung als Verbund zu denken,schöpft das Konzept einer Archivierung im Verbund nicht aus. Esbedarf vielmehr auf fachlich-methodisch sauberer Grundlageverbindlicher Absprachen zwischen Archiven. Die Herausfor-derung besteht darin, unterschiedliche Herangehensweisen, diemit Stichworten wie „Dokumentationsauftrag“ vs. „Dokumenta-tionsprofil“ oder „Aufgabenbewertung“ vs. „Lebensweltdoku-mentation“ grob umrissen sind, in einem schlüssigen Gesamt-konzept und praktikablen Verfahren miteinander zu verbinden.Der VdA-Arbeitskreis „Archivische Bewertung“ ist für eine sol-che Diskussion zur Überlieferung im Verbund, für die Suchenach einem gemeinsamen spartenübergreifenden Nenner, derrichtige Ort. Die Gespräche, die jetzt im Arbeitskreis Bewertungbegonnen haben, sind spannend. Ich bin ich sicher, dass auf dieseWeise ein Forschritt in der Bewertungsdiskussion erzielt werdenkann.

Andreas Pilger, Düsseldorf

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VdA - Verband deutscherArchivarinnen und Archivare e.V.

MITTEILUNGEN UND BEITRÄGE DES VdA

ARBEITSKREIS BERUFSBILD – JAHRESBERICHT 2009

Wie in den vergangenen Jahren lud der Arbeitskreis Berufsbildauf dem Archivtag zu einer eigenen Sitzung ein.Wer sich mit Berufsbild und Ausbildung beschäftigt, muss sichfolgerichtig auch mit Fortbildung auseinandersetzen. Der über-aus erfolgreiche Start der Fortbildungsangebote des VdA auf demDeutschen Archivtag in Erfurt hat dem VdA-Vorstand Mutgemacht, sich stärker im Fortbildungsbereich zu engagieren. Essoll jedoch keine Konkurrenz zu bestehenden Einrichtungen auf-gebaut, sondern die VdA-Aktivitäten sollen ergänzend und inKooperation mit bestehenden Angeboten entwickelt werden.Dazu hat er den AK Berufsbild beauftragt, ein Konzept zu erar-beiten. Die in diesem Zusammenhang 2009 von einer Arbeits-gruppe durchgeführte Umfrage mit der zunächst die bestehen-den Angebote erfasst und abgefragt werden sollten, erwies sichindes als wenig aussagekräftig, wie Julia Brüdegam vom Staats-archiv Hamburg den interessierten Kolleginnen und Kollegenerläuterte. Das von Zielgruppen, Themen und Veranstaltern übe-raus bunte Fortbildungsangebot zeigte immerhin, dass Fort-bildung in breitem Maße stattfindet. Als Quintessenz und Auf-trag ließ sich nur der Wunsch nach einer

Fortbildungszusammenschau auf der Homepage des VdA erken-nen, die jedem Interessierten die Möglichkeit geben sollte, daskomplette Angebot zu überblicken.Gerade der jüngste Spross der archivarischen Berufsfamilie, derFAMI, der Fachangestellte für Medien- und Informationsdienstein der Fachrichtung Archiv, stand und steht auch weiterhinbesonders im Fokus des Arbeitskreises Berufsbild. Dieser 1997eingerichtete Lehrberuf, der im Angestelltenbereich den bishernur in Bayern existierenden mittleren Archivdienst einführte, ent-wächst nun langsam den Kinderschuhen. Der berufspolitischspannenden Frage, was aus den ausgebildeten FAMIs imAnschluss an ihre Ausbildung geworden ist, ging auf Landes-ebene von NRW der Berufsschullehrer Volker Zaib nach. Zaib,von Haus aus Dipl.-Sozialwissenschaftler, unterrichtet die FAMIsin Politik und Fachkunde am Karl-Schiller-Berufskolleg in Dort-mund und absolviert gerade an der FH Potsdam die Fernweiter-bildung zum Diplom-Archivar.Seit 1998 haben in NRW 90 FAMIs die Abschlussprüfung bestan-den. Ausgebildet wurde sie an 45 Archiven aus dem gesamtenFachspektrum. Die Umfrage bei den 90 Absolventen führte zu

ARBEITSKREIS ÜBERLIEFERUNGEN DER NEUEN SOZIALEN BEWEGUNGEN

Der Arbeitskreis steht erst am Anfang seiner Tätigkeit. ZurErinnerung kurz etwas zur Geschichte bzw. zum Hintergrunddes Arbeitskreises:– auf dem Archivtag 2007 in Mannheim gab es eine Sektion zur

„Überlieferungsbildung und -sicherung in Freien Archiven“(Freie Archive als Arbeitsbegriff im Unterschied zu etablier-ten, abgesicherten Archiven, – so wie durch die Existenz derFreien Universität andere Unis nicht als unfrei gelten);

– daraus folgend wurde im Herbst 2007 ein Gesprächskreis zwi-schen dem VdA-Vorstand und VertreterInnen aus FreienArchive eingerichtet (beteiligt waren das Archiv für alternati-ves Schrifttum, das Archiv der deutschen Frauenbewegung,das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte und der KölnerFrauengeschichtsverein);

– im Februar 2009 wurde der Arbeitskreis zu den Überlieferun-gen der Neuen Sozialen Bewegungen gegründet (diesbezügli-che Kurzberichte standen im Archivar).

