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5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im R n Wir betrachten (nichtlineare) Abbildungen f : R n U R k . Eine solche Abbil- dung ist gegeben durch ein System von k Funktionen von n Variablen y 1 = f 1 ( x 1 , ..., x n ), y 2 = f 2 ( x 1 , ..., x n ), . . . y k = f k ( x 1 , ..., x n ). oder kürzer y = f ( x), (5.1) wobei wir kurz x = ( x 1 , x 2 ,..., x m ) für Elemente des R m schreiben. 1 Die R m werden hier als affine Räume (s. Abschnitt 4.1.1) verstanden und die Vektoren des zugehörigen Vektorraumes R m schreiben wir mit Pfeil: ~ x = x - x 0 . So eine Abbildung kann eine Vielzahl von Strukturen beschreiben, z.B. (i) f : R R k : eine Kurve im R k (ii) f : R 2 R k : eine Fläche im R k (iii) f : R n R : ein skalares Feld auf dem R n Die Abbildung f heißt differenzierbar an einem Punkt x U, wenn sie sich dort differenzierbar durch eine lineare Abbildung A : R n R k approximieren läßt. Genauer: wenn wir uns im R n um einen kleinen Vektor δ ~ x = x 0 - x von x wegbewegen, so soll sich das Bild f im R k in linearere Näherung um den Vektor δ ~ y = A δ ~ x ändern, wobei A also eine (k × n)-Matrix ist. Die lineare Abbildung, die eine Funktion f an der Stelle x optimal approximiert, wird die totale Ableitung df von f an der Stelle x genannt. In einer Dimension ist eine lineare Abbildung R R : δx 7δ y = a δx einfach eine Zahl, der „Anstieg“ a. Dieser Anstieg a variiert, wenn x variiert und so bekommen wir eine neue Funktion a( x) = f 0 ( x). Analog ist in höheren Dimensionen df an der Stelle x ein linearer Operator, und die Variation von x liefert eine x-abhängige Familie linearer Operatoren, also eine Abbildung df : R n L (R n , R k ). Definition 5.1.1. Die Abbildung f : R n R k ist differenzierbar an der Stelle x = ( x 1 ,..., x n ), wenn es eine lineare Abbildung (Matrix) A : R n R k gibt, für die gilt: Zu jedem ² > 0 gibt es eine Umgebung U x,² von x, so daß k f ( x 0 ) - f ( x) - A( x 0 - x)k< ²kx 0 - xk x 0 U x,² . (5.2) 1 Koordinaten haben einen oberen Index, damit die Summationskonvention funktioniert. Sie sind die “kontravarianten Komponenten des Ortsvektors”. 62 M. Hellmund – preliminary version – 5. Dezember 2011 – 12:17

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5 Differentialgeometrie aufMannigfaltigkeiten

5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einerFunktion im Rn

Wir betrachten (nichtlineare) Abbildungen f : Rn ⊇U → Rk. Eine solche Abbil-dung ist gegeben durch ein System von k Funktionen von n Variablen

y1 = f 1(x1, ..., xn),

y2 = f 2(x1, ..., xn),...

yk = fk(x1, ..., xn).

oder kürzery= f (x), (5.1)

wobei wir kurz x = (x1, x2, . . . , xm) für Elemente des Rm schreiben.1 Die Rm werdenhier als affine Räume (s. Abschnitt 4.1.1) verstanden und die Vektoren deszugehörigen Vektorraumes Rm schreiben wir mit Pfeil:~x = x− x′.

So eine Abbildung kann eine Vielzahl von Strukturen beschreiben, z.B.

(i) f : R→Rk : eine Kurve im Rk

(ii) f : R2 →Rk : eine Fläche im Rk

(iii) f : Rn →R : ein skalares Feld auf dem Rn

Die Abbildung f heißt differenzierbar an einem Punkt x ∈U , wenn sie sich dortdifferenzierbardurch eine lineare Abbildung A : Rn → Rk approximieren läßt. Genauer: wennwir uns im Rn um einen kleinen Vektor δ~x = x′− x von x wegbewegen, so soll sichdas Bild f im Rk in linearere Näherung um den Vektor δ~y= A δ~x ändern, wobeiA also eine (k×n)-Matrix ist.

Die lineare Abbildung, die eine Funktion f an der Stelle x optimal approximiert,wird die totale Ableitung df von f an der Stelle x genannt.

In einer Dimension ist eine lineare Abbildung R→R : δx 7→ δy= a δx einfacheine Zahl, der „Anstieg“ a.

Dieser Anstieg a variiert, wenn x variiert und so bekommen wir eine neueFunktion a(x) = f ′(x). Analog ist in höheren Dimensionen df an der Stelle xein linearer Operator, und die Variation von x liefert eine x-abhängige Familielinearer Operatoren, also eine Abbildung df : Rn →L (Rn,Rk).

Definition 5.1.1. Die Abbildung f : Rn → Rk ist differenzierbar an der Stellex = (x1, . . . , xn), wenn es eine lineare Abbildung (Matrix) A : Rn →Rk gibt, für diegilt: Zu jedem ε> 0 gibt es eine Umgebung Ux,ε von x, so daß

‖ f (x′)− f (x)− A(x′− x)‖ < ε‖x′− x‖ ∀x′ ∈Ux,ε. (5.2)

1Koordinaten haben einen oberen Index, damit die Summationskonvention funktioniert. Sie sinddie “kontravarianten Komponenten des Ortsvektors”.

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wobei ‖. . .‖ die euklidische Norm im Rn bzw. Rk ist. Diese lineare Abbildung A Totale Ableitungheißt die totale Ableitung von f an der Stelle x und wird als df (x) oder auchDf (x), f ′(x), df |x, Df |x o.ä. bezeichnet.2

In Komponenten ist df , falls es existiert, natürlich gerade die Matrix derpartiellen Ableitungen

df =

∂ f 1

∂x1 · · · ∂ f 1

∂xn...

. . ....

∂ f k

∂x1 · · · ∂ f k

∂xn

(5.3)

an der Stelle x. Diese Matrix wird auch Jacobi-Matrix genannt und als Jacobi-Matrix∂( f 1, . . . , f k)∂(x1, . . . , xn)

geschrieben.

Die Existenz aller partiellen Ableitungen ist eine notwendige, aber nicht hin-reichende Bedingung für die Differenzierbarkeit. Eine hinreichende Bedingungfür Differenzierbarkeit (d.h., daß die Matrix der partiellen Ableitungen auch(5.2) erfüllt) ist z.B., daß die partiellen Ableitungen in einer Umgebung von xexistieren und stetig sind.

Die totale Ableitung df läßt sich wieder als Funktiondf : Rn ⊇U →L (Rn,Rk)∼=Rnk mit Werten in einem lineare Raum ansehen, diejedem x ∈ U eine Matrix, also ein Element des Vektorraumes Rnk zuordnet.Als solche kann sie wieder differenzierbar im Sinne unserer Definition 5.1.1sein. Damit können wir die m-fache Differenzierbarkeit bzw. die Glattheit vonAbbildungen definieren.

Eine an der Stelle x differenzierbare Abbildung ist an dieser Stelle stetig undeine in einer Umgebung differenzierbare Funktion ist dort lokal Lipschitz-stetig.

Sei U ⊆Rn eine offene Umgebung. Wir betrachten Funktionen f : U →Rk. Die Cm-Klassen

(i) Eine Funktion f gehört zu C0(U), wenn sie auf U stetig ist.

(ii) Eine Funktion f gehört zu C1(U), wenn ihre partiellen Ableitungen 1. Ord-nung existieren und stetig sind. Nach dem oben Gesagten ist sie damitstetig, C1(U)⊆ C0(U), und differenzierbar.

(iii) Eine Funktion f gehört zu Cm(U), wenn alle partiellen Ableitungen bis zurOrdnung m existieren und stetig sind.Also ist C0(U)⊇ C1(U)⊇ C2(U)⊇ C3(U)⊇ ·· ·

(iv) Wenn f ∈ Cm(U), dann vertauschen alle partiellen Ableitungen bis zurm-ten Ordnung, ∂2 f

∂xi∂x j = ∂2 f∂x j∂xi , etc.

(v) Eine Funktion f gehört zu C∞(U), wenn f ∈ Cm(U) für alle m ∈ N. Wirnennen solche Funktionen glatt (smooth).

Sei h = f g : Rn ⊇Ug−→Rm f−→Rk die Zusammensetzung zweier C1-Funktionen. Kettenregel

Dann ist auch die lineare Transformation, die einen kleinen Änderungsvektorδ~x ∈Rn auf δ~y ∈Rk abbildet, die Zusammensetzung (Matrixprodukt) der entspre-chenden linearen Transformationen df und dg. Es gilt also die Kettenregel

dh∣∣x = df

∣∣g(x) · dg

∣∣x, (5.4)

2 Man kann natürlich Abbildungen konsequent nur als f , df usw. bezeichnen und unter f (x) oderdf (x) immer den Wert der Abbildung an der Stelle x verstehen. Allerdings ist es – besonders inder Physik – auch üblich, Abbildungen mit einem dummy argument als f (x), df (x) zu schreiben.Um herauszustellen, daß man den Wert der Abbildung an einem einzelnen Punkt meint, benutztman dann eher f (x0), df (x0) oder f |x, df |x.

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wobei rechts das Produkt einer (k×m)-Jacobimatrix mit einer (m×n)-Jacobi-matrix steht.

Wir notieren noch den

Satz 5.1.2. Sei U ⊆Rn eine offene Umgebung und f : U →Rn stetig differenzierbar,Satz von der Um-kehrabbildung f ∈ C1(U). Sei weiterhin x ∈U ein regulärer Punkt von f , d.h., der lineare Operator

A = df (x) ist invertierbar, det A = det(∂( f 1, . . . , f k)∂(x1, . . . , xn)

)∣∣∣∣x6= 0.

Dann gibt es eine Umgebung Vx ⊆U von x, für die gilt:

(i) f (Vx) ist eine offene Umgebung Vy von y= f (x);

(ii) f |Vx : Vx →Vy ist eine Bijektion;

(iii) das Inverse f −1 : Vy →Vx ist in C1(Vy), also auf Vy stetig differenzierbar;

(iv) die Ableitungen A = df |x, B = df −1|y sind als lineare Operatoren inverszueinander, AB =1.

Beispiel 5.1.3. Sei f :Rn →R ein skalares Feld, z.B. eine TemperaturverteilungGradientim Raum. Dann ist df :Rn →L (Rn,R). Rechts vom Pfeil steht der Raum der Line-arformen auf dem Rn. Die beste lineare Approximation einer skalaren Funktion

ist also eine 1-Form mit den Komponenten(∂ f∂x1 ,

∂ f∂x2 , . . . ,

∂ f∂xn

). Diese 1-Form

wird in der Physik Gradient von f genannt.Sei f : R2 → R. Wir haben in Abschnitt 4.2.1 gesehen, daß sich Linearformen

geometrisch als Schar paralleler Hyperebenen darstellen lassen, im R2 also alsLinienschar. Das analoge Bild von df ist die Schar der Höhenlinien von f (x). DieAnwendung der Linearform auf einen Vektor,

df (~v)=∑i

vi ∂ f∂xi (5.5)

ist in linearer Näherung die Änderung von f (x), wenn man sich von x in Richtung~v bewegt. Analog zur Interpretation in Abschnitt 4.2.1 ist sie die (interpolierte)Anzahl der Höhenlinien von f (x), die~v durchschneidet.

Bemerkung 5.1.4. Für Objekte im “Nenner” eines Differentialoperators vertau-schen sich die Rollen oberer und underer Indizes; ∂

∂xi ist ein kovariantes Objekt.Die Summationskonvention sei hiermit entsprechend erweitert. Wir werden alsodf (~v)= vi ∂ f

∂xi schreiben, da der zweite Index i “wie ein unterer Index zählt”.In Übereinstimmung damit ist auch die Konvention für die Kurzform

∂i := ∂

∂xi , (5.6)

die es erlaubt, df (~v)= vi∂i f zu schreiben.

Bemerkung 5.1.5. Beim Übergang in die Welt des Nichtlinearen arbeiten wir mitlokalen lineare Approximationen. Dies führt, wie das Beispiel der totalen Ablei-tung df (x) zeigt, zu ortsabhängigen Familien von Vektoren, Formen, Tensorenusw. Wir können Nichtlineares (Gekrümmtes) lokal durch lineare Abbildungenund lineare (flache) Räume (Tangentialräume) approximieren. Dies ist das Themadieses Kapitels.

Eine weitere Zutat fehlt allerdings noch: nicht alle Räume, die wir betrachtenwollen, sind homöomorph zum Rn. Man kann aber Teile auf Teilgebiete des Rn

abbilden, so wie ein Atlas unserer Erde aus mehreren Karten besteht. Dies führtzum Begriff der Mannigfaltigkeit.

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5.2 Mannigfaltigkeiten

5.2.1 Definition einer MannigfaltigkeitEine Mannigfaltigkeit ist ein Raum, der lokal wie der euklidische Raum Rn

aussieht.Topologische Mannigfal-tigkeit

Definition 5.2.1. Eine (randlose) topologische Mannigfaltigkeit M der Dimensi-on n (n-MFT) ist ein topologischer Raum, der

(i) hausdorffsch3 ist,

(ii) die zweite Abzählbarkeitseigenschaft4 hat und

(iii) lokal euklidisch ist, d.h., jeder Punkt x ∈ M besitzt eine offene Umgebung,welche homöomorph zu einer offenen Teilmenge des Rn ist.

Die Forderung, lokal euklidisch zu sein, ist recht stark. Man könnte denken, daß siebereits die Hausdorff-Eigenschaft oder die zweite Abzählbarkeit impliziert. Dem istnicht so:

(i) Die Gerade mit zwei Ursprüngen (Bsp. C.8.2) ist lokal euklidisch, hat diezweite Abzählbarkeitseigenschaft, ist aber kein Hausdorff-Raum.

(ii) Sei RD die mit der diskreten Topologie5 versehene Menge der reellen Zahlen.Betrachten wir M =R×RD . Dies ist sozusagen ein R2 zusammengesetzt auseinem Stapel diskreter, unverbundener Geraden. Dieser Raum ist hausdorffschund auch lokal euklidisch – jede zusammenhängende Umgebung sieht aus wieein eindimensionales Intervall – aber er verletzt das zweite Abzählbarkeits-axiom.

Andererseits hat das Zusammenwirken der 3 Forderungen – lokal euklidisch, haus-dorffsch, second countable – weitere Folgen. So ist z.B. jede topologische Mannigfal-tigkeit separabel, metrisierbar, parakompakt6 und normal7.

Es gibt auch Mannigfaltigkeiten mit Rand. Dieser Begriff bezieht sich aufden Raum M als Ganzes und ist unabhängig vom topologischen Rand einerUntermenge U ⊂ M, wie er in C.5 behandelt wurde.

Definition 5.2.2. Eine Mannigfaltigkeit hat einen Rand, wenn es Gebiete gibt, Berandete Mannigfaltig-keitdie lokal nicht wie Rn sondern wie Rn+ = (x1, . . . , xn)|xn ≥ 0 aussehen.

Abb. 5.2: Mannigfaltigkeitmit Rand

Satz 5.2.3. Der Rand ∂M von M umfaßt die Teile von M, die auf ∂Rn+= (x1, . . . , xn−1,0) ∼= Rn−1 abgebildet werden. Damit ist der Rand selbst eine(n−1)-dimensionale MFT und randlos: ∂∂M =;.

Beispiel 5.2.4. Der Rand eines Zylinders endlicher Länge Z = S1 × [a,b] isteine nicht-zusammenhängende eindimensionale MFT bestehend aus 2 Kreisen∂Z = S1 tS1.

Beispiel 5.2.5. Der nichtkompakte Zylinder Z′ = S1 × (a,b) ist randlos. Er ist jaauch homöomorph zum unendlichen Zylinder S1 ×R.

Bemerkung 5.2.6. Wir werden unter einer Mannigfaltigkeit, wenn nichts anderesgesagt wird, eine zusammenhängende und randlose Mannigfaltigkeit verstehen.

Beispiel 5.2.7. Eine eindimensionale Mannigfaltigkeit (MFT) ist entweder zu Roder zur Kreislinie S1 homöomorph.1siehe Anhang C.82siehe Anhang C.95siehe Anhang C.76Jede offene Überdeckung hat eine lokal endliche Verfeinerung.7Nicht nur Punkte, sondern alle disjunkten geschlossenen Untermengen lassen sich durch offene

Umgebungen trennen.

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Beispiel 5.2.8. Zweidimensionale MFT lassen sich ebenfalls bis auf Homöomor-phie klassifizieren. Kompakte 2-MFTs sind entweder Sphären (KugeloberflächenS2) oder sie entstehen aus Sphären, indem man Löcher hineinschneidet und diese

Abb. 5.3: Sphäre mit 3 Hen-keln

Löcher mit Henkeln oder mit Möbiusbändern (deren Rand ja eine Kreislinie S1

ist) verschließt.Im letzten Fall entstehen Mannigfaltigkeiten, die nicht orientierbar sind. Diese

lassen sich nicht ohne Selbstdurchdringung im R3 darstellen. Ein Beispiel ist dieKleinsche Flasche, die durch Ankleben von 2 Möbiusbändern entsteht.

Das Ankleben von drei Möbiusbändern ist homöomorph zum Ankleben voneinem Möbiusband und einem Henkel.

Eine vollständige Liste ohne Mehrfachzählung erhält man, indem man entwe-der k Henkel, k = 0,1,2, . . . anklebt (alle orientierbaren kompakten 2-MFTs) oderausschließlich n Möbiusbänder, n = 1,2, . . . anklebt (Liste der nichtorientierbarenkompakten 2-MFTs).

Abb. 5.5: Kleinsche Flasche

Beispiel 5.2.9. 3-dimensionale Mannigfaltigkeiten können wesentlich komplexersein. Um 1980 stellte Thurston eine Vermutung über die topologische Strukturvon kompakten 3-MFTs auf, die – stark vereinfacht – besagt, daß alle kompakten3-MFTs durch das Zerschneiden und Verkleben von 8 Basisgeometrien entstehenund sich durch die Kombinatorik dieser Verklebungen charakterisieren lassen.

Zu nichtkompakten 2-und 3-MFTs siehe auchhttp://mathoverflow.net/questions/4155

Die 2002/2003 veröffentlichten Arbeiten von Perelman zur Poincaré-Vermutungbeweisen unter anderem diese Vermutung.

5.2.2 Atlanten und KartenNun wollen wir die lokal euklidische Struktur ausnutzen, um Mannigfaltigkeitenmit Koordinaten zu versehen - sie zu koordinatisieren.

Definition 5.2.10. Eine Karte (U ,φ) für einen Raum M besteht aus einer offenenUntermenge U ⊂ M und einem Homöomorphismus φ : U → V von U auf eineoffene Teilmenge V des Rn.

Ein Atlas A ist eine Sammlung von Karten, die M überdeckt.

A = (Ui,φi)

i∈I mit

⋃i∈I

Ui = M und φi : Ui →Vi ⊂Rn (5.7)

Abb. 5.7: Eine Karte erzeugtlokale Koordinaten

Ein topologischer Raum ist lokal euklidisch ist genau dann, wenn er einenAtlas besitzt. Insbesondere besitzt jede Mannigfaltigkeit (wegen der zweitenAbzählbarkeitseigenschaft) einen abzählbaren Atlas.

Durch eine Karte (U ,φ) bekommt jeder Punkt p ∈ U ⊂ M einer Mannigfal-tigkeit ein n-Tupel reller Zahlen φ(p) zugeordnet. Dies sind die Koordinatendes Punktes in dieser Karte. In einem Atlas A kann ein Punkt auf verschie-denen Karten liegen, da die Karten sich überlappen. Es ist klar, wie man dieKoordinaten aus einer Karte in die andere umrechnet:

Seien x1p, . . . , xn

p ∈Rn die Koordinaten bezüglich der Karte Ui eines Punktes paus dem Überlapp Ui ∩U j. Dann liefert φ−1

i (x1p, . . . , xn

p) den Punkt p und dieanschließende Anwendung von φ j liefert schließlich die Koordinaten x′1p , . . . , x′np des Punktes in der Karte U j.

Die Umrechnung der Koordinaten erfolgt also mittels der auf dem Überlappdefinierten Kartenwechselabbildungen

φ ji =φ j φ−1i : φi(Ui ∩UJ )→φ j(Ui ∩UJ ) (5.8)

x′1p , . . . , x′np =φ ji (x1p, . . . , xn

p) (5.9)

Diese Kartenwechselabbildungen sind demnach definiert auf Umgebungen desRn und nehmen Werte in Rn an.

