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65 JB2010 Programmfamilie und Partnerschaften.pdf · schem Zungenschlag zu durchleuchten und on air wie mittlerweile auch online abzubilden. »Kulturzeit« ist mehr als Ausstellungskritik

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Programmfamilie und Partnerschaften

»Willkommen zur ›Kulturzeit‹« – seit 15 Jahren werden Zuschauer und Zuschauerinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit diesen Worten um 19.20 Uhr auf 3sat begrüßt. Noch nicht einmal volljährig ist die Sendung und doch schon erwachsen. Ja, mehr noch: Die »Kulturzeit« ist eine Institution im deutsch-sprachigen Fernsehen.

Am 2. Oktober 1995 sendete 3sat erstmals »Kul-turzeit«. Der Auftakt war ein Paukenschlag. Da ging nicht nur ein weiteres Kulturmagazin an den Start, sondern da startete ein TV-Experiment: ein aktuelles Live-Kulturmagazin, täglich produziert, 35 Minuten lang, mit einem Sendeplatz zwischen »heute« und »Tagesschau«, der in der Kampfzone europäischen Informationsfernsehens liegt. Heute, nach über 3 500 »Kulturzeit«-Sendungen und 156 Ausgaben von »Kulturzeit extra«, ist die Sendung der Leithammel in der Herde des audiovisuellen Feuilletons – selbstbewusst, Anstoß gebend, manchmal auch anstößig. Die Sendung, mit dem Grimme-Preis ebenso ausgezeichnet wie dem Deutschen Fernsehpreis, hat das Genre Kultur-magazin derart entscheidend geprägt, dass alle anderen ihrer Art heute an dem Mainzer Produkt gemessen werden. Das Ergebnis ist deutlich: Die »Kulturzeit« sucht bis heute ihresgleichen.

Dieser durchschlagende Erfolg ist nicht selbstver-ständlich. Die Gestehungsbedingungen für das Magazin sind alles andere als eine Garantie für Platz eins unter den Kultursendungen. Die vier 3sat-Partner ZDF, ORF, SRG und ARD arbeiten an dem täglich frisch hergestellten Produkt in einer gemeinsamen Redaktion, die von einer ZDF/ARD-Doppelspitze geleitet wird. Jede Anstalt stellt einen Moderator im Wochenwechsel. Und täglich wird diskutiert, gestritten und entschieden, welche

Beiträge neu produziert, welche von den Kultur-magazinen der Muttersender übernommen wer-den, wie der Gestus, die Haltung der Sendung sich formuliert. Doch gerade was unmöglich er-scheint, ist die Bedingung fürs Gelingen. Kolle-ginnen und Kollegen aus drei Ländern und vier TV-Kulturen halten sich gegenseitig den Spiegel vor und ringen darum, den Tag mit feuilletonisti-schem Zungenschlag zu durchleuchten und on air wie mittlerweile auch online abzubilden.

»Kulturzeit« ist mehr als Ausstellungskritik und be-bilderte Theaterrezension, sie ist das intelligente Fernrohr, mit dem wir in die Lage versetzt werden, die Geschehnisse des Tages genau zu betrach-ten. Denn wer die Welt durchs Fernrohr betrachtet, sieht nicht das Auffällige und Oberflächliche, son-dern entdeckt das Versteckte und die Details.

Es gibt viele beispielhafte »Kulturzeit«-Sendungen, in denen das eingelöst wurde, was Redaktions-

leiter Armin Conrad so beschreibt: »Die Kulturwelt hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Projektionsfläche ist eben nicht mehr nur das be-stuhlte Parkett, sondern eine in ihrer Größe kaum zu kalkulierende Gemeinde von Multiplikatoren (auch) im Internet. Mehr als je zuvor ist eine täg-liche Kultursendung daher vonnöten, welche die Welt von ihrem kulturellen Gestus her begreift, vermittelt und einordnet.« So konfrontierte »Kultur-zeit« beispielsweise Bertelsmann mit der stets

Kulturfernsehen mit Haltung I 195

Kulturfernsehen mit Haltung15 Jahre »Kulturzeit«

Daniel FiedlerKoordinator ZDFkultur/3sat

Cécile Schortmann, »Kulturzeit«-Moderatorin seit März 2008 (ARD):»Kultur hält wach! ›Kulturzeit‹ bietet die große Chance, aufmerksamer in die Welt zu blicken, hin-ter die Dinge zu schauen und nach neuen Per-spektiven zu suchen.« Cécile Schortmann

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verleugneten Zusammenarbeit mit den National-sozialisten. So schuf die Redaktion den TÜV für die Kulturhauptstädte und moderierte scheinbar rücksichtslos eine ganze Sendung auf Latein. Und während der Dekonstruktion der Studiodekoration im März 2008 wurde folgerichtig auch die Sen-dung dekonstruiert, und Katrin Bauerfeind tobte sich zwei Wochen lang auf der »Baustelle Kultur-zeit« aus.

»Kulturzeit«, das zeigen diese Beispiele, be-schränkt sich nicht aufs Betrachten und Abbilden der Dinge. Der mittlerweile sprichwörtliche »kultur-zeitgemäße« Zugang zu einem Thema (um den die Redaktion bei jedem Beitrag, bei jedem Mode-rationssatz ringt) verlangt mehr. Es geht um Ein-ordnung, um Urteilskraft, um Haltung zu unserer Welt. Dies nicht verstanden als Verlautbarung der Redaktion, sondern als tägliche Denk- und Unter-haltungsübung zusammen mit den Zuschauern und Zuschauerinnen. Den Finger in die Wunde zu legen, den Nagel auf den Kopf zu treffen – dies ist

der Anspruch, dem sich das Magazin täglich neu stellt. Und neu zu stellen hat.

Es gibt nicht viele Sendungen im deutschspra-chigen Fernsehen, von denen behauptet werden kann, sie seien unverzichtbar. Die »Kulturzeit« ge-hört dazu, ohne Zweifel. Sie verkörpert Vielfalt, sie informiert, sie kommentiert, sie eckt von Zeit zu Zeit an und schießt auch mal übers Ziel hinaus. Aber sie lebt und atmet. Happy Birthday, »Kulturzeit«.

Das neue »Kulturzeit«-Studio

Ernst A. Grandits

Andrea Meier, »Kulturzeit«-Moderatorin seit August 2004 (SF):»Kultur ist das Rückrat einer Gesellschaft. Demo-kratie kann nur da funktionieren, wo auch die Kultur zu Hause ist. Und wenn wir Albert Einstein glau-ben, dann ist unser aktuelles Weltbild nur eine Fik-tion. Deshalb ist ›Kulturzeit‹ täglich auf den Spuren unterschiedlicher Weltbilder und hinterfragt sie.«

Tina Mendelsohn, »Kulturzeit«-Moderatorin seit September 2001 (ZDF):»Kultur (und ›Kulturzeit‹) beschwören unsere kom-plizierten Zeitgeister und leisten Lebenshilfe. Kultur schafft das, was die Götter für die alten Grichen taten: Drama, Sinnstiftung und Weissagung.«

Ernst A. Grandits, »Kulturzeit«-Moderator seit De-zember 1996 (ORF):»Kulturelle Hervorbringungen helfen uns, Fragen zu beantworten. Fragen an uns selbst und an unser Zusammenleben. Und sie werfen neue Fra-gen auf. Genau das macht ›Kulturzeit‹. Mit den Kulturszenen der 3sat-Länder und der Welt Fragen beantworten und neue Fragen stellen.«

»Kulturzeit«-Moderatorin Andrea Meier

Tina Mendelsohn

I 197ARTE wird 20

ARTE feiert – und sucht selbst nach 20 Jah-ren gelegentlich noch sein Gleichgewicht. Im Tauziehen zwischen Qualität und Quote dauerhaft Position zu beziehen, erfordert Mut, Ideen und Standfestigkeit. Und Gelassenheit.

