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DAVID FOSTER WALLACE Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich

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DAVID FOSTER WALLACE

Schrecklich amüsant –aber in Zukunft ohne mich

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Buch

Eine siebentägige Luxuskreuzfahrt in der Karibik – David Foster Wal-lace scheint das große Los gezogen zu haben. Im Auftrag von Harper’sMagazine soll er mit der grandiosen »Zenith« von Key West aus in Seestechen und alles aufschreiben, was er auf seiner Reise an Interessan-tem erlebt. Folgsam begibt er sich also in die kundigen Hände derCrew, deren Slogan »Your Pleasure is our Business« bisweilen einendrohenden Unterton annimmt. Er kämpft gegen die Angst, von sei-ner ungemein effizienten Unterdruck-Toilette entsorgt zu werden; ernimmt am Wettbewerb um die schönsten Männerbeine teil und belegteinen kläglichen dritten Platz; er beobachtet 500 amerikanische Leis-tungsträger beim Ententanz; er hört erwachsene US-Bürger am Info-Counter fragen, ob man beim Schnorcheln nass wird, ob die Crewebenfalls an Bord schläft oder um welche Uhrzeit das Mitternachts-Buffet eröffnet wird. Und am Ende der Kreuzfahrt ist er auch gern wie-der von Bord gegangen, reich beschenkt mit Eindrücken und Aben-teuern, die er in diesem hinreißend komischen Buch festgehalten hat.

Autor

David Foster Wallace, geboren 1962, lebt in Bloomingdale, Indiana.Er zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autoren seiner Genera-tion und gilt als »einer der wenigen Schriftsteller, der die Grenzen der

zeitgenössischen Literatur erweitern kann« (Don DeLillo).

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David Foster WallaceSchrecklich amüsant –aber in Zukunft ohne

mich

Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay

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Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel« Shipping Out« in Harper’s Magazine

Die hier veröffentlichte, erweiterte Fassung erschien 1997 unter dem Titel

»A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again« in dem Essayband

»A Supposedly Fun Think I’ll Never Do Again«bei Little, Brown and Company, New York

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das FSC-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher aus dem Goldmann-Verlag liefert Mochenwangen Papier.

Taschenbuchausgabe Januar 2006Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbHCopyright © der Originalausgabe 1996/1997 by

David Foster WallaceCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 by

marebuchbuchverlag, Hamburg

Umschlagfoto: The Image BankAB . Herstellung: Str.

Druck und Bindung GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

www.goldmann-verlag.de

SGS-COC-1940

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. Auflage4

ISBN 978-3-442-54229-1

Umschlaggestaltung: Design Team München

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Heute ist Samstag, der 18.März, und ich sitze im überfüll-ten Coffee-Shop auf dem Flughafen von Fort Lauderdaleund versuche, die vier Stunden Wartezeit zwischen demAuschecken auf dem Kreuzfahrtschiff und meinem Rück-flug nach Chicago totzuschlagen, indem ich all das, wasich im Rahmen der soeben abgeschlossenen Reportage ge-sehen, gehört und getan habe, noch einmal und in hypno-tischer Versenkung Revue passieren lasse.

Ich habe sacharinweiße Strände gesehen, Wasser vonhellstem Azur. Ich habe einen knallroten Jogginganzug ge-sehen, mit extrabreiten Revers. Ich habe erfahren, wie Son-nenmilch riecht, wenn sie auf 21.000 Pfund heißes Men-schenfleisch verteilt wird. Ich bin in drei Ländern mit«Mään» angeredet worden. Ich habe 500 amerikanischenLeistungsträgern beim Ententanz zugeschaut. Ich habeSonnenuntergänge erlebt, die aussahen wie nach einer di-gitalen Bildbearbeitung, und einen tropischen Mond, deram Himmel hing wie eine fette Zitrone – statt des sprödenGesteinsbrockens unter dem gewohnten US-Sternenzelt.

Ich habe mich sogar (wenn auch nur kurz) in eine Con-ga-Polonaise eingereiht.

Ich muss allerdings zugeben, dass ich wohl lediglichdurch eine Art Peter-Prinzip an den Job gekommen bin.Weil nämlich eine gewisse Edelgazette von der Ostküsteder Meinung war, mein erster Auftrag, ein formal nichtnäher festgelegtes «Feature» über die gute alte State Fair, sei