Als erste Aufgaben des Arbeitskreises wurden festgelegt:– zu ermitteln, wo die konkreten Alltagsprobleme Freier Archive

liegen;– zu prüfen, ob und wieweit die bestehenden Fortbildungs-

maßnahmen für Freie Archive sinnvoll bzw. praktikabel sindund ggf. bedarfsorientierte Fortbildungen zu entwickeln;

– ein empirisch abgesichertes „Handbuch der Freien Archive“zu erarbeiten;

– nach und nach einzelne Freie Archive im Archivar vorzustel-len;

– vom VdA aus Unterstützungsarbeit für einzelne Freie Archivezu leisten, z. B. in Form von gutachtlichen Stellungnahmen fürpotentielle Geldgeber bzw. Förderer.

Die erste reguläre Sitzung des Arbeitskreises wird im Laufe diesesArchivtages, am Freitagmorgen, stattfinden. Dort wird überArbeitsweise und Aufgabenverteilung gesprochen werden.Zwar gibt es bei vielen Freien Archiven eine grundsätzlich positi-ve Einstellung zu diesen Aktivitäten, doch z. Zt. sieht es noch soaus, dass mehr Personen aus etablierten Einrichtungen Interessean einer Mitarbeit im Arbeitskreis haben als aus Freien Archiven.Das liegt daran, dass viele Freie Archive unter Bedingungenarbeiten, die eine solche, verbindliche Mitarbeit gar nicht zulas-sen: häufig gibt es keine bezahlten Stellen, die Trägervereinehaben kein Geld, um Anreise, Tagungsgebühren und Unterkunftz. B. hier in Regensburg zu übernehmen, und die überProjektmittel beschäftigten Personen sind meist so stark mitihren Projekten beschäftigt, dass keine Zeit für andere Aktivitätenbleibt ...Von entscheidender Bedeutung wird sein, ob es uns in den näch-sten Jahren gelingt, möglichst vielen Freien Archiven nicht nurdie Sinnhaftigkeit eines solchen Arbeitskreises zu vermitteln, son-dern sie auch für eine aktive Teilnahme, z. B. an Tagungen oderFortbildungen, zu gewinnen. Dies wird nur gelingen, wenn siesich davon Hilfen für ihre konkreten und akuten Alltagsproble-me versprechen können.

Jürgen Bacia, Duisburg

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einem hohen Rücklauf von 75 (83%). 56 von ihnen sind imArchiv tätig, 3 davon inzwischen sogar mit Ausbildung/Aufstiegzum Diplom-Archivar. 3 Absolventen arbeiten in einer Biblio-thek, 13 haben eine fachfremde Tätigkeit aufgenommen, 2 sindnicht berufstätig (Kindererziehung) und nur ein einziger istarbeitslos gemeldet.Fazit: Angesichts der leicht steigenden Ausbildungszahlen undBerufseintritte sieht Zaib den Beruf als etabliert an. Im Vergleichmit anderen dualen Berufsausbildungen ist eine Quote 66%nach der Ausbildung im Beruf tätigen außerordentlich hoch

(viele andere Berufe liegen gerade bei 40-50%); dies spricht fürdie Qualität und Zielgenauigkeit der Ausbildung und für dieExistenz eines spezifischen Arbeitsmarktes. Nur eine einzigeArbeitslosmeldung und die Abwanderung von 13 Absolventen infachfremde Berufsfelder zeigt, dass die Ausbildung auch für dieerfolgreiche Tätigkeit in anderen Bereichen qualifiziert.Insgesamt beurteilt Zaib die Ausbildung also als sehr positiv undsieht noch Wachstumspotential, wenn auch mehr größere Ar-chive sich entschließen würden, Ausbildungsplätze zu schaffen.

Stefan Benning, Bietigheim Bissingen

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„DEM VERBORGENEN AUF DER SPUR“