ARTE – das war fast 20 Jahre lang dasselbe Bild zur selben Zeit in beiden Ländern. Als im Januar 2010 begonnen wurde, das ARTE-Programm in der Primetime in Deutschland und Frankreich – angeglichen an die unterschiedlichen Sehge-wohnheiten – zeitversetzt auszustrahlen, galt dies nicht wenigen im ARTE-Kosmos als Menetekel, als Anfang vom Ende. Aber war diese so heftig umstrittene Maßnahme nicht überfälliges Signal gewachsener Selbstverständlichkeiten, viel eher also das Ende vom Anfang?

Immerhin wird ARTE, dieses beachtliche und ein-malige Projekt eines Fernsehprogramms für zwei Nationen, 20 Jahre alt. Am 2. Oktober 2010 jährte sich die Unterzeichnung des zwischenstaatlichen Vertrages zwischen der französischen Republik und den damals noch elf deutschen Ländern. ARTE feierte dies in Paris mit der französischen Erstaufführung von Fritz Langs rekonstruiertem

und vervollständigtem deutschen Stummfilmklas-siker »Metropolis« im Théâtre du Châtelet. Im Frühjahr 1991 waren dann die Gründung der ARTE Deutschland TV GmbH und der Gemein-schaftseinrichtung in Straßburg gefolgt. Und am 30. Mai 2012 jährt sich schließlich zum 20. Mal der Tag, an dem ARTE den Sendebetrieb aufnahm, noch weit davon entfernt, ein 24-Stunden-Sender zu sein. Rückblickend darf man, muss man ARTE eine ungebrochene Erfolgsgeschichte bescheini-gen. Und dennoch hat ARTE auch nach 20 Jahren eine Grundspannung, eine gelegentlich verstö-rende Nervosität nicht abgelegt. Das Ende vom Anfang? Der Anfang vom Ende?

Nie zuvor war das Konkurrenzangebot auf dem TV-Markt so groß, der Druck, demselben standzu-halten, so mächtig, nie zuvor stand die Diskussion um Legitimation und Selbstverständnis des öffent-lich-rechtlichen Fernsehens stärker im Blickpunkt. Zu unterschiedlich sind dabei die aktuellen Bedin-gungen, die medialen Entwicklungen in Deutsch-land und Frankreich: In Deutschland ist ARTE sta-bil, sehr anerkannt, nicht ohne Erfolg auch in den Quoten. In Frankreich jedoch, wo ARTE über viele Jahre gerade einmal einer von sieben war, haben die neuen, seit 2005 entstandenen digitalen Kanä-le mittlerweile bereits einen Marktanteil von 34 Prozent erobert, zu Lasten aller etablierten Sen-der, auch zu Lasten von ARTE. Generelle wirt-schaftliche Zwänge, medienpolitische Weichen-stellungen gerade in Frankreich, verbunden mit einer beobachteten und mehr noch befürchteten Re-Nationalisierung europäischer Politik, verunsichern.

Dabei ist ARTE bestens gerüstet – übrigens auch dank der besonderen französischen Leidenschaft für technologische Innovation, für jegliche Form

ARTE wird 20Kompetenz und Kreativität unter einem Dach

Heiko HolefleischKoordinator ARTE

»Metropolis«: Erfinder Rotwang (Rudolf Klein-Rogge) erschafft den Maschinenmenschent

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der Erneuerung. Gerade in den letzten beiden Jahren hat ARTE unter Beweis stellen können, welche kollektive Kraft, welcher kreative Schub in dieser deutsch-französischen Maschinerie ste-cken kann. Auch heute noch bietet ARTE ein auf dem europäischen Markt einzigartiges Programm. Noch immer ist die Marke ARTE ein Synonym für hochwertiges verantwortungsvolles Fernsehen, steht sie für Innovation.

Bereits im Jahr 2008 begann ARTE als erster öf-fentlich-rechtlicher Sender mit einer Systematisie-rung seines HDTV-Angebots. Jahr für Jahr stieg der Anteil nativer HD-Programme um 30 Prozent, sodass im Jahr 2010 im Tagesdurchschnitt sieben Stunden natives HD-Programm auf ARTE zu sehen war.

Trendsetter war ARTE auch mit seiner Onlineplatt-form ARTE+7, die den Zuschauern die Möglich-keit gibt, bis zu sieben Tage nach der TV-Aus-strahlung auf eine Sendung zuzugreifen. 65 Pro-zent des ARTE-Fernsehprogramms waren im Jahr 2010 schon auf diese Weise on demand abrufbar. ARTE+7 trägt veränderten Nutzungsgewohn-heiten Rechnung, was mehr als zwei Millionen Videoabrufe pro Monat belegen.

Starke Partnerschaften, neue Wege der Verbrei-tung und die Vervielfachung eines kulturellen, qualitativ konkurrenzlosen Programmangebots

kennzeichnen ARTE Live Web, die Performing-Arts-Seite von ARTE. Theater, Festivals und Kon-zertveranstalter haben das Potenzial erkannt und leisten ihren Beitrag zu einem lebendigen Auftritt. Auch solche kulturellen Veranstaltungen, die im Fernsehen sonst keinen Platz fänden, können so einem großen Publikum zugänglich gemacht wer-den. Allein in den ersten neun Monaten des Jah-res 2010 wurden dort 541 Konzerte, darunter 216 Liveaufzeichnungen online gestellt und blieben einen bis sechs Monate verfügbar.

Das Talenthaus ARTE wird zukünftig auch als Werkstatt und Marktplatz der Kreativität wahrge-nommen werden. Wenn nämlich ab Februar 2011 die interaktive Plattform ARTE Creative das Ange-bot des Senders vervollständigt. ARTE Creative wird ein redaktionell betreutes internationales Netzwerk für junge Künstler und Kulturschaffende sein, das herausragende Arbeiten aller kreativen Felder, von der aktuellen Kunstszene über Popkul-tur bis hin zu Design und Architektur vorstellt und miteinander verknüpft. Hochschulen, Festivals, Museen sind die interessierten Partner und wer-den Teil einer lebendigen ARTE-Community wer-den. Das Beste wird seinen Weg in den Sender selbst finden.

Auch im Jahr eins nach 20 wird es, jedem vorgeb-lichen oder realen Legitimations- oder Quoten-druck trotzend, keinen Abriss, keine Diskrepanz

»Durch die Nacht mit ...«: Wolfgang Joop und Bill Kaulitz in

Paris

»Armadillo«: der dänische Soldat Lars Skree beim Kampfeinsatz in

Afghanistan

I 199ARTE wird 20

zwischen dem engagierten Gesamtauftritt des Unternehmens und seinem realen Angebot auf dem Schirm selbst geben können. Dort wird ARTE gesehen, und dort hat es 2010 Bemerkenswertes geleistet.

Nie zuvor in der von Preisen und Auszeichnungen durchaus verwöhnten Geschichte von ARTE ist es gelungen, mit seinen internationalen Koprodukti-onen im selben Jahr sowohl den Goldenen Bären als auch die Goldene Palme zu erringen. Anfang des Jahres hatte der türkische Film »Bal – Honig« von Semih Kaplanoglu bereits den höchsten Preis der Berlinale erhalten. Die bedeutendste Aus-zeichnung aus Frankreich wurde dem thailän-dischen Regisseur Apichatpong Weerasethakul für seinen Film »Uncle Boonmee who can recall his past lives« zugesprochen. Beide Filme stehen zudem, gemeinsam mit drei weiteren internationa-len Spielfilm-Koproduktionen von ZDF/ARTE, auf der Pre-Nominierungsliste für den Oscar als »Bes-ter fremdsprachiger Film 2010«. Mit dem Grand Prix de la Semaine de la Critique wurde in Cannes der dänische Afghanistan-Dokumentarfilm »Arma-dillo« von Janus Metz ausgezeichnet.