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Damit können wir nun versuchen, Differential- und Integralrechnung aufMannigfaltigkeiten auf die Analysis im Rn zurückzuführen. Eine Zutat fehltnoch: um z.B. eine Ableitung über einen Kartenwechsel hinwegzuziehen, soll-ten (Kettenregel) die Kartenwechsel φ ji differenzierbare Abbildungen zwischenUntermengen des Rn sein.

Abb. 5.10: Kartenwechsel

Bemerkung 5.2.11. “Mannigfaltigkeit” ist, genau wie “Vektorraum”, ein abstrak-tes Konzept. Häufig werden uns n-Mannigfaltigkeiten als Unterräume eines hö-herdimensionalen euklidischen Raumes Rn gegeben sein. Dies kommt unserer An-schauung am nächsten. Die Koordinatisierungsabbildungen φ einer Karte (U ,φ)sind dann explizit gegeben als Abbildungen U 3 (z1, . . . , zn) 7→ (x1, . . . , xn) ∈ Rn,siehe Beispiel 5.2.15. Der Mannigfaltigkeitsbegriff und die Geometrie einerMannigfaltigkeit ist jedoch unabhängig von einer solchen Einbettung. Insbe-sondere können die Punkte einer Mannigfaltigkeit auch andere Objekte sein.So ist z.B. die Grassmannsche Mannigfaltigkeit Gr(n,m) die Menge aller n-dimensionalen linearen Unterräume des Rm. Sie hat auf natürliche Weise dieStruktur einer n(m−n)-dimensionalen Mannigfaltigkeit M, in der jeder Punktfür einen n-dimensionalen Raum steht. Die Kartenabbildungen φi müssen diesen-dimensionale lineare Räume auf Punkte des Rdim M abbilden.

5.2.3 Glatte MannigfaltigkeitenDefinition 5.2.12. Eine Mannigfaltigkeit M erlaubt eine glatte Struktur, wennes einen glatten Atlas A =

(Ui,φi)

für M gibt. Ein Atlas ist glatt, wenn alleseine Kartenwechselabbildungen φi j glatt (= beliebig oft differenzierbar) sind.

Es ist klar, daß die Vereinigung (aller Karten) zweier Atlanten wieder einenAtlas liefert. Allerdings muß die Vereingung zweier glatten Atlanten nicht not-wendig wieder einen glatten Atlas liefern - die neu entstehenden Kartenwechse-labbildungen sind unter Umständen nicht glatt.

Zwei glatte Atlanten (M,A1) und (M,A2) sind miteinander verträglich, wenndie Vereinigung ihrer Karten ebenfalls ein glatter Atlas ist. Miteinander verträg-liche Atlanten definieren die gleiche glatte Struktur auf M. Diese Verträglichkeitdefiniert eine Äquivalenzrelation auf der Menge aller glatten Atlanten von M.

Definition 5.2.13. Eine glatte Mannigfaltigkeit (M, [A ]) ist eine Mannigfal-tigkeit versehen mit einem glatten Atlas, der für die ganze Äquivalenzklasseverträglicher Atlanten steht.

Bemerkung 5.2.14. Alternativ kann man auch den Begriff des maximalen Atlasals Vereinigung aller verträglichen Atlanten einführen und eine glatte MFT alsMFT mit einem maximalen Atlas definieren.

Beispiel 5.2.15 (n-dimensionale Späre). Die Punktmenge Sn ⊂ Rn+1 definiertdurch (x1)2 + (x2)2 +·· ·+ (xn+1)2 = 1 ist eine glatte Mannigfaltigkeit. Sei N derNordpol (x1, . . . , xn+1) = (0,0, . . . ,1) und S der Südpol (x1, . . . , xn+1) = (0,0, . . . ,−1).Ein möglicher Atlas besteht dann aus 2 Karten U1 = Sn \ S und U2 = Sn \ N undals Homöomorphismen in den Rn kann man die stereographischen Projektionen

φ1(x1, . . . , xn+1)=(

x1

1+ xn+1 ,x2

1+ xn+1 , . . . ,xn

1+ xn+1

)∈Rn (5.10)

φ2(x1, . . . , xn+1)=(

x1

1− xn+1 ,x2

1− xn+1 , . . . ,xn

1− xn+1

)∈Rn (5.11)

verwenden. Der Überlapp ist Sn \ S, N und die Koordinaten der Punkte desÜberlapps lassen sich zwischen den Karten umrechnen mittels der glatten undglatt umkehrbaren Funktion (definiert auf Rn \0)

Abb. 5.12: StereographischeAbbildung

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φ1 φ−12 : (x1, . . . , xn) 7→

(x1∑n

1 (xi)2,

x2∑n1 (xi)2

, . . . ,xn∑n

1 (xi)2

)(5.12)

Definition 5.2.16. Eine Abbildung F : (M,AM)→ (N,AN ) zwischen glatten Man-Glatte Abbildungnigfaltigkeiten ist glatt, wenn für alle (Ui,φi) ∈AM und (Vj,ψ j) ∈AN die Funkti-on f ji =ψ j F φ−1

i auf ihrem Definitionsbereich φi(Ui ∩F−1(Vj)) glatt ist.

Es ist leicht zu sehen, daß diese Definition unabhängig davon ist, welchen Atlasaus der Äquivalenzklasse verträglicher Atlanten auf N oder M man gewählt hat,da die Zusammensetzung glatter Funktionen wieder glatt ist.

Definition 5.2.17. Ein Homöomorphismus F : (M,AM)→ (N,AN ) heißt Diffeo-Diffeomorphismusmorphismus, wenn F und F−1 beide glatt sind. Wenn ein Diffeomorphismuszwischen zwei glatten Mannigfaltigkeiten existiert, sind sie diffeomorph.

Beispiel 5.2.18. Die Abbildung F : x 7→ x3 ist ein Homöomorphismus R→R, aberkein Diffeomorphismus. Sie ist glatt, aber F−1 : x 7→ x1/3 ist an der Stelle x = 0nicht glatt.

Bemerkung 5.2.19. Betrachten wir R mit der glatten Struktur gegeben durchdie Karte φ1 : x 7→ x und R mit der glatten Struktur gegeben durch die Karteψ1 : x 7→ x3. Diese beiden glatten Strukturen sind verschieden, da die beidenAtlanten nicht miteinander verträglich sind, φ1 ψ−1

1 ist nicht glatt.Die beiden so definierten glatten MFTs sind also verschieden, aber sie sind

diffeomorph. Als Diffeomorphismus kann man z.B. F : x 7→ x3 verwenden. Dannist sowohl φ1 F ψ−1

1 als auch ψ1 F−1 φ−11 glatt.

Tatsächlich sind alle glatten Strukturen auf R diffeomorph, oder anders gesagt:modulo Diffeomorphismen gibt es genau eine glatte Struktur auf R.

Noch eine andere Formulierung: zwei glatte Atlanten (M,A1) und (M,A2) sindäquivalent (miteinander verträglich), wenn die Identität Id: (M,A1)→ (M,A2)ein Diffeomorphismus, also in beiden Richtungen glatt ist.

Für inäquivalente Atlanten ist Id kein Diffeomorphismus. Die entsprechendenglatten Mannigfaltigkeiten können trotzdem diffeomorph sein – mit einem vonder Identität verschiedenen Diffeomorphismus.

Es kann verwirren, daß der Begriff „glatte Struktur“ in beiden Bedeutungengebraucht wird, sowohl für die Äquivalenzklasse verträglicher Atlanten als auchfür die größere Äquivalenzklasse diffeomorpher Mannigfaltigkeiten.

Bemerkung 5.2.20. In 1,2 und 3 Dimensionen kann jede topologische MFT miteiner glatten Struktur versehen werden und modulo Diffeomorphismen ist dieseglatte Strukur ist auch eindeutig, d.h., zwei glatte MFTs, die homöomorph sind,sind auch diffeomorph.

Ab n = 4 wird die Situation jedoch wesentlich unübersichtlicher: es gibt sowohltopologische Mannigfaltigkeiten, die keine glatte Struktur zulassen, als auchsolche, die verschiedene (nicht diffeomorphe) glatte Strukturen zulassen. Soentdeckte Milnor 1956, daß die S7 verschiedene Differentialstrukturen habenkann. Später gelangen ihm und Kervaire die vollständige Klassifikation – dieS7 kann 28 verschiedene glatte Strukturen tragen. Als noch exotischer erweistsich ausgerechnet der R4. Für n 6= 4 hat der Rn (mit der üblichen Topologie)eine bis auf Diffeomorphismen eindeutige glatte Struktur. In den 80er Jahrenzeigten Arbeiten von Donaldson, Freedman und anderen, daß der R4 jedochmit überabzählbar vielen nichtäquivalenten glatte Strukturen versehen werdenkann. Diese exotischen glatten Strukturen sind sehr schwer zu beschreiben undhaben bis heute noch keine Anwendung in der Physik gefunden. Sie werden unsim Folgenden auch nicht begegnen.

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5.2.4 Zerlegung der EinsAus den topologischen Eigenschaften von Mannigfaltigkeiten (insbesondere ausder Parakompaktheit) folgt die Existenz einer Zerlegung der Eins.

Definition 5.2.21. Sei (M,A ) eine Mannigfaltigkeit mit Atlas A = (Ui,φi)i∈I .Eine Menge von reellwertigen stetigen Funktionen ρ ii∈I auf M, ρ i : M → R,heißt dem Atlas A untergeordnete Zerlegung der Eins auf M, wenn gilt:

(i) Die Funktionen ρ j sind nur auf U j von Null verschieden: suppρ j ⊆U j ∀ j ∈ I.

(ii) Die Funktionen sind nichtnegativ: ρ j ≥ 0.

(iii) Für jeden Punkt p ∈ M gibt es eine Umgebung Vp, so daß auf Vp nur endlichviele der ρ i von Null verschieden sind.

(iv) An jedem Punkt p ∈ M gilt: ∑i∈Iρ i(p)= 1 (5.13)

Bemerkung 5.2.22. Eine Zerlegung der Eins sieht also so aus: zu jeder Karte Uigibt es eine Funktion ρ i auf M, die außerhalb der Karte gleich Null ist und imInneren der Karte gleich Eins ist. In den Randgebieten der Karte, in denen dieKarte sich mit anderen Karten überlappt, interpoliert ρ i stetig zwischen Nullund Eins, und zwar so, daß die ρ j der sich überlappenden Karten sich an jederStelle zu Eins addieren.

Satz 5.2.23. Für jede Mannigfaltigkeit und jeden Atlas existiert eine dem Atlasuntergeordnete Zerlegung der Eins. Wenn der Atlas glatt ist, existiert auch eineglatte Zerlegung der Eins.

Diese Eigenschaft ist für viele Beweise der Differentialgeometrie nützlich, dasie es erlaubt, lokale Konstruktionen zu globalen Objekten zu “verkleben”.

Beispiel 1: Auf jeder glatten Mannigfaltigkeit gibt es eine Metrik g der Signa-tur (n,0). Beweis: Man kann eine solche Metrik lokal auf jeder Karte konstruieren.Dann ist g(p)=∑

ρ i(p)g i(p) eine globale Metrik, da die Summe positiv definiterMatrizen wieder positiv definit ist.

Der letzte Satz stimmt nicht für Matrizen der Signatur (n−1,1): die Summesolcher Matrizen muß nicht wieder diese Signatur haben. Tatsächlich erlaubtauch nicht jede Mannigfaltigkeit eine Lorentzsche Metrik.

Beispiel 2: Die Definition des Integrals I einer Funktion f über M (bezüglicheiner Volumenform): Man definiert für jede Karte die Integrale I i als Integralevon f ·ρ i über die Karte und setzt I =∑

I i. Abschließend zeigt man die Unabhän-gigkeit dieser Definition von der gewählten Zerlegung der Eins.

5.3 Vektorfelder und Tensorfelder aufMannigfaltigkeiten

5.3.1 TangentialvektorenSei c(t) : R→ M die parametrisierte Bahn eines Punktteilchens auf der Mannig-faltigkeit M. Als parametrisierte Kurve hat sie nicht nur eine Gestalt, sondernwir wissen auch, wie schnell sie durchlaufen wird,

Diese Bahn ordnet jedem Punkt p auf ihr einen Geschwindigkeitsvektor zu.Aus der Anschauung erwartet man, daß es an jedem Punkt p einer Mannigfal-tigkeit einen “sich anschmiegenden” Tangentialvektorraum TpM gibt, der zu Rn

isomorph ist und in dem die Tangentialvektoren zu einer Kurve durch p leben.

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Page 9: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

Es entspricht auch unserer Vorstellung von einem Vektorfeld, z.B. einer Feldstärke~E(p), daß man die Feldstärken von verschiedenen Quellen punktweise addiert,~E(p) = ~E1(p)+~E2(p). Feldstärken an einem Punkt bilden also einen Vektorraum,während Feldstärken an verschiedenen Punkten sich nicht sinnvoll addieren lassen;sie leben in verschiedenen Vektorräumen.

Um also Vektorfelder ~E(p) auf einem Raum M als geometrische Objekte fassen zukönnen, denken wir uns an jedem Punkt p ∈ M eine Kopie Vp eines Vektorraums Vangeklebt. Eine solche Konstruktion – ein durch die Punkte p ∈ M eines Raumesparametrisiertes Familie von linearen Räumen – heißt Vektorraumbündel oderVektorbündel(kürzer, üblicher, aber irreführender) Vektorbündel.Die disjunkten Vereinigung aller Fasern

E = ⊔p∈M

Vp (5.14)

ist der Totalraum des Bündels. Dieser Raum muß mit einer geeigneten Topologieversehen werden, damit man einen Nachbarschaftsbegriff für Vektoren in verschie-denen Fasern hat und von stetigen Vektorfeldern reden kann. Damit wird E selbstzu einer Mannigfaltigkeit der Dimension dimE = dim M+dimV . Wenn M eine glat-te Mannigfaltigkeit ist, fordert man auch für ganz E die Existenz einer glattenStruktur und erhält so den Begriff des glatten Vektorbündels.Wir geben hier nicht die allgemeine Definition eines Vektorbündels an, da wir imFolgenden nur das spezielle Tangentialbündel TM und seine Verwandten benötigen.

Trotz seiner Anschaulichkeit macht die koordinatenunabhängige Definition desBegriffs des Tangentialvektors einige Arbeit. Die Idee ist: Ein Tangentialvektoram Punkt p ist eine Äquivalenzklasse von Kurven durch p. Alle Kurven, die imPunkt p gleich schnell in die gleiche Richtung gehen, repräsentieren denselbenVektor. Ob sie dies tun, rechnen wir in einer lokalen Karte nach.

Definition 5.3.1. Ein Tangentialvektor an M im Punkt p ist eine Äquivalenz-klasse [c] von differenzierbaren Kurven c : (−ε,ε)→ M mit ε> 0 und c(0)= p. Seiφ : U →V eine Karte, die p enthält: p ∈U. Dann ist in dieser Karte die Kurve cexplizit durch eine Funktion γc : (−ε,ε)→Rn gegeben via c(t)=φ−1 γc(t). ZweiKurven c1(t), c2(t) seien äquivalent, wenn

dγc1

∣∣t=0 = dγc2

∣∣t=0 (5.15)

mit dem totalen Differential dγc =(∂γ1

∂t , . . . , ∂γn

∂t

)∈L (R,Rn)∼=Rn.

Bemerkung 5.3.2. Die Äquivalenzrelation hängt nicht von der Karte ab. Sei(U ′,ψ) eine andere Karte, die p enthält. Dann ist c(t) = φ−1 γc(t) =ψ−1 γ′c(t),also γ′c =ψφ−1 γc und mit Kettenregel

dγ′c∣∣0 = d(ψφ−1)

∣∣φ(0) ·dγc

∣∣0 (5.16)

Die Ableitungen in verschiedenen Karten unterscheiden sich also durch einevon der Kurve unabhängige invertierbare lineare Abbildung. Die Äquivalenzrela-tion ist daher in beiden Karten dieselbe.

c(t)

γc(t)

φ−1

Rn

Bemerkung 5.3.3. Eine Karte U liefert also via [c] 7→ dγc(0) eine Abbildung derÄquivalenzklassen von Kurven auf den Vektorraum Rn. Diese Abbildung istoffenbar wohldefiniert (nur von der Äquivalenzklasse abhängig) und injektiv.Sie ist auch surjektiv, da man zu jedem ~v ∈ Rn die Kurve cv(t) = φ−1(γv(t)) mitγv(t)=φ(p)+ t~v konstruieren kann, für die dγ(0)=~v ist. Also ist diese Abbildungeine Bijektion und macht damit den Raum der Äquivalenzklassen von Kurvenzu einem linearen Raum, der zu Rn isomorph ist.

Definition 5.3.4. Der lineare Raum aller Tangentialvektoren an einem Punktp ∈ M ist der Tangentialvektorraum TpM.

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Page 10: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

5.3.2 Das TangentialbündelDefinition 5.3.5. Sei (M,A ) eine glatte n-dimensionale Mannigfaltigkeit. Das TangentialbündelTangentialbündel TM von M ist die disjunkte Vereinigung aller Tangentialräume

TM = ⊔p∈M

TpM = ⋃p∈M

p×TpM. (5.17)

Damit kann man Elemente von TM als Paare (p,vp) mit p ∈ M und vp ∈ TpMauffassen.Sei A = (Ui,φi). Dann ist TA = (Ui×Rn,Φi) mitΦi(p, [c])= (φ(p),d(φc)) ∈R2d

ein Atlas von TM, der TM mit der Struktur einer 2d-dimensionalen glatten Man-nigfaltigkeit versieht.Seine Kartenwechselabbildungen sind Φi Φ−1

j = (φi φ−1j , d(φi φ−1

j )), d.h.,(x,~v) von Ui ×Rn wird mit (x′,~v′) von U j ×Rn identifiziert genau dann, wennx = (φi φ−1

j )(x′) und~v = d(φi φ−1j )

∣∣x′ ·~v′.

Bemerkung 5.3.6. Das Tangentialbündel TM entspricht nicht ganz der anschau-lichen Vorstellung, die z.B. die Tangentialebenen einer in den R3 eingebettetengekrümmten Fläche (vgl. Bild auf der vorherigen Seite) vermitteln. Die Tan-gentialebenen verschiedener Punkte würden sich in diesem Bild zwangsläufigschneiden. TM ist aber die disjunkte Vereinigung der Tangentialräume. Diesfunktioniert nur, indem sich die Tangentialräume in andere, zusätzliche Dimen-sionen erstrecken. So hat das Tangentialbündel eines Kreises TS1 ∼= S1 ×R dieTopologie eines Zylinders. Man kann TS1 in den R3 einbetten, indem man denKreis M = S1 in die xy-Ebene legt und die 1-dimensionalen TangentialräumeTpM =R sich alle in z-Richtung erstrecken. Es ist die formale Definition 5.3.1, die

Abb. 5.14: TS1 = S1 ×Rsicherstellt, daß die v ∈ TpM sich so verhalten, wie wir es von Tangentialvektorenerwarten.

Definition 5.3.7. Ein glattes Vektorfeld ist ein glatter Schnitt des Bündels TM, Vektorfeld, Schnittd.h., eine glatte Abbildung v : M → TM, die jedem Punkt p ∈ M einen Vektor v(p)aus dem zu p gehörigen Vektorraum TpM zuordnet:

v : M → TM (5.18)

so daß ∀p ∈ M : v(p) ∈ TpM (5.19)

Der Raum aller Vektorfelder auf M sei mit TM bezeichnet.

Das Tangentialbündel ist (wie jedes Vektorbündel) stets lokal trivial, d.h.,auf einer Karte Ui sieht es wie ein kartesisches Produkt Ui ×Rn aus. Lokalliefert daher jede vektorwertige Funktion v : Ui →Rn ein Vektorfeld. Die globalenVerhältnisse können jedoch komplizierter sein.

Daß Tangentialvektorfelder nicht einfach Funktionen auf M mit Werten ineinem Vektorraum sind, sieht man z.B. am Satz vom gekämmten Igel.8

Satz 5.3.8. Auf einer Sphäre S2 gibt es kein stetiges nirgends verschwindendesTangentialvektorfeld.Also hat jeder gekämmte Igel mindestens eine kahle Stelle (Nullstelle des Tan-gentialvektorfeldes).

Definition 5.3.9. Das Tangentialbündel TM ist trivial und die Mannigfaltigkeit Triviales BündelM parallelisierbar, wenn es dim M = d nirgends verschwindende stetige Vektor-felder gibt, die an jedem Punkt linear unabhängig sind und damit in jeder FaserTpM eine Basis liefern.9

8von anzüglichen Angelsachsen hairy ball theorem genannt9 Das ist gleichbedeutend damit, daß TM als Bündel isomorph zu M×Rn ist.