Am 6./ 7. März 2010 wird der Öffentlichkeit zum 5. TAG DER ARCHIVE wiederum die Gelegenheit eröffnet, den Archivarinnenund Archiven bei der Arbeit über die Schulter zu schauen.An diesem Termin wird der Archiveinsturz in Köln dann fast auf den Tag genau ein Jahr zurückliegen. Die Wahrnehmung vonArchiven hat sich seit diesem Ereignis mit seinen eindrucksvollen und gleichzeitig erschütternden Bildern bei Bürgerinnen undBürgern sowie bei politischen Entscheidungsträgern deutlich gewandelt. Viele Initiativen und die hohe Spendenbereitschaft derBevölkerung für das Kölner Stadtarchiv sprechen da eine deutliche Sprache. Bei Expertenanhörungen, Fernsehberichten undDokumentationen ist ein neues Bewusstsein für das kulturelle Erbe festzustellen. Wohl zum ersten Mal hat es das Thema‚Archiv’ bis in einen Koalitionsvertrag geschafft. Dass diese Aufmerksamkeit einer Katastrophe mit zwei Toten geschuldet ist,darf nicht vergessen werden, aber es wäre gleichzeitig fahrlässig, das nun neu erwachte Interesse der Bevölkerung an ihrer archi-vierten Geschichte unbeantwortet zu lassen. So kommt dem 5. TAG DER ARCHIVE 2010 eine besondere Bedeutung zu.Zur Erinnerung an den 3. März 2009 wird das Historische Archiv der Stadt Köln am 5. März 2010 in Berlin im Gropiusbau eineAusstellung über den Einsturz eröffnen und auch der VdA lädt die am TAG DER ARCHIVE deutschlandweit beteiligtenArchive ein, über die Kölner Ereignisse zu informieren. Dabei können eine große Anzahl von Kolleginnen und Kollegen ausihren eigenen Erfahrungen berichten, die sie beim Noteinsatz in Köln gewonnen haben. Diese Einsätze, die z. T. sogar vonKolleginnen und Kollegen aus dem Ausland geleistet wurden, waren ein äußerst erfreuliches Zeichen der großen Solidaritätunter den Archiven.Der TAG DER ARCHIVE 2010 bietet nun überall im ganzen Land und über alle Archivsparten verteilt – von Stadt- undLandesarchiven über Kirchen- und Wirtschaftsarchive bis zu Rundfunk-, Universitäts- und freien Archiven – die Möglichkeit,auch vor Ort der Bevölkerung die Gefährdung von Archivgut und die schon erreichten oder anzustrebenden Sicherungs-maßnahmen zum Erhalt der Dokumente vorzustellen. Der VdA regt an, auch bei den Veranstaltungen am TAG DER ARCHIVESpenden für das Historische Archiv der Stadt Köln zu sammeln.Mit dem von der Mitgliedschaft im Frühjahr 2009 ausgewählten Motto Dem Verborgenen auf der Spur ist für den 5. TAGDER ARCHIVE in besonderer Weise die Möglichkeit gegeben, über ein attraktives Programm die Bedeutung der Archive her-auszustellen. Archive aller Fachgruppen werden unter diesem Motto mit unterschiedlichen Präsentationen (z. B. „Funden“,„Geschichten“) und vielfältigen Themen den Blick auf die Kernfunktionen der Archive als Gedächtnis der Gesellschaft lenken.Der TAG DER ARCHIVE entwickelt sich damit zunehmend zu einem wichtigen Baustein der Bewusstseinsbildung und zurVerankerung einer höheren Wertschätzung der Erinnerungsarbeit von Archiven in der Öffentlichkeit.

Weitere Informationen auf der Homepage des VdA.

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STAATLICHE ARCHIVE

BUNDESARCHIV

EingestelltWissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Thekla Kleindienst(15.9.2009).

ErnanntRegierungsinspektorin z.A.Nadine Gross zur Regierungsin-spektorin (1.10.2009) – Regierungsamtfrau Ute Kronauer zurRegierungsamtsrätin (1.10.2009) – Archivoberrat Dr. WalterNaasner zum Archivdirektor (1.9.2009) – Archivdirektorin PetraRauschenbach zur Leitenden Archivdirektorin (22.10.2009) –ArchivoberratMichael Steidel zum Archivdirektor (1.12.2009).

In den Ruhestand getretenArchivoberrat Dr. Heinz-Ludger Borgert (30.11.2009) – Sachbe-arbeiter Volker Ernst (30.9.2009) – Referatsleiter Dr. Kai vonJena (30.11.2009).

SonstigesReferatsleiterin Dr. Yong-Mi Quester trägt den FamiliennamenRauch (10.10.2009).

POLITISCHES ARCHIV DESAUSWÄRTIGEN AMTES

ErnanntOberamtsrat Herbert Karbach zum Archivrat (9.11.2009).

DIE BUNDESBEAUFTRAGTE FÜR DIE UNTER-LAGEN DES STAATSSICHERHEITSDIENSTESDER EHEMALIGEN DDR

EingestelltArchivarin Roxy Liebscher M.A. (1.2.2009).

GEHEIMES STAATSARCHIVPREUßISCHER KULTURBESITZ

ErnanntThomas Breitfeld zum Archivinspektor (1.10.2009).

BADEN-WÜRTTEMBERG

ErnanntWolfram Berner beim Landesarchiv Baden-Württemberg,Abteilung Hauptstaatsarchiv Stuttgart, zum Archivinspektoran-wärter (1.10.2009) – Sara Diedrich beim Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Hauptstaatsarchiv Stuttgart, zur Archiv-inspektoranwärterin (1.10.2009) – Sylvia Günteroth beimLandesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung HauptstaatsarchivStuttgart, zur Archivinspektoranwärterin (1.10.2009) – AntjeHauschild beim Landesarchiv Baden-Württemberg, AbteilungHauptstaatsarchiv Stuttgart, zur Archivinspektoranwärterin(1.10.2009) – Nina Koch beim Landesarchiv Baden-Württem-berg, Abteilung Hauptstaatsarchiv Stuttgart, zur Archivinspektor-anwärterin (1.10.2009) – Sophia Scholz beim LandesarchivBaden-Württemberg, Abteilung Hauptstaatsarchiv Stuttgart, zurArchivinspektoranwärterin (1.10.2009) – Torben Singer beimLandesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung HauptstaatsarchivStuttgart, zum Archivinspektoranwärter (1.10.2009) – AnnaSpiesberger beim Landesarchiv Baden-Württemberg, AbteilungHauptstaatsarchiv Stuttgart, zur Archivinspektoranwärterin(1.10.2009) – Jana Stiller beim Landesarchiv Baden-Württem-berg, Abteilung Hauptstaatsarchiv Stuttgart, zur Archivinspektor-anwärterin (1.10.2009) – Fanny Wirsing beim LandesarchivBaden-Württemberg, Abteilung Hauptstaatsarchiv Stuttgart, zurArchivinspektoranwärterin (1.10.2009) – Beschäftigte ChristinaWolf beim Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Verwal-tung, zur Archivinspektorin (1.9.2009).