Zwei der zahlreichen Liveereignisse des Jahres stehen exemplarisch für das große Spektrum, Kompetenz und Kreativität, die ARTE charakteri-siert und befördert: die Welturaufführung des ver-vollständigten Stummfilms »Metropolis« zeitgleich in Berlin und Frankfurt sowie live übertragen von der Berlinale am 12. Februar. Und die Übertra-gung der Uraufführung von Jens Joneleits und René Polleschs Oper »Metanoia. Über das Den-

ken hinaus« aus dem Berliner Schillertheater unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim und in der Inszenierung von Christoph Schlingen-sief, der wenige Tage zuvor verstorben war. Auch diese beiden ARTE-Programme sind ZDF- Einbringungen.

Seit nunmehr 20 Jahren bietet ARTE internationale Koproduktionen, Autorenfilme, Schwerpunkte und Themenabende, Dokumentationen sowie kreative Formate, die dem Zuschauer einen neuen Blick auf Europa, die Kultur und das Leben verschaffen. ARTE informiert, belebt, bereichert. Dies gilt es zu bewahren. Daher darf ein Jubiläum auch die Leis-tungen der Vergangenheit herausstellen. 18 inter-nationale ARTE-Koproduktionen aus den letzten fünf Jahren, ausgezeichnete Hervorbringungen des Autorenkinos, für das ARTE stets stritt und erste Adresse war, wurden daher in den letzten beiden Novemberwochen des Jahres 2010 zur TV-Erstausstrahlung gebracht. Diese Bilanz ist zu-gleich Ansporn.

Bernard-Henri Lévy, französischer Publizist und Philosoph, übertrieb im Jubiläumstaumel des Herbstes 2010 schrecklich maßlos und schön: »ARTE ist […] ein Lebensraum von Künstlern, eine Werkstatt der möglichen Kreation, ein Reservoir der Formen, eine Republik des Geistes. […] Man muss ARTE verteidigen und erstrahlen lassen. Man muss diesen unwahrscheinlichen Körper, der so etwas wie das Haupt des kranken Mannes ist, den man heute Europa nennt, schützen und bei Kräften halten.« Auf Deutsch gesagt: Es ist noch nichts verloren.

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»Wickie … und die starken Männer«, der Zei-chentrickklassiker aus dem Jahr 1974, war der Prototyp. Um die Originalbücher von Runer Jonsson qualitativ hochwertig umset-zen zu können, beschlossen die Verantwort-lichen für das ZDF-Kinderprogramm, mit in-ternationalen Partnern zusammenzuarbeiten und entwickelten ein effizientes Finanzie-rungssystem. Die erste internationale Kopro-duktion im Kinderprogramm war geboren. Dieses Erfolgsmodell funktioniert auch heute noch wunderbar, wie die Geschichte von »H2O – Plötzlich Meerjungfrau« beweist.

2010 ist das Jahr der Meerjungfrau, zumindest im Bereich der internationalen Koproduktionen der Hauptredaktion Kinder- und Jugend: Unsere ZDF-Erfolgsserie »H2O – Plötzlich Meerjungfrau« ist mittlerweile fast überall auf der Welt präsent. In London ließ Nickelodeon die »H2O«-Stars auf die berühmten roten Doppeldeckerbusse plakatie-ren – »H2O« wurde Stadtgespräch. In Shanghai erarbeitet in diesem Jahr Zhong TianXiao, Studio Fantasia, das Design der Animationsserie »H2O – Plötzlich Meerjungfrau« und kreiert eine Unterwas-serwelt im Zeichentrickformat. Das Team in Shang-hai arbeitet dabei gemeinsam mit dem Studio Les Cartooneurs aus Paris. Zwischen Mainz und Bris-bane gibt es bereits Überlegungen für drei »H2O«-Spielfilme, und in Hamburg wurde die dritte und zunächst letzte Staffel der Serie synchronisiert.

Die Geschichte der drei Meerjungfrauen begann 2005 auf einer Parkbank in Cannes während der Internationalen Fernsehmesse. Jonathan M. Shiff, unser langjähriger Produktionspartner aus Austra-lien, dachte mit uns gemeinsam über ein neues Projekt nach. Es sollte nicht nur wieder in Australi-en und Deutschland ein Erfolg sein, sondern Kin-

der auf der ganzen Welt ansprechen. Seit einigen Jahren hatten ZDF tivi und ZDF Enterprises sowie Jonathan M. Shiff bereits Kinder- und Jugendse-rien mit Fantasy- und Science-Fiction-Elementen erfolgreich produziert, beispielsweise »Total Geni-al« und andere. Das neue Projekt sollte genau in diese Richtung gehen. Wir wollten zeigen, wie das Wunderbare und Märchenhafte den Weg in den Alltag von Kindern und Jugendlichen im 21. Jahr-hundert findet.

Gemeinsam entwickelten wir die Story von den drei Teenagern Emma, Cleo und Rikki, die sich bei der geringsten Berührung mit Wasser in Meer-jungfrauen verwandeln – dank einer geheimnis-vollen Macht, die bei Vollmond ihre ganze Kraft entfaltet. All dies sorgt in dem ohnehin schon ver-wirrenden Alltag der Teenager für reichlich Chaos, da niemand etwas von diesem fantastischen Ge-heimnis erfahren darf.

Mit viel Herzblut wurde an der australischen Gold-küste gecastet, ausgestattet, gedreht und ge-schnitten. Alle Arbeitsschritte zwischen Deutsch-land und Australien diskutiert, abgestimmt, ge-meinsam entschieden. Entstanden ist ein Format, das offensichtlich den Geschmack der Kinder ge-troffen hat und auch älteren Zielgruppen Spaß macht: Ein durchschnittlicher Marktanteil bei den Zehn- bis 13-Jährigen von 20,6 Prozent im KI.KA, 16,2 Prozent bei ZDF tivi (bei den Drei- bis 13-Jährigen) und ein überzeugender Gesamtmarkt-anteil (bis zu 17,2 Prozent am frühen Sonntagmor-gen) beweisen, dass «H2O« ein Programm für die ganze Familie ist.

Bei so vielen Fans war ein opulentes Onlineange-bot obligatorisch. Auch hier ist das Ergebnis be-achtlich: Mit dem Start der dritten Staffel im Mai

Internationale Koproduktionen im Kinderprogramm»H2O« – ein Erfolgsmodell

Nicole KeebHauptredaktion Kinder und Jugend, Leiterin der Stabsstelle Programmeinkauf und Koproduktionen

I 201Internationale Koproduktionen im Kinderprogramm

2010 rangiert der Titel auf Platz drei im ZDF-Ran-king. Außerdem sind die »H2O«-Internetseiten mit 6,8 Millionen Pageimpressions das bisher belieb-teste Angebot bei www.zdftivi.de überhaupt, die »H2O«-Abrufvideos erzielten im Mai 2010 einen Rekordwert von 1,18 Millionen Sichtungen.

In der Psyma Research+Consulting-Studie von 2008 zum Thema wird das Phänomen wie folgt erklärt: »Die Serie bietet einen interessanten Mix aus Realität und Fantasie, ist spannend und mit Humor angereichert. Genau diese einzigartige Kombination begeistert die Zuschauer. Die ma-gischen Elemente der Geschichten versprühen eine geheimnisvolle Aura und wecken sowohl bei Jung als auch bei Alt Fantasie und laden zum Träumen ein«.

Das Konzept von »H2O« taugt aber nicht nur für den deutschen Fernsehmarkt, auch die internatio-nale Erfolgsbilanz kann sich sehen lassen. Die bisher 78 Folgen wurden von ZDF Enterprises in 148 Länder verkauft, von 100 Millionen Menschen weltweit gesehen und wurden – erstmals für eine außerhalb der USA produzierte Kinderserie – von Nickelodeon US übernommen.