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Page 11: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

Beispiel 5.3.10.(i) Die Sphäre S2 (und allgemeiner jede Sphäre S2n gerader Dimension) ist

also nicht parallelisierbar, da es auf ihr überhaupt kein nullstellenfreiesTangentialvektorfeld gibt.

(ii) Auf Sphären ungerader Dimension gibt es zwar nullstellenfreie Felder, aberin der Regel nicht genug. Tatsächlich sind nur S1,S3 und S7 parallelisierbar.

(iii) Das Produkt parallelisierbarer Mannigfaltigkeiten ist parallelisierbar. Ins-besondere ist der Torus Tn = S1 ×S1 ×·· ·×S1 parallelisierbar.

Definition 5.3.11. Eine glatte Mannigfaltigkeit M ist orientierbar, wenn esOrientierbare MFTmöglich ist, alle Fasern TpM mit einer kohärenten Orientierung zu versehen.Das ist äquivalent zur Existenz eines orientierten Atlas; d.h., eines Atlas, in demalle Überlapps φi φ−1

j eine überall positive Jacobi-Determinante detd(φi φ−1j )

haben. Bei Mannigfaltigkeiten mit Rand induziert eine Orientierung von M eineOrientierung auf ∂M.

Beispiel 5.3.12. Das Möbiusband ist eine nicht orientierbare Mannigfaltigkeit.

Bemerkung 5.3.13. Parallelisierbare Mannigfaltigkeiten sind orientierbar. Orien-tierbarkeit ist eine wesentlich schwächere Forderung als Parallelisierbarkeit. Sosind alle Sphären Sn orientierbar.

Bei parallelisierbaren Mannigfaltigkeiten kann man auf jeder Karte lokaleBasen in den Fasern TpM so wählen, daß im Überlapp p ∈Ui ∩U j die Karten-wechselabbildung d(φi φ−1

j )∣∣p diese Basen aufeinander abbildet.

Orientierbarkeit fordert dagegen nur, daß man auf den Karten Basen so de-finieren kann, daß das Bild einer Basis von TpM aus der Karte Ui unter derKartenwechselabbildung genauso orientiert ist, wie die Basis von TpM aus derKarte U j.

5.3.3 Tangentialvektoren als RichtungsableitungEs ist etwas umständlich, Tangentialvektoren durch Kurven zu repräsentieren.

Definition 5.3.14. Sei f ∈ C∞(M) eine skalare Funktion auf M; vp ∈ TpM einRichtungsableitungTangentialvektor am Punkt p und cv(t) eine Kurve, die v repräsentiert. Dann ist

vp( f )= ddt

f (cv(t))∣∣t=0 (5.20)

die Richtungsableitung von f in Richtung v am Punkt p.

Bemerkung 5.3.15. (i) Es läßt sich leicht zeigen, daß die Richtungsableitungnur von der Äquivalenzklasse [c] abhängt.

(ii) Die Ableitung d/dt in (5.20) ist eine gewöhnliche Ableitung, da

f c : (−ε,ε)→ M →R (5.21)

eine gewöhnliche Funktion ist. Die Richtungsableitung v( f ) einer Funktionnach einem Vektorfeld ist wieder eine Funktion aus C∞(M).

(iii) Man kann zeigen, daß die Menge der Richtungsableitungen an einem Punkt(d.h., lineare Abbildungen von C∞(M) auf R, deren Wert nur vom Verhaltenvon f in einer beliebig kleinen Umgebung von p abhängt und die die Pro-duktregel v( f g) = g v( f )+ f v(g) erfüllen) eine linearen Raum bildet, dernatürlich isomorph zum Raum der Äquivalenzklassen [c]p von Kurven ist.Dies ist eine alternative Möglichkeit, TpM zu definieren.

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Page 12: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

In einer Karte (U ,φ) schreiben wir f cv = ( f φ−1)(φcv), wobei f φ−1 = f (x1, . . . , xn)die lokale Darstellung von f ist und φ cv = γv(t) = (γ1(t), . . . ,γn(t)) die lokaleDarstellung der Kurve cv ist. Damit wird

v( f )= ddt

f (cv(t))∣∣t=0 =

ddt

f (γ(t))∣∣t=0 =

dγi(t)dt

∣∣∣t=0

∂ f∂xi

∣∣∣φ−1(p)

(5.22)

= vi ∂ f∂xi

∣∣∣φ−1(p)

mit vi := dγi(t)dt

∣∣∣t=0

(5.23)

Wir können also in einer Karte

v= vi ∂

∂xi = vi∂i (5.24)

und v( f )= vi ∂ f∂xi = vi∂i f (5.25)

schreiben.10 Eine Karte (U ,φ) liefert eine natürliche Basis für jeden Tangenti-alvektorraum TpM an den Punkten p ∈ U. Die Basis

∂∂x1 , . . . , ∂

∂xn

wird auch

abgekürzt als ∂1, . . . ,∂n, siehe auch Bemerkung 5.1.4.Das orthogonale Netz der Koordinatenlinien des Rn wird durch die Kartenab-

bildung φ−1 zu einem krummlinigen Koordinatennetz auf den U ⊂ M abgebildet.Die Basisvektoren ∂i sind an jedem Punkt die Tangentialvektoren dieser Koordi-natenlinien.

∂∂y

∂∂x

∂∂y

∂∂x

x = x1 x = x2

y= y1

y= y2

Abb. 5.16: Koordinatenlinienund Basisvektoren

Sei φ(p) = (x1(p), . . . , xn(p)). Dies definiert die Koordinatenabbildungenxi : U →R. Damit lassen sich die Komponenten eines Vektors ausdrücken als

vi = v(xi), (5.26)

denn v(xi)= v j ∂

∂x j xi = v jδij = vi (5.27)

Die x1-Komponente eines Vektors v ist demnach gleich der Richtungsableitungdes lokalen skalaren “x1-Feldes” auf M nach v.

Liege p in einer weiteren Karte (V ,ψ), welche p die gestrichenen Koordinatenψ(p)= (x′1, . . . , x′n) zuordnet. Dann ist

vp( f )= vi ∂ f∂xi = vi ∂ f

∂x′ j∂x′ j

∂xi = v′ j∂ f∂x′ j

(5.28)

mit dem Transformationsgesetz in Koordinatenform

v′ j = ∂x′ j

∂xi vi (5.29)

Natürlich ist ∂x′ j∂xi nichs anderes als die Jacobimatrix des linearen Operators

d(ψφ−1)∣∣x.

5.3.4 Der KotangentialraumDefinition 5.3.16. Der Kotangentialraum T∗

p M am Punkt p ist der Raum derlinearen Funktionen (1-Formen) auf TpM:

TpM =L (TpM,R) (5.30)

10Wir lassen die Tilde bei f weg, unterscheiden also nicht mehr zwischen dem Skalarfeld f (p) undseiner lokalen Parametrisierung f (x1, . . . , xn)

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Wir können die Richtungsableitung v( f )= vi ∂ f∂xi auch als Paarung eines Vek-

tors mit einer 1-Form lesen. Eine Funktion f ∈ C∞(M) erzeugt die 1-Form df mitden lokalen Komponenten

(∂ f∂x1 , ∂ f

∂x2 , . . . , ∂ f∂xn

)und die Paarung ist

df (v)= v( f ) (5.31)

Die Vektoren der zu ∂∂xi dualen Basis werden mit dxi bezeichnet,

dxi(∂ j)= δij. (5.32)

Bemerkung 5.3.17. Die 1-Formen dxi sind die totalen Differentiale der Koor-

dinatenfunktionen xi : pφ→ (x1, . . . , xn) 7→ xi. Sie existieren natürlich nur lokal,

d.h., auf der Untermannigfaltigkeit U ⊂ M. Die Anwendung dieser 1-Formen aufeinen Vektor liefert dessen lokale Komponenten: vi = dxi(v), vgl. Gl. (5.26) undGl. (5.31).

Mit dieser Basis hat eine beliebige 1-Form die lokale Komponentendarstellungω=ωidxi und insbesondere ist das (totale) Differential einer Funktion gegebendurch

df = ∂ f∂xi dxi. (5.33)

Man sieht leicht, daß sich die Komponenten einer 1-Form gemäß

ω′j =

∂xi

∂x′ jωi (5.34)

transformieren.

5.3.5 Tensorbündel und TensorfelderAnalog zum Kotangentialraum läßt sich an jedem Punkt p der lineare Raumder

(nm

)-Tensoren (Tn

m)pM = L (T∗p M × ·· · ×T∗

p M ×TpM × ·· · ×TpM, R) definie-ren. Die Vereinigung dieser p-abhängigen Familien linearen Räume liefert dieentsprechenden Bündel, wie z.b. das Kotangentialbündel

T∗M = ⊔p∈M

T∗p M (5.35)

oder das Bündel der (0,2)-Tensoren

T02 M = ⊔

p∈ML (TpM×TpM, R). (5.36)

Diese Bündel sind mit den entsprechenden Atlanten versehen Mannigfaltigkeitender Dimension (1+n+m) ·dim M.

Definition 5.3.18. Ein Tensorfeld ist ein Schnitt in einem Tensorbündel, d.h.,eine glatte Abbildung T(p), die jedem Punkt p einen Tensor aus dem zu pgehörigen linearen Raum (Tn

m)pM zuordnet.Wir bezeichen die Menge der (n,m)-Tensorfelder mit Tn

mM.Für die Menge der vollständig antisymmetrischen (0,k)-Tensorfelder (k-Formen)wird die spezielle Bezeichnung ΛkM ⊆ T0

kM verwendet. Diese Felder werdenauch Differentialformen auf M genannt.Differentialformen

Bemerkung 5.3.19. Tensorfelder sind, genau wie Vektorfelder, geometrische Ob-jekte. Die durch sie definierten Abbildungen

T(p) : T∗p M×·· ·×T∗

p M×TpM×·· ·×TpM →R (5.37)

ω,σ, . . . ,v,u, . . . 7→ T(ω,σ, . . . ,v,u, . . . )∣∣p (5.38)

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Page 14: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

ist unabhängig von der Parametrisierung von M durch einen bestimmten Atlas.Die Komponenten T i j...

kl... in einer bestimmten Karte sind die Zahlen, die manbei Anwendung von T auf die Basisvektoren und Basisformen erhält:

T i j...kl...

∣∣p = T(dxi,dx j, . . . ,∂k,∂l , . . . )

∣∣p (5.39)

Sie transformieren sich wie

T ′i j...kl...

∣∣p = ∂x′i

∂xm∂x′ j

∂xm · · · ∂xq

∂x′k∂xp

∂x′l· · · T ′mn...

qp...

∣∣∣p. (5.40)

Insbesondere ist die Aussage, daß ein Tensor (oder Vektor, Differentialform)an einem Punkt p verschwindet, eine koordinatenunabhängige Aussage.

Bemerkung 5.3.20. Im Folgenden werden – wie üblich – Tensorfelder, Vektor-felder etc. auch kurz als Tensoren bzw. Vektoren bezeichnet. Auch in andererHinsicht wird die Notation schlampiger werden: Wir werden die Koordinatisie-rung f φ−1 einer Funktion f (p) einfach als f (x1, . . . , xn) schreiben, ebenso dieKoordinatisierung γi(t)=φ c(t) einer Kurve einfach als ci(t).

Bemerkung 5.3.21. Wir werden häufiger auf Tensoren vom Typ (1,k) treffen. Wieschon in Kapitel 4.3.1 erläutert, kann man sie statt als Abbildungen

T∗p M×TpM×·· ·×TpM︸ ︷︷ ︸

k

→ R

auch als AbbildungenTpM×·· ·×TpM︸ ︷︷ ︸

k

→ TpM

auffassen. In Indexnotation ist dies einfach

wa = Tabc... u

bvc . . . (5.41)

und in indexfreier Notation schreiben wir für(1k)-Tensoren

w=T(u,v, . . . ) (5.42)

mit einem fettgedruckten Tensorsymbol und k Vektorargumenten.

Bemerkung 5.3.22. Da T(. . . ,v, . . . )∣∣p [bzw. T(. . . ,ω, . . . )

∣∣p ] nur vom Wert von v

[bzw. ω] an der Stelle p abhängt, ist diese Abbildung nicht nur R-linear

T(. . . ,λv, . . . )=λT(. . . ,v, . . . ) ∀λ ∈R, (5.43)

sondern C∞(M)-linear, d.h.,

C∞(M)-LinearitätT(. . . , f v, . . . )∣∣p = f (p) T(. . . ,v, . . . )

∣∣p ∀p ∈ M, f ∈ C∞(M). (5.44)

Das folgende Lemma11 zeigt, daß Tensoren durch diese Eigenschaft charakteri-siert sind.Lemma 5.3.23. Ein glatte Abbildung T : ω,ρ, . . . ,v,u, . . . 7→R von 1-Formen undVektorfeldern nach R ist ein Tensorfeld genau dann, wenn für jedes (Vektoren-und Formen-)Argument gilt

(i) Additivität: T(. . . ,v+u, . . . )= T(. . . ,v, . . . )+T(. . . ,u, . . . ) und

(ii) C∞(M)-Linearität: T(. . . , f v, . . . )= f ·T(. . . ,v, . . . ) ∀ f ∈ C∞(M).11s. z.B. Spivak, A Comprehensive Introduction to Differential Geometry, Vol I, Thm. 4.2

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Page 15: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

5.3.6 Differential einer Abbildung, Pullback undPushforward

Sei F : M → N eine glatte Abbildung zwischen glatten Mannigfaltigkeiten. Dannbildet F natürlich auch Kurven c(t) in M auf Kurven c′(t)= F c(t) in N ab. Mankann sich auf lokalen Karten leicht davon überzeugen, daß dabei Äquivalenz-klassen [c] von Kurven linear auf Äquivalenzklassen abgebildet werden.

Jede glatte Abbildung F : M → N erzeugt daher eine glatte AbbildungdF : TM → TN der Tangentialbündel, die die Faser über p ∈ M linear auf dieFaser über f (p) ∈ N abbildet und das Differential von F genannt wird.

c(t)

MF

N

f c(t)

Definition 5.3.24. Das Differential dF einer glatten Abbildung F : M → N istDifferentialdie Abbildung dF : TM → TN, die einen Tangentvektor vp = [c]vp ∈ TpM abbildetauf den Vektor [F c]q ∈ TqN, wobei q = F(p) ist.Das Differential dF ist eine lineare Abbildung der Vektorräume TpM und TF(p)N.

Das Differential dF liefert im Allgemeinen keine Abbildung TM → TN vonVektorfeldern. Wenn F nicht surjektiv ist, definiert es nicht überall auf N einenVektor und wenn F nicht injektiv ist, dann gibt es Punkte in q ∈ N mit mehrerenUrbildern pi ∈ M, F(pi)= q. Damit landen auch mehrere Vektoren aus den Tpi Min TqN.

Trotzdem ermöglicht dF es, eine wohldefinierte Abbildung für kovarianteTensoren, insbesondere für Differentialformen zu definieren.

Definition 5.3.25. Sei F : M → N eine glatte Abbildung von Mannigfaltigkeiten.PullbackDas Pullback F∗ : T0

kN →T0kM ist definiert durch

(F∗ω)p(v1, . . . ,vk)=ωq(dF(v1), . . . ,dF(vk) mit q = F(p) (5.45)

Sei F ein Diffeomorphismus. Dann definiert das Differential auch eine Abbil-dung von Vektorfeldern.

Definition 5.3.26. Sei F : M → N ein Diffeomorphismus. Das PushforwardPushforwardF∗ : TM →TN von Vektorfeldern ist definiert durch

v′q = (F∗v)q = dF

∣∣p(vp) mit p = F−1(q). (5.46)

Bemerkung 5.3.27. Für Diffeomorphismen F kann man natürlich das Pullbackder inversen Abbildung F−1 benutzen, um ein Pushforward F∗ = (F−1)∗ fürFormen zu erhalten. Durch lineare Erweiterung auf Tensorprodukte kann manschließlich ein Pushforward

F∗ : TlkM →Tl

kN (5.47)

für beliebige Tensorfelder definieren.Wir vereinbaren noch, daß das Pushforward für Tensoren 0-ter Stufe, also

Funktionen f ∈ C∞(M),F∗ f = f F−1 (5.48)

ist.

Beispiel 5.3.28. Ein Skalarfeld f ∈ C∞(M) ist eine Abbildung f : M → R. IhrDifferential df : TM → TR bildet Vektoren aus TpM linear auf eindimensionaleVektoren, also Zahlen, ab. Damit kann es als Schnitt im KotangentialbündelT∗M angesehen werden, ist also eine 1-Form (siehe auch Beispiel 5.1.3 undGleichung (5.33)).

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Beispiel 5.3.29. Eine Kurve c(t) ist eine Abbildung c : R→ M. Ihr Differentialbildet also TR nach TM ab. Das triviale Bündel TR hat eindimensionale Fasernund jede Faser TtR hat den Basisvektor d

dt . Das Differential dc der Abbildung ist

dc(t)= ∂ci

∂t

∣∣∣∣t·(

dt⊗ ∂

∂xi

)(5.49)

und das Bild von ddt unter diesem Differential ist das Geschwindigkeitsvektorfeld.c(t):

.c(t)= dc(

ddt

)= ∂ci

∂t

∣∣∣∣t

∂xi (5.50)

Dies ist eine spezielle Konstruktion, ein Vektorfeld längs der Kurve c. Es ist keinnormales Vektorfeld auf M, da es außerhalb von c nicht definiert ist. Wenn sichc in M selbst schneidet, wäre es als Abbildung M → TM an den Schnittpunktensogar mehrdeutig.

Definition 5.3.30. Sei F : N → M glatt. Dann ist u : N → TM ein Vektorfeld Vektorfeld längs Flängs F, falls für alle q ∈ N gilt

u(q) ∈ TF(q)M (5.51)

Wenn F : N → M kein Diffeomorphismus ist, macht das Differential dF alsoaus einem Vektorfeld auf N ein “Vektorfeld längs F” auf M. Manche Autorenbezeichnen daher auch das Differential als Pushforward. Wir reservieren diesenBegriff für den Fall, daß F ein Diffeomorphismus ist. Bei einem Pushforwardschaffen wir auch den Basispunkt des Vektors von N nach M und gewinnen soein gewöhnliches Vektorfeld auf M.

5.3.7 Einbettungen

Definition 5.3.31. Eine Abbildung F : M → N zwischen zwei topologischen Räu- Topologische Einbettungmen ist eine topologische Einbettung, wenn F ein Homöomorphismus von M aufF(M)⊆ N ist.

Jede topologische Einbettung ist injektiv und stetig. Aber diese beiden Eigen-schaften sind nicht hinreichend, wie das Bild zeigt. Hier wird ein offenes IntervallM = (0,1) injektiv und stetig in N = R2 abgebildet. Allerdings entstehen im R2

neue Berührungspunkte (die Pfeilspitzen), F(M) hat eine andere Topologie alsM und dies ist daher keine topologische Einbettung.

Definition 5.3.32. Eine Abbildung F : M → N zwischen zwei glatten Mannigfal- Immersiontigkeiten ist eine Immersion, wenn ihr Differential dF : TM → TN faserweiseinjektiv ist. Das bedeutet, daß dF lokal wie die lineare Einbettung von Rn in Rk,k ≥ n, aussieht.

Beispiel 5.3.33. Sei c : M = (0,1) → N eine glatte Kurve in N. Dann ist c eineImmersion genau dann, wenn .c(t) 6= 0 für alle t ∈ M ist.

Definition 5.3.34. Eine Abbildung F : M → N zwischen zwei glatten Mannigfal- Glatte Einbettungtigkeiten ist eine glatte Einbettung, wenn sie eine Immersion und eine topolo-gische Einbettung ist. Dann ist F(M) eine glatte Untermannigfaltigkeit von Nund F ist ein Diffeomorphismus von M auf F(M).

Nicht jede topologische Einbettung, die zusätzlich noch glatt ist, ist eine glatteEinbettung.

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5.3.8 Richtungsableitungen von Tensorfeldern?Ein Vektor vp definiert via

vp( f )= vi ∂ f∂xi (5.52)

eine Richtungsableitung für skalare Funktionen f ∈ C∞(M).Analog hätten wir gerne eine Richtungsableitung ∇vT für beliebige Tensorfel-

der, welche beschreibt, wie sich das Feld T(p) in linearer Näherung ändert, wennman am sich vom Punkt p in Richtung v bewegt.