AbgeordnetAmtsrätin Sabine Schnell vom Landesarchiv Baden-Württem-berg, Abteilung Generallandesarchiv Karlsruhe, zum Bundes-nachrichtendienst (1.11.2009).

In den Ruhestand getretenOberarchivrätin Dr. Jutta Krimm-Beumann vom LandesarchivBaden-Württemberg, Abteilung Generallandesarchiv Karlsruhe(31.10.2009).

SonstigesPräsident Prof. Dr. Robert Kretzschmar vom LandesarchivBaden-Württemberg, Stuttgart, wurde in das Kuratorium derKulturstiftung der Länder berufen (7.8.2009).

PERSONALNACHRICHTENZusammengestellt vom

VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e. V.

PERSONALNACHRICHTEN

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BAYERN

EingestelltMichael Kirstein als IT-Beschäftigter bei der Generaldirektionder Staatlichen Archive Bayerns (1.10.2009).

ErnanntArchivsekretär Steffen Kleinheinz beim StaatsarchivWürzburgzum Archivobersekretär (1.12.2009) – Archivamtmann LudwigWeber beim Staatsarchiv Nürnberg zum Archivamtsrat(1.12.2009).

VersetztArchivamtfrau Dr. Monika Ruth Franz M.A. vom BayerischenHauptstaatsarchiv an das Staatsarchiv München (1.12.2009) –Archivamtfrau Sabine Frauenreuther vom Staatsarchiv Mün-chen an die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns(1.11.2009).

In den Ruhestand getretenOberamtsrätin Christa Schmeißer bei der Generaldirektion derStaatlichen Archive Bayerns (31.1.2010) – Archivamtsrat StefanThiery beim Bayerischen Hauptstaatsarchiv (30.11.2009).

AusgeschiedenArchivhauptsekretärin Karola Schmitt beim Staatsarchiv Bam-berg (18.12.2009).

SonstigesArchivratMichael Unger M.A. bei der Generaldirektion derStaatlichen Archive Bayerns wurde der Doktorgrad verliehen(10.11.2009).

BRANDENBURG

In den Ruhestand getretenWissenschaftliche Archivarin Rosemarie Posselt beim Branden-burgischen Landeshauptarchiv (28.2.2010).

BREMEN

ErnanntArchivangestellter Lars Worgull beim Staatsarchiv Bremen zumArchivinspektor (1.10.2009).

HAMBURG

ErnanntAnna Pilatz B.A. beim Staatsarchiv Hamburg zur Regierungsin-spektorin (1.10.2009) – OberamtsratMichael Stoffregen beimStaatsarchiv Hamburg zum Oberregierungsrat (1.10.2009) –Dipl.-ArchivarinMarike Zenke beim Staatsarchiv Hamburg zurRegierungsinspektorin (1.11.2009).

AusgeschiedenRegierungsinspektorin Dipl.-Archivarin Eva Drechsler beimStaatsarchiv Hamburg (31.12.2009).

HESSEN

ErnanntSabine Dietzsch-Uhde beim Hessischen Staatsarchiv Marburgzur Inspektorin auf Probe (1.10.2009) – InspektorinMareikeHoff beim Hessischen Staatsarchiv Marburg zur Beamtin aufLebenszeit (1.11.2009) – Dr. Katrin Marx-Jaskulski beimHessischen Staatsarchiv Marburg zur Archivrätin auf Probe(1.11.2009) – Archivrätin Dr. Nicola Wurthmann beim Hessi-schen Staatsarchiv Marburg zur Beamtin auf Lebenszeit(10.7.2009).

EingestelltFachangestellte für Medien- und Informationsdienste, Fachrich-tung Archiv, Eva Schimmelmann beim Hessischen StaatsarchivMarburg (1.11.2009) – Fachangestellte für Medien- und Informati-onsdienste, Fachrichtung Archiv, Sabrina Voss beim HessischenStaatsarchiv Marburg (1.11.2009).

ARCHIVSCHULE MARBURG

Der 47. Fachhochschulkurs wurde am1.10.2009 mit folgenden Teil-nehmerinnen und Teilnehmern eröffnet:Josefine Bzdok (Bund), Paul Gapski (Berlin), Sabine GösselM.A. (Hessen),AndreaHeckM.A. (Hessen),MariaHuss (Bund),Oliver Kleppel M.A. (Hessen), Claire Maunoury (Bund), Cari-naNotzke (Bund),Catrin Schultheiß (Bund),DieterWintergerstM.A. (Hessen).

Der 44. wissenschaftliche Lehrgang wurde am 4.1.2010 mit folgen-den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eröffnet:Daniel BaumannM.A. (Niedersachsen),Dr. Andreas Becker (Ge-heimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz), Bastian GillnerM.A. (Hessen), Isabelle GuerreauM.A. (Niedersachsen),Micha-el Habersack M.A. (Baden-Württemberg), Barbara HammesM.A. (Hessen),Claudius Kienzle M.A. (Hessen),Mathias Kunz(Baden-Württemberg), Andreas Neuburger (Baden-Württem-berg), Dr. Thomas Notthoff (Nordrhein-Westfalen), ChristianReinhardtM.A. (Hessen),Christian ReutherM.A. (Thüringen),Karoline Riener M.A. (Nordrhein-Westfalen), Eva Rödel M.A.(Baden-Württemberg),Michael RuprechtM.A. (Nordrhein-West-falen),Anke StößerM.A. (Hessen),ThorstenUngerM.A. (Nord-rhein-Westfalen), Jörg Voigt (Niedersachsen).