Kinder auf der ganzen Welt durchleben dieselben Entwicklungsphasen und haben sehr ähnliche Wünsche und Fantasien. Genau da setzen wir mit unseren Ideen und Konzepten für Produktionen

an, sei es im Live-Action-Bereich oder bei Anima-tionsserien. Im Kinderprogramm bietet sich des-halb eine Zusammenarbeit auf internationaler Ebene besonders an. Bestimmte universelle The-men können wir durch spannende Geschichten – wie zum Beispiel die Abenteuer der Meerjung-frauen – für unsere jungen Zuschauer weltweit aufarbeiten. Die märchenhafte und fantastische Überhöhung eines Themas wie bei »H2O« macht die Geschichten überall verständlich.

Animationsserien haben es traditionell leichter auf internationalem Parkett. Sie entstehen auch wegen der hohen Herstellungskosten oft in Partner-schaften mit Produzenten und Sendern aus ver-schiedenen Ländern. Im ZDF-Kinderprogramm hat man übrigens schon Anfang der 70er Jahre die Vorteile dieser Koproduktionen erkannt. Be-reits »Wickie … und die starken Männer«, später »Heidi« und »Die Biene Maja« wurden zusammen mit internationalen Partnern und Taurusfilm in Japan produziert. Das ZDF-Kinderprogramm setzt auch heute auf langjährige internationale Partner-schaften (in diesem Fall mit unserem austra-lischen Produzenten). Denn im Bereich der Live-Action-Serien ist es erfahrungsgemäß noch kom-plizierter als bei der Animation, thematisch und vor allem künstlerisch einen Konsens zu finden, einen »Look and Feel« des Programms zu kre-ieren, der auch weltweit das Publikum fesselt, wie dies mit »H2O« gelungen ist. Nur gemeinsam und in vertrauensvoller Zusammenarbeit konnten wir inhaltlich sowie finanziell die Voraussetzungen für ein derartig opulentes Programm voller Special Effects und Unterwasseraufnahmen schaffen.

Mit »Dance Academy«, unserer neuesten Drama-serie, erweitern wir das Portfolio der deutsch-aus-tralischen Koproduktionen. Diesmal geht es um die 16-jährige Tanzstudentin Tara aus dem austra-lischen Outback, die sich an Sydneys berühmter »Academy of Dance« strengen Lehrern, freund-lichen und weniger freundlichen Kommilitonen »H2O – Plötzlich Meerjungfrau«

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und den Gefahren einer Großstadt stellen muss. Diese Teenserie bedient die Themen, die für diese Zielgruppe relevant sind. Es geht unter anderem um die emotionale Abgrenzung von Eltern und Lehrern, um Selbstfindung, um die Gefahr durch Drogenmissbrauch, die Ausgrenzung religiöser Minderheiten sowie um erste Liebe und Sexualität. Trotz der sehr realitätsnahen Schilderung des All-tags in der Leistungsgesellschaft der »Dance Academy« geht es auch in dieser Serie um einen Traum: Wird unsere Heldin Tara es schaffen, Pri-maballerina zu werden? Diese Story steht stellver-tretend für die unterschiedlichsten Lebensträume und Lebensentwürfe der Zuschauer und bietet starkes Identifikationspotenzial für ein weltweites Publikum. In der Kernzielgruppe der Zehn- bis 13-Jährigen erreicht der Titel im ZDF 16,3 Prozent Marktanteil durchschnittlich. Auf dem stark um-kämpften und sehr schwierigen Abendsendeplatz im KI.KA zehn Prozent Marktanteil bei den Drei- bis 13-Jährigen. Auch hier scheint der Nerv der Zuschauer getroffen: ZDF Enterprises hat die Serie seit ihrem Launch im April 2010 bereits in 42 Länder verkauft.

Das ZDF-Kinderprogramm beteiligt sich jährlich an bis zu 20 verschiedenen internationalen Kopro-duktionen. Dies ist nicht nur finanziell interessant, sondern bietet auch inhaltlich und redaktionell eine große Bereicherung. Natürlich funktioniert dies nur mit Partnern, die so wie wir ein hochwer-tiges und anspruchsvolles Programm schaffen wollen. So war es eine der interessantesten Auf-gaben der vergangenen Jahre, die Adaption des Kinderbuchklassikers Der kleine Nick gemeinsam mit dem französischen Sender M6 auf den Weg

zu bringen. Der Titel gehört sowohl in Frankreich als auch in Deutschland zum Kanon der geho-benen Kinderliteratur. Selbstverständlich war auch hier die ZDF-Redaktion inhaltlich intensiv einge-bunden. Der Erfolg gibt uns Recht: Die nachmit-tägliche Ausstrahlung im KI.KA erzielt aktuell bis zu 80 Prozent Marktanteil in der Kernzielgruppe der Drei- bis Fünfjährigen und bei den Drei- bis 13-Jährigen dreißig Prozent Marktanteil durchschnittlich.

Ein weiteres Beispiel: Mit der indischen Produkti-onsfirma DQ-Entertainment entwickeln und pro-duzieren wir gemeinsam (sowie mit ZDF Enter-prises und TF1 in Frankreich) »Das Dschungel-buch«. Auch dies ist ein Stoff, der weltweit bekannt ist. Die Kollegen aus Hyderabad produzieren unter anderem für Disney und andere Majors, bringen Mickey, Tinkerbell und Co. seit Jahren in Millionen Wohnzimmer. Hier liegt die redaktionelle Führung ebenfalls beim Team von ZDF tivi. Kiplings Klassiker ist nur der Anfang der erfolgreichen Zu-sammenarbeit. »Das Dschungelbuch« wird vor-aussichtlich Ende 2011 in ZDF und KI.KA ausge-strahlt, weitere Adaptionen wie »Peter Pan« sind in Planung.

Wir setzen auch zukünftig auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Sendern und Produzenten aus anderen Ländern, denen wir partnerschaftlich verbunden sind und deren Know-how wir schät-zen. ZDF und ZDF Enterprises wiederum sind im Bereich dieser Koproduktionen weltweit zu einer festen Größe und zu einem begehrten Partner ge-worden. Den Vorteil hat das Publikum. Ob Wickie das 1974 schon geahnt hat?

I 203Kultur und Passion

Mit den »schönsten Opern aller Zeiten« hat der ZDFtheaterkanal gleich zum Jahresauftakt einen beachtlichen Programmerfolg feiern dürfen. Kultur kann, darf, muss aber nicht unterhaltend sein, und mitunter wird sie zur Passion im doppelten Sinne des Wortes.

Die LeichtigkeitslügeSo überschreibt Holger Noltze ein lesenswertes, unlängst in der edition Körber-Stiftung erschie-nenes Büchlein. Er schreibt über Musik, Medien und Komplexität. Dabei geht er im Grunde von einer einfachen These aus, die der Komiker und Volksschauspieler Karl Valentin einst unübertrof-fen und deshalb viel zitiert auf den Punkt gebracht hat: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.« Dem stellt Noltze den Bekömmlichkeitswahn der avancierten Mediengesellschaft entgegen, die dazu neigt, die Dinge bis zur Unkenntlichkeit zu vereinfachen, um sie damit für eine möglichst große Zahl von Zuschauern oder Zuhörern zu-gänglich zu machen. Ästhetische Wahrnehmung jedoch auf ein bloßes Vermittlungsproblem herun-terzubrechen, erscheint dem Autor zu kurz gegrif-fen. Es erfordert eine gewisse Anstrengung, zu-sammen mit einer Mischung aus Kompetenz und Übung, bestimmte Formen kultivierter Artikulation zu begreifen und ihre Schönheit zu ermessen. Und die Medien scheuen genau diese Anstren-gung wie der Teufel das Weihwasser. Vor allem dann, wenn sie sich als Massenmedium begreifen und ihr Erfolg rein quantitativ gemessen wird.