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Verwendete Acrobat Distiller 6.0.0 Joboptions
Dieser Report wurde mit Hilfe der Adobe Acrobat Distiller Erweiterung "Distiller Secrets v2.0.0" der IMPRESSED GmbH erstellt. Sie können diese Startup-Datei für die Distiller Versionen 6.0.x kostenlos unter www.impressed.de herunterladen. ALLGEMEIN ---------------------------------------- Beschreibung: Verwenden Sie diese Einstellungen, um einen Bericht über die PDF/X-3-Kompatibilität erhalten und PDF-Dokumente nur dann zu erstellen, wenn sie über diese Kompatibilität verfügen. PDF/X ist eine ISO-Norm zum Austausch von digitalen Druckvorlagen. Weitere Informationen zum Erstellen von PDF/X-3-kompatiblen PDF-Dokumenten finden Sie im Acrobat-Handbuch. Die PDF-Dokumente können mit Acrobat oder mit dem Reader 4.0 und höher geöffnet werden. Dateioptionen: Kompatibilität: PDF 1.3 Komprimierung auf Objektebene: Aus Seiten automatisch drehen: Aus Bund: Links Auflösung: 2400 dpi Alle Seiten Piktogramme einbetten: Nein Für schnelle Web-Anzeige optimieren: Nein Standardpapierformat: Breite: 133.7 Höhe: 208.25 mm KOMPRIMIERUNG ------------------------------------ Farbbilder: Neuberechnung: Bikubische Neuberechnung auf 300 ppi (Pixel pro Zoll) für Auflösung über 450 ppi (Pixel pro Zoll) Komprimierung: JPEG Bildqualität: Maximal Graustufenbilder: Neuberechnung: Bikubische Neuberechnung auf 300 ppi (Pixel pro Zoll) für Auflösung über 450 ppi (Pixel pro Zoll) Komprimierung: JPEG Bildqualität: Maximal Schwarzweißbilder: Neuberechnung: Bikubische Neuberechnung auf 1200 ppi (Pixel pro Zoll) für Auflösung über 1800 ppi (Pixel pro Zoll) Komprimierung: CCITT Gruppe 4 Mit Graustufen glätten: Aus FONTS -------------------------------------------- Alle Schriften einbetten: Ja Untergruppen aller eingebetteten Schriften: Ja Untergruppen, wenn benutzte Zeichen kleiner als: 100 % Wenn Einbetten fehlschlägt: Abbrechen Einbetten: Schrift immer einbetten: [ ] Schrift nie einbetten: [ ] FARBE -------------------------------------------- Farbmanagement: Farbmanagement: Farbe nicht ändern Wiedergabemethode: Standard Geräteabhängige Daten: Unterfarbreduktion und Schwarzaufbau beibehalten: Nein Transferfunktionen: Anwenden Rastereinstellungen beibehalten: Nein ERWEITERT ---------------------------------------- Optionen: Überschreiben der Adobe PDF-Einstellungen durch PostScript zulassen: Ja PostScript XObjects zulassen: Nein Farbverläufe in Smooth Shades konvertieren: Ja JDF-Datei (Job Definition Format) erstellen: Nein Level 2 copypage-Semantik beibehalten: Ja Einstellungen für Überdrucken beibehalten: Ja Überdruckstandard ist nicht Null: Ja Adobe PDF-Einstellungen in PDF-Datei speichern: Nein Ursprüngliche JPEG-Bilder wenn möglich in PDF speichern: Ja Portable Job Ticket in PDF-Datei speichern: Nein Prologue.ps und Epilogue.ps verwenden: Nein (DSC) Document Structuring Conventions: DSC-Kommentare verarbeiten: Ja DSC-Warnungen protokollieren: Nein Für EPS-Dateien Seitengröße ändern und Grafiken zentrieren: Ja EPS-Info von DSC beibehalten: Ja OPI-Kommentare beibehalten: Nein Dokumentinfo von DSC beibehalten: Ja PDF/X -------------------------------------------- PDF/X-Berichterstellung und Kompatibilität: PDF/X-1a: Nein PDF/X-3: Ja Wenn nicht kompatibel: Auftrag abbrechen Wenn kein Endformat- oder Objekt-Rahmen festgelegt ist: Links: 0.0 Rechts: 0.0 Oben: 0.0 Unten: 0.0 Wenn kein Anschnitt-Rahmen festgelegt ist: Anschnitt-Rahmen auf Medien-Rahmen festlegen: Ja Standardwerte, sofern nicht im Dokument festgelegt: Profilname für Ausgabe-Intention: Euroscale Coated v2 Ausgabebedingung: Registrierung (URL): http://www.color.org Überfüllung: "False" eingeben ANDERE ------------------------------------------- Distiller-Kern Version: 6010 ZIP-Komprimierung verwenden: Ja ASCII-Format: Nein Text und Vektorgrafiken komprimieren: Ja Farbbilder glätten: Nein Graustufenbilder glätten: Nein Bilder (< 257 Farben) in indizierten Farbraum konvertieren: Ja Bildspeicher: 1048576 Byte Optimierungen deaktivieren: 0 Transparenz zulassen: Nein sRGB Arbeitsfarbraum: sRGB IEC61966-2.1 DSC-Berichtstufe: 0 ENDE DES REPORTS --------------------------------- IMPRESSED GmbH Bahrenfelder Chaussee 49 22761 Hamburg, Germany Tel. +49 40 897189-0 Fax +49 40 897189-71 Email: [email protected] Web: www.impressed.de
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ganz gut gelaufen, haben sie mir diesmal diese superlaueKreuzfahrt-Geschichte anvertraut, wiederum ohne jedenHinweis darauf, was genau von mir erwartet wird. Den-noch hat sich für mich persönlich der Druck erhöht; dennbetrugen die Spesen für die State-Fair-Story (die Glücks-spiel-Verluste nicht eingerechnet) noch schlappe 27,00