MECKLENBURG-VORPOMMERN

ErnanntArchivoberrat Dr. Matthias Manke beim Landesarchiv Meck-lenburg-Vorpommern, Archiv Schwerin, zum Archivdirektor(14.9.2009) – Archivoberinspektorin Dorit Schneider beimLandesarchiv Mecklenburg-Vorpommern, Archiv Schwerin, zurArchivamtfrau (26.10.2009) – ArchivoberinspektorMichaelSparing beim Landesarchiv Mecklenburg-Vorpommern, ArchivGreifswald, zum Archivamtmann (20.10.2009).

In den Ruhestand getretenArchivrat Dr. Klaus Schwabe beim Landesarchiv Mecklenburg-Vorpommern, Archiv Schwerin (31.12.2009).

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VerstorbenArchivoberrätin Christiane Müller beim Landesarchiv Mecklen-burg-Vorpommern, Archiv Greifswald, im Alter von 51 Jahren(31.10.2009).

NIEDERSACHSEN

SonstigesBeschäftigte Kirsten Hoffmann beim Niedersächsischen Lan-desarchiv, Hauptsstaatsarchiv Hannover, ist der akademischeGrad Diplom-Archivarin (FH) verliehen worden (26.10.2009).

NORDRHEIN-WESTFALEN

ErnanntDipl.-Archivar (FH) Raymond Bartsch beim LandesarchivNordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Düsseldorf, zumStaatsarchivinspektor (1.10.2009) – Staatsarchivdirektor Dr.Christian Reinicke beim Landesarchiv Nordrhein-Westfalen,Abteilung Ostwestfalen-Lippe, Detmold, zum Leitenden Staatsar-chivdirektor (15.9.2009).

VersetztStaatsarchivrat Dr. Olaf Richter vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Düsseldorf, an die Stadt Krefeld(1.11.2009).

In den Ruhestand getretenStaatsarchivdirektor Dr. Rainer Stahlschmidt vom Landesar-chiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Düsseldorf(31.10.2009).

AusgeschiedenAuszubildende zur Fachangestellten für Medien- und Informati-onsdienste, Fachrichtung Archiv, Iris Bachmann beim Landesar-chiv Nordrhein-Westfalen, AbteilungWestfalen, Münster(31.10.2009)

SACHSEN

ErnanntArchivrat Dr. Burkhard Nolte beim Sächsischen Staatsarchiv,Abteilung Zentrale Aufgaben, Grundsatz, zum Archivoberrat(23.11.2009).

SCHLESWIG-HOLSTEIN

ErnanntArchivoberinspektorin Bettina Dioum beim LandesarchivSchleswig-Holstein zur Archivamtfrau (1.12.2009).

KOMMUNALE ARCHIVELandschaftsverband Rheinland – RheinischeArchivberatung, Fortbildungszentrum BrauweilerKatrin Clever M.A. wurde als wissenschaftliche Referentineingestellt (10.11.2009) –Wissenschaftliche Referentin AdelheidRahmen-Weyer M.A. ist in die Phase der Altersteilzeit eingetre-ten (1.2.2010) – Jan Richarz M.A. wurde als wissenschaftlicherVolontär eingestellt (1.9.2009).

Kreisarchiv des Enzkreises, PforzheimArchivleiter Kreisarchivamtsrat Konstantin Huber wurde zumKreisarchivoberamtsrat ernannt (1.12.2009) – Johanna IsabellaKirsch wurde als Fachangestellte für Medien- und Informations-dienste eingestellt (1.9.2009).

Kreisarchiv Kleve, GeldernDr. Beate Sturm hat die Leitung des Kreisar-chivs übernommen(1.10.2009).

Stadtarchiv DresdenAmtsleiter Archivdirektor Thomas Kübler wurde zum Leiten-den Archivdirektor ernannt (1.1.2010).

Stadtarchiv KrefeldDr. Olaf Richter wurde als Leiter eingestellt (1.11.2009).

Stadtarchiv Mühlhausen/ThüringenStadtarchivarin Dipl.-Hist. Archivarin Beate Kaiser ist in denRuhestand getreten (31.12.2009). Ihr Nachfolger als Stadtarchivarist Dr. Helge Wittmann (1.1.2010).

Stadtarchiv SchrambergArchivassessor Carsten Kohlmann M.A. hat die Leitung desStadtarchivs übernommen (17.9.2009).

KIRCHLICHE ARCHIVE

Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, NürnbergIngmar Bucher wurde als Archivfachbeschäftigter eingestellt(1.2.2009).

HERRSCHAFTS-, HAUS- UNDFAMILIENARCHIVEFamilien- und Stiftungsarchiv der Fürsten undGrafen Fugger, DillingenArchivarin i. R.Dr. Maria Gräfin von Preysing-Lichtenegg istim Alter von 88 Jahren verstorben (16.1.2010).

PERSONALNACHRICHTEN

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ARCHIVE DER HOCHSCHULENSOWIE WISSENSCHAFTLICHERINSTITUTIONEN

Universitätsarchiv AugsburgArchivrat Dr. Werner Lengger wurde zum Archivoberraternannt (1.10.2009).