Der Eintritt in die Internetgesellschaft hat diese Tendenz in gewisser Weise noch verschärft. Nicht nur, weil Sehgewohnheiten sich weiter ändern und die durchschnittliche Verweildauer eines durch-schnittlichen Zuschauers, bezogen auf einen ein-zelnen Filmbeitrag, weiter schrumpft. Ein mäch-

tiger zusätzlicher Kombattant im Dauerkrieg um die Aufmerksamkeit hat sich breit gemacht, der mit kurzer Taktung und unendlicher Vielfalt be-sticht und seinem Publikum, den »Usern«, das Gefühl aktiver Teilnahme, ja sogar der Interaktivi-tät, vermittelt und das zunehmend nachfrageori-entierte Fernsehen damit weiter unter Druck setzt. Niederschwelligkeit des Zugangs ist dabei das Zauberwort so mancher Diskussion, wie denn auf solcherlei Tendenzen zu reagieren sei. Dabei hat es sich längst herumgesprochen, dass freier Ein-tritt und barrierefreie Zugangswege allein noch lange nicht ausreichen, damit das Publikum auch wirklich kommt.

Das Englische wird im Deutschen gerne dann verwendet, wenn bestimmte Werte ins Spiel ge-bracht werden, die – deutsch ausgedrückt – »un-cool« wirken und also in der Diskussion weniger Gehör zu finden drohen. »Content« ist so ein Wort. Wir brauchen »Content«, unser Angebot muss »content driven« sein, sonst ist es nur »more of the same«, und ein bloßes »me too« als »add on« des medialen Grundrauschens reicht nicht aus, um Profil zu gewinnen und auffindbar zu sein. Man könnte auch von Inhalten sprechen, um die es geht. Und: Wer nichts Neues zu sagen hat, der sollte einfach mal die Klappe halten.

Der ZDFtheaterkanal und die Programmgruppe Theater, die im Bereich der darstellenden Künste bis hin zu Tanz und Popmusik für eine ganze Reihe von Beiträgen auch zu den Programmen von ARTE und 3sat verantwortlich zeichnen, haben, wie alle anderen Marktteilnehmer in die-sem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends auch, mit diesem Grunddilemma des Kulturfern-sehens umgehen müssen. Und gerade im Jahr 2010 fällt die Bilanz gar nicht so ernüchternd aus,

Kultur und Passion ...oder: Das Kunstkatastrophenpanoptikum

Wolfgang BergmannKoordinator ZDFtheaterkanal

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wie die Prediger vom kulturellen Untergang des Abendlandes es uns verheißen. Jedoch es gibt sie, die Leichtigkeitslüge und – ja, die Schwierig-keiten der massenhaften Verbreitung anspruchs-voller Kultur als bloßes Vermittlungsproblem zu beschreiben, wäre zu kurz gegriffen.

Trotzdem und erst recht lohnt es sich, an den For-men der Vermittlung immer wieder neu zu arbei-ten, alte Zöpfe abzuschneiden und Grenzen auf-zulösen, da, wo sie keinen Sinn mehr machen.

Unsinn ist es beispielsweise, den spielerischen Zugang zur »Hochkultur« als trivialen Frevel zu stigmatisieren. Spielen macht Spaß, und der Mensch ist spätestens seit Schiller sowieso erst da ganz Mensch, wo er spielt. Ob die ersten künstlerischen Artikulationen unserer Vorfahren eher spielerischer oder grüblerischer Natur waren, das finden wir nicht mehr heraus, und vielleicht waren es ja sogar beide Motive gemeinsam, die Knochen zu Flöten und Höhlenwände zu Gemäl-den werden ließen.

Und so hat es allen, die mitgemacht haben, offen-sichtlich großen Spaß bereitet, zum Auftakt der neuen Dekade via 3sat, ZDFtheaterkanal und Classica »Die schönste Oper aller Zeiten« auszu-wählen, obwohl wir alle wissen, dass solche Wah-len mitunter wenig über die wahrhaftige Schönheit der Gewählten auszusagen vermögen. Da wurde

tausendfach und eifrig über Sinn und Unsinn eines solchen »Votings« in den Foren diskutiert. Aber auch in würdiger Schönschrift verfasste Briefe älterer Zuschauerinnen und Zuschauer er-reichten die Redaktion in Massen, worin zu lesen war, man fände eine solche Abstimmung zwar ei-gentlich überflüssig, sehe die schönen Opern und die Dokumentationen aber sehr gerne und wolle schließlich nicht verschweigen, dass man »La Tra-viata« aus vielen Gründen eben doch für die schönste halte und also diesem Werk die Stimme gebe. Schmunzeln in der Redaktion. Oft.

Ein beispielloser Erfolg für die drei beteiligten Spartenprogramme war dieser Programmschwer-punkt zum Jahreswechsel, nicht nur, was die Masse des zuschauenden Publikums, sondern auch, was die Qualität der aufgelegten Pro-gramme anbetrifft, darin waren sich am Ende alle einig. Und sogar die Goldene Rose von Luzern befand die Abschlussshow einer Nominierung zur besten Unterhaltungssendung des Jahres in Eu-ropa würdig. Unterhaltung? Ja, Unterhaltung!

Kultur kann, darf, muss nicht, unterhaltend sein. Das fand auch einer der Gäste dieser Abschluss-sendung »Die schönsten Opern aller Zeiten – Das Finale«: Christoph Schlingensief. Und erzählte uns von seinem neuesten Projekt, dem Operndorf in Afrika, das nächste Kapitel seines unendlichen Messdiener-Welt-Aktionskunst-Provokationsphil-

»Die schönsten Opern aller Zeiten- Finalshow«: Mirjam Weichselbraun

und Jonas Frank beim Voting

»Pitié« in Kinshasa: Quan Bui Ngoc als Jesus

I 205Kultur und Passion

antropentheaters, mit dem er sein Publikum unun-terbrochen in Atem hielt. Rastlos, unverschämt, unverständlich, sinnlich, verstörend, ratlos und Ratlosigkeit verstreuend, heilsbringend, unheils-dräuend, ständig um andere besorgt, unendlich egoistisch – so widersprüchlich und polar wie die graumelierte Haarmähne auf seinem Kopf, die stets sorgfältig in alle Himmelsrichtungen ausein-andergezupft erschien. Er hat die Methoden und Techniken der Mediengesellschaften gekannt, dieser virtuose Verwirrer von Sinn und Sinnlich-keiten, Bedeutung und Quatsch, Spiel und Ernst.

Und er hat sie benutzt und ausgenutzt für seine ganz persönliche Mission, für seine Sicht der Dinge, zur Darstellung seines offenen, kruden Weltbildes, dem wir alle zu keinem Zeitpunkt wirk-lich folgen konnten. Doch was er uns lange als Fluxus-durchdrungene Freakshow verkaufen woll-te, das war in Wirklichkeit seine Passion, und es war eine Passion im doppelten Sinne des Wortes. Leidenschaft und Kreuzweg sind zuweilen mit denselben Steinen gepflastert. Der Messdiener, Kunstmessias, Wagner-Flüsterer und Kettensä-genwüterich, der Armenspeiser und Flüchtlings-held hat sich schließlich mit seinem Krebs öffent-lich ans Kreuz genagelt und ist im Sommer ge-storben. Und als er dann da lag in seinem Sarg in der Herz-Jesu-Kirche in seiner Geburtsstadt Ober-hausen, jener Kirche, die er für seine vom ZDF-theaterkanal festgehaltene Inszenierung »Kirche

der Angst« hat auf der Bühne nachbauen lassen, um darin seine Krankheit, seine wilde Lebensgier und das Verwirrspiel seiner Fantasien zu einem weiteren, bemerkenswerten Höhepunkt zu führen, da hat jeder gedacht: Jetzt kommt er gleich um die Ecke und ruft »Halleluja«, und das Spiel geht weiter, alles geht weiter, so wie es immer weiterge-gangen ist in Schlingensiefs verspieltem Kunstka-tastrophenpanoptikum. Aber er blieb liegen. War und bleibt für immer fort. Ein Programmschwer-punkt wider Willen für 3sat, ARTE und den ZDF-theaterkanal, den sich alle unter anderen Auspizi-en gewünscht hätten. Die Arbeiten an seinem Operndorf werden weiter gehen, ein von Sibylle Dahrendorf begonnener Dokumentarfilm wird sie weiter begleiten.