Dollar, so müssen sie hier gleich 3.000 Dollar hinlegen,bevor auch nur eine einzige – womöglich auch noch «packende» – Zeile auf dem Papier steht. Und wann im-mer ich mich von Bord aus, über Satellitentelefon, bei ih-nen melde, versichern sie mir mit der größten Gelassen-heit, ich solle mir nicht so viele Gedanken machen. Mehrkriegt man von diesen Zeitungsleuten nicht zu hören,schon gar kein ehrliches Wort. Alles, was sie wollen, be-haupten sie, sei eine persönliche Doku-Postkarte im Breit-wandformat. Mit anderen Worten: Junge, lass dich feudaldurch die Karibik schippern und schreib einfach auf, wasdu gesehen hast.

Ich habe jede Menge weißer Ozeanriesen gesehen. Ichhabe Schwärme winziger Fische mit fluoreszierenden Flos-sen gesehen. Ich habe einen dreizehnjährigen Jungen gese-hen, der ein Toupet trug. (Die Fluorenz-Fische hielten sichan jeder Anlegestelle bevorzugt zwischen unserer Schiffs-wand und dem Beton der Kaimauer auf.) Ich habe dieNordküste von Jamaika gesehen. Ich habe die 145 Katzenim Haus von Ernest Hemingway in Key West, Florida, ge-sehen (gerochen übrigens auch). Ich kenne inzwischen denUnterschied zwischen einfachem Bingo und Prize-O und

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weiß, was ein Bingo Multi-Bonus ist. Ich habe Camcordergesehen, für die man eigentlich einen Kamerawagen ge-braucht hätte; ich habe Gepäckstücke, Sonnenbrillen undKneifer in schreienden Neonfarben gesehen, und ich habefestgestellt, dass es über zwanzig verschiedene Marken von Badelatschen gibt. Ich habe Steeldrums gehört undMeeresschneckenbeignets gegessen und war Zeuge, wie ei-ne Frau in Silberlamee einen gläsernen Aufzug von innenflächendeckend vollgekotzt hat. Ich habe im Zweiviertel-Takt von Siebzigerjahre-Disco-Musik den Arm gen Saal-decke gereckt, was ich seinerzeit (1977) ums Verreckennicht getan hätte.

Ich habe erfahren, dass jenseits von Ultra-ultra-Ultra-marinblau noch eine Steigerung möglich ist. Ich habewährend dieser einen Woche mehr und vor allem bessergegessen als jemals zuvor in meinem Leben, und währendich dies tat, habe ich am eigenen Leib den Unterschiedzwischen «Rollen» und «Stampfen» eines Schiffs beischwerer See erlebt. Ich habe mit eigenen Ohren gehört,wie ein Alleinunterhalter vor Publikum allen Ernstes sag-te: «Okay, jetzt aber Scherz beiseite ...» Ich habe blasslilaHosenanzüge gesehen, Sakkos von menstrualem Rosa,braun-violette Trainingsanzüge und weiße Freizeitschuhe,die ohne Socken getragen wurden. An den Blackjack-Tischen habe ich professionelle Kartengeberinnen erlebt,die so wunderschön waren, dass man dort gern den letztenDollar verzockt hätte. Ich habe erwachsene US-Bürger aus dem gehobenen Mittelstand gehört, erfolgreiche Ge-

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schäftsleute, die am Info-Counter wissen wollten, ob manbeim Schnorcheln nass wird, ob Skeetschießen im Freienstattfindet, ob die Crew ebenfalls an Bord schläft oder umwelche Uhrzeit das Midnight-Buffet eröffnet wird. Ichkenne die feinen cocktailogischen Unterschiede zwischeneinem Slippery Nipple und einem Fuzzy Navel. Ich weiß,was ein Coco Loco ist. In einer einzigen Woche war ich1500 Mal Zielobjekt des berühmten amerikanischen Ser-vice-Lächelns. Ich hatte zweimal Sonnenbrand, und zwei-mal hat sich die Haut geschält. Ich habe auf See Tontau-ben geschossen. Reicht das? Damals schien es nämlichnicht zu reichen. Ich habe den subtropischen Himmel wieein schweres Tuch über mir gespürt. Ein Dutzend Mal binich zusammengezuckt bei jenem alles durchbebendenDarmwind der Götter, der da heißt Nebelhorn. Ich habedie Grundlagen von Mah-Jong in mich aufgenommen, einzweitägiges Bridge-Turnier verfolgt (in Teilen), gelernt,wie man eine Rettungsweste über einem Smoking anlegt,und beim Schach gegen ein neunjähriges Mädchen ver-loren.

(Vielleicht sollte man korrekterweise sagen: Ich habeauf See nach Tontauben geschossen.)

Ich habe mit unterernährten Kindern um den Preis fürHalskettchen gefeilscht. Ich kenne jede denkbare Erklä-rung und Rechtfertigung eines Menschen, der 3.000 Dol-lar für eine Karibik-Kreuzfahrt ausgibt. Und ich musstemich schon sehr zusammenreißen, als mir ein echter Ja-maikaner original jamaikanisches Gras anbot.

