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62 5. „DER ERSTE MENSCH“ UND SARTRES „DIE WÖRTER“ In seinem „Jean-Paul Sartres posthume Unsterblichkeit“ genannten Beitrag zu dem Taschenbuch „Sartre zur Einführung“ 40 greift Rupert Neudeck zur Darstellung des Lebens und Wirkens des großen Philo- sophen nicht zufällig auf dessen autobiografischen Essay „Die Wör- ter“ zurück, der damit partiell dieselbe Funktion erhält wie Camus‘ „Erster Mensch“ für Brigitte Sändigs Monografie: „Jean-Paul Sartre, am 21. Juni 1905 in Paris geboren, war schon sehr gealtert, als ich ihn besuchte. Er hatte, wie schon erwähnt, die volle Sehkraft verloren. Unvergesslich bleibt für mich ein Erlebnis: Es hat geschellt, der Concierge ist da, er übergibt dem weltberühmten Philo- sophen und Schriftsteller ein kleines Buchpaket. Sartre in seiner gegenüber niemandem abgestuften Liebenswürdigkeit für einige Se- kunden mit dem Concierge – dieses Bild werde ich nie vergessen. „L‘homme passe infiniment l‘homme“, jeder Mensch überschreitet immer wieder die Grenzen dessen, was das ist: Mensch. Sartre machte das Buchpaket auf, konnte den Titel nicht lesen, ich musste ihm die Großbuchstaben entziffern, jemandem, der sein Leben zwi- schen lire und écrire, zwischen Lesen und Schreiben, zugebracht hatte. Man kann auch sagen, er wurde zeitlebens von diesen beiden Tätig- keiten gelebt. Mit Lire und Ecrire sind die beiden Teile der Kindheits- biografie überschrieben, die wiederum den bezeichnenden Titel Les mots trägt: „Die Wörter“. Selten hat jemand sich selbst so schonungs- los offenbart, analysiert, preisgegeben wie jener Autor der Biografie eines Kindes. „Der Zufall hatte mich Mensch werden lassen, die Hochherzigkeit würde mich zum Buch machen; ich würde mein Schwatzen, mein Bewusstsein in Bronzelettern umgießen, ich würde das Lärmen mei- 40 Martin Suhr, Sartre zur Einführung, 2. Aufl. Hamburg: Junius-Verlag 1989.

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5. „DER ERSTE MENSCH“ UND SARTRES„DIE WÖRTER“

In seinem „Jean-Paul Sartres posthume Unsterblichkeit“ genanntenBeitrag zu dem Taschenbuch „Sartre zur Einführung“40 greift RupertNeudeck zur Darstellung des Lebens und Wirkens des großen Philo-sophen nicht zufällig auf dessen autobiografischen Essay „Die Wör-ter“ zurück, der damit partiell dieselbe Funktion erhält wie Camus‘„Erster Mensch“ für Brigitte Sändigs Monografie:

„Jean-Paul Sartre, am 21. Juni 1905 in Paris geboren, war schon sehrgealtert, als ich ihn besuchte. Er hatte, wie schon erwähnt, die volleSehkraft verloren. Unvergesslich bleibt für mich ein Erlebnis: Es hatgeschellt, der Concierge ist da, er übergibt dem weltberühmten Philo-sophen und Schriftsteller ein kleines Buchpaket. Sartre in seinergegenüber niemandem abgestuften Liebenswürdigkeit für einige Se-kunden mit dem Concierge – dieses Bild werde ich nie vergessen.„L‘homme passe infiniment l‘homme“, jeder Mensch überschreitetimmer wieder die Grenzen dessen, was das ist: Mensch. Sartremachte das Buchpaket auf, konnte den Titel nicht lesen, ich mussteihm die Großbuchstaben entziffern, jemandem, der sein Leben zwi-schen lire und écrire, zwischen Lesen und Schreiben, zugebrachthatte.