Erst die eigene Leidensgeschichte von Christoph Schlingensief und die Art, wie er damit umgegan-gen ist, haben den Künstler zum ganz großen Thema der Massenmedien werden lassen. Ist die öffentliche Selbstverbrennung, der Autodafé, das letzte probate Mittel der Kunst, um im Krieg um die massenhafte öffentliche Aufmerksamkeit Ter-rain zu gewinnen? »Genauso ist es«, kräht der Kulturpessimist und hat ja irgendwie auch Recht damit. Aber der Fall Christoph Schlingensief geht viel tiefer für den, der sich mit seiner Kunst wirklich beschäftigt. Da ist sie wieder, die Leichtigkeitslü-ge, und es lohnt sich immer, genauer hinzuschauen.

»Kasimir und Karoline«: Golo Euler und Christina Hecke

Tanztheater von Pina Bausch

Christoph Schlingensief

2010.Jahrbuch206 I

Einer, der so genau hinschaut wie kaum ein ande-rer, ist der flämische Choreograph Alain Platel. Auch er hat eine Passion hinter sich, und er erzählt uns rückblickend in einem Frankfurter Café davon, just an jenem Nachmittag, an dem uns dann die Todesnachricht von Christoph Schlingensief er-reicht. Es ist die »Matthäuspassion« von Johann Sebastian Bach, die Platel zur Grundlage eines merkwürdigen Tanztheaters machte, in dem er To-dessehnsucht und Lebensgier aufwühlend inein-anderchoreographiert, schwer zu Begreifendes, aber eindrücklich, weil die Aufführung einen nicht loslässt. Kann man so etwas Schweres, Kompli-ziertes im Fernsehen zeigen?

Hauptdarsteller dieser auf der ganzen Welt ge-zeigten Matthäuspassion mit dem Titel »Pitié«, was soviel heißt wie »Gnade«, ist ein zwanzig Jahre junger kongolesischer Countertenor. Er spielt den Jesus, singt wie die Jungfrau Maria selbst und erreicht die Seele auch derjenigen, die den Abend ansonsten nicht verstehen. Die Welt-tournee endet in seiner Heimat, im Kongo, in der Hauptstadt Kinshasa, und wir entschließen uns, der filmischen Auseinandersetzung mit diesem Werk den Rahmen zu geben, nämlich dieser letz-ten Reise des Stücks nach Kongo. Brigitte Kramer und Jörg Jeshel, zwei erfahrene Dokumentarfilm-autoren, machen den Film und schaffen gleich dreierlei: Sie erleichtern dem Publikum tatsächlich den Zugang zu dieser komplexen Bühnenarbeit, indem sie starke Bilder finden und montieren, die nicht als Söldner im Krieg um die Augäpfel ihren Dienst tun, sondern sich dem besseren Verständ-

nis der Zusammenhänge und Inhalte widmen. Und sie finden eine Geschichte in der Geschichte, die uns weiter führt, als uns das Bühnenkunstwerk allein zu führen in der Lage wäre. Und entdecken in der Reaktion vermeintlich von westlicher Kultur unbeleckter Schwarzafrikaner, wie leicht es sein kann, sich um die Leichtigkeitslüge einfach nicht zu scheren. Man muss nur genau hinschauen, sich öffnen und für Neues empfänglich sein, dann kann man mehr verstehen, sehen und begreifen, als im Buche steht.

Drei Episoden, drei Produktionen, drei Beispiele aus einem Jahr vielfältiger Arbeit am unendlichen Werkstück Kultur. Viele weitere wären zu erwäh-nen: der inzwischen bereits zehnte Theaterfilm, »Kasimir und Karoline« von Horvath, gedreht auf dem leibhaftigen Oktoberfest, der Aufbruch ins aufregende 3D-Zeitalter für die Bühnenkunst mit der Produktion von Wim Wenders’ Film über Pina Bausch, das ungewöhnlich Opernspektakel »Aida am Rhein« aus Basel, präsentiert auf gleich zwei Fernsehkanälen, oder die vielfältigen Regelpro-duktionen im Rahmen der Magazin-Reihe »Foyer«, der Porträt-Reihe »Abgeschminkt«, Theater- und Tanzadaptionen und Experimente, die auch in diesem Jahr mal gut und mal weniger gut gelun-gen sind.

Aber es stimmt schon. Wenn alle Kraft der Verfüh-rung gewidmet werden muss, dann bleibt für die Lust und Kultur der Erkenntnis wenig übrig. Das gilt im Übrigen im normalen Leben ebenso wie im Fernsehen.

I 207Neue Vermarktungsansätze in der digitalen Welt

Der digitale Medienmarkt erfordert das Nach-denken über neue Vermarktungsformen. In den Blick gerät dabei neben der Neuausrich-tung von herkömmlichen Lizenzierungsaktivi-täten auch der Betrieb eigener Strukturen als entgeltpflichtige Angebote.

Mit Blick auf den medienökonomischen und technologischen Wandel, insbesondere auf die Digitalisierung sämtlicher Produktions-, Verbrei-tungs- und Verwertungsvorhaben, sehen sich alle Medienunternehmen mit einer veränderten Marktstruktur sowie einem neuen Nutzungsverhal-ten ihrer Zielgruppen konfrontiert. Bereits in den zurückliegenden Jahren wurde die Vertriebstätig-keit von ZDF Enterprises daher immer wieder an den wechselnden Kundenbedarf angepasst; alle Vermarktungsbemühungen sind gerade auch auf-grund der mit der Digitalisierung einhergehenden neuen Erfordernisse zu überprüfen, gegebenen-falls gemäß den Erfordernissen der digitalen Welt zu ergänzen und an neuen Marktstrategien auszurichten. Letztlich ist die Präsenz in digitalen Verwertungskanälen sowohl für ZDF Enterprises als auch für ihre Tochtergesellschaften von über-ragender strategischer Bedeutung, da sich so-wohl im Verhältnis zu Geschäftskunden als auch zu Endkunden praktisch das gesamte Geschäfts-volumen der Gesellschaft innerhalb der nächsten Jahre in digitalen Paradigmen und Dimensionen abspielen wird. Als Muster und Beispiel hinsicht-lich geänderter Nutzungsgewohnheiten und Ver-wertungserfordernisse kann insbesondere auf die Musikbranche hingewiesen werden – der elektro-nische Download von Musiktiteln hat bereits jetzt in weiten Teilen bisherige Geschäftsmodelle, ins-besondere den Vertrieb physischer Tonträger, ver-drängt. Auch die bekannten Entwicklungen in der Verlags- und Print-Branche belegen, wie wichtig

die rechtzeitige Einstellung auf Erfordernisse des Digitalmarkts ist. Die vorgenannten Beispiele zei-gen aber auch: Wer sich nicht rechtzeitig auf die digitale Welt einstellt, läuft Gefahr, den Anschluss zu verpassen und erhebliche wirtschaftliche Ein-bußen bis hin zum Verlust ganzer Marktsegmente hinnehmen zu müssen.