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Einmal habe ich vom Oberdeck aus gesehen, wie dasniagarahafte Schraubenwasser der Steuerbordschraube dieauffällige Rückenflosse eines Hammerhais (nehme ich malan) umspülte.

Ich habe Reggae als Aufzugsmusik gehört – ein Ein-druck, für den mir die Worte fehlen. Ich weiß, was esheißt, wenn man vor der eigenen Toilette Angst hat. Ichhabe diesen typischen Seemannsgang bekommen undwäre ihn mittlerweile gern wieder los. Ich habe Kaviar ge-gessen und war mit dem kleinen Jungen neben mir amTisch einig: Das Zeug schmeckt voll abgeranzt.

Ich weiß jetzt, was sich hinter dem Begriff «Duty Free»verbirgt.

Ich kenne nun die Höchstgeschwindigkeit eines Kreuz-fahrtschiffs in Knoten.1 Ich habe viele leckere Sachen ge-gessen: escargots, Ente, Baked-Alaska, Lachs an Fenchel,einen Pelikan aus Marzipan und ein Omelette mit foren-sischen Spuren von echten oberitalienischen Trüffeln. Ichhabe Leute im Liegestuhl allen Ernstes behaupten hören,es sei ja weniger die Hitze als die enorme Luftfeuchtigkeit.Ich wurde, ganz wie versprochen, von morgens bis abendsund nach allen Regeln der schwimmenden Hotellerie ver-wöhnt. Und in dunklen Stunden habe ich Buch geführtüber alle Arten von persistierenden Erythemen, Keratino-sen, prämelanomischen Läsionen, Leberflecken, Ekzemen,

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1 (was genau ein Knoten ist, weiß ich allerdings immer nochnicht)

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Warzen, Zysten, Bierbäuchen, Cellulite-Fällen, Krampf-adern und Besenreisern, Collagenunterspritzungen undSilikonimplantaten, misslungenen Kolorationen undHaartransplantationen, die mir unter die Augen kamen.Kurz, ich habe sehr viele fast nackte Leute gesehen, die ichlieber nicht fast nackt gesehen hätte. Ich war streckenweiseso übel drauf wie seit der Pubertät nicht mehr und habebeinahe drei Mead-Kladden vollgeschrieben bei dem Ver-such, herauszufinden, am wem es denn nun lag, an ihnenoder bloß an mir. Ich habe Freund- und Feindschaften fürsLeben geschlossen. Dem Hotel-Manager des Schiffes et-wa, ein Mr.Dermatis, gehört mein ewiger Zorn, deshalbnenne ich ihn von jetzt an nur noch Mr.Dermatitis.2 MeinKellner hingegen hat sich bei mir die höchste Achtung er-worben. Und dem Kabinen-Steward in meinem Abschnittvon Deck 10/Backbord, einer gewissen Petra, war ich amEnde regelrecht verfallen. Petra mit den Grübchen unddem breiten, offenen Gesicht, Petra, angetan wie eineKrankenschwester in raschelndem Weiß, stets eingehüllt

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2 Irgendwie hatte er wohl den Eindruck gewonnen, ich sei in-vestigativer Journalist und wollte mich weder Küche noch Brückenoch die Mannschaftsdecks noch sonst etwas sehen lassen.Offizielle Interviews mit Mannschaft oder Servicepersonal warengleichfalls nicht gestattet. Selbst in Innenräumen trug er Sonnen-brille und seine Epauletten sowieso, und er telefonierte mir in sei-nem Büro endlos und auf Griechisch etwas vor, nachdem ich extraauf das Karaoke-Halbfinale in der Rendez-Vous-Lounge verzichtethatte, nur um ihn zu sprechen. Ich wünsche ihm alles Schlechte.

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in eine Wolke jenes norwegischen Zedernduft-Desinfek-tionsmittels, mit dem sie die Badezimmer wischte, Petra,die mindestens zehnmal am Tag jeden Quadratzentimetermeiner Kabine putzte, dabei aber nie beim eigentlichenPutzen anzutreffen war – ein zauberhaftes Wesen, daszweifellos eine eigene Doku-Postkarte wert wäre.

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Also noch einmal und diesmal etwas genauer: Vom 11. bis18.März 1995 unternahm ich freiwillig und gegen Be-zahlung eine siebentägige Karibik-Kreuzfahrt (der Kata-log spricht hier von einer 7-Night Caribbean oder «7NC»Cruise) an Bord der Zenith 3, einem 47.255-Tonnen-Schiffder Celebrity Cruises Inc., einer von den über zwanzigKreuzfahrtlinien, die von Südflorida aus operieren.4 Das

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3 Schon beim ersten Blick in den Celebrity-Cruises-Katalog wirdes sich kein Scherzbold verkneifen könne, den dummen NamenZenith in Nadir umzutaufen. Man verzeihe mir das. Gegen dasSchiff an sich habe ich überhaupt nichts.