Ein erster Versuch wäre ∇vu zu definieren als

(∇vu) j ?= vi ∂u j

∂xi . (5.53)

Leider repräsentiert ∂u j

∂xi kein koordinatenunabhängiges geometrisches Objekt.Es transformiert sich unter Kartenwechsel wie folgt:

∂u′ j

∂x′i= ∂

∂x′i

(∂x′ j

∂xk uk)

(5.54)

= ∂x′ j

∂xk∂

∂x′iuk +

(∂

∂x′i∂x′ j

∂xk

)uk (5.55)

= ∂x′ j

∂xk∂xl

∂x′i∂uk

∂xl + ∂xl

∂x′i∂2x′ j

∂xl∂xk uk (5.56)

Der erste Term entspricht genau dem Transformationsverhalten eines (1,1)-Tensors T j

i . Der zweite Term zerstört jedoch den Tensorcharakter. PartielleAbleitungen nach den Kordinaten eines bestimmten Koordinatensystems sindkeine kovarianten Operationen.

Versuchen wir unser Glück nochmal mit einer 1-Form:

∂ω′j

∂x′i= ∂

∂x′i

(∂xk

∂x′ jωk

)(5.57)

= ∂x′k

∂x′ j∂

∂x′iωk +

(∂

∂x′i∂xk

∂x′ j

)ωk (5.58)

= ∂xk

∂x′ j∂xl

∂x′i∂ωk

∂xl + ∂2xk

∂x′i∂x′ jωk (5.59)

Wieder entspricht der erste Term dem Transformationsverhalten eines (0,2)-Tensors Ti j, der zweite Term jedoch zerstört den Tensorcharakter.

Es gibt mindestens drei Wege, zu einem geometrischen Ableitungsbegriff zukommen – und wir brauchen sie auch alle drei.

(i) Der zweite Term in (5.59) ist symmetrisch in den Indizes i und j. Er ver-schwindet also unter dem Alternator A . Man kann daher eine äußereAbleitung

d : ΛkM →Λk+1M (5.60)

für Differentialformen definieren. Dies wird in Kap. 5.4 behandelt.

(ii) Die Ursache für die mangelnde Kovarianz der partiellen Ableitung liegtdarin, daß wir einen Ausdruck der (symbolischen) Form

limε→0

u(p+εv)−u(p)ε

(5.61)

zu bilden versuchen. Wir subtrahieren also zwei Vektoren voneinander, diein verschiedenen Vektorräumen TpM und Tp′ M leben.

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Page 18: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

Wir brauchen eine Möglichkeit, Vektoren sinnvoll aus Tp′ M nach TpM zutransportieren.

Sei nicht nur ein Vektor vp. sondern ein Vektorfeld v ∈TM gegeben. Einsolches Feld erzeugt einen lokalen Fluß und diesen Fluß kann man benutzen,um Tensoren an der Stelle p′ auf Tensoren an der Stelle p′ abzubilden. Diesführt zum Begriff der Lie-Ableitung LvT eines Tensorfeldes entlang einesVektorfeldes. Die Lie-Ableitung an einem Punkt p hängt allerdings nichtnur vom Wert von v an der Stelle p ab, sondern vom Fluß, den v in derUmgebung erzeugt. Insbesondere ist Lvw ein Maß für die Kompatibilitätvon zwei von den Vektorfeldern v,w erzeugten Flüssen. Die Lie-Ableitungwird in Kap. 5.5 definiert.

(iii) Man kann Mannigfaltigkeiten mit einer zusätzlichen Struktur auf TM, ei-nem sogenannten affinen Zusammenhang versehen. Dieser spezifiziert, wiebenachbarte Tangentialräume TpM miteinander verklebt sind und erlaubt,Parallelverschiebung zu definieren. Damit ist es möglich, eine kovarianteAbleitung ∇vT zu definieren. Dies ist der Gegenstand von Kap. 5.6

5.4 Differentialformen: Integral und äußereAbleitung, Satz von Stokes

5.4.1 Integration von n-Formen

Sei M orientierbar und sei ω eine Form maximalen Grades n = dim M. Dann istihr Integral

∫Mω über M folgendermaßen definiert:

(i) Sei (U ,φ) eine Karte mit φ(p)= (x1, . . . , xn). Dann hat ω in lokalen Koordi-naten die Form (φ−1)∗ω= f (x1, . . . , xn) dx1 ∧·· ·∧dxn und wir definieren∫

Uω=

∫φ(U)

f (x1, . . . , xn) dx1dx2 . . .dxn (5.62)

(ii) Sei A = (Ui,φi) ein orientierter Atlas von M. Mit Hilfe einer Zerlegung derEins definieren wir ∫

Mω=∑

A

∫Ui

ρ iω. (5.63)

Es ist nachzurechnen, daß diese Definitionen sowohl vom verwendeten Atlas alsauch von der verwendeten Zerlegung der Eins unabhängig sind. Es gilt sogar:

Satz 5.4.1. Das Integral einer Form ist invariant unter orientierungserhaltendenDiffeomorphismen ∫

Nω=

∫f −1(N)

f ∗(ω). (5.64)

Bemerkung 5.4.2. Ein anschauliches Bild kann man sich folgendermaßen machen:Das orthogonale Netz der Koordinatenlinien des Rn wird durch die Kartenab-bildungen φ−1 zu einem krummlinigen Koordinatennetz auf den Ui abgebildet.Wenn man dieses Netz “genügend weit verfeinert”, erhält man eine Zerlegungvon M in “infinitesimale Parallelepipeds”. Integration bedeutet, die Form ω aufjedem dieser Parallelepipeds auszuwerten und die Werte zu summieren:∫

Mω= lim

∑Parallelepipeds

ω(Parallelepiped) (5.65)

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5.4.2 Integration von k-Formen

Eine k-Form läßt sich über eine (orientierte) k-dimensionale Untermannigfal-tigkeit N ⊂ M integrieren. Sei i : N ′ → M, i(N ′)= N die Einbettung von N in M.Dann wird mit Hilfe von Satz 5.4.1 definiert∫

Nω=

∫i(N ′)

ω=∫

N ′i∗ω. (5.66)

Insbesondere läßt sich eine 1-Form längs eines Weges integrieren. Das obigeRezept läuft darauf hinaus, daß man die 1-Form an jeder Stützstelle auf denTangentialvektor der Kurve anwendet und die Ergebnisse ωp(vp) aufsummiert.

5.4.3 Das innere Produkt

Zur bequemeren Notation definieren wir eine eigene Bezeichnung für das “Füllendes ersten Slots einer Differentialform mit einem Vektor”.

Definition 5.4.3. Das innere Produkt ivω einer Differentialform ω vom Grad kmit einem Vektor v ist die Form vom Grad k−1, die gegeben ist durch

(ivω)(u1, . . . ,uk−1)=ω(v,u1, . . . ,uk−1) (5.67)

Damit ist iv eine bilineare Abbildung TM×ΛkM →Λk−1M.

Für Keilprodukte gilt

iv(α∧β)= (ivα)∧β+ (−1)kα∧ (ivβ) wenn α ∈ΛkM (5.68)

5.4.4 Die äußere Ableitung

Satz 5.4.4. Es gibt genau eine Abbildung d : ΛkM →Λk+1M mit folgenden Ei-genschaften:

(i) Für k = 0 ist df das totale Differential von Funktionen f ∈ C∞(M)=Λ0M.

(ii) d ist linear: d(ω1 +ω2)= dω1 +dω2

(iii) d ist nilpotent: d d = 0

(iv) Für alle α ∈ΛkM,β ∈Λ j M gilt

d(a∧β)= dα∧β+ (−1)kα∧dβ. (5.69)

Diese Abbildung wird äußere Ableitung von Differentialformen genannt.

In lokalen Koordinaten ist die äußere Ableitung einer Differentialformω=ωi1...ik dxi1 ∧·· ·∧dxik gegeben durch

dω= dωi1...ik ∧dxi1 ∧·· ·∧dxik (5.70)

= ∂ωi1...ik

∂x j dx j ∧dxi1 ∧·· ·∧dxik (5.71)

Satz 5.4.5. Die äußere Ableitung vertauscht mit Pullbacks. Sei F : M → N eineglatte Abbildung. Dann gilt

F∗ d = d F∗ (5.72)

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Bemerkung 5.4.6. Die in der Physik gebräuchlichen auf dem R3 definierten Diffe-rentialoperatoren Divergenz, Gradient und Rotation lassen sich durch die äußereAbleitung und Hodge-Dualität darstellen. Sei der Raum also mit einem metri-schen Tensor gab versehen, der es ermöglicht, den Hodge-Stern zu definieren.Mit Hilfe von gab kann man 1-Formen und Vektoren ineinander umwandeln:va = gabvb macht aus einem Vekor eine 1-Form und ua = gabub aus einer 1-Fromeinen Vektor. Wir definieren Divergenz, Gradient und Rotation für Formen.

(i) Der Gradient macht aus Funktionen 1-Formen.

grad f = df (5.73)

(ii) Die Rotation bildet eine 1-Form α auf die Pseudo-1-Form ab, die der Hodge-Stern in drei Dimensionen aus der 2-Form dα macht:

rotα=?dα (5.74)

(iii) Die Divergenz bildet eine 1-Form auf eine 0-Form (Funktion) ab durch

divα=?d?α (5.75)

div: 1-Form ?7→Pseudo-(n−1)-Form d7→Pseudo-n-Form ?7→ 0-Form (5.76)

Gradient (0-Form 7→ 1-Form) und Divergenz (1-Form 7→ 0-Form) sind damit fürbeliebige Mannigfaltigkeiten definiert. Die Rotation als Abbildung 1-Form 7→1-Form existiert allerdings nur in 3 Dimensionen.

Die Nilpotenz der äußeren Ableitung d2 = 0 führt zu

rot grad=?dd = 0 (5.77)

div rot=?d??d =?dd = 0, (5.78)

da für den Hodge-Stern im R3 gilt ??= 1.

Divergenz und Rotation eines Vektorfeldes va sind definiert als Divergenz undRotation der entsprechenden Form va = gabvb. Analog wendet man gab auf dasErgebnis von Gradient oder Rotation an, wenn man einen Vektor als Ergebnisbenötigt.

5.4.5 Der Satz von StokesSatz 5.4.7 (Satz von Stokes). Sei M orientierbar, n-dimensional und mit einemglatten12 Rand ∂M, versehen mit der durch M induzierten Orientierung. Sei ωeine (n−1)-Form. Sei M kompakt oder sei zumindest der Träger von ω kompakt.Dann gilt ∫

Mdω=

∫∂M

ω (5.79)

Bemerkung 5.4.8. Zur induzierten Orientierung des Randes: Sei p ein Randpunktvom M. Sei e1, . . . ,en eine positiv orientierte Basis von TpM. Wir drehen dieseBasis so, daß die n−1 Vektoren e2, . . . ,en in Tp(∂M) liegen. Der Vektor e1 zeigtdann entweder aus M heraus oder nach M hinein. Wenn er aus M herauszeigt,dann ist e2, . . . ,en eine positiv orientierte Basis für Tp(∂M), sonst eine Basismit negativer Orientierung.

e1

e2

M = S1 × [0,∞)

∂M = S1

Bemerkung 5.4.9. Wenn ∂M =;, dann ist∫

M dω= 0.

12Die Differenzierbarkeitsvoraussetzungen lassen sich hier, wie an vielen anderen Stellen in diesemSkript, stark abschwächen. Statt “glatt” ist hier “stückweise C1” ausreichend.

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Beispiel 5.4.10. Spezialfälle des Satz von Stokes:

(i) Sei M = [a,b] und ω eine 0-Form, d.h. eine Funktion f auf M. Dann bestehtder Rand ∂M aus den beiden Punkten a und b. Eine positiv orientierteBasis für TpM besteht aus einem Vektor e1, der von a nach b zeigt. Damitbesteht die Basis für den Tangentialraum des Randes am Punkt a aus derleeren Menge und ist negativ orientiert.

Es sei erinnert, daß span;= 0. Die leere Menge ist tatsächlich die Basisdes nur aus dem Nullvektor bestehenden 0-dimensionalen Vektorraumes(s. Bem. 4.1.12).

Am Punkt b bildet die leere Menge eine positiv orientierte Basis für denTangentialraum.13 Der Rand ∂M = (a,−), (b,+) besteht also aus Punktenmit einer Orientierung in Form eines Vorzeichens. Das Integral einer Funk-tion über eine diskrete Menge orientierter Punkte (zi,oi) ist die Summe∑oi f (zi). Damit wird der Satz von Stokes zuHauptsatz der

Integralrechnung ∫ b

af ′ dx =

∫ b

a

dfdx

dx =∫

Mdf Stokes=

∫∂M

f = f (b)− f (a), (5.80)

auch bekannt als Hauptsatz der Integralrechnung.

(ii) Sei D ein kompaktes Gebiet im R2 mit glatten Rand und f (x, y), g(x, y) zweiFunktionen darauf. Sei ω die 1-Form ω= f (x, y)dx+ g(x, y)dy. Dann ist

dω=(∂ f∂x

dx+ ∂ f∂y

dy)∧dx+

(∂g∂x

dx+ ∂g∂y

dy)∧dy (5.81)

=(∂g∂x

− ∂ f∂y

)dx∧dy (5.82)

und der Satz von Stokes liefert den Satz von GreenSatz von Green ÏD

(∂g∂x

− ∂ f∂y

)dxdy=

∮∂D

f dx+ g dy (5.83)

wobei wie in der Analysis üblich das Keilproduktzeichen in dx dy weggelas-sen wurde.

Für zwei weitere Spezialfälle des Satzes von Stokes müssen wir etwas vorgrei-fen. Sei die n-Mannigfaltigkeit M mit einer Riemannschen Metrik g versehen.Das heißt, daß wir über die Länge und Orthogonalität von Vektoren reden könnenund ein Skalarprodukt (v,u) = g(v,u) haben. Die Metrik liefert uns weiterhineine Volumenform ε, also eine n-Form, deren Integral

∫D ε über n-dimensionale

Gebiete das Volumen dieser Gebiete ergibt.

Definition 5.4.11. Sei N eine (n−1)-dimensionale orientierte Untermannigfal-Normalenvektortigkeit N ⊂ M. Dann existiert auf N ein Normalenvektorfeld, welches wie folgtdefiniert ist: Sei e1, . . . ,en−1 eine positiv orientierte Basis des Tangentialrau-mes TpN am Punkt p ∈ N. Der Normalenvektor np am Punkt p ist eindeutigbestimmt durch:13Das Konzept “Orientierung eines Punktes” ist vielleicht ungewohnt. Für den Physiker: Sei

Z = S1 × [a,b] ein Zylinder. Der Rand besteht aus zwei Kreisen ∂Z = S1 t S1, die entgegen-gesetzt zueinander orientiert sind. Nun lasse man den Radius des Zylinders gegen Null gehen.Wenn die Kreise zum Radius 0 kollapieren, bleiben Punkte übrig, die immer noch entgegengesetztzueinander orientiert sind.Für Mathematiker: Ein Punkt ist ein 0-dimensionaler Vektorraum. Orientierung eines Vektor-raumes ist eine stetige (und daher auf einer Zusammenhangskomponente konstante) Abbildungaus der Menge der geordneten Basen in die Menge +1,−1. Die Menge der geordneten Basendes 0-dimensionalen Vektorraumes hat genau ein Element, die leere Menge. Daher gibt es zweiAbildungen von dieser Menge in die Menge +1,−1.

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(i) ‖np‖ = 1

(ii) np ⊥ ei für alle i = 1, . . . ,n−1

(iii) np,e1, . . . ,en−1 ist eine positiv orientierte Basis von TpM.

Wenn also N gerade der Rand von M ist, dann ist das Normalenvektorfeldnach außen gerichtet, vgl. Bem. 5.4.8. Die n-Volumenform ε von M induziert eine(n−1)-Volumenform εN auf N durch die naheliegende Forderung

εN (v1, . . . ,vn−1)= ε(np,v1, . . . ,vn−1) (5.84)

εN = inε (5.85)

für alle p ∈ N und vi ∈ TpN. Dann gilt:

Lemma 5.4.12. Seien M, N, εN etc. wie oben eingeführt und ? die durch ε

definierte Hodge-Dualität auf M. Sei α eine 1-Form auf M. Dann gilt auf N fürdie (n−1)-Pseudoform ?α:

?α∣∣∣N=α(np) ·εN

∣∣∣N

(5.86)

Beweis. Sei a das zur 1-Form α duale Vektorfeld mit Komponenten ai = gi jα j .Aus der Definition des Hodge-Sterns folgt sofort ?α= iaε. Zerlege a in einen Teilparallel zu n und einen Teil orthogonal zum Normalenvektor. a= (a,n) n+b. Dannist ibε

∣∣N = 0, denn ε(b,v1, . . . ,vn−1) = 0 für alle vi ∈ TpM, da b von den vi linear

abhängig ist. Auf N gilt somit i(a,n) n+bε|N = i(a,n) nε|N = (a,n) inε|N =α(n) εN .

Beispiel 5.4.13. Weitere Spezialfälle des Satzes von Stokes:

(i) Sei M ein kompaktes dreidimensionales Gebiet im R3 mit Rand N = ∂M.Sei α eine 1-Form auf M. Dann ist divα eine 0-Form und man kann dasIntegral I = ∫

M divα ε betrachten. Für eine 0-Form f ist f ε=? f . Im R3 gilt??ω=ω. Mit der Definition div=?d? gilt daher∫

Mdivα ε=

∫M?divα=

∫M

d?α Stokes=∫

N=∂M?α (5.87)

Mit Lemma 5.4.12 erhalten wir den Integralsatz von Gauß Integralsatz von GaußÑM

divα dvM =Ó

Nα(n) daN , (5.88)

wobei wir noch die beeindruckenden Mehrfachintegralzeichen undε= dvM , εN = daN für Volumen- und Flächenelement eingeführt haben.

(ii) Sei M =R3 und N eine berandete Fläche im R3 mit Randkurve C = ∂N. Seiα eine 1-Form auf M. Dann gilt∫

C=∂Nα

Stokes=∫

Ndα=

∫N??dα=

∫N?rotα (5.89)

Mit Lemma 5.4.12 haben wir den Klassischen Satz von Stokes Klassischen Satzvon Stokes∮

Cα=

ÏN

rotα (n) daN (5.90)

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5.5 Flüsse und Lie-Ableitung

5.5.1 FlüsseWir haben die Vektoren v ∈ TpM eingeführt als Tangentialvektoren von Kurvendurch p. Umgekehrt bestimmt ein Vektorfeld einen Fluß auf M.

Definition 5.5.1. Eine Kurve cp : R⊇ I → M heißt Integralkurve des Vektorfel-des v durch cp(0)= p, wenn (vgl. Bsp. 5.3.29)

.cp(t)= v∣∣c(t) (5.91)

In lokalen Koordinaten entspricht das dem System gewöhnlicher Differentialglei-chungen0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0

0.0

0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

ddtγi = vi(γ1(t), . . . ,γn(t)) (5.92)

Da glatte Funktionen lokal Lipschitz-stetig sind, garantiert der lokale Satzvon Picard-Lindelöf die Existenz von Integralkurven in einer lokalen Umgebung.Eine lokale Schar von Integralkurven definiert einen lokalen Fluß.

Definition 5.5.2. Die lokal und für kleine Zeiten definierte AbbildungΦ : I ×U → U, Φ(t, p) = cp(t), die dem Anfangsort p und der Zeit t den WertFlußder in p startenden Integralkurve zur Zeit t zuordnet, heißt vom Vektorfeld verzeugter lokaler Fluß.

Wenn man sich ein Vektorfeld als Geschwindigkeitsfeld von Flüssigkeitsteil-chen vorstellt, ist p′ =Φ(t, p) der Ort, den das Teilchen, das zur Zeit t = 0 amOrt p war, zur Zeit t erreicht hat.

Wir werden nicht weiter auf die Frage eingehen, wann ein Vektorfeld einenglobalen Fluß auf ganz M und für alle Zeiten t ∈R erzeugt. Es reicht uns, daß erlokal und für kleine Zeiten immer existiert.

5.5.2 Die Lie-AbleitungWir benutzen den von v erzeugten Fluß Φ, um eine Ableitung von Tensorfeldernlängs der Integralkurven zu definieren.

Für genügend kleine Zeiten ist Φt =Φ(t, .) ein lokaler Diffeomorphismus voneiner Umgebung Up zu einer anderen Umgebung Up′ und sein Inverses ist Φ−t.

Definition 5.5.3. Sei Φ(t) der von v in der Umgebung von p erzeugte Fluß undT ein (k, l)-Tensorfeld Dann ist

(LvT)(p)= ddtΦ−t∗T

∣∣∣p,t=0

(5.93)

die Lie-Ableitung von T längs v an der Stelle p. Sie ist wieder ein (k, l)-Tensorfeld.

Bemerkung 5.5.4. Für den Fall eines Vektorfeldes ist das Pushforward durchGleichung (5.46) definiert. Damit wird

(Lvu)(p)= limt→0

dΦ−t(u(Φ(t, p))−u(p)t

(5.94)

Wir nehmen also das Feld u an einer Stelle, die ein bißchen stromaufwärts liegt,u′ = u(Φ(p, t)), und benutzen das Differential des lokalen DiffeomorphismusΦ−t, um diesen Vektor wieder nach TpM zu befördern: u′′ = dΦ−t(u′). Damit istdie Differenz u′′−u wohldefiniert und wir können den Differentialquotientenlimt→0(u′′−u)/t bilden.

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5.5.3 Eigenschaften der Lie-Ableitung

(i)Lv(S+T)= Lv(S) + Lv(T) (5.95)

Lv(S⊗T)=Lv(S)⊗T +S⊗Lv(T) (5.96)

Lv(S T)=Lv(S)T +S Lv(T) (5.97)

Hierbei bezeichne S T eine beliebige “Paarung” (Indexkontraktion) vonTensoren, wie ω(v)=ωava, RabcSac oder auch interne Kontraktionen wieRa

bad = δcaRa

bcd .

(ii) Für skalare Felder folgt aus (5.48), daß die Lie-Ableitung die Richtungs-ableitung ist:

Lv( f )= v( f ). (5.98)

Aus (5.96) folgtLv( f T)= (Lv f )T + f LvT (5.99)

(iii) Für Differentialformen vertauscht die Lie-Ableitung mit der äußeren Ablei-tung,

Lv d = d Lv. (5.100)

und sie läßt sich durch die äußere Ableitung ausdrücken (Cartan-Formel):

Lvω= ivdω+d(ivω). (5.101)

Hier bezeichnet iv die Operation, die aus einer k+1-Form eine k-Formmacht, indem der erste Slot der Form mit v gefüllt wird (innere Multiplika-tion)

(ivω) (u1, . . . ,uk)=ω(v,u1, . . . ,uk) (5.102)

(iv) Wir wollen für die Lie-Ableitung von Vektorfeldern Lvu eine explizite Formfinden. Bis zu linearer Ordnung in t hat der lokale Diffeomorphismus Φ(−t)die Gestalt

x′i = xi −vi t+O(t2) (5.103)

Die Matrix, die dΦ−t repräsentiert, hat somit die Form

∂x′i

∂x j = δij −

∂vi

∂x j t+O(t2) (5.104)

Den Wert von u an der Stelle Φ(t, p) approximieren wir durch Taylorent-wicklung um p. Damit erhalten wir

(Lvu)i = limt→0

1t

[(δi

j −∂vi

∂x j t+O(t2))(

u j + ∂u j

∂xk vk t+O(t2))−ui

]p

(5.105)

= limt→0

1t

[ui + ∂ui

∂xk vk t− ∂vi

∂x j u j t+O(t2)−ui]

p(5.106)

= v j ∂ui

∂x j −u j ∂vi

∂x j (5.107)

Also ist für Vektorfelder die Lie-Ableitung gleich dem Kommutator derDifferentialoperatoren v= vi∂i und u= ui∂i.

Lvu=−Luv= [v,u] (5.108)

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(v) Für Tensoren höherer Stufe verallgemeinert sich Gl. (5.107) zu

(LvT)i j...kl... = vm ∂T i j...

kl...∂xm

− Tm j...kl...

∂vi

∂xm − T im...kl...

∂v j

∂xm − . . . für alle oberen Indizes

+ T i j...ml...

∂vm

∂xk + T i j...km...

∂vm

∂xl + . . . für alle unteren Indizes

(5.109)

5.5.4 Holonome und anholonome BasenFür die Basisvektoren ∂i ist

L∂i∂ j = [∂i,∂ j]= ∂2

∂xix j −∂2

∂x j xi = 0 (5.110)

Satz 5.5.5. Seien e1(p), . . . ,en(p) Basisvektoren, die für die Punkte p ∈U einerKarte gewählt wurden. Wenn überall auf U und für alle i, j gilt, daß [ei,e j]= 0,dann gibt es ein Koordinatennetz φ−1 : (x1, . . . xn) 7→ p auf U, dessen Tangential-vektoren ∂i gleich den ei sind. Eine solche Basis der TpM heißt KoordinatenbasisHolonome Basis =

Koordinatenbasis oder holonome Basis.

Bemerkung 5.5.6. Wir verwenden hier nur Koordinatenbasen. Die Verwendungbeliebiger Basen für die Tangentialvektorräume wird in der Literatur zur Relati-vitätstheorie unter “Vierbeinformalismus” oder “Tetradenformalismus” abgehan-delt.

Anholonome Basen sind nichts exotisches. Wenn man in der Physik Vektor-rechnung im R3 oder R2 in Kugel- oder Polarkoordinaten treibt, verwendet mangewöhnlich Basisvektoren, die eine anholonome, aber orthonormale Basis bil-den. So haben in Polarkoordinaten die Basisvektoren er,eϕ die Richtung von∂r,∂ϕ, sind aber auf Länge 1 normiert. Damit ist er = ∂r aber eϕ = 1

r ∂ϕ und somit[eϕ,er]= 1

r∂∂ϕ

∂∂r − ∂

∂r1r∂∂ϕ

= 1r2

∂∂ϕ

= 1r eϕ.∂r

∂φ

∂r

∂φ

5.5.5 Geometrie der Lie-AbleitungDie Lie-Ableitung Lvu zweier Vektorfelder mißt die Nichtkommutativität derFlüsse Φv und Φu: Wenn man von p aus eine kleine Zeit δt dem Fluß von v undanschließend für die Zeit δt dem Fluß von u folgt, erreicht man p′. Wenn man erstu und dann v folgt, erreicht man p′′. Wenn die beiden Flüsse kommutieren, istp′ = p′′. Wenn nicht, erzeugt w= [u,v] einen Fluß Φw, der p′′ und p′ verbindet.

5.6 Paralleltransport und kovariante AbleitungIn der Definition der Lie-Ableitung haben wir den von einem Vektorfeld erzeugtenFluß benutzt, um Tensoren an benachbarten Punkten längs einer Flußlinievergleichen zu können.

Für die Definition einer allgemeinen Richtungsableitung benötigen wir einenvorgegebenen Transport zwischen beliebigen Punkten. Geometrisch entsprichtdieser Transport einer Parallelverschiebung längs einer Kurve. Sei auf der Man-nigfaltigkeit ein solcher Transport P (p,q;c) definiert, der Vektoren aus TpM aufVektoren aus TqM abbildet, indem er sie längs der Kurve c, die p und q verbin-det, parallelverschiebt. Dann können wir die kovariante Ableitung definierenals

∇vu= limε→0

P (p′,p;c)[u(p′)]−u(p)ε

mit p′ = p+εv (5.111)

86

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Page 26: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

Dieser Ausdruck ist bisher eher symbolischer Natur. Die Vorstellung dahinter istnatürlich, daß man im Limes ε→ 0 einen kurzen, direkten Weg von p nach p′nimmt, und keinen Umweg über den Andromedanebel macht. Man möchte denLimes so definiert wissen, daß das Ergebnis nur von der Richtung v an der Stellep anbhängt.

5.6.1 ParalleltransportDefinition 5.6.1. Auf M ist ein Paralleltransport definiert, wenn zu zwei Punk-ten p, q ∈ M und einer glatten Kurve c, die p und q verbindet, eine AbbildungP (p,q;c) : TpM → TqM definiert ist, die folgende Eigenschaften hat:

Abb. 5.18: Wegabhängigkeitdes Paralleltrans-port. Ein Vektorwird von Nordpolentlang des rotenund des blauenWeges transpor-tiert.

(i) Linearität: P (p,q;c)(v1 +v2)=P (p,q;c)v1 +P (p,q;c)v2 (5.112)

P (p,q;c)(λv)=λP (p,q;c)(v) (5.113)

(ii) Invertierbarkeit: Sei c−1 der Weg, der entsteht, wenn c rückwärts von qnach p durchlaufen wird. Dann muß gelten

P (p,q;c) P (q,p;c−1) = I (5.114)

(iii) Für den trivialen Weg c0(p, p), der nur aus dem Punkt p besteht, gilt

P (p,p;c0) = I (5.115)

(iv) Bei Zusammensetzung zweier Kurven c1(p, q) und c2(q, r) zu einer Kur-ve c(p, r) gilt

P (p,r;c) =P (q,r;c2) P (p,q;c1) (5.116)

(v) P (p,q;c) hängt nicht von der Parametrisierung von c ab, sondern nur von derPunktmenge des Weges.

(vi) P (p,q;c) hängt glatt von p, q und von c ab.14

Bemerkung 5.6.2. Punkt (iv) erlaubt die Erweiterung des Paralleltransports aufstückweise glatte Kurven durch Zusammensetzung der Stücke, siehe auch dieblaue Kurve in Abb. 5.18.

Der Paralleltransport P (p,q;c) ist also ein linearer Operator von TpM nachTqM. In einem Atlas hat er eine Darstellung als Matrix [P (p,q;c)]i

j. Es ist jedochkein Tensor, da die Indizes sich auf verschiedene Räume beziehen.15

Sei c(t) eine Kurve c : (a,b)→ M. Dann können wir auf dieser Kurve die Familievon Transportoperatoren

P c(t1, t2)=P (c(t1), c(t2); c) für t1, t2 ∈ (a,b) (5.117)

zwischen zwei Punkten längs dieser Kurve betrachten. Mit dieser Familie definie-ren wir die Erzeugende einer infinitesimalen Parallelverschiebung am Punkt tlängs der Kurve c:

Γ(t; c)=− ddt2

P c(t, t2)∣∣∣t2=t

(5.118)

Diese Größe Γ(t; c) ist auch eine lineare Abbildung auf Tc(t)M und in lokalenKoordinaten schreiben wir sie als

Γij(t; c)=− d

dt2[P c(t, t2)]i

j

∣∣∣t2=t

(5.119)

14Siehe z.B. De Felice & Clarke, Relativity on Curved Manifolds, Kapitel 2.3, für eine technischeDefinition der glatten Abhängigkeit von c.

15Es ist ein Bi-Tensor.

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Page 27: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

Damit wird[P c(t, t+δt)]i

j = δij −Γi

j(t; c) δt+O((δt)2) (5.120)

Die Matrizen Γij(t; c) hängen nach ihrer Definition nur vom Punkt c(t) und

dem Verhalten von c in einer infinitesimalen Umgebung dieses Punktes ab. Mankann zeigen,16 daß aus der Glattheitsforderung (vi) folgt:

(i) Die Abbildung Γ(t; c) ist nur vom Tangentialvektor vp = .c(t) an der Stellep = c(t) abhängig: Γ(t; c)=Γ(p,vp).

(ii) Die Abhängigkeit von vp ist linear. Also:

Christoffelsymbole

Jedes der Matrixelemente Γij ist eine 1-Form. In Koordinaten:

Γij(p,v)=Γi

jk(p) vk (5.121)

Die Größen Γijk werden Christoffelsymbole genannt.

Diese Matrix von 1-Formen bildet keinen (1,2)-Tensor. Die Christoffelsymboletransformieren sich inhomogen unter Koordinatentransformationen. Wir werdenin diesem Kapitel auch die Schreibweise

Γ••(p,v)=Γ••k(p) vk (5.122)

verwenden, um den Unterschied zwischen dem 1-Form-Index, der mit dem Rich-tungsvektor v kontrahiert wird und den Indizes der Transformationsmatrixoptisch zu zeigen.

5.6.2 Paralleltransport durch ChristoffelsymboleAus der Kenntnis der Christoffelsymbole Γi

jk(p) auf einer Mannigfaltigkeit läßtsich der Paralleltransport längs beliebiger Kurven rekonstruieren:

Aus Eigenschaft (iv) der Definition folgt für den Transportoperator längs einerKurve

[P (t0, t1)]ij = [P (t, t1)]i

k [P (t0, t)]kj . (5.123)

Indem man beide Seiten nach t1 differenziert, Gleichungen (5.119) und (5.121)benutzt und anschließend t1 = t setzt, erhält man die Differentialgleichung

ddt

[P c(t0, t)]ij =−Γi

km(c(t)) [P c(t0, t)]kj

.cm (5.124)

Zusammen mit der Anfangsbedingung [P c(t0, t0)]= δij kann man durch Integra-

tion dieser Gleichung den Paralleltransport entlang einer beliebigen Kurve ausden Christoffelsymbolen berechnen.

Diese Differentialgleichung ist vom Typ

ddt

U(t)=−A(t) U(t), (5.125)

welche durchU(t)= e−

∫ tt0

A(t′)dt′ U(t0) (5.126)gelöst wird, wenn die Multiplikation auf der rechten Seite kommutativ ist. Hier sindP und Γ .c jedoch Matrizen. Gleichung (5.124) ist eine Differentialgleichung in einernichtkommutativen Algebra. Die Lösung ist das sogenannte weggeordnete (pathordered) Exponential

P c(t0, t)=Pexp(−

∫ t

t0Γ(c(t′), .c(t′)) dt′

), (5.127)

16Siehe z.B. De Felice & Clarke, Relativity on Curved Manifolds, Kapitel 2.4

88M. Hellmund – preliminary version – 5. Dezember 2011 – 12:17

Page 28: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

wobei im Exponent die Matrixfunktion [Γ(p,v)]•• =Γ••k(p) vk steht. Das weggeordneteExponential ist definiert als

Pexp(∫ t

t0A(t′)dt′

)= lim

n→∞ eεA(tn) eεA(tn−1) · · · eεA(t0) (5.128)

wobei das Intervall [t0, t] in Stützstellen t0, t1 . . . , tn = t im Abstand ε geteilt wird.Auf Grund der Nichtkommutativität ist eA1 eA2 6= eA1+A2 .Man kann Gl. (5.125) auch als Integralgleichung

U(t)=1−∫ t

t0A(t′) U(t′) dt′ (5.129)

schreiben und iterativ lösen. Dies liefert die Darstellung

Pexp(∫ t

t0A(t′)dt′

)=1+

∫ t

t0dt1 A(t1)+

∫ t

t0dt1

∫ t1

t0dt2 A(t1) A(t2)

+∫ t

t0dt1

∫ t1

t0dt2

∫ t2

t0dt3 A(t1) A(t2) A(t3)+·· · (5.130)

Für kleine δt beginnt die Taylorreihe der Lösung mit

[P c(t, t+δt)]•• = δ••−Γ••k(t) vkδt+O((δt)2) (5.131)

In dieser Ordnung ist der inverse Transport gleich

[P c(t+δt, t)]•• = δ••+Γ••k(t) vkδt+O((δt)2) (5.132)

5.6.3 Kovariante Ableitung, affiner ZusammenhangDefinition 5.6.3. Auf einer Mannigfaltigkeit mit Paralleltransport (M,P ) istdie kovariante Ableitung ∇v an der Stelle p ∈ M definiert durch

∇vu∣∣p = lim

δt→0

P (c(δt),c(0);c)u(c(δt))−u(c(0))δt

, (5.133)

wobei c(t) eine Kurve mit c(0) = p und .c(0) = v(p) ist. Als Differenz zweierVektoren aus TpM ist ∇vu

∣∣p wieder ein Vektor in TpM.

Wir wollen in einer lokalen Karte nachrechnen, daß diese Definition von derKurve c, die gewählt wurde um v(p) zu repräsentieren, unabhängig ist.

Sei p′ = c(δt) für eine kleine Zeit δt. Da Karten offene Mengen sind, gibt es fürgenügend kleines δt immer eine Karte, die p und p′ enthält. Dann ist in ersterOrdnung in δt in dieser Karte

ui(p′)= ui(p)+ ∂ui

∂xk

∣∣∣pvkδt (5.134)

Mit Gleichung (5.132) ist

[∇vu]i = limδt→0

[P c(δt,0)]iju

j(p′)−ui(p)

δt=

= limδt→0

(δi

j +Γijkvkδt

)(u j(p)+ ∂u j

∂xk

∣∣∣pvkδt

)−ui(p)

δt

= ∂ui

∂xk

∣∣∣∣pvk +Γi

jk(p) u j(p) vk

(5.135)

Aus dieser Darstellung ersieht man neben der Unabhängigkeit von c weitereEigenschaften:

89

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(i) Die kovariante Ableitung ∇v an der Stelle p hängt (im Unterschied zur Lie-Ableitung Lv) nur vom Wert von v an der Stelle p ab. Sie ist C∞(M)-linearin v:

∇ f v = f∇v für alle f ∈ C∞(M). (5.136)

(ii) Die kovariante Ableitung ist additiv in v und u:

∇v1+v2 =∇v1 +∇v2 (5.137)

∇v(u1 +u2)=∇vu1 +∇vu2 (5.138)

(iii) Produktregel∇v( f u)= v( f ) ·u+ f ·∇vu (5.139)

Definition 5.6.4. Eine Abbildung ∇ : TM×TM →TM, (v,u) 7→ ∇vu heißt affinerAffiner ZusammenhangZusammenhang, wenn sie die oben aufgezählten Eigenschaften (i)-(iii) hat.

Bemerkung 5.6.5. Affiner Zusammenhang und kovariante Ableitung sind prak-tisch Synonyme.

Bemerkung 5.6.6. Ein affiner Zusammenhang definiert einen Paralleltransport.Eine Mannigfaltigkeit mit affinem Zusammenhang (M,∇) ist somit äquivalentzu einer Mannigfaltigkeit mit Paralleltransport (M,P ).

Bemerkung 5.6.7. Da ∇v linear in v ist, ist es sinnvoll, das Symbol ∇a einzuführen,so daß

∇v ≡ va∇a (5.140)

gilt. In lokalen Koordinaten ist dann

∇iu j = ∂u j

∂xi +Γ jkiu

k (5.141)

Bemerkung 5.6.8. Die kovariante Ableitung kann auf beliebige Tensorfelder ∇vTerweitert werden. Neben den vor Definition 5.6.4 aufgelisteten Eigenschaften, diealle auch gelten, wenn man das Vektorfeld u durch ein Tensorfeld T beliebigerStufe (m,k) ersetzt, gilt auch

∇v(S⊗T)=∇v(S)⊗T +S⊗∇v(T) (5.142)

∇v(S T)=∇v(S)T +S ∇v(T), (5.143)

wobei S T wieder eine beliebige Paarung (Indexkontraktion) wie SabTbc bezeich-

nen soll. In Koordinatendarstellung hat die kovariante Ableitung von Tensorendie Form

∇iTjkl =

∂T jkl

∂xi +Γ jmiT

mkl −Γm

kiTjml −Γm

li T jkm, (5.144)

d.h., es gibt einen Term +Γ••iT···•···

... für jeden kontravarianten Index und einemTerm −Γ••iT

... ···•··· für jeden kovarianten Index. Insbesondere ist also

∇iω j =∂ω j

∂xi −Γmjiωm (5.145)

5.6.4 Weitere NotationenMit der Indexnotation hat sich eine fast stenographische Kurzschrift entwickelt.So schreibt man oft

90

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Page 30: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

• partielle Ableitungen mit einem Komma gefolgt von dem Index, nach demdifferenziert wird:

∂T ijk

∂xn = ∂nT ijk =: T i

jk,n (5.146)

• kovariante Ableitungen analog mit einem Semikolon:

∇aTbcd =: Tb

cd;a (5.147)

∇a∇bvc =: vc;b;a (5.148)

• Symmetrisierungen und Antisymmetrisierungen werden oft mit BachschenKlammern geschrieben: Indizes, in denen symmetrisiert wird, werden inrunde Klammern eingeschlossen. Indizes, in denen antisymmetrisiert wird,werden in eckige Klammern eingeschlossen. Indizes dazwischen, über dienicht (anti-)symmetrisiert werden soll, werden mit vertikalen Strichenabgetrennt. Beispiele verdeutlichen dies am Besten:

T(ab) =12

(Tab +Tba

)T[ab] =

12

(Tab −Tba

)(5.149)

∇[a∇b] =12

(∇a∇b −∇b∇a) R(a|bc|d) =12

(Rabcd +Rdbca) (5.150)

Ra[bcd] =16

(Rabcd −Racbd +Racdb −Radcb +Radbc −Rabdc) (5.151)

T(ab)c[de] =

14

(Tabc

de +Tbacde −Tabc

ed +Tbaced

)(5.152)

Eine kleine Gemeinheit ist, daß der übliche Kommutator bekanntlich ohneFaktor 1

2 definiert wird. Damit ist also z.B.