Wie ist dem zu begegnen? Anders ausgedrückt: Wie können bestehende Positionen des Unterneh-mens im Verwertungsmarkt gesichert sowie der Erfolg der Distribution gerade auch deutscher Produktionen verstärkt in weitere Märkte ausge-weitet werden?

Schauen wir zunächst auf das Feld der Neben-rechteverwertung: Seit Bestehen von ZDF En-terprises werden die Rechte für die Herstellung von Begleitprodukten (also Bücher, Merchandi-sing-Produkte, CDs, DVDs und mehr) ver-marktet. Mit diesen Produkten wird es in der Regel den Zuschauern ermöglicht, gegen ein angemessenes Entgelt ein physisches Erzeug-nis als ergänzende und vertiefende Information zu ZDF-Programmen zu erwerben. Mit Blick auf die technische Entwicklung unterliegt dabei insbesondere die Verwertung von audiovisu-ellen Konsumgütern einem geradezu radikalen Wandel. Es gibt unter Fachleuten und Marktteil-nehmern keinen vernünftigen Zweifel: In zuneh-mendem Maße wird das elektronische Down-loaden Video on Demand (VoD), Electro-nic Sell Through (EST) von Bewegtbild in erheblichem Umfang den Erwerb von hap-tischen Produkten (DVD-Kauf) ersetzen. Für die Interessenten an derartigen Produkten und für die Zuschauer des Senders bietet sich auf diesem dem klassischen Kauf von DVDs ent-sprechenden (und diesen innerhalb der nächs-

Alexander CoridaßGeschäftsführer der ZDF Enterprises GmbH

Neue Vermarktungsansätze in der digitalen WeltZDF Enterprises entwickelt neue Geschäftsmodelle

2010.Jahrbuch208 I

ten Jahre zumindest teilweise substituierenden) Weg die Möglichkeit, ZDF-Programme ein-facher und gegebenenfalls sogar kostengüns-tiger zu erwerben. Außerdem wird es möglich sein, über einen solchen Dienst auch diejeni-gen Genres und Formensprachen anzubieten, für die sich aus wirtschaftlichen (weil hohe Ini-tialkosten erfordernden) und technischen Grün-den die Veröffentlichung eines physischen Pro-dukts bisher nicht lohnt. Dies bedeutet, dass Zuschauern zu vergleichbar geringen Kosten ein zusätzlicher Service angeboten werden kann, in dem auch Nischen- und Special-Inte-rest-Programme allgemein zugänglich ge-macht werden können.

Neben der bereits erfolgten und auch weiterhin geplanten Lizenzierung an bereits bestehende, dritte Anbieter muss auch konkret die Möglich-keit geprüft werden, derartige VoD-Dienste – sei es als Electronic Sell Through, sei es als Streaming – gegen entsprechendes Entgelt (wie es sowohl der Rundfunkstaatsvertrag als auch Politik und Wettbewerber verlangen) an-zubieten. Die Durchführung eines eigenen digi-talen Direktvertriebs bietet nicht zuletzt die Möglichkeit, das Angebot den eigenen Vorstel-lungen entsprechend zu gestalten und (künf-tige) Abhängigkeiten von marktmächtigen Wettbewerbern zu vermeiden. Daneben, wie gesagt, wird es auf dem tendenziell nicht-ex-klusiven Markt der digitalen Welt weiter Lizen-zierungen an VoD-Dienste Dritter geben.

Im Verhältnis zur kostenfreien Sichtungsmög-lichkeit der ZDFmediathek stellt die entgelt-pflichtige VoD-Nutzung ein Aliud dar; die An-dersartigkeit der Mediathek-Nutzung gegen-über einem Download entspricht beispielsweise dem Erwerb oder dem Ausleihen einer DVD gegen Entgelt. Dies bedeutet, dass grundsätz-lich das – im Übrigen zeitlich begrenzte – Ein-stellen eines Programms in die ZDFmediathek

eine parallele oder nachgelagerte VoD-Verwer-tung so wenig stört wie umgekehrt die elektro-nische Vermarktung eine Mediathek-Nutzung – auch insoweit kann auf die Vergleichbarkeit von VoD und DVD verwiesen werden.

Für den TV-Auslandsvertrieb sind gleichfalls neue Möglichkeiten auszuloten. Die Stärken und Schwächen spezifisch deutscher Fernseh-programme im Auslandsvertrieb sind vielfach diskutiert worden – mit im Großen und Ganzen nicht sehr kontroversen Befunden. Unbestritten ist freilich, dass es derzeit für den »Programm-transfer« vom Rechteinhaber zum auslän-dischen Fernsehzuschauer im Rahmen der herkömmlichen Lizenzierung einer oder auch mehrerer fremdbestimmter Zwischenstufen be-darf. Sofern eine Markterschließung aufgrund der strukturellen Gegebenheiten des Zielmarkts nun aber nicht in ausreichendem Maße durch reine Lizenzierung erfolgen kann, liegt die Überlegung nahe, den Programmvertrieb mit der Etablierung von beispielsweise Genre-An-geboten unter Einbindung von ZDF Enterprises zu kombinieren. Ziel ist es letztlich immer, die Programm- und Vertriebspotenziale des Unter-nehmens zu nutzen, um die internationale Ver-marktung des ZDF Enterprises-Katalogs zu stabilisieren und sich zudem Optionen zur un-ternehmerischen Mitgestaltung und Teilhabe an zusätzlichen Wertschöpfungspositionen zu eröffnen. Gestützt wird diese Überlegung durch die Überzeugung, dass die Verbreitung deut-schen Programms zumindest in bestimmten ausländischen Märkten noch erfolgreicher ge-staltet werden kann. Zu überlegen ist daher, ob die Schaffung von beispielsweise Bezahlfern-seh-Angeboten (zusammen mit deutschen und/oder lokalen Partnern) in ausgewählten Zielmärkten helfen kann, die skizzierten Markt-ziele zu erreichen. Oder anders ausgedrückt: Wenn die BBC in zahlreichen Märkten ihre Pro-gramme auf dem Wege von eigenen Bezahl-

I 209Neue Vermarktungsansätze in der digitalen Welt

fernseh-Angeboten anbietet, warum soll dies nicht auch ein gangbarer Weg für ein deutsches Vertriebsunternehmen sein?

Und schließlich bieten Social Media- und ande-re Plattformen diverse Opportunitäten, bei-spielsweise über die Beteiligung an von im Umfeld der dort gezeigten Programme gene-rierten Erlösen an der Wertschöpfung zu parti-zipieren. Das ARD-/NDR-Tochterunternehmen Studio Hamburg hat dies bereits erfolgreich vorgemacht mit durchaus beeindruckenden

Auftritten auf YouTube beispielsweise zu den Themen »Beat Club« und »Loriot«.

Alle diese skizzierten Verwertungsformen in der digitalen Welt sind rechtlich zulässig und wirt-schaftlich-strategisch dringend geboten. Es liegt nun an ZDF Enterprises selbst, entsprechende Projekte zu strukturieren, gegebenenfalls pas-sende Kooperationspartner zu finden und letztlich passende Geschäftsmodelle zu entwickeln, um auf diesem Feld entscheidende Module der Zu-kunftssicherung des Unternehmens zu gestalten.

2010.Jahrbuch210 I

Christoph MinhoffProgrammgeschäftsführer PHOENIX

Der Ereignis- und Dokumentationskanal hat sich in den vergangenen drei Jahren erkenn-bar gewandelt: Schneller, moderner und fle-xibler in der Programmgestaltung ist der Bonner Sender geworden – und damit gut gerüstet für den wachsenden Wettbewerb im digitalen Fernsehmarkt.

Es gibt Ereignisse, die scheinen wie geschaffen für das PHOENIX-Programm. Als der Sender am Morgen des 30. Juni 2010 um neun Uhr als Erster mit der Liveberichterstattung zur Wahl des Bun-despräsidenten begann, ahnten weder Zuschauer noch die beiden Reporter vor Ort, dass der end-gültige Wahlakt erst dreizehneinhalb Stunden später entschieden sein würde.

Für Liveberichterstattung in rekordverdächtiger Länge ist PHOENIX ja inzwischen bekannt – und beim Publikum geschätzt. Die 16-stündige Über-tragung der Vernehmung von Joschka Fischer vor dem Visa-Untersuchungsausschuss im Jahr 2005 war ein solches Ereignis. Und auch der hoch spannende Wahlmarathon bei der Bundespräsi-dentenwahl im Juni 2010 war ein politisches Groß-ereignis, das nur von PHOENIX in seiner Gesamt-heit für die Fernsehzuschauer abgebildet werden

konnte. Mehr als 13 Stunden waren die beiden PHOENIX-Moderatoren – überwiegend live – vor Ort im Einsatz. Rund zwei Dutzend Politiker und zahlreiche Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben hatten sie zum Interview am Set im Reichs-tag. Ergänzt wurde die ausführliche Liveberichter-stattung mit Reportagen über die deutschen Bun-despräsidenten sowie mit Experteninterviews, die die Marathonveranstaltung zu einem kurzweiligen Sehvergnügen machten – und das nicht nur für Polit-Junkies.

Kein anderes Programmangebot in Deutschland dokumentiert so lückenlos und umfassend das politische und gesellschaftliche Geschehen wie PHOENIX. Markenkern und Alleinstellungsmerk-mal des Ereignis- und Dokumentationskanals ist und bleibt die Übertragung der Parlamentsdebat-ten aus dem Deutschen Bundestag. Seit Sende-start berichtet PHOENIX an allen Sitzungstagen live aus dem Hohen Haus, zeigt die Arbeit der Ausschüsse und dokumentiert bedeutende histo-rische Reden. Der Sender bietet ganz allgemein Raum und Zeit für den politischen Diskurs. Das zeigt sich in den zahlreichen Gesprächssen-dungen, die ganz bewusst der unvoreingenom-menen Diskussion den Vorrang vor effekthasche-

Schneller, flexibler, moderner PHOENIX 2010

Größerer Wiedererkennungswert: PHOENIX hat das Durchschnitts-

alter und die Zahl der Modera-toren reduziert: Michael Kolz und

Julia Schöning

I 211Schneller, flexibler, moderner

rischen Elementen geben und in denen es sach-lich und dennoch kontrovers, rational und emotional zugeht.

PHOENIX hat im Laufe der Jahre sein Gesicht verändert. Anfänglich war für uns ein Ereignis dann gegeben, wenn man ungeschnitten über Stunden eine Kamera aufstellen und deren Bild senden konnte. Dieses Echtzeitfernsehen war zu diesem Zeitpunkt einmalig im deutschen Fernseh-markt und half dabei, PHOENIX als Marke zu etablieren. Die Chance, »von außen« einem Ereig-nis beizuwohnen, war neu und bot völlig neue Einblicke. Man konnte sich plötzlich »ein eigenes Bild« machen. Das Angebot an den Zuschauer wurde zum Wahlspruch: »PHOENIX – Machen Sie sich das ganze Bild«: Parteitage, Pressekonfe-renzen, Gewerkschaftstage und BDI-Jahrestref-fen, Staatsbesuche und Gipfeltreffen, bei uns war man live dabei.

Lange Sendestrecken bedingen allerdings oft auch Eintönigkeit und sorgen für Ermüdung beim Zuschauer. Deshalb entwickelte sich PHOENIX weiter zu einem Schwerpunktthemen-Angebot. Neben dem Live-Ereignis wurde verstärkt weiter-gehende Information angeboten, inhaltliche Ein-ordnung durch Experten oder Reporter vor Ort vorgenommen und zusätzlich die passende Do-kumentation gezeigt. Dabei greift PHOENIX natio-nal auf Kollegen der ARD und der jeweiligen Lan-

desstudios des ZDF zurück oder international auf das hervorragende weltweite Netz von Auslands-korrespondenten. Erfahrung und Kompetenz die-ser Kollegen aus den Mutterhäusern führt zu einem unschätzbaren Wettbewerbsvorteil gegen-über den kommerziellen Mitbewerbern im Fernsehmarkt.

Beispielhaft für dieses Fernsehangebot war die Art, wie PHOENIX mit dem gesellschaftlichen Dis-kussionsprozess um das Thema Migration umge-gangen ist. Wir zeigten die Pressekonferenz der Buchvorstellung von Thilo Sarrazin inklusive der kritischen Reporterfragen. Im Anschluss daran wurde der Bürgermeister aus Berlin-Neukölln zu seinen Erfahrungen befragt. Es folgte im Studio eine Einordnung durch einen renommierten Sozi-ologen und Migrationsforscher, ferner beurteilte ein Politikwissenschaftler die Auswirkungen von Sarrazins Thesen auf den politischen Prozess. Im Anschluss bot PHOENIX aktuelle Reportagen über Migration und Integrationspolitik im Pro-gramm an.

Und wenn – wie im Fall Sarrazin – das Thema in der öffentlichen Diskussion hohe Wellen schlägt, wird noch am selben Abend dazu eine Diskussi-onssendung gestaltet. In den abendlichen Talk-Formaten »Unter den Linden« und »PHOENIX-Runde« präsentieren sich dann jene wissenschaft-lichen, politischen oder journalistischen Fachleute,

Christina v. Ungern-Sternberg und Tobias Ufer

2010.Jahrbuch212 I

die meist Weiterführendes zum Thema beitragen können. Wer sich als Zuschauer auf dieses Ge-samtangebot einlässt, wer sich »das ganze Bild« zeigen lässt, der ist tatsächlich umfassend infor-miert. Lange Verweildauern der PHOENIX-Zu-schauer belegen, dass dieses Angebot auch um-fassend genutzt wird. Die Flexibilität, mit der PHOENIX Programmschemata durchbrechen und Schwerpunkte im Programm auch kurzfristig bil-den kann, ist wohl einmalig im Fernsehmarkt und nur so bei uns zu finden. PHOENIX ist kein Nach-richtenkanal, PHOENIX macht die Nachricht!

Veränderungen des Programmschemas in der Nacht, im Hauptabendprogramm und auf den Er-eignisflächen hin zu umfassenden Themen-stre-cken haben sich in den vergangenen Jahren deutlich in der Zuschauerakzeptanz bemerkbar gemacht. Von 2005 bis 2010 hat PHOENIX seine Marktanteile verdoppelt – und das bei zuneh-mender Konkurrenz im Segment der Informations-kanäle. Zunehmend versuchen Mitbewerber, die bei PHOENIX neu eingeführte Programmierung zu kopieren. Wir begreifen das als großes Kompli-ment. Der Zuschauer ist PHOENIX dennoch treu geblieben.

Den veränderten Sehgewohnheiten der Zuschau-er entsprechend hat PHOENIX außerdem die Do-kumentationsflächen am Abend gestärkt. Auch hier kann der Sender in seiner Programmplanung

schnell und flexibel auf aktuelle Ereignisse reagie-ren und diese mit erläuternden Reportagen und Dokumentationen ergänzen. Dabei greift PHOENIX auf einen großen Pool von ARD- und ZDF-Produk-tionen zu und zeigt die Filme zur besten Sende-zeit. Oft aufwändig produzierte und – im wört-lichen Sinne – ausgezeichnete Reportagen und Dokumentationen stehen hier um 20.15 Uhr im Programm. Als neues Angebot begann PHOENIX damit, Mehrteiler nicht an verschiedenen Tagen, sondern direkt – quasi vertikal – zu programmie-ren. Zuschauer können