4 Daneben gibt es auch Reedereien wie Windstar, Silversea, TallShip Adventures oder Windjammer Barefoot Cruises, aber derenSchiffe sind kleiner, und die angebotenen Reisen exklusiv bis zurUnerschwinglichkeit. Die Großen Zwanzig der Branche jedochbetreiben so genannte Megaschiffe, schwimmende Hochzeits-kuchen mit einer Bettenzahl weit im vierstelligen Bereich undSchiffsschrauben von der Größe einer Bankfiliale. Die Megalinesmit Heimathafen in Südflorida heißen Commodore, Costa, Ma-jesty, Regal, Dolphin, Princess, Royal Caribbean oder eben Cele-brity Cruises. Außerdem Renaissance, Royal Cruise Line, Hol-land, Holland America, Cunard, Cunard Crown, Cunard RoyalViking. Dann gibt es die Norwegian Cruise Line, die Crystal unddie Regency Cruises. Der WalMart in der Kreuzfahrtindustrie istCarnival, branchenintern auch «Carnivore» genannt. Ich weißnicht, zu welcher Linie die Pacific Princess aus der FernsehserieThe Love Boat gehörte (ich meine mich sogar zu erinnern, dass es

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Schiff mit seiner gesamten Einrichtung zählte, gemessenan den in dieser Branche üblichen und mir jetzt bekann-ten Standards, zur absoluten Spitzenklasse. Die Küche warexzellent, der Service hervorragend, und sowohl bei denLandgängen als auch dem Animationsprogramm an Bordhatte man nichts dem Zufall überlassen. Das Schiff war sosauber und weiß wie nach einer Kochwäsche. Das Bläueder westlichen Karibik variierte zwischen babyfarben undeinem fluoreszierenden Ultramarin, desgleichen der Him-

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sich um ein Fährschiff auf der Strecke Kalifornien – Hawaii han-delte, obwohl man sie auch sonst überall gesehen hat), aber in-zwischen hat Princess Cruises den Namen gekauft und benutztden armen alten Gavin MacLeod, ehedem Kapitän-Darsteller aufdem Serien-Pott, für seine TV-Werbung.

Grundsätzlich ist ein 7NC-Megaship – ähnlich wie ein Zer-störer – ein hochspezialisierter Schiffstyp, ein eigenes Genre so-zusagen. Alle Megalines haben mehrere Schiffe. Technisch undwirtschaftlich stammen sie von den patrizischen Transatlantik-Linern ab, etwa der Titanic oder der Normandie, die ihre Passa-giere nicht nur beförderten, sondern ihnen auch eine opulenteAusstattung boten. Die gegenwärtigen Zielgruppen und Markt-segmente im Kreuzfahrtgeschäft – ob Singles, Senioren oder spe-zielle «Themen»-Angebote wie eine Love-Boat-Revival-Rund-fahrt, ob Firmen-, Party-, Familienpakete, ob für die Holzklasse,Komfortklasse, Luxus- oder Luxus-de-luxe- oder Luxus-absurd-Klasse – stehen im Wesentlichen fest, sind weitgehend aufgeteiltund doch immer wieder hart umkämpft. (Der Konkurrenzkampfzwischen Carnival und Princess etwa, so war inoffiziell zu erfah-ren, hat inzwischen zu Auswüchsen geführt, die einem die Haarezu Berge stehen lassen.) Megaschiffe werden für gewöhnlich in

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mel. Die Lufttemperatur bewegte sich im gebärmütter-lichen Bereich. Die Sonne selbst schien auf maximaleAnnehmlichkeit voreingestellt. Auf zwei Passagiere kamen1,2 Crewmitglieder. Wie gesagt, eine Luxus-Kreuzfahrt.

Abgesehen von einigen unbedeutenden Varianten fürdas Nischenpublikum ist der Typus der 7NC-Luxus-Kreuzfahrt das Grund- und Erfolgsmodell schlechthin.Alle Megalines bieten mehr oder weniger dasselbe Produktan. Dieses Produkt ist weder eine Dienstleistung im her-kömmlichen Sinn noch verspricht es von vornherein Spaßpur. (Allerdings zeigt sich rasch, dass die Hauptaufgabe desCruise Director und seiner Leute darin besteht, genaudiese Spaß-Philosophie im Gast dauerhaft zu verankern.)Im Grunde geht es also eher um ein Gefühl, das in einemselbst hergestellt wird und das insofern – als Gefühl eben– nicht mit einer Produktgarantie versehen werden kann.Das gewünschte Gefühl beruht auf einer Mischung aus

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Amerika entworfen, in Deutschland gebaut, unter Billigflaggenwie Liberia bzw. Monrovia registriert, meistens von skandinavi-schen oder griechischen Gesellschaften betrieben und von einemskandinavischen oder griechischen Kapitän befehligt. Dieses De-tail ist nicht ganz uninteressant, denn Skandinavier und Griechenhaben die Seefahrt seit jeher beherrscht. Celebrity Cruises gehörtzur Chandris Group, deshalb ist das große X auf den Schornstei-nen ihrer drei Schiffe auch kein X, sondern ein griechisches Chi,Chi für Chandris, eine Reederfamilie so alt und mächtig, dass sieoffenbar sogar einen Onassis für einen dahergelaufenen Strolchhielten.