Man kann auch sagen, er wurde zeitlebens von diesen beiden Tätig-keiten gelebt. Mit Lire und Ecrire sind die beiden Teile der Kindheits-biografie überschrieben, die wiederum den bezeichnenden Titel Lesmots trägt: „Die Wörter“. Selten hat jemand sich selbst so schonungs-los offenbart, analysiert, preisgegeben wie jener Autor der Biografieeines Kindes.

„Der Zufall hatte mich Mensch werden lassen, die Hochherzigkeitwürde mich zum Buch machen; ich würde mein Schwatzen, meinBewusstsein in Bronzelettern umgießen, ich würde das Lärmen mei-

40 Martin Suhr, Sartre zur Einführung, 2. Aufl. Hamburg: Junius-Verlag 1989.

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nes Lebens zu Inschriften transformieren, die nicht vergehen, ichwürde mein Fleisch in Stil verwandeln, die schwammigen Zeitspiralenin Ewigkeit, ich würde vor dem Heiligen Geist als Niederschlag derSprache erscheinen, würde mich mit Hartnäckigkeit der Menschen-gattung aufdrängen; ich würde endlich anders werden, anders als ich,anders als die anderen, anders als Alles. Zuerst würde ich mir einenunzerstörbaren Leib geben, und dann würde ich mich den Verbrau-chern überliefern. Ich würde nicht schreiben aus Freude am Schrei-ben, sondern um diesen unsterblichen Teil in Wörter zu verwandeln“.

Der „Heilige Geist“ – das muss man als Erläuterung uns säkularisier-ten Zeitgenossen und Lesern doch sagen – taucht hier nicht als Witz,auch nicht als Karikatur auf, sondern als heimliches Erbstück deskatholisch erzogenen Jean-Paul Sartre. Da meldet sich jemand zuWort, der traurig, aber auch sehr bewusst seiner Mitwelt sagt: Er seiauf dem „Humus des Katholizismus“ großgeworden und werde die-sen Humus und sein So-geworden-Sein gerade dann nicht verleug-nen, wenn er sich als Atheist definiert und versteht. Seine Quellenliegen in der christlichen Religion, der Herkunft nach sind beideKonfessionen involviert: Er, Poulou (wie er sich als Kind nennen ließ),wuchs zwischen den katholischen Sartres und den protestantischenSchweitzers auf, deren einer, Albert Schweitzer, zuvor auf eine ganzandere, vielleicht von Jean-Paul Sartre zeitlebens tief bewunderteund beneidete Art den Ursprüngen und Quellen des Christentumsgerecht zu werden versuchte. Sartre hat zeit seines Lebens undCeuvres dieses christliche Erbteil nie ganz beiseite schieben können.Die ur-augustinische, später lutherische Frage: „Wie bekomme icheinen gerechten Gott?“, schon modern modifiziert in: „Wie bekommeich ein gerechtes Leben, so dass ich vor mir und einer anderenInstanz bestehen kann?“, hat diesen Jean-Paul Sartre nie mehrlosgelassen. Noch ein Zitat aus Die Wörter:

„Wieder bin ich, wie damals mit sieben Jahren, der Reisende ohneFahrkarte: Der Schaffner ist in mein Abteil gekommen und schautmich an, weniger streng als einst. Er möchte am liebsten wiederhinausgehen, damit ich meine Reise in Frieden beenden kann; ich

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soll ihm nur eine annehmbare Entschuldigung sagen, ganz gleichwelche, dann ist er zufrieden. Unglücklicherweise finde ich keine undhabe auch übrigens keine Lust, eine zu suchen. So bleiben wirmiteinander im Abteil, voller Unbehagen, bis zur Station Dijon, womich, wie ich genau weiß, niemand erwartet“.