Universitätsarchiv der Technischen UniversitätDarmstadtArchivrat z.A.Andreas Göller M.A. wurde zum Beamten aufLebenszeit ernannt (1.7.2009).

Archiv des Deutschen Museums, MünchenDr. Matthias Röschner M.A. wurde als stellvertretender Ar-chivleiter eingestellt (1.5.2009).

Institut für Geschichte der Medizin der RobertBosch Stiftung, StuttgartDipl.-Archivarin (FH) Sandra Krischel wurde eingestellt(1.5.2009).

GEBURTSTAGE90 Jahre:Leitender Archivdirektor a. D.Dr. Günther Schuhmann,Nürnberg (27.5.2010).

85 Jahre:Leitender Archivdirektor a. D. Prof. Dr. Wolfgang Klötzer,Frankfurt a. M. (8.4.2010) – Archivleiter i. R.Ulrich Saß, Köln(31.5.2010).

75 Jahre:ArchivdirektorMsgr. Dr. Paul Mai, Regensburg (11.4.2010) –Archivdirektor a. D. Prof. Dr. Volker Schäfer, Kusterdingen-Wankheim (22.5.2010) – Archivleiter i. R.Dr. Herbert Sowade,Münster (3.4.2010) – Archivarin i. R.Rita Stumper, Potsdam(12.1.2010).

70 Jahre:Abteilungsleiter i. R.Dr. Dieter Gessner, Hamburg (13.5.2010) –Leitender Städtischer Archivdirektor a. D. Prof. Dr. Franz-JosefJakobi, Münster (3.6.2010) –Wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr.Hans Ewald Kessler, Heidelberg (27.6.2010) – KreisarchivarProf. Dr. Georg Kreuzer, Augsburg (24.5.2010) – LeitenderStädtischer Archivdirektor a. D.Dr. Manfred van Rey, Königs-winter (9.6.2010) – Bistumsarchivar i. R.Gerhard Sander, Pader-born (25.6.2010).

65 Jahre:Landesarchivdirektor a. D.Dr. Hans Budde, Monheim(19.4.2010) – Dipl.-Archivarin Angret Hegemann, Schwerin(2.4.2010) – Archivoberrat a. D.Dr. Christian Moßig, Hannover(13.6.2010).

60 Jahre:Stadtarchivar Herbert Bauch, Langen (27.6.2010) – Archivamt-frau Bärbel Bauerschäfer, Nürnberg (24.5.2010) –Archivoberrätin Dr. Annelie Hopfenmüller M.A., München(28.6.2010) – Archivamtfrau Dipl.- Archivarin Ulrike List, Mar-burg (8.4.2010) –Wissenschaftlicher DokumentarinWaldtrautA. Lotz M.A., München (1.6.2010) – Leitender Archivdirektor i.K.Dr. Hans Otte, Hannover (2.5.2010) – Archivdirektor Prof. Dr.Bernhard Parisius, Aurich (7.6.2010) – Präsident Prof. Dr.Wilfried Reininghaus, Düsseldorf (26.4.2010) –Wissenschaftli-cher Mitarbeiter Dr. Reinhard Schreiner M.A., Sankt Augustin(13.5.2010) – Archivdirektor i.K.Dr. Herbert W. Wurster, Passau(12.4.2010).

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NACHRUFE

GABRIELE ARNDT †Geb. 7. 3. 1963 WismarGest. 22. 8. 2009 Wismar

Die langjährige Leiterin des Kreisarchivs Nordwestmecklenburg,Frau Gabriele Arndt, ist am 22. August 2009 nur 46-jährigverstorben. Als ausgebildete Buchhändlerin nahm Gabriele Arndtihre Tätigkeit 1985 im damaligen Kreisarchiv Wismar auf undabsolvierte 1985 bis 1986 berufsbegleitend eine Ausbildung zurArchivassistentin im Staatsarchiv Schwerin. Es folgte das archiv-fachliche Fernstudium in Potsdam, welches sie von 1990 bis 1993absolvierte. 1997 konnte sie dann den Brückenkurs an der Fach-hochschule Potsdam als Diplom-Archivarin abschließen.Ihre gesamte Tätigkeit im Archivwesen war von einem über dasübliche Maß hinausgehenden Engagement gekennzeichnet. MitBeginn ihrer Tätigkeit im Kreisarchiv Wismar wurde sie Mitgliedder Arbeitsgemeinschaft der Kreisarchivare des damaligen BezirksRostock. 1990 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern derArbeitsgemeinschaft der Kommunalarchivare, die später imLandesverband Mecklenburg-Vorpommern des Verbandes deut-scher Archivarinnen und Archivare aufging. Von seiner Gründungan hat sie an der Arbeit des jungen Landesverbandes teilge-nommen und wurde 1997 in dessen Vorstand gewählt, dem siebis 2003 angehörte.Ihr besonderes fachliches Interesse und Engagement galt demEinsatz der EDV auch in den kleineren Archiven, der Qualifizie-rung und Weiterbildung von Kolleginnen und Kollegen sowie derÖffentlichkeitsarbeit der Archive im regionalen Rahmen. So arbei-tete sie eng mit verschiedenen Ortschronisten zusammen undförderte die Ortschronistentagungen des Kreises Nordwestmeck-lenburg in besonderer Weise. Ein Ergebnis des langjährigenAufbaus eines regionalen Netzes kleinerer Archive war die vielbe-achtete Publikation „Einblicke zwischen Schaalsee und Salzhaff –Erlebte Geschichte aus den Archiven Nordwestmecklenburgs“(2004). Ihre Bemühungen und Appelle galten ab 1997 demgezielten Aufbau eines dichteren Netzes von Amts- und Gemein-schaftsarchiven in Mecklenburg-Vorpommern.Wir werden ihr ausgeglichenes freundliches Wesen ebensovermissen wie ihre aufgeschlossene, gewissenhafte und kritischeMitarbeit.

Dirk Alvermann, Greifswald

RENATE DRUCKER †Geb. 11. 7. 1917 LeipzigGest. 23. 10. 2009 Leipzig

Am 23.10.2009 verstarb nach kurzer schwerer Krankheit Prof. Dr.Renate Drucker in einem Leipziger Krankenhaus. 92 Jahre ist siealt geworden und über die Hälfte ihres Lebens hat sie an und mitder Universität Leipzig verbracht.Im Juli 1917 wurde sie in Leipzig als jüngste Tochter des Rechtsan-walts und Notars Martin Drucker geboren. Nach dem Schulbe-such in Leipzig und dem Gymnasialabitur auf Schloss Salem/Baden begann sie im Oktober 1936 ein Studium an der Univer-sität Leipzig.Doch die aufstrebende und intelligente junge Frau, die aus einergutbürgerlichen Leipziger Familie stammte, fand sich plötzlich imRassenwahn des Nationalsozialismus gefangen. Im April 1938wurde ihr als „Mischling II. Grades“ ein unbefristetes Studien-verbot an der Universität Leipzig ausgesprochen. Die jüdischenVorfahren sorgten fortan für einen unablässigen Druck auf dieFamilie. Der beginnende Zweite Weltkrieg verschlimmerte dieSituation noch zusätzlich.Renate Drucker war arbeitslos, eine Zukunft in Deutschlandkaum noch vorstellbar. Doch unverhofft erhielt sie 1941 wiedereine Immatrikulation an der Universität Leipzig und durfte alsunerwünschte aber geduldete Studentin wieder Lehrveranstal-tungen besuchen. Sie orientierte sich neu und legte den Studien-schwerpunkt nun auf die Geschichtswissenschaft mit demSchwerpunkt mittelalterliches Latein und historische Hilfswissen-schaften. Eine Prüfungszulassung wurde ihr in Leipzig allerdingsnicht erteilt, so musste sie an die Universität Straßburg auswei-chen, wo die ihr wohlgesinnten Historiker Hermann Heimpelund Walter Stach ihre Promotion förderten. Wenige Stunden vordem Einmarsch der US-Truppen bestand sie im November 1944noch ihr Rigorosum. Die Doktorurkunde wurde ihr dann imFebruar 1945 in Tübingen ausgestellt.Kurz darauf war Renate Drucker wiederum auf der Flucht.Gemeinsam mit ihrer Familie hatte sie Leipzig verlassen undversteckte sich in Jena, um den Vater vor der bevorstehendenVerhaftung zu schützen. Erst im Juni 1945 kehrte sie nach Leipzigzurück.Schon bald darauf engagierte sich die junge Frau als Mitarbeiterinim Leipziger Berufsausschuss der Rechtsanwälte und Notare zurEntnazifizierung des Berufsstandes. Durch die Wiedereröffnungder Universität Leipzig wurde ihr im Jahr 1946 der Weg in dieWissenschaft möglich. Als unbezahlte Volontär-Assistentin fürhistorische Hilfswissenschaften am Historischen Institut derUniversität Leipzig unter Prof. Helmut Kretzschmar, und eingutes Jahr später als Lehrbeauftragte für mittelalterliches Latein,wurde sie mit ihren spannenden und kenntnisreichen Lehrveran-staltungen bald zur hoch geschätzten Dozentin.

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KURZINFORMATIONEN UND VERSCHIEDENES

Die Leitung des kriegsgeschädigten Universitätsarchivs übernahmsie im Jahr 1950. Die Nachkriegswirren mit den Beuteakten-Verlusten der wertvollsten Stücke, ihrer Rückgabe in den 1950erJahren und schließlich der Sprengung des neben der Pauliner-kirche gelegenen Universitätsarchivs erlegten ihr eine große beruf-liche Verantwortung auf.Für den archivfachlichen Austausch begründete sie in der DDReine „Arbeitsgemeinschaft der Archivare wissenschaftlicherEinrichtungen“ und legte neue Publikationen zur LeipzigerUniversitätsgeschichte vor.Besondere Verdienste erwarb sich Renate Drucker bei der Ausbil-dung ihrer Schüler. Die historischen Hilfswissenschaften hat sieab Mitte der 1960er Jahre an der Universität Leipzig alleinvertreten. Sie wirkte schulbildend und nahm sich viel Zeit fürStudenten und Promovenden. Ihre „Lesekünste“ sowohl für dielateinische wie auch für die spätmittelalterliche deutsche Überlie-ferung werden bis heute zu Recht gerühmt. Zu ihren Schülernzählen Archivare, Historiker und Germanisten sowohl in den

alten wie in den neuen Bundesländern. 1970 erhielt sie fast über-fällig eine außerordentliche Professur. Obwohl seit 1977 emeri-tiert, bot sie noch lange Jahre, bis in die frühen 1990er Jahre,weiterhin Lehrveranstaltungen an.Nach dem Ende der DDR engagierte sie sich für den demokrati-schen Aufbau. Als Stiftungsvorsitzende der Ephraim-Carlebach-Stiftung und als Senatorin im Sächsischen Kultursenat des Frei-staates Sachsen bemühte sie sich immer wieder um die Förderungder Universität Leipzig. Im Juli 1997 ehrte sie der AkademischeSenat mit der Ernennung zur ersten Ehrenbürgerin der Univer-sität Leipzig.Über alle Fährnisse des Lebens hinweg bewahrte sich RenateDrucker eine heitere, freundliche Art, die sich mit großer Intelli-genz und einem umfangreichen Wissen paarte. Mit ihrem Todverliert die Universität als Korporation nicht nur eine Ehrenbür-gerin, sondern auch etwas von ihrer menschlichen Seele.

Jens Blecher/Gerald Wiemers, Leipzig

WEITERBILDUNGSPROGRAMM DER FH POTSDAM UND DER FU BERLIN

Die Fachhochschule Potsdam und die Freie Universität Berlinbieten von November 2009 bis Oktober 2010 ein Weiterbildungs-programm zum Thema „Archive im Informationszeitalter“ an.Das Weiterbildungsprogramm ist modular aufgebaut. Lehr-ende der beteiligten Hochschulen und ausgewiesene Expertenaus der Praxis vermitteln in zweitägigen Einzelveranstaltungenaktuelles Fachwissen sowie Methodenkenntnisse zu den fach-

lichen Schwerpunkten Bestandserhaltung, Umgang mit digitali-sierten Dokumenten, Öffentlichkeitsarbeit und Rechtsfragen. DasWeiterbildungsprogramm richtet sich an interessierte Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter aus Archiven und verwandten Einrich-tungen. Nähere Informationen finden Sie im Internet unterwww.fh-potsdam.de/weiterbildung.html.

Adressänderungen

Das Stadtarchiv Herzogenrath, Rathausplatz 1, 52134 Herzogen-rath, hat eine neue Rufnummer: 0 24 06 / 8 34 87.

Das Stadtarchiv Saarbrücken hat eine neue Haus-Adresse:Deutschherrnstraße 1, 66117 Saarbrücken. Die E-Mail-Adresse sowie die Telefon- und Fax-Nummer bleiben gleich.

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VORSCHAUIm nächsten Heft lesen Sie unter anderem:

Die Kooperation des Bundesarchivs mit Wikimedia Deutschland e. V.von Oliver Sander

Die Zusammenarbeit des Staatsarchivs Hamburg mit BallinStadt –Auswandererwelt Hamburgvon Paul Flamme

Der Archivverbund Bautzenvon Grit Richter-LaugwitzZur aktuellen Bewertungsdiskussionvon Robert Kretzschmar

Herausgeber: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Graf-Adolf-Str. 67, 40210 Düsseldorf, VdA -Verband deutscherArchivarinnen und Archivare e.V.,Wörthstr. 3, 36037 Fulda

Redaktion: Andreas Pilger in Verbindung mit Robert Kretzschmar,Wilfried Reininghaus, Ulrich Soénius,MartinaWiech und KlausWisotzky

Mitarbeiter: Meinolf Woste, Petra Daub

ISSN 0003-9500

Kontakt: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Graf-Adolf-Str. 67, 40210 Düsseldorf, Tel. 0211/159238-800 (Redaktion),-201 (Andreas Pilger), -802 (Meinolf Woste), -803 (Petra Daub), Fax 0211 /159238-888,E-Mail: [email protected]

Druck und Vertrieb: Franz Schmitt, Kaiserstraße 99-101, 53721 Siegburg, Tel. 02241/62925, Fax 02241/53891,E-Mail: [email protected], Bankverbindung: Postbank Köln, BLZ 370 100 50, Kto. 7058-500

Gestaltung: ENGEL UND NORDEN,Wuppertal, Mitarbeit: Ruth Michels, www.engelundnorden.de

Bestellungen undAnzeigenverwaltung: Verlag Franz Schmitt (Preisliste 21, gültig ab 1. Januar 2008)

Zuständig für Anzeigen: Sabine Schmitt im Verlag Franz Schmitt

Die Verlagsrechte liegen beim Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Amtliche Bekanntmachungen, Mitteilungen und Manuskriptebitten wir, an die Redaktion zu senden, Personalnachrichten und Veranstaltungshinweise dagegen an die Geschäftstelle des VdA. Fürunverlangt eingesandte Beiträge übernehmen wir keine Haftung, unverlangt eingesandte Rezensionsexemplare werden nicht zurück-gesandt. Zum Abdruck angenommene Arbeiten gehen in das unbeschränkte Verfügungsrecht des Herausgebers über. Dies schließtauch die Veröffentlichung im Internet ein. Die Beiträge geben die Meinungen ihrer Verfasser, nicht die der Redaktion wieder.

Der „Archivar“ erscheint viermal jährlich. Der Bezugspreis beträgt für das Einzelheft einschl. Porto und Versand 8,- EUR im Inland,9,-EUR im Ausland, für das Jahresabonnement im Inland einschl. Porto und Versand 32,- EUR, im Ausland 36,- EUR.

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