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Entpannung und Stimulation, stressfreiem Relaxen inKombination mit einem touristischen Rahmenprogramm,das es in sich hat, kompromisslosem Service und Bevor-mundung, die unter dem Begriff «verwöhnen» läuft. DieKataloge praktisch aller Megalines sind geradezu durch-setzt von dem Wort verwöhnen. Beispiele: «Lassen Sie sich an Bord verwöhnen wie noch nie zuvor in Ihrem Le-ben ... », «... und verwöhnen Sie sich in unserem Wellness-Bereich mit den verschiedensten Saunen und Whirl-pools ... », «Wir haben uns zum Ziel gesetzt, Sie rundumzu verwöhnen», «Gönnen Sie sich etwas. Warum lassen Siesich nicht einmal von der milden Brise auf den Bahamasverwöhnen?»

Die Tatsache, dass auch für andere Konsumgüter mitjener Verwöhn-Qualität geworben wird, kommt sichernicht von ungefähr und ist den PR-Agenturen der Mega-lines auch nicht verborgen geblieben. Sie haben jedochgute Gründe, voll auf dieses Zauberwort zu setzen, getreudem Leitsatz «Penetranz geht vor Varianz».

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Einige Wochen vor meiner Kreuzfahrt berichteten dieNachrichten in Chicago vom Selbstmord eines sechzehn-jährigen Jugendlichen. Der Junge war vom Oberdeck einesLuxuskreuzers (entweder der Carnival- oder der Crystal-Linie) in den Tod gesprungen, der Medienversion nach ausLiebeskummer, als Reaktion auf eine unglückliche Liebeleian Bord. Ich persönlich aber glaube, dass noch etwas ande-res im Spiel war, etwas, über das man in einer Nachrich-tenstory nicht schreiben kann.

Denn alle diese Kreuzfahrten umgibt etwas unerträg-lich Trauriges. Und wie bei den meisten unerträglich trau-rigen Sachen ist die Ursache komplex und schwer zu fas-sen, auch wenn man die Wirkung sofort spürt: An Bordder Nadir überkam mich – vor allem nachts, wenn derberuhigende Spaß- und Lärmpegel seinen Tiefpunkt er-reichte – regelrecht Verzweiflung. Zugegeben, das WortVerzweiflung klingt mittlerweile ziemlich abgegriffen,doch es ist ein ernstes Wort, und ich verwende es im Ernst.Für mich bedeutet Verzweiflung zum einen Todessehn-sucht, aber verbunden mit dem vernichtenden Gefühl dereigenen Bedeutungslosigkeit, hinter der sich wiederum dieAngst vor dem Sterben verbirgt. Elend ist vielleicht derbessere Ausdruck. Man möchte sterben, um der Wahrheitnicht ins Auge blicken zu müssen, der Wahrheit nämlich,dass man nichts weiter ist als klein, schwach und egois-tisch – und dass man mit absoluter Sicherheit irgendwann

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sterben wird. In solchen Stunden möchte man am liebstenüber Bord springen.

Ich wage einmal die Voraussage, dass der Redakteur dieletzten Sätze streichen wird. Aber egal, so viel zur Personmuss erlaubt sein. Denn für einen wie mich, der bis zu die-ser Kreuzfahrt noch nie auf See gewesen ist, war der Oze-an immer gleichbedeutend mit Grauen und Tod. Als Kindlernte ich die Einzelheiten sämtlicher bekannt gewordenerHaiangriffe auswendig. Aber nicht einfach nur Angriffe,sondern vornehmlich solche mit tödlichem Ausgang. Bei-spielsweise den Fall Albert Kogler vor Baker’s Beach, Kali-fornien 1959 (Weißer Hai). Oder das Schlachtfest nachdem Untergang der USS Indianapolis, 1945 als Folge einesTorpedoangriffs in philippinischen Gewässern (beteiligt:eine Vielzahl von Arten, laut offizieller Darstellung haupt-sächlich Tiger- und Blauhaie).5 Oder der Hai mit derhöchsten Opferrate, 1916 vor Matawan/Spring Lake, New

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5 Ich zitiere aus dem Gedächtnis, ein Buch brauche ich nicht. Ichkann immer noch die gesamte Verlustliste der Indianapolis her-unterbeten, zum Teil mit Personenkennziffer und Heimatort.(Hunderte von Toten, 80 davon eindeutig durch Haiattacken,Zeitraum: 7.‒10.August 1945. Ironiker, aufgepasst: Die Indiana-polis hatte auf der Insel Tinian soeben eine Bombe namens LittleBoy gelöscht, zur Weiterbeförderung – per Luftfracht – nachHiroshima. Robert Shaw als Quint erzählt die Geschichte 1975 inDer Weiße Hai, ein Film, der, wie man sich unschwer vorstellenkann, für einen Dreizehnjährigen reine Fetisch-Pornographiewar.)