Der Mystiker, zu dem sich Sartre als kleiner Poulou kokett berufenfühlte, schließt ab mit diesem Kapitel, nicht ohne Seitenhiebe auszu-teilen:

„Ich brauchte Gott, man gab ihn mir, ich empfing ihn, ohne zubegreifen, dass ich ihn suchte. Da er in meinem Herzen keine Wur-zeln schlug, vegetierte er einige Zeit in mir und starb dann. Sprichtman mir heute von Ihm, so sage ich amüsiert und ohne Bedauern wieein alt gewordener Frauenjäger, der eine ehemals schöne Frau trifft:<Vor fünfzig Jahren hätte ohne das Missverständnis, ohne jenenIrrtum, ohne den Zufall, der uns auseinanderbrachte, etwas zwischenuns sein können>.“41

Diese ersten Hinweise zeigen bereits deutlich Parallelen mit Camus‘Romanfragment, aber auch erhebliche Unterschiede, und zwar unterinhaltlichen wie auch formalen Gesichtspunkten: Beide Werke er-strecken sich nur auf einen Teil des Lebens (Kindheit/Jugend), kön-nen also nur bedingt für biografische Angaben genutzt werden. BeideBücher sind zugleich mehr als reine Autobiografie: Sie sind philoso-phischer Essay, literarische Fiktion, Sammlung von Anekdoten,Schnittstelle der anderen Werke des jeweiligen Autors. Inhaltlichvergleichbar ist das Aufwachsen ohne Vater – was bei Camus zurSuche nach dem Vater führen wird –, extrem abweichend sind dersoziale und geographische Kontext der Kindheit: bei Sartre das intel-lektuelle großväterliche und großbürgerliche Haus im Elsass, beiCamus die extreme Armut von Mutter und Großmutter in der kleinenalgerischen Mietwohnung. Die Vergleiche und Unterschiede ließensich bei umfassender und genauerer Lektüre fortsetzen, aber dieseUntersuchung soll hier nicht geleistet werden. Als Vorarbeit dazu soll

41 ebd., S. 104-106.

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im Folgenden zuerst einmal ein Gesamtüberblick über „Die Wörter“gegeben werden:42

„Diese Schrift, in der Sartre seine Kindheit und die ungewöhnlichfrühe Berufung zum Schriftsteller beschreibt, wurde in dem gleichenJahr veröffentlicht, in dem der Autor die Annahme des ihm verliehe-nen Nobelpreises für Literatur ablehnte. Von den landläufigen Kind-heitserinnerungen (das Buch umfasst den Zeitraum bis 1917) unter-scheidet sich Sartres Werk in entscheidender Weise. Es ist kein Buchder besinnlichen Rückschau und auch nicht die Schilderung einesfaktisch interessanten Lebensabschnittes, sondern Selbstanalyse undBewusstseinserforschung, die nicht aus Pedanterie bei der Kindheitbeginnt (Fortsetzungen scheinen beabsichtigt zu sein), sondern weilhier die für Sartres Verhältnis zur Literatur entscheidenden Erlebnis-se liegen.“

Mütterlicherseits aus der Familie Albert Schweitzers abstammend, istSartre bei dem Großvater Charles Schweitzer aufgewachsen, einemgebieterischen, patriarchalischen Gymnasialprofessor, der in den klei-nen Jean-Paul zärtlich vernarrt war. Den Vater, der 1907 als Dreißig-jähriger gestorben ist, hat Sartre nicht gekannt. „Glücklicherweisestarb er sehr früh; inmitten so vieler Männer, die gleich dem Äneasihren Anchises auf dem Rücken tragen, schreite ich von einem Uferzum anderen, allein und voller Missachtung für diese unsichtbarenErzeuger, die ihren Söhnen das ganze Leben lang auf dem Rückenhocken ... ich habe kein Über-Ich.“ Bestimmend für die geistigeEntwicklung des kleinen „Poulou“, der sich in dem Haus fremd undnur geduldet vorkommt – ein Weltgefühl, das für Sartre das ganzeLeben bedeutend bleibt –, wird der Großvater, der die kindlichenSchreibversuche anregt und fördert und dem Jean-Paul das Posie-ren, die theatralischen Gesten abschaut. So sind auch die erstenSchreibversuche nichts als nachgeahmte Pose, durch die das Kindsich unter die großen Schriftsteller einzureihen glaubt – Schreiben

42 KLL, Bd. 5, S. 6479-6480; deutsche Textausgabe als rororo 1000, französischeTextausgabe in der Reihe Folio (Gallimard).