∇[a∇b] =12

[∇a,∇b] (5.153)

5.6.5 Autoparallele KurvenDie Bedingung, daß ein Vektor u längs einer Kurve c(t) parallelverschoben wird,ist

P (t, t+δt) u(c(t))=u(c(t+δ(t)) (5.154)

Ein Vergleich mit Gleichung (5.133) zeigt, daß dies äquivalent ist zu

∇.c(t) u= 0 (5.155)

Hier ist wieder zu beachten, daß .c kein “richtiges” Vektorfeld auf M ist, da esnur entlang der Kurve c existiert, vergleiche Def. 5.3.30. Daher ist auch ∇.c(t)nur entlang c definiert und liefert wieder ein Vektorfeld entlang c. In lokalenKoordinaten ist

[∇.c(t)v]i = dvi

dt+Γi

jkv j [ .c]k (5.156)

Auf einer Mannigfaltigkeit mit affinen Zusammenhang (M,∇) gibt es eine ausge-zeichnete Art von Kurven:

Definition 5.6.9. Eine Kurve auf (M,∇) heißt autoparallel, wenn ihre Tangenti-alvektoren an verschiedenen Punkten durch Parallelverschiebung entlang dieserKurve auseinander hervorgehen. Autoparallelen sind in gewissem Sinne die „ge-radesten“ Kurven in der durch den affinen Zusammenhang gegebenen Geometrie.Sie erfüllen die Differentialgleichung

∇.c(t).c(t)= 0 (5.157)

91

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oder in lokalen Koordinaten

d2ci

dt2 +Γijk(c(t))

dc j

dtdck

dt= 0. (5.158)

Bemerkung 5.6.10. Der Tangentialvektor hängt von der “Geschwindigkeit” ab,mit der die Kurve durchlaufen wird. Daher ist eine autoparallele Kurve nur miteiner geeigneten Parametrisierung autoparallel. Der entsprechende Parametert einer “richtig” parametrisierten autoparallelen Kurve wird affiner Parametergenannt.Affiner Parameter

Nach einer beliebigen Umparametrisierung c(s)= c(s(t)) würde für die Tangen-tialvektoren statt P t.t′v(t) = v(t′) im Allgemeinen nur noch P t.t′v(t) = λ(t′)v(t′)gelten.

Affine Umparametrisierungen t 7→ t′ = at+ b sind allerdings erlaubt. Unterihnen ist Gl. (5.158) invariant.

Bemerkung 5.6.11. Seien die Christoffelsymbole in Anteile zerlegt, die in denbeiden unteren Indizes symmetrisch bzw. antisymmetrisch sind.

Γijk =Γi

( jk) +Γi[ jk] (5.159)

Wegen Γi[ jk]

dc j

dtdck

dt = 0 hängen die Autoparallelen nur vom symmetrischen Teilder Christoffelsymbole ab. Man kann also zu jedem affinen Zusammenhang einensymmetrischen Zusammenhang mit denselben Autoparallelenscharen finden.

5.6.6 Lie-Transport und Paralleltransport

Der Paralleltransport eines Vektors ventlang einer Kurve c(t), definiertdurch ∇.c(t)v= 0, hängt nur von dieserKurve (und dem gegebenen affinen Zu-sammenhang) ab.

dK Der Lie-Transport Luv = 0 ei-nes Vektors v entlang einer Stromli-nie (Integralkurve) des Vektorfeldes uhängt auch vom Verlauf der Stromlini-en in der Nachbarschaft ab. Der Vek-tor folgt den Expansionen, Scherungenund Kontraktionen des Flusses.

5.7 Torsion und Krümmung

Die Christoffelsymbole bilden keinen Tensor, ihr Verschwinden oder Nichtver-schwinden keine Atlas-unabhängige Aussage. Insbesondere kann man auch fürden euklidischen Raum Rn mit der euklidischen Parallelverschiebung Kartenfinden, in denen dieser Paralleltransport durch nichtverschwindende Γi

jk ausge-drückt wird, z.B. Polarkoordinaten im R2.

Unsere Anschauung sagt uns, daß in diesem Fall die Christoffelsymbole nurdie Verdrehung der Basisvektoren verschiedener Punkte gegeneinander kompen-sieren.

∂r

∂φ

∂r

∂φ

Abb. 5.19: Basis in Polarkoor-dinaten

92

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Page 32: 5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeitenhellmund/GR/ch5.pdf5 Differentialgeometrie auf Mannigfaltigkeiten 5.1 Zur Erinnerung: Die Ableitung einer Funktion im Rn Wir betrachten

Um dies zu fassen, werden wir aus dem affinen Zusammenhang Tensoren kon-struieren, die koordinatenunabhängige Information über den Paralleltransportenthalten.

Der affine Zusammenhang bildet Tensoren T auf Tensoren T ′ =∇vT ab. Trotz-dem ist eine Bildung wie “T(v,u) := ∇v(u)” kein Tensor. Es ist ja gerade Sinneiner Ableitung, das Verhalten eines Feldes nicht nur an einem Punkt, sondernin einer infinitesimalen Umgebung des Punktes zu charakterisieren. Deshalbist dieser Ausdruck nicht C∞(M)-linear in u, sondern es gilt die Kettenregel∇v( f u)= f∇vu+v( f )u.

Man kann leicht nachrechnen, daß die folgende Konstruktion C∞(M)-linearund deshalb mit Lemma 5.3.23 ein Tensor ist.

Definition 5.7.1. Der(12)-Tensor Torsion

Tor(u,v)=∇uv−∇vu− [u,v] (5.160)

wird Torsion der Mannigfaltigkeit mit Zusammenhang (M,∇) genannt.

Der Torsionstensor ist antisymmetrisch in seinen Vektorargumenten

Tor(u,v)=−Tor(v,u). (5.161)

Seine Koordinatendarstellung bekommt man durch Anwendung auf die Basis-vektoren

Torijk = [

Tor(∂ j,∂k)]i . (5.162)

Für eine Koordinatenbasis ist [∂i,∂ j] = 0 und damit wird der Torsionstensorgleich dem antisymmetrischen Anteil der Christoffelsymbole:

Torijk =Γi

k j −Γijk =−2Γi

[ jk] (5.163)

Aus Bemerkung 5.6.11 folgtLemma 5.7.2. Sei (M,∇) eine Mannigfaltigkeit mit affinem Zusammenhang.Dann gibt es immer einen affinen Zusammenhang ∇′, der (i) torsionsfrei ist und (ii)dieselben Autoparallelen wie ∇ besitzt. Man gewinnt ihn durch Symmetrisierungder Christoffelsymbole von ∇.

Definition 5.7.3. Der(13)-Tensor Krümmung

R(u,v,w)=∇v∇wu−∇w∇vu−∇[v,w]u (5.164)

wird Riemannscher Krümmungstensor von (M,∇) genannt.

Zum Beweis der Tensoreigenschaft muß man nach Lemma 5.3.23 die C∞(M)-Linearität nachrechnen. Zur C∞(M)-Linearität in u sei bemerkt, daß ∇v∇w( f u)=∇v [w( f ) u+ f∇wu]= v(w( f ))u + w( f )∇vu + v( f )∇wu + f∇v∇wu und ∇[v,w] f u =([v,w] f )u+ f∇[v,w]u. Die C∞(M)-Linearität in w folgt mit ∇v∇ f wu= ∇v( f∇wu)=v( f )∇wu+ f∇v∇wu und ∇[v, f w] = ∇ f [v,w]+v( f )w = f∇[v,w] +v( f )∇w. Die C∞(M)-Linearität in v folgt analog.

Die Koordinatendarstellung des Krümmungstensors bekommt man wieder durchAnwendung auf die Basisvektoren.

R ijkl =

∂Γijl

∂xk −∂Γi

jk

∂xl +ΓimkΓ

mjl −Γi

mlΓmjk (5.165)

Bemerkung 5.7.4. Verschiedene Autoren benutzen verschiedene Vorzeichen undIndexplazierungen bei der Definition des Krümmungstensors. Die hier gewähl-te stimmt mit Stephani und d’Inverno überein. Die Konvention von Wald ist(RWald)dcb

a = Rabcd .

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(i) Die Torsion beschreibt die Nichtvertauschbarkeit der kovarianten Ableitun-gen eines Skalarfeldes. Mit ∇a∇b f =∇a(∂b f )= ∂a∂b f −Γm

ba∇m f wird

[∇a,∇b] f =−Torcab ∇c f . (5.166)

(ii) Die Krümmung beschreibt die Nichtvertauschbarkeit der kovarianten Ab-leitungen eines Vektorfeldes:

[∇a,∇b]vc = Rcdabvd −Tord

ab ∇dvc (5.167)

(iii) Es zeigt sich, daß die Nichtvertauschbarkeit der kovarianten Ableitun-gen höherer Tensoren keine neuen Größen liefert. Für beliebige (n,m)-Tensoren T kann ∇[a∇b]T durch Ra

bcd , Torabc und kovariante Ableitungen

ausgedrückt werden.

Bemerkung 5.7.5. Gleichung (5.167) kann komplikationslos aber länglich ausden Formeln (5.165), (5.163) in Indexnotation nachgerechnet werden. Der Wegüber die indexfreie Definition (5.164) des Krümmungstensors ist kürzer. Dabei istzu beachten, daß bei mehrfachen Ableitungen uawb∇a∇b 6= ∇u∇w ist, da ∇u∇wauch Ableitungen von w enthält. Es ist

uawb∇a∇bvc = ua∇a(wb∇bvc)− (ua∇awb)(∇bvc) (5.168)

=∇u∇wv−∇(∇uw)v (5.169)

Beweis von Gleichung (5.167). Seien u,w zwei beliebige Vektorfelder. Dann ist

uawb(Rc

dabvd −Tordab ∇dvc

)=R(v,u,w)−∇Tor(u,w)v (5.170)

=R(v,u,w)−∇(∇uw)v+∇(∇wu)v+∇[u,w]v (5.171)

= [∇u,∇w]v−∇(∇uw)v+∇(∇wu)v (5.172)

= uawb[∇a,∇b]vc, (5.173)

wobei in der 2. Zeile die Definition der Torsion, in der 3. Zeile die Definitionder Krümmung und in der 4. Zeile Gleichung (5.169) verwendet wurde. Da u,vbeliebig sind, ist hiermit Gleichung (5.167) bewiesen.

Bemerkung 5.7.6. Auf einer Mannigfaltigkeit mit Paralleltransport (M,P ) ≡Mannigfaltigkeit mit affinem Zusammenhang (M,∇) haben wir definiert:

• Die End(TpM)-wertigen17 1-Formen Γ••k, die den infinitesimalen Parallel-transport beschreiben.

• Der(12)-Tensor der Torsion kann als vektorwertige 2-Form Tor•i j angesehen

weerden.

• Der(13)-Tensor der Riemannschen Krümmung kann als End(TpM)-wertige

2-Form R••i j gelesen werden.

Torsion ist ein Phänomen, das nur in Tangentialvektorbündeln vorkommt. Zu-sammenhang und Krümmung lassen sich jedoch auf allgemeinere Vektorbündelund Hauptfaserbündel verallgemeinern. Dies liefert die geometrische Strukturvon Eichfeldtheorien: Sei g die Lie-Algebra zur Eichgruppe G.

(i) Der Paralleltransport wird beschrieben durch eine g-wertige 1-Form, dasPotential A i.

(ii) Die Krümmung des Bündels wird beschrieben durch die g-wertige 2-Formder Feldstärke Fi j.

17D.h., wenn man diese 1-Form auf einen Vektor anwendet, erhält man ein Element aus demEndomorphismenring End(Tp M) des Tangentialraums, also eine Transformationsmatrix Γ••kvk .

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5.7.1 Geometrische Deutung des Krümmungstensors

Sei c eine geschlossene Kurve, die im Punkt p ∈ M startet und endet. Sei (U ,φ)eine Karte, die wir so wählen, daß p dem Koordinatenursprung entspricht undci(t) die Koordinatendarstellung der Kurve c. Dann ist ci

λ(t)=λci(t) eine Kurve,

die um den Faktor λ skaliert wurde und auch in p startet und endet.Paralleltransport eines Vektors w ∈ TpM entlang der geschlossenen Kurve cγ

liefert einen Vektor w′ ∈ TpM.Aus den Eigenschaften (iii) und (vi) des Paralleltransports (Definition 5.6.1)

folgt, daß eine Entwicklung des Paralleltransports P cλ nach Potenzen von λ

existiert. Es wird sich zeigen, daß der erste nichttriviale Term quadratisch in λ

ist: p

w′ =w+λ2 δw+O(λ3) (5.174)

Zur Berechnung von δw müsen wir die Paralleltransport-Gleichung

dwi

dt=−λΓi

jk(t) w j(t)dck

dt(5.175)

(wobei Γ(t) :=Γ(cλ(t)) und w(t) := w(cλ(t)) gesetzt wurde) daher bis zur 2. Ordnungin λ lösen. Als Integralgleichung hat sie die Gestalt

wi(t)= wi(0)−λ∫ t

0Γi

jk(t′) w j(t′)dck(t′)

dt′dt′. (5.176)

Wir entwickeln den Integrand iterativ (vgl. Gl. (5.130)) und benötigen unter demIntegral alle Terme bis zur 1. Ordnung in λ:

Γijk(t)=Γi

jk(0)+λ (∂mΓijk)

∣∣t=0 cm(t)+O(λ2) (5.177)

w j(t)= w j(0)−λΓ jnm(0) wn(0) cm(t)+O(λ2) (5.178)

Einsetzen in (5.176) liefert

wi(t)= wi(0)−λΓijk(0) w j(0)

∫ t

0

dck

dt′dt′

−λ2(∂mΓ

ink −Γi

lkΓlnm

)∣∣t=0wn

∫ t

0cm dck

dt′dt′ (5.179)

Der Term linear in λ verschwindet wegen c(0)= c(t). Damit ist

δwi =−(∂mΓ

ink −Γi

lkΓlnm

)∣∣t=0wn

∮cλ

cmdck (5.180)

Wir addieren dazu die Gleichung, bei der die Hilfsindizes m und k vertauschtsind und beachten, daß das Integral über cmdck + ckdcm = d(cmck) längs einergeschlossenen Kurve verschwindet. Damit erhalten wir

δwi =−12

(∂kΓ

inm −∂mΓ

ink +Γi

lkΓlnm −Γi

lmΓlnk

)∣∣t=0wn

∮cλ

ckdcm (5.181)

=−12

R inkm(p) wn

∮cλ

ckdcm (5.182)

Seien u,v zwei Tangentialvektoren an der Stelle p. Sei ~u = (u1, . . . ,un) ∈Rn derKoordinatenvektor von u und analog~v der Koordinatenvektor von v. Sei Pλ dasParallelogramm, das von λ ·~u und λ ·~v im Rn aufgespannt wird.

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Sei cλ =φ−1(Pλ) die entsprechende geschlossene Kurve auf der Mannigfaltig-keit. Ihre Teilstücke sind im Allgemeinen keine Autoparallelen. Damit wird dasIntegral zu einer Summe über die 4 Seiten des Parallelogramms mit λ= 1:∮

cλ=1

ckdcm =∫ t

0ck dcm

dt′dt′ = um

∫ 1

0uk t′ dt′+vm

∫ 1

0(uk + t′vk) dt′

−um∫ 1

0(uk +vk − t′uk) dt′−vm

∫ 1

0(vk − t′vk) dt′

= ukvm −vkum (5.183)

Da R inkm ebenfalls antisymmetrisch in k und m ist, erhalten wir schließlich

δwi =−R inkmwnukvm (5.184)

oder indexfrei δw=−R(w,u,v) (5.185)

ww′

λ~u

λ~v

φ−1

5.7.2 Verschwindende Krümmung = IntegrablerParalleltransport

Sei auf einer Mannigfaltigkeit der Riemannsche Krümmungstensor überall gleichNull. Dann kann man sehen, daß auch die Korrekturen höherer Ordnung inGleichung (5.174) verschwinden. Es gilt:

Satz 5.7.7. Die folgenden Aussagen sind äquivalent:

(i) Der Krümmungstensor verschwindet auf M.

(ii) Der Paralleltransport längs geschlossener kontrahierbarer Kurven ist dieIdentität.

(iii) Der Paralleltransport in kontrahierbaren Gebieten ist wegunabängig, d.h.,integrabel.

Beweis. (iii) ⇒ (ii): Wir verwenden Eigenschaften (ii) und (iv) der Definition 5.6.1.Sei P der Paralleltransport einer geschlossenen Kurve durch p. Sei q ein weite-rer Punkt auf dieser Kurve, der den Transport aufteilt in P =P1:p→q P2:q→p.Aus der Wegunabängigkeit folgt P2 =P −1

1 und damit P =P1 P −11 =1.

(iii) ⇒ (ii): Seien P1,P2 zwei Kurven von p nach q. Dann ist P1 P −12 = 1, da

geschlossener Weg, also ist P1 =P2.(iii) ⇒ (i): Sei vp ein beliebiger Vektor an einem Punkt p. Da der Paralleltransportzu einem anderen Punkt q in einer kontrahierbaren Umgebung wegunabhän-gig ist, benutzen wir ihn, um damit vq = P p→qvp eindeutig festzulegen. Soentsteht ein kovariant konstantes Vektorfeld v, für das gilt ∇avb = 0. Nach Glei-chung (5.167) ist somit Rc

dabvd = 0 für alle vp, woraus Rcdab = 0 folgt.

(i) ⇒ (ii): Wir betrachten einen endlichen geschlossenen Weg der GrößenordnungL×L und approximieren die eingeschlossene Fläche durch N2 kleine Parallelo-gramme. Dann ist bei verschwindendem Krümmungstensor der Paralleltrans-port um jedes der Parallelogramme höchstens von der Ordnung 1+O

(( LN

)3)= exp

(O

[( LN

)3])und somit gilt für den Transport um die gesamte Kurve

P ∼ exp(N ×N ×O

[(LN

)3])∼ exp

(O

[1N

])−−−−→N→∞

1 (5.186)

Also verschwinden im Fall Rcdab = 0 alle Terme höherer Ordnung in Glei-

chung (5.174) und der Paralleltransport ist wegunabhängig.

Es sei unterstrichen, daß wir hier (wie auch bei der Herleitung von Glei-chung 5.184) nicht voraussetzen, daß die Torsion verschwindet.

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5.7.3 Zur Torsion

Während wir noch eine Anschauung von Krümmung haben, ist die Torsionnotorisch schwer zu visualisieren. Da wir es in der ART nur mit torsionsfreienRäumen zu tun haben werden, sei nur kurz folgendes bemerkt:

Sei der Raum krümmungsfrei. Seien Koordinaten so gewählt, daß der symme-trische Anteil Γi

( jk) der Christoffelsymbole verschwindet. Dann sind die Autopar-allelen in einer Karte einfach die Geraden des euklidischen Rn.

Wenn Tor6= 0, der dann sind trotzdem die Tangentialvektorräume benachbar-ter Punkte noch auf eine gewisse Weise gegeneinander verdreht, so daß derParalleltransport eines n-Beins von Basisvektoren längs einer Geraden zu einerVerdrehung dieses n-Beins führt.

Da der Paralleltransport bei verschwindender Krümmung integrabel (wegu-nabhängig) ist, können wir ein n-Bein an einem Punkt p festlegen und mittelsParalleltransport an die anderen Punkte transportieren. Dann sind also perDefinition alle entsprechenden Basisvektoren, z.B. e3(p) an allen Punkten p ∈ M,parallel. Daher wird ein Raum mit R i

jkl = 0,Torijk 6= 0 auch Raum mit Fernparal-

lelismus genannt. Die so konstruierte Basis der Tangentialräume ist jedoch nichtholonom.

Wenn auf einer solchen krümmungsfreien Mannigfaltigkeit also Tor(u,v)= ∇uv −∇vu − [u,v] 6= 0 ist, gilt für eine Koordinatenbasis [∂i,∂ j] = 0 aber∇∂i∂ j 6= ∇∂ j∂i, für eine fernparallelisierte Basis jedoch ∇ei e j = 0 aber [ei,e j] 6= 0.

Der Paralleltransport ist in einem Raum mit Torsion nicht durch die Mengeder autoparallelen Kurven festgelegt. Im krümmungsfreien Fall sind zwar dieAutoparallelen gegeben durch die Geraden auf den Karten, aber eine Scharparalleler Autoparallelen sieht nicht so aus: sondern eventuell so:

5.8 Mannigfaltigkeiten mit Metrik

In diesem Kapitel werden Mannigfaltigkeiten auf eine spezielle Weise mit einermetrischen Struktur versehen.

Wir definieren nicht direkt eine Abstandsfunktion d(p, q) auf M. Statt dessendefinieren wir eine Norm ‖vp‖ auf den Tangentialvektorräumen TpM.

Diese Norm erlaubt es, Kurven eine Länge zuzuordnen. Der Abstand zweierPunkte p, q ∈ M ist dann gegeben als das Infimum der Längen aller Kurven vonp nach q.

In einem Raum mit einer solchen Struktur gibt es eine ausgezeichnete Klassevon Kurven, die Kurven lokal18 kürzester Länge, Geodäten genannt.

Definition 5.8.1. Eine Kurve c : [a,b] → M heißt stückweise differenzierbar, Stückweise diffe-renzierbare Kurvewenn sie (i) stetig ist und (ii) es endlich viele ai mit a = a0 < a1 < ·· · < ak = b gibt,

so daß c auf allen Intervallen [ai,ai+1] stetig differenzierbar (C1) ist. Die Mengeder stückweise differenzierbaren Kurven auf M sei mit D1(M) bezeichnet.

5.8.1 Finsler-Mannigfaltigkeiten

Definition 5.8.2. Eine Finsler-Mannigfaltigkeit19 ist eine Mannigfaltigkeit, inder jeder Tangentialraum TpM so mit einer Vektornorm versehen ist, daß

18Auf einer Sphäre sind die Geodäten die Großkreise. Wenn p, q auf einem Großkreis liegen undkeine Antipoden sind, dann ist ein Geodätenstück pq die kürzeste Verbindung und das andereGeodätenstück qp die längste Verbindung. Es gibt auch auf diesem Stück Punktepaare, für die esdie kürzeste Verbindung ist.

19benannt nach Paul Finsler (1894-1970)

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v 7→ ‖v‖ glatt auf TM außerhalb des Nullschnittes ist.20 Das heißt insbeson-dere:

(i) Wenn ein Vektorfeld v : M → TM glatt und nullstellenfrei ist, dann ist auchdas Skalarfeld seiner Norm ‖v‖ : M →R glatt.

(ii) Auf jedem TpM ist die Einheitskugel ‖v‖ = 1 eine glatte Fläche.

Bemerkung 5.8.3. Eine Norm auf einem Vektorraum ist bekanntlich durch ihreEinheitskugel v : ‖v‖ = 1 vollständig gegeben. Man kann sich einen Finsler-Raum also vorstellen als eine Mannigfaltigkeit, deren Tangentialräume alle miteiner glatten konvexen Hyperfläche um den Ursprung herum ausgestattet sind,die die Einheitskugel definiert.

Definition 5.8.4. Die Länge einer stückweise differenzierbaren Kurve c : [a,b]→ Mist

Kurvenlänge L(c)=∫ b

a

∥∥ .c(t)∥∥ dt (5.187)

Aus der Homogenität der Norm ‖λv‖ = |λ| ‖v‖ folgt

Lemma 5.8.5. Die Länge einer Kurve c(t) ist unabhängig von ihrer Parametri-sierung.

Definition 5.8.6. Eine Kurve c(t) : [0,T]→ M ist natürlich parametrisiert, wennNatürliche Pa-rametrisierung der Parameter t die Eigenlänge der Kurve ist, d.h., wenn für alle t gilt

t =∫ t

0

∥∥ .c(t′)∥∥ dt′ (5.188)

Definition 5.8.7. Der Abstand zweier Punkte p, q ∈ M istAbstand

d(p, q)= infc

L(c) | c(a)= p, c(b)= q, (5.189)

wobei das Infimum über alle stückweise differenzierbaren Kurven von p nach qgenommen wird.

5.8.2 Riemannsche Mannigfaltigkeiten

Ein Spezialfall normierter Vektorräume sind Räume mit einem Skalarprodukt,welches via

‖v‖ =√

g(v,v) (5.190)

eine Norm induziert. Da g eine quadratische Form ist, sind die Einheitskugelnsolcher Räume immer Ellipsoide.

Definition 5.8.8. Eine Riemannsche Mannigfaltigkeit (M, g) ist eine glatte Man-nigfaltigkeit, in der jeder Tangentialraum TpM mit einem Skalarprodukt verse-hen ist, welches glatt von p abhängt. Mit anderen Worten: Auf M ist ein glattessymmetrisches (0,2)-Tensorfeld g gegeben, welches an jedem Punkt p eine posi-tiv definite quadratische Form auf TpM erzeugt. Das heißt, für alle p ∈ M giltgp(v,v)≥ 0 ∀v ∈ TpM und gp(v,v)= 0⇐⇒ v= 0.

Satz 5.8.9. Jede glatte Mannigfaltigkeit kann mit einer Riemannschen Metrikversehen werden.20Den Nullschnitt muß man rausnehmen. Auch der gewöhnliche Betrag |x| ist nur auf R\0 glatt.

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Zum Beweis: Man kann auf jeder Karte (Ui ,φi) einen metrischen Tensor g i finden,indem man z.B. das Pullback unter φ des euklidische Skalarprodukt des Rn be-nutzt. Mit einer Zerlegung ρ i der Eins bildet man g =∑

i ρ i g i . Die Summe positivdefiniter Matrizen ist stets wieder positiv definit, also ist g eine globale Metrikauf M.

Riemannsche Mannigfaltigkeiten sind spezielle Finsler-Mannigfaltigkeiten.

Bemerkung 5.8.10. Lokal in einem Punkt p kann man stets Koordinaten sowählen, daß g i j eine Einheitsmatrix und damit ‖v‖ =

√(v1)2 + (v2)2 +·· ·+ (vn)2

ist. Da g glatt ist, gilt dies näherungsweise auch in einer Umgebung von p undüberträgt sich auch auf Abstände d(p, q) in dieser Umgebung: näherungsweisegilt in diesen Koordinaten um p herum der Satz des Pythagoras.

Riemannsche Räume sind damit Mannigfaltigkeiten, die so metrisiert sind,das lokal, infinitesimal, der Satz des Pythagoras gilt.

Riemannsche Mannigfaltigkeiten sind also nicht nur in einem topologischenSinn sondern auch in einem metrischen Sinne lokal euklidisch.

Die Länge einer Kurve ist gegeben durch

L(c)=∫ b

a

∥∥ .c(t)∥∥ dt =

∫ b

a

√g( .c(t), .c(t)) dt (5.191)

Satz 5.8.11. Mit (5.191) und der Abstandsdefinition 5.8.7 ist eine RiemannscheMannigfaltigkeit ein metrischer Raum (vgl. Kapitel C.10). Die von der Metrikinduzierte Topologie stimmt mit der Topologie von M als Mannigfaltigkeit überein.

Daß eine durch Def. 5.8.7 gegebene Abstandsfunktion die Dreiecksungleichungerfüllt, ist unmittelbar klar. Die kürzeste Kurve von p nach q kann nicht länger sein,als die Zusammensetzung der kürzesten Kurven von p nach r und von r nach q.Um die Nichtentartung d(p, q) = 0 ⇒ p = q zu zeigen, braucht man die Hausdorff-Eigenschaft von Mannigfaltigkeiten. Bei der nicht-hausdorffschen Linie mit denzwei Ursprüngen (Bsp. C.8.2) wäre d(0a,0b)= 0.

Eine naheliegende Frage ist: Wann gibt es zu zwei Punkten p1, p2 ∈ M eineGeodäte der Länge d = d(p1, p2), d.h., wann kann man das Infimum in Gl. (5.189)durch ein Minimum ersetzen?

Sei (M, g) eine Riemannsche Mannigfaltigkeit und seien p1, p2 zwei Punkte,für die genau eine21 verbindende Geodäte G(p1, p2) der Länge D = d(p1, p2)existiert. Sei q ein Punkt auf dieser Geodäten zwischen p1 und p2. Wir betrachtennun die Mannigfaltigkeit M′ = M \q, aus der wir den Punkt q entfernt haben.Dann gilt:

(i) Der Raum (M′, g) ist als metrischer Raum unvollständig.22 Eine Folge,die in M gegen q konvergiert, ist in M′ eine Cauchy-Folge, die aber nichtkonvergiert.

(ii) Der Raum (M′, g) hat nicht die Heine-Borel-Eigenschaft. Es gibt abgeschlos-sene beschränkte Gebiete, die das “Loch” q umschließen und daher nichtkompakt sind.23

(iii) Betrachten wir den Rest der Kurve G zwischen p1 und dem Loch q. DieseKurve ist immer noch Geodäte für alle auf ihr liegenden Punktepaare. Mankann sie aber nicht weiter als bis zu q fortsetzen.

Der Raum (M′, g) ist geodätisch unvollständig. Das heißt: es gibt in ihm Geo-däten, die sich nicht zu beliebig großen Werten der Eigenlänge t fortsetzenlassen.

21 p1, p2 sollen nicht gerade sowas wie Antipoden auf einer Kugel sein.22s. Kap. C.1023s. Kap. C.11

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(iv) Für jedes d aus einem Intervall (D,D+ ε) gibt es eine Kurve c(p1, p2) derLänge d, da man der bisherigen Geodäte G beliebig nahe kommen kann.Also ist weiterhin d(p1, p2)= D. Es gibt aber keine Geodäte mehr, die diesenAbstand realisiert.

Das Theorem von Hopf-Rinow sagt aus, daß eine Riemannsche Mannigfaltigkeit,die von einem der “Defekte” (i)–(iii) frei ist, von allen vier Defekten frei ist.

Satz 5.8.12. Sei (M, g) eine zusammenhängende Riemannsche Mannigfaltigkeit.Hopf-Rinow-TheoremDann sind äquivalent:

(i) M ist als metrischer Raum vollständig.

(ii) M hat die Heine-Borel-Eigenschaft.

(iii) M ist geodätisch vollständig, d.h., es gibt zu jedem Punkt p ∈ M und zugeodätischeVollständigkeit jedem Tangentialvektor vp eine Geodätische durch p, die an dieser Stelle die

Tangente vp hat und die sich in beide Richtungen zu beliebigen Eigenlängent ∈R fortsetzen läßt.24

Weiterhin folgt aus jedem dieser Bedingungen:

(iv) Jeder Punkt p läßt sich mit jedem Punkt q durch eine minimale Geodäte derLänge L = d(p, q) verbinden.

Eigenschaft (iv) impliziert allerdings nicht (i)–(iii).

Bemerkung 5.8.13. Nicht jede Metrik auf M′ = M \q muß “defekt” sein. Einenatürlichere Metrik g′ auf M′ wäre z.B. eine, in der die Entfernungen in der Nähevon q unbegrenzt gestreckt werden, so daß alle beschränkten abgeschlossenenGebiete kompakt bleiben und der fehlende Punkt die Rolle eines unendlichfernenPunktes annimmt. (Man denke an eine Sphäre, der man den Nordpol entferntund deren stereographische Projektion auf den R2.) Mit einer solchen Metrikkann auch M′ geodätisch vollständig sein.

5.8.3 Der Levi-Civita-ZusammenhangWir haben nun sowohl Mannigfaltigkeiten (M,∇) mit einem Zusammenhangals auch Mannigfaltigkeiten (M, g) mit einer Riemannschen Metrik betrachtet.Prinzipiell sind diese Strukturen unabhängig voneinander und man kann siebeliebig zu einer Mannigfaltigkeit (M,∇, g) kombinieren.

Es gibt aber auch sinnvolle Verträglichkeitsforderungen. Wir sind es zumBeispiel gewohnt, daß der Paralleltransport die Länge eines Vektors nicht ändert.

Definition 5.8.14. Ein affiner Zusammenhang ∇ heißt mit der Metrik g verträg-Verträglichkeitvon g und ∇ lich, wenn die Metrik kovariant konstant ist, d.h., wenn überall auf M gilt

∇a gbc = 0 (5.192)

Bemerkung 5.8.15. Dies ist äquivalent zu der Forderung, daß Parallel-verschiebung eines Vektors v das Längenquadrat gabvavb invariant läßt:Werde v längs u parallelverschoben. Die Änderung des Längenquadrats istua∇a(gbcvbvc) = ua(∇a gbc)vbvc +ua gbc∇avbvc +ua gbcvb∇avc = ua(∇a gbc)vbvc,da bei Parallelverschiebung ua∇avb = 0. Da dies für beliebige u,v gelten soll, giltalso

∇a gbc = 0⇐⇒ Parallelverschiebung erhält Längen.

Gleichzeitig sieht man, daß eine verträgliche Parallelverschiebung auch dieSkalarprodukte gabvawb erhält.24Dabei kann sie natürlich dieselben Punkte mehrfach durchlaufen, siehe Großkreise auf einer

Kugel.

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Der folgende Satz wird mitunter “Fundamentalsatz der Riemannschen Geome-trie” genannt.

Satz 5.8.16. Sei (M, g) eine Riemannsche Mannigfaltigkeit. Dann gibt es auf Mgenau einen affinen Zusammenhang ∇, Levi-Civita-Zusammenhang genannt,für den gilt:

(i) ∇ ist mit der Metrik verträglich.

(ii) ∇ ist torsionsfrei.

Weiterhin fallen die autoparallelen Kurven dieses Zusammenhangs mit den Geo-däten der Metrik zusammen und die Eigenlänge der Geodäte ist ein affiner Para-meter der Autoparallele.

Beweis. I. Wir beweisen die Existenz eines solchen Zusammenhangs durch Kon-struktion. Die Verträglichkeitsbedingung lautet

∇i g jk = ∂i g jk − g jmΓmki − gmkΓ

mji = 0 (5.193)

Wir führen für diesen Beweis die Schreibweise Γi jk = g imΓmjk für Christoffel-

symbole mit heruntergezogenem Index ein und schreiben obige Gleichung mitpermutierten Indizes auf:

∂i g jk =Γ jki +Γk ji (5.194)

∂k g i j =Γi jk +Γ jik (5.195)

−∂ j gki =−Γki j −Γik j (5.196)

Summation dieser drei Gleichungen führt mit der Torsionsfreiheit, d.h., Symme-trie der Christoffelsymbole in den hinteren beiden Indizes, zu

2Γ jki = ∂i g jk +∂k g i j −∂ j gki (5.197)

und damit schließlich zur eindeutigen Darstellung der Christoffelsymbole desLevi-Civita-Zusammenhangs durch Ableitungen des metrischen Tensors

Γlki =

12

gl j(∂g jk

∂xi + ∂g i j

∂xk − ∂gki

∂x j

)(5.198)

II. Die Geodätengleichung für (M, g) ist die Euler-Lagrange-Gleichung desVariationsproblems

δL[c(t), .c(t)]= δ∫ t1

t0

√gab(c(t))

dca(t)dt

dcb(t)dt

dt = 0 (5.199)

mit festen Randpunkten c(t0)= p, c(t1)= q. Die Euler-Lagrange-Gleichung lautet

ddt

(1√

gab.ca .cb

gcd.cd

)− 1

2√

gab.ca .cb

∂gde

∂xc.cd .ce = 0 (5.200)

Zur Vereinfachung beschränken wir uns auf Kurven, die durch ihre Eigenlängeparametrisiert sind. Damit bleibt

ddt

(gcd

.cd)− 1

2∂gde

∂xc.cd .ce = 0 (5.201)

gcd..c d + ∂gcd

∂xe.cd .ce − 1

2∂gde

∂xc.cd .ce = 0 (5.202)

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Multiplikation mit g f c liefert

..c f + 12

g f c(2∂gcd

∂xe − ∂gde

∂xc

) .cd .ce = 0 (5.203)

Über d, e wird summiert, man kann sie vertauschen, 2 ∂gcd∂xe

.cd .ce =(∂gcd∂xe + ∂gce

∂xe

) .cd .ce

und damit

..c f + 12

g f c(∂gcd

∂xe + ∂gce

∂xd − ∂gde

∂xc

) .cd .ce = 0 (5.204)

..c f +Γ fdc

.cd .ce = 0 (5.205)

Die Geodätengleichung ist also identisch mit der Differentialgleichung (5.158)für durch ihren affinen Parameter parametrisierte autoparallele Kurven.

5.8.4 Eigenschaften und Verwandte von Rabcd

Sei (M, g,∇g) eine Riemannsche Mannigfaltigkeit mit dem Levi-Civita-Zusammenhang.Die Christoffelsymbole sind also symmetrisch

Γijk =Γi

k j. (5.206)

Die Antisymmetrie des Riemann-Tensors in den hinteren beiden Indizes

Rabcd =−Ra

bdc oder Rab(cd) = 0 (5.207)

ist unmittelbar aus der Definition 5.7.3 ersichtlich. Aus der Torsionsfreiheit folgtdie erste Bianchi-Identität

1. Bianchi-Identität

Ra[bcd] = 0 (5.208)

oder Rabcd +Ra

dbc +Racdb = 0 (5.209)

Der (0,4)-TensorRabcd = gaeRe

bcd (5.210)

ist außerdem symmetrisch gegenüber Vertauschung der vorderen und hinterenIndexpaare

Rabcd = Rcdab, (5.211)

woraus mit (5.207) die Antisymmetrie auch im vorderen Indexpaar

Rabcd =−Rbacd (5.212)

folgt. Alle diese Relationen lassen sich explizit mit Gl. (5.165) nachprüfen. Siehaben zur Folge, daß sich die Zahl der unabhängigen Komponenten des Krüm-mungstensors erheblich reduziert von n4 auf 1

12 n2(n2 −1).

Kommutatoren erfüllen die Jacobi-Identität [[A,B],C]+[[B,C], A]+[[C, A],B]= 0für beliebige Operatoren A,B,C. Insbesondere gilt für jeden Vektor v

[[∇a,∇b],∇c] vd + [[∇b,∇c],∇a] vd + [[∇c,∇a],∇b] vd = 0. (5.213)

Mit der Definition des Krümmungstensors und der 1. Bianchi-Identität erhältman daraus die 2. Bianchi-Identität

2. Bianchi-Identität ∇aRbcde +∇eRbcad +∇dRbcea = 0 (5.214)

oder ∇[a R|bc|de] = 0 (5.215)

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Definition 5.8.17. Der Ricci-Tensor25 ist definiert als Kontraktion Ricci-Tensor

Rab = Rcacb (5.216)

und ist wegen Gl. (5.211) ein symmetrischer Tensor.

Definition 5.8.18. Die Spur von Rab = gacRcb ist der Krümmungsskalar oder Krümmungsskalar

Ricci-SkalarR = gabRab. (5.217)

Definition 5.8.19. Der Schouten-Tensor Pab ist für n > 2 definiert als Schouten-Tensor

Pab = 1n−2

(Rab −

R2(n−1)

gab

)(5.218)

Definition 5.8.20. Das Kulkarni–Nomizu-Produkt C = A ¯ B zweier (0,2)- Kulkarni–Nomizu-ProduktTensoren Aab und Bab ist der (0,4)-Tensor

Cabcd = (A¯B)abcd = AacBbd + AbdBac − AadBbc − AbcBad . (5.219)

Wie man sieht, ist A¯B = B¯ A.

Bemerkung 5.8.21. Die Anzahl der Freiheitsgrade 112 n2(n2 −1) ist in niedrigen

Dimensionen recht gering. Wir betreiben hier innere Geometrie (s. Kapitel 5.9),und die ist z.B. in einer Dimension trivial: eine eindimensionale Kurve hatkeine innere Krümmung.26 Erst mit höheren Dimensionen entwickelt die innereGeometrie eine große Zahl von Freiheitsgraden.

(i) Wenn n = 1, dann ist Rabcd = 0.

(ii) Wenn n = 2, dann hat Rabcd eine unabhängige Komponente. In 2 Dimensio-nen hat der Riemannsche Tensor die Gestalt

Rabcd = K2

(g¯ g)abcd = K (gac gbd − gad gbc). (5.220)

Die skalare Funktion K heißt Gaußsche Krümmung. Eine geometrischeDeutung von K wird in Kapitel 5.9 gegeben. Weiterhin ist

Rbd = gacRabcd = K gbd (5.221)

und R = gbdRbd = Kδbb = 2K . (5.222)

(iii) Wenn n = 3, hat Rabcd genau wie Rab sechs unabhängige Komponenten.Der Riemannsche Tensor läßt sich durch Ricci-Tensor und Ricci-Skalarausdrücken. Mit dem Schouten-Tensor kann man dies knapp schreiben als

Rabcd = (P ¯ g)abcd . (5.223)

(iv) Wenn n = 4, hat Rabcd zwanzig unabhängige Komponenten, wovon 10 Weyl-Tensordurch den Ricci-Tensor und 10 durch den Weyl-Tensor gegeben sind. DerWeyl-Tensor ist für n > 2 definiert durch

Wabcd = Rabcd − (P ¯ g)abcd , (5.224)

verschwindet also in 3 Dimensionen. Der Weyl-tensor hat dieselben Sym-metrien wie der Krümmungstensor. Zusätzlich ist er noch spurfrei, d.h., erverschwindet bei der Kontraktion zweier beliebiger Indizes.

25benannt nach Gregorio Ricci-Curbastro (1853 – 1925)26Der Paralleltransport ist trivial, da die Tangentialvektorräume eindimensional sind. Die Krüm-

mung der Einbettung einer Kurve in z.B. den R3 ist eine Eigenschaft der äußeren Geometrie undfür Wesen, die nur auf der Kurve leben, nicht durch Messungen feststellbar.

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Bemerkung 5.8.22. Wenn man das Urmeter halbiert, ändern sich Längenqua-drate und damit die Metrik zu gab 7→ 4gab. Man sieht leicht, daß Ra

bcd und Rab

invariant sind unter gab 7→Ω2 gab während gab sowie der KrümmungsskalarR = gabRab sich wie R 7→Ω−2R transformieren.

Interessanter ist eine ortsabhängige Skalentransformation.

Definition 5.8.23. Eine ortsabhängige SkalentransformationKonforme Transformation

gab(p) 7→Ω2(p) gab(p) (5.225)

wird konforme Transformation genannt. Da sich Skalarprodukte und Längen-quadrate gleich transformieren, bleiben Winkel zwischen 2 Vektoren vp,upunverändert.

Da in den Christoffelsymbolen etc. partielle Ableitungen von gab stehen, sindsie und auch der Krümmungstensor und der Ricci-Tensor unter einer solchenTransformation nicht invariant. Durch ortsabhängige Maßstabsveränderungenkann man eine flache Mannigfaltigkeit in eine mit Krümmung transformieren.

Definition 5.8.24. Eine Metrik, die durch eine konforme Transformation aufkonform flacheine flache Metrik abgebildet werden kann

gab =Ω2(p) gflachab (5.226)

heißt konform flach.

Satz 5.8.25. Es gilt:

(i) In zwei Dimensionen ist jede Metrik konform flach.

(ii) In n ≥ 4 Dimensionen ist eine Metrik konform flach genau dann, wenn ihrWeyl-Tensor Wabcd verschwindet.27

(iii) Der Weyl-Tensor ist invariant unter konformen Transformationen.

5.9 Innere und äußere Geometrie am Beispielvon 2 Dimensionen

Der hier beschriebene Apparat der Riemnnschen Geometrie – Metrik, Zusam-manhang, Krümmungstensor etc. – beschreibt die innere Geometrie einer Man-nigfaltigkeit, meßbar und erfahrbar von Wesen, die auf dieser Mannigfaltigkeitleben und Geometrie treiben.

Wenn man zum Beispiel gekrümmte Flächen im R3 studiert, wird man in derRegel auch die äußere Geometrie einer solchen Fläche erfassen, die durch ihreEinbettung in den R3 gegeben ist:

Sei S ⊂R3 eine Fläche. Um die Krümmung der Fläche an einem Punkt p ∈ S zucharakterisieren, gehen wir so vor: Sei ~n der Normalenvektor von S am Punkt p.Wir wählen eine Ebene Eo, die ~n enthält. Es gibt eine einparametrige Schar Eφ

solcher Ebenen, die durch eine Drehung von E0 um die Achse ~n um einen Winkelφ ∈ [0,π) entstehen. Der Schnitt Cφ = Eφ∩S jeder dieser Ebenen mit S ist eineKurve. Wir suchen den Kreis, dessen Mittelpunkt auf der durch ~n gegebenenGerade liegt und der sich im Punkt p optimal an die Kurve Cφ anschmiegt. Sein

27In 3 Dimensionen verschwindet der Weyl-Tensor immer, aber nicht alle Metriken sind konformflach. Dazu muß in 3 Dimensionen der sogenannte Cotton-Tensor verschwinden.

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Radius rφ ist ein Maß für die Krümmung dieser Kurve. Kleiner Radius bedeutetstarke Krümmung in p. Wir definieren die Krümmung in der Ebene Eφ als

k(φ)=± 1rφ

, (5.227)

~nC

00 π

k(φ)wobei das Vorzeichen davon abhängen soll, ob sich der anschmiegende Kreisauf der Seite des Normalenvektors ~n oder auf der entgegengesetzten Seite von Sbefindet.

Definition 5.9.1. Die beiden Hauptkrümmungen k1,k2 von S im Punkt p sinddas Maximum und das Minimum der Funktion k(φ):

k1 =minφ

k(φ) und k2 =maxφ

k(φ). (5.228)

Definition 5.9.2. Die Gaußsche Krümmung von S in p ist das Produkt derHauptkrümmungen: K = k1k2.

Die Gaußsche Krümmung ist positiv, wenn alle anschmiegenden Kreise aufderselben Seite von S liegen, wenn also die Umgebung von p wie eine Beule(k1,k2 < 0) oder Delle (k1,k2 > 0) aussieht. Die Gaußsche Krümmung ist negativ,wenn die Umgebung von p wie ein Sattelpunkt aussieht (k1 > 0, k2 < 0).

Während die Hauptkrümmungen von der äußeren Geometrie (Einbettung)abhängen, erkannte Gauß 1827, daß das Produkt der Hauptkrümmungen sichaus der Metrik auf S berechnen läßt, also eine Eigenschaft der inneren Geometrieist:

Satz 5.9.3 (Theorema egregium). Die Gaußsche Krümmung K ist eine Größe derinneren Geometrie von S.

Beispiel 5.9.4. Ein Zylinder Z = S1 ×R ist eine flache Mannigfaltigkeit. Es ist einStreifen Z = (x, y)|y ∈ R,0 ≤ x < 2π des R2 mit periodischen Randbedingungenx ∼ x+2πn, n ∈Z.

Wesen in der Zylinderwelt finden lokal die volle Gültigkeit der euklidischenGeometrie. Nur wenn sie sich aufmachen, die in der Ferne sichtbare Galaxie zubesuchen, stellen sie fest, daß sie in ihrer Heimatgalaxie ankommen.

Die äußere Geometrie dieser Welt in ihrer Standardeinbettung in den R3

erscheint dagegen gekrümmt: für die Hauptkrümmungen gilt k1 = 1 und k2 = 0.Damit ist jedoch die Gaußsche Krümmung K = k1k2 = 0.

~n

Bemerkung 5.9.5. Die Relativitätstheorie verwendet – philosophisch einleuchtend– nur die innere Geometrie der Raumzeit.

Sobald man allerdings Untermannigfaltigkeiten behandelt, wie z.B. die Dyna-mik raumartiger Hyperflächen, benötigt man auch den mathematischen Apparatder äußeren Geometrie, um die Einbettung der Hyperflächen in die Raumzeitvollständig beschreiben zu können.

5.10 Lorentz-MannigfaltigkeitenDefinition 5.10.1. Eine Semi-Remannsche Mannigfaltigkeit28 (M, g) der Si- Semi-Riemannsche Man-

nigfaltigkeitgnatur (p, q) ist eine glatte Mannigfaltigkeit, in der jeder TangentialraumTpM mit einer symmetrischen nichtentarteten Bilinearform gp der Signatur(p, q), p+ q = n, versehen ist, welche glatt von p abhängt. Mit anderen Worten:Auf M ist ein symmetrisches (0,2)-Tensorfeld gab gegeben, welches an jedemPunkt eine nichtentartete Bilinearform der Signatur (p, q) erzeugt.Das Feld g wird Metrik von (M, g) genannt.28auch Pseudo-Riemannsche Mannigfaltigkeit genannt

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Definition 5.10.2. Eine Semi-Riemannsche Mannigfaltigkeit der Signatur(n−1,1) oder (1,n−1) wird Lorentz-Mannigfaltigkeit genannt.

Sei (M, g) eine Lorentz-Mannigfaltigkeit. In den Tangentialräumen definiertdie Metrik durch gp(vp,vp)= const. 6= 0 Hyperflächen, die keine Ellipsoide wieim Riemannschen Fall, sondern Hyperboloide sind. Die Gleichung gp(vp,vp)= 0definiert einen Doppelkegel, den lokalen Lichtkegel.

Lorentz-Mannigfaltigkeiten sind also Mannigfaltigkeiten, deren Tangential-räume mit einem Lichtkegel und Einheitshyperboloiden g(v,v) =±1 versehensind.

5.10.1 Existenz einer Lorentz-MetrikWährend jede Mannigfaltigkeit M mit einer Riemannschen Metrik versehnewerden kann, erlaubt nicht jede Mannigfaltigkeit eine Lorentz-Metrik. Es gilt:

Satz 5.10.3. Eine Mannigfaltigkeit kann mit einer Lorentz-Metrik versehen wer-den genau dann, wenn man auf ihr ein stetiges Richtungsfeld definieren kann.

Ein Richtungsfeld lv ordnet jedem Punkt p ein ungeordnetes Paar lv = (vp,−vp)von nichtverschwindenden Vektoren, d.h., eine nichtorientierte Richtung p

zu.

Beweis. Sei (M, g) eine Lorentz-Mannigfaltigkeit. Sei hab eine beliebige Rie-mannsche Hilfsmetrik auf M. Dann hat die Eigenwertgleichung

gabvb =λ habvb (5.229)

stets einen negativen Eigenwert. Der entsprechende Eigenvektor kann normali-siert werden durch gabvavb =−1 und liefert ein Richtungsfeld auf M. Umgekehrt:wenn M ein Richtungsfeld (v,v) besitzt, können wir eine beliebige RiemannscheHilfsmetrik hab wählen und sie zu habvavb = 1 normalisieren. Dann ist

gab = hab −2 (hacvc)(hbdvd) (5.230)

eine Lorentz-Metrik auf M.

Beispiel 5.10.4. Nach dem Satz vom Igel (5.3.8) ist es nicht möglich, die SphäreS2 mit einer 2-dimensionalen Lorentz-Metrik zu versehen.Bemerkung 5.10.5. Man sieht im Beweis den geometrischen Hintergrund: EineLorentz-Struktur ist demnach genau dann möglich, wenn man M mit einerglobalen nichtsingulären Kurvenschar überziehen kann, die in jedem Punkt einezeitartige Richtung vorgibt.

Diese Kurvenschar ist natürlich nicht eindeutig. Verschiedene Hilfsmetrikenhab liefern verschiedene Richtungsfelder zur gleichen Lorentz-Metrik, die jedochalle in jedem Punkt im Inneren des lokalen Lichtkegels liegen.Bemerkung 5.10.6. Eine Lorentz-Mannigfaltigkeit kann demnach aufgefaßt wer-den als eine Riemannsche Mannigfaltigkeit (M,h, lv) mit einer RiemannschenMetrik h und einem Richtungsfeld lv. Auch zur Darstellung einer Lorentz-Mannigfaltigkeit als metrischen Raum im Sinne der Topologie braucht maneine Riemannsche Hilfsmetrik. In diesem Sinne sind Lorentz-Mannigfaltigkeitenspezielle Riemannsche Mannigfaltigkeiten.

Definition 5.10.7. Eine Lorentz-Mannigfaltigkeit (M, g) ist zeitorientierbar,zeitorientierbarwenn man das Richtungsfeld orientieren, d.h., auf stetige Weise ein Vorzeichenaus (v,−v) wählen kann. Mit anderen Worten: Eine Mannigfaltigkeit M erlaubteine zeitorientierte Lorentz-Metrik genau dann, wenn es ein nichtverschwinden-des stetiges Vektorfeld v auf M gibt. Man kann dann eine Lorentz-Metrik auf Mkonstruieren, so daß v an jedem Punkt zukunftsgerichtet zeitartig ist.

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In einer nicht zeitorientierbaren Welt gibt es geschlossene Kurven, nach derenDurchlauf sich die Zeitorientierung geändert hat. Der Reisende stellt also fest,daß nach seiner Rückkehr in die Heimat die Zeit dort für ihn rückwärts läuft.

Beispiel 5.10.8. Ein Möbiusband mit einem Richtungsfeld lv, welches vertikaleStreifen bildet, ist nicht zeitorientierbar, aber raumorientierbar:

Ein Möbiusband. Die roten Linien sind entsprechend der Pfeilrichtungzu identifizieren.

Man kann auch ein Richtungsfeld wählen, welches das Möbiusband mit einerzeitorientierbaren aber nicht raumorientierbaren Struktur versieht:

Die folgende Beobachtung deckt unseren Bedarf an Lorentz-Mannigfaltigkeiten:

Satz 5.10.9. Jede nichtkompakte Mannigfaltigkeit besitzt nichtverschwindendeVektorfelder und erlaubt damit eine zeitorientierbare Lorentz-Metrik.

5.10.2 Grundlegende Eigenschaften vonLorentz-Mannigfaltigkeiten

(i) Auch zu einer Lorentz-Metrik g liefert Gleichung (5.198) einen eindeutigentorsionsfreien metrikverträglichen Levi-Civita-Zusammenhang.

(ii) Alle in Kapitel 5.8.4 angeführten Eigenschaften des durch den Levi-Civita-Zusammenhang gegebenen Krümmungstensors sowie die Definitionen undEigenschaften von Ricci-Tensor etc. gelten auch für eine Lorentz-Metrik.

(iii) Eine Lorentz-Metrik definiert ein indefinites “Längenquadrat” g(v,v) vonVektoren. Damit werden die Tangentialvektoren eingeteilt in zeit-, licht-und raumartige Vektoren.

(iv) Definition 5.10.10. Wir nennen eine Kurve als Ganzes zeit-, licht- bzw.raumartig, wenn ihre Tangentialvektoren an jedem Punkt zeit-, licht- bzw.raumartig sind.

Die Weltlinie eines Teilchens mit Ruhemasse ist eine zeitartige Kurve.

(v) In einer Lorentz-Metrik definieren wir die Länge einer Kurve, indem wirunter der Wurzel den Betrag des “Längenquadrats” nehmen:

L(c)=∫ b

a

√∣∣g( .c(t), .c(t))∣∣ dt (5.231)

Die Kurven, für die δL = 0 ist, stimmen wie im Riemannschen Fall mitden Autoparallelen des Levi-Civita-Zusammenhangs überein und werdenGeodäten genannt.

Lemma 5.10.11. Eine Geodäte ist immer als Ganzes zeit-, licht- oder raum-artig, da das Längenquadrat des Tangentialvektors (+1,0 oder -1) unterParallelverschiebung konstant bleibt und Geodäten autoparallel sind.

• Für lichtartige Geodäten ist die Kurvenlänge ein Minimum L = 0.

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• Raumartige Geodäten sind nur ein Sattelpunkte des Längenfunktio-nals. Deformationen in raumartige Richtungen machen sie länger, derEinbau “lichtartiger Zacken” macht sie kürzer.

• Zeitartige Geodäten sind Maxima des Längenfunktionals. Ihre Eigen-länge wird Eigenzeit genannt. Geodäten sind also die Teilchenbahnenmaximaler Eigenzeit.

(vi) Die Lorentz-Metrik macht aus M keinen metrischen Raum im üblichenSinn. So gibt es zwischen zwei Punkten immer beliebig viele Kurven derLänge Null: , die aus lichtartige Segmenten besteht.

(vii) Fragen der geodätischen Vollständigkeit und Fortsetzbarkeit von Geodä-ten sind für Lorentz-Mannigfaltigkeiten wesentlich komplizierter als fürRiemannsche Mannigfaltigkeiten.

Es gibt keine dem Satz von Hopf-Rinow 5.8.12 vergleichbare einfache Cha-rakterisierung geodätischer Vollständigkeit bzw. Unvollständigkeit.

Dies ist physikalisch relevant, da sowohl der Urknall als auch die Singula-ritäten im Inneren schwarzer Löcher Singularitäten sind, über die hinausGeodäten nicht fortgesetzt werden können.

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5.11 Zusammenfassung

5.11.1 Überblick über die bisher behandeltengeometrischen Stukturen

Wir sind am (vorläufigen) Ende eines langen Weges durch eine Reihe von Kon-struktionen geometrischer Strukturen angekommen.

Topologische RäumeStetigkeit, Homöomorphismen⋃Lokal euklidische Räume

Atlas⋃Mannigfaltigkeiten

abzählbarer Atlas, hausdorffsch⋃Glatte Mannigfaltigkeiten

Diffeomorphismen, Tangentialbündel, Lie-Ableitung,Differentialformen, äußere Ableitung, Satz von Stokes⋃

MFT mit affinem ZusammenhangParalleltransport, affiner

Zusammenhang, Autoparallelen,Krümmung, Torsion⋃

MFT mit Torsion = 0symmetrischer Zusammenhang

⋃Finsler-MFT

Vektornorm, Kurvenlänge, Geodäten,Abstand, Vollständigkeit, Isometrien⋃

Riemannsche MFTSkalarprodukt, lokal euklidische Metrik⋃ ⋃

Riemannsche MFT mit Levi-Civita-ZusammenhangGeodäten = Autoparallelen

Paralleltransport erhält Vektornorm⋃Lorentz-MFT mit Levi-Civita-Zusammenhang

zeit-, licht- und raumartige Vektoren und Kurven, Kausalstruktur

Abb. 5.21: Hierarchie von Räumen und Konzepten

Bemerkung 5.11.1. Es ist eine physikalische, empirisch zu testende Aussage, daßsich die Raumzeit als Lorentz-Mannigfaltigkeit mit Levi-Civita-Zusammenhangbeschreiben läßt.

In der ART ist dies Ausdruck des Äquivalenzprinzips: Lokal gelten für Beob-achter, die sich auf Geodäten bewegen, die Gesetze des Minkowskiraumes. Alsoist die Metrik der Raumzeit lokal eine Minkowski-Metrik. Torsionseffekte undLängenänderungen werden bei Parallelverschiebung nicht beobachtet, also istder Levi-Civita-Zusammenhang der physikalische relevante Paralleltransport.

5.11.2 Überblick über die Ableitungsoperationen

1. Da der Buchstabe d etwas mit Bedeutungen überfrachtet ist, sei nocheinmal zusammengefaßt:

(i) df bezeichnet das aus der elementaren Analysis bekannte totaleDifferential einer Abbildung f : Rn →Rm, welches f an jedem Punktdurch eine lineare Abbildung approximiert.

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(ii) Dies wird verallgemeinert auf Abbildungen F : M → N von Man-nigfaltigkeiten. Dabei wird die Bedeutung des linearen OperatorsdF|p präzisiert: es ist eine lineare Abbildung der TangentialräumeTpM → T f (p)N.

(iii) Ein Spezialfall hiervon sind Skalarfelder f ∈ C∞(M), also Abbildun-gen f : M →R. Eine lineare Abbildung eines Vektorraumes V in denVektorraum R ist ein Element des Dualraumes V∗. Daher ist df indiesem Fall eine 1-Form, der Gradient df = ∂ f

∂xi dxi von f .

(iv) In einer Karte liefert die Koordinatisierungsabbildung p 7→ φ(p) =(x1(p), . . . , xn(p)) 7→ xi(p) lokale Skalarfelder xi(p), deren Differentialedxi an einem Ort p die Basis des Kotangentialraumes T∗

p M bilden.

(v) Die äußere Ableidung auf Differentialformen ist eine Verallgemeine-rung von (iii). Die Abbildung f 7→ df einer 0-Form auf eine 1-Formwird verallgemeinert zu einer Abbildung d : ω→ dω von k-Formen auf(k+1)-Formen.

n-Formen lassen sich über n-dimensionale Mannigfaltigkeiten inte-grieren. In lokalen Koordinaten hat dieses Integral

∫Mω die Darstel-

lung∫

M f dx1∧·· ·∧dxn und dies ist genau das, was in der elementarenAnalysis als Gebietsintegral

∫ ···∫M f dx1 . . .dxn bezeichnet wird.

Ansonsten multipliziert man Funktionen mit der Volumenform ε,um sie über einen Raum integrieren zu können. Dies liefert

∫M f ε=∫

M f√|det g| dx1 . . .dxn.

2. Ein Vektorfeld v erzeugt einen Fluß, der sich als einparametrige FamilieΦ(t) lokaler Diffeomorphismen interpretieren läßt. Dies ermöglicht die De-finition der Lie-Ableitung LvT eines Tensorfeldes T nach dem Vektorfeld v.Sie ist die Zeitableitung d

dt

∣∣t=0 des Pushforwards Φ∗(−t)T.

3. Eine Mannigfaltigkeit kann mit einem affinen Zusammenhang ausgestattetwerden. Dies ist eine Vorschrift für den infinitesimalen Paralleltransport,also eine Vorschrift über die Verklebung benachbarter Tangentialräume.Sie läßt sich zu einem globalen Paralleltransport längs Kurven integrierenund ermöglicht die Definition einer kovarianten Ableitung ∇vT von Tensor-feldern und damit auch die Definition von Krümmung und Torsion einerMannigfaltigkeit.

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