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Jersey (abermals ein Weißer Hai; aber sie fingen auch einenMenschenhai, in dessen Gastrointestinaltrakt menschlicheKörperteile gefunden wurden (ich weiß sogar, welche undvon wem)). In der Schule habe ich drei verschiedene Auf-sätze über das Kapitel «Der Verstoßene» aus Moby-Dick ge-schrieben, wo Pip, der Schiffsjunge, über Bord geht und inder unendlichen Leere des Ozeans den Verstand verliert.Und wann immer ich heute als Lehrer vor einer Schul-klasse stehe, gebe ich den Schülern Stephen Cranes «Dasoffene Boot» zu lesen – und verstehe jedes Mal die Weltnicht mehr, wenn die Kids diese Alptraum-Geschichteentweder langweilig oder viel zu reißerisch finden. Dabeimöchte ich ihnen doch nur etwas von demselben ozea-nischen Grauen vermitteln, das auch ich immer empfun-den habe, eine Ahnung vom Meer als urzeitlichem nada,als bodenlosem Nichts, von Tiefen, aus denen feixende,zahnbewehrte Kreaturen zu dir aufsteigen, so schnell, wieeine Feder zu Boden schwebt. Jedenfalls meldete sich aufdieser Luxus-Kreuzfahrt6 mein atavistischer und lange

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6 Jawohl, ich gebe es zu: Am ersten Abend meiner 7NC fragteich die Küchen-Mannschaft des bordeigenen Fünf-Sterne-Res-taurants Caravelle, ob sie vielleicht einen Eimer Bratfett au juserübrigen könnten, um damit von der Heck-Reling aus Haieanzulocken. Die Bitte erschien jedoch allen, vom Küchenchef an-gefangen bis hinunter zum Tellerwäscher, als kränkend, ja, alskrank, und heute sehe ich sie als kapitalen journalistischen Feh-ler. Denn ich bin mir fast sicher, mein an sich harmloses Ansin-nen wurde sogleich an Mr.Dermatitis weitergeleitet und hatte

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unterdrückter Hai-Horror-Tick verstärkt zurück und ließmich wegen der einen (mutmaßlichen) Haiflosse, die ichsteuerbords entdeckt hatte, ein solches Theater aufführen,dass mir meine Tischgenossen von Tisch 64 schließlich mitgrößtmöglichem Takt bedeuteten, ich möge endlich dieKlappe halten.

Ebenfalls kein Zufall ist, dass diese 7NC-Luxus-Kreuz-fahrten vor allem ältere Leute ansprechen. Ich meine nichtsteinalt-abgelebt, sondern die Altersgruppe der Über-Fünfzigjährigen, denen die eigene Hinfälligkeit kein ab-strakter Begriff mehr ist. Tagsüber fiel es besonders auf:Die teilentblößten Leiber, die ich auf der Nadir zu sehenbekam, befanden sich in mannigfaltigen Stadien körper-lichen Zerfalls. Wie ja das Meer überhaupt eine einzigegroße Zersetzungsmaschine ist. (Das Wasser, wie ich fest-stellen musste, so rachenspülungssalzig, sein Gischthauchso korrosiv, dass ich die Gelenke meiner Brille wohl repa-

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meine Verbannung aus Küche und Mannschaftsquartier zur Fol-ge. Wenn ich also nicht von der Welt hinter den Kulissen der Na-dir berichten kann, dann liegt es an meiner eigenen Dummheit.(Und es zeigte auch, wie wenig Ahnung ich von den tatsächlichenDimensionen eines Kreuzfahrtschiffs hatte. Ein Eimer mit Bra-tenfett, über die Reling von Deck 12 gekippt, also aus zirka fünf-zig Metern Höhe, wäre bestenfalls als feiner bräunlicher Schleierauf der Wasseroberfläche niedergegangen, mit einer Blut- undGewebekonzentration, über die ein richtiger Hai nur hätte lachenkönnen. Außerdem wäre aus dieser Entfernung die Rückenflosseeines Hais kaum größer gewesen als ein Stecknadelkopf.)

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rieren lassen muss.) Meerwasser zerstört jedes Schiff in er-staunlichem Tempo, verwandelt Stahl in Rost, lässt Farbensich pellen, Lacke bröseln, vernichtet Glanz, überziehtBordwände mit Muscheln und Algen und einem allgegen-wärtigen maritimen Schmodder, der wie der Tod selberscheint. In den Häfen ließ sich das ganze Elend gut beob-achten. Der Horror: Kähne, die aussahen wie in Säure undScheiße getaucht, über und über mit Ausschlag bedeckt,Rost und Schleim, zerfressen von dem, worin sie schwim-men.

Nicht so die Schiffe der Megalines. Sie sind allesamtweiß und sauber, denn ihr Zweck ist nicht zuletzt, den cal-vinistischen Triumph von Kapital und Industrie über diearchaische Zerstörungskraft der See zu repräsentieren. DieNadir beschäftigte ein ganzes Bataillon von wuseligenDrittwelt-Gestalten, die in ihren blauen Overalls tagein,tagaus das Schiff nach etwaigen Zeichen beginnendenGammels absuchten. Der Autor Frank Conroy («Alle Zeitder Welt») schreibt in einer Art Werbeessay auf den erstenSeiten des Celebrity-Cruises-Katalogs: «Ich betrachtete esals eine Art persönliche Herausforderung, irgendwo anBord ein Zeichen mangelhafter Wartung zu entdecken, einangelaufenes Messingteil, eine angestoßene Reling, einSchmutzfleck auf dem Deck, ein lockeres Kabel, irgend-etwas, das nicht hundertprozentig tipptopp war. Endlich,gegen Ende der Reise, fand ich, was ich suchte, ein Gang-spill7 mit einer etwa halbdollargroßen Roststelle auf der

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7 (offenbar eine Schiffswinde, so etwas wie ein anabolgedopterFlaschenzug)

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Außenbordseite. Allerdings wurde meine Freude über denwinzigen Makel jäh unterbrochen, als ein Matrose mitFarbeimer und -roller anrückte. Ich konnte zusehen, wieer die komplette Gangspill frisch anstrich und sich miteinem kurzen Nicken wieder entfernte.»

Denn darum geht es. Ein Urlaub bedeutet Schonungvor den Unannehmlichkeiten des Lebens, und da dasWissen um Tod und Untergang mit ziemlicher Sicherheitunangenehm ist, mag es verwundern, warum der alter-native amerikanische Traumurlaub ausgerechnet darinbesteht, in eine archaische Todesmaschine gepfercht zuwerden. Doch auf einer 7NC-Luxus-Kreuzfahrt arbeitetman geschickt am Traum vom Sieg über eben diesen Todund Untergang. Eine Methode des Siegs über den Todbesteht in eiserner Ertüchtigung; die überbordenden War-tungsanstrengungen der Nadir-Mannschaft finden ihreplumpe Entsprechung im Aufbauprogramm für die Passa-giere: Diät, Fitnessübungen, Megavitamin-Nahrungser-gänzungs-Schnickschnack, kosmetische Chirurgie, Frank-Quest-Zeitmanagement-Seminare usw.

Natürlich gibt es, Stichwort Tod, noch eine zweiteMöglichkeit. Nicht durch Ertüchtigung, sondern durchErregung. Nicht durch harte Arbeit, sondern durch gna-denloses Vergnügen. Schier unübersehbar ist der 7NC-Veranstaltungskalender mit seinen Spiel- und Spaßaktivi-täten. Bordfeste, Disco und Bühnenshows verbreiten einepermanente Partylaune, kitzeln das Adrenalin, machenmüde Knochen munter. Hier spielt die Musik, pulsiert das

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Leben. Welche unglaublichen Weiterungsmöglichkeitender Existenz!8 Allerdings wird die Todesfurcht nicht so sehrüberwunden als ausgeblendet. «Nach dem Dinner treffenSie sich mit Ihren Freunden9 in der Lounge, ehe es heißt‹Vorhang auf für unser Showprogramm!› Doch damitnicht genug. Spätestens nach dem begeisterten Applauswird jemand aus Ihrem Freundeskreis10 die Frage stellen:‹Und was machen wir jetzt?› Wie wäre es mit einem Ab-stecher ins Casino oder in die Disco? Oder lieber zu einem‹Absacker› in unsere stilvolle Piano-Bar? Oder was haltenSie von einem Spaziergang auf Deck, unter dem stern-glänzenden Nachthimmel? Der Möglichkeiten sind viele,und es wäre nicht verwunderlich, wenn Sie am Ende sag-ten: ‹Warum nicht alles zusammen? Let’s do it all! ›»

Okay, das klingt nicht gerade nach Dante, und dennochist der 7NC-Katalog ein geniales und wirkmächtiges

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8 Auf jedem Deck der Nadir, vor jedem Aufzug, an jeder Kreu-zung in den Gängen, hängen sie, diese Übersichtskarten, jede miteinem roten Punkt und dem Hinweis SIE SIND HIER. Wirk-lich, es sind Hunderte. Aber schon bald ahnt man, dass sie weni-ger der Orientierung als der Beruhigung dienen.

9 Auffällig in diesem Katalog der ständige Verweis auf irgend-welche «Freunde». Unverzichtbarer Bestandteil der Erlösung vonder Todesfurcht ist, dass auf einem Kreuzschiff niemand je alleinbleibt.

10 Q. e. d.

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

David Foster Wallace

Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich

Taschenbuch, Broschur, 192 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-54229-1

Goldmann

Erscheinungstermin: Dezember 2005

Eine siebentägige Luxuskreuzfahrt in der Karibik – kann es eine kürzere Definition fürdie Hölle geben? Im Auftrag von Harper’s Magazine hat sich David Foster Wallace anBord der Zenith begeben und ist von Key West aus in See gestochen. Seine hinreißendkomischen Beobachtungen über das Leben an Bord dieser schwimmenden Hochzeitstorte,über eigentümliche Reisegenossen, unvergessliche Landgänge und den Terror desAmüsierzwangswerden jedem Leser Lachtränen in die Augen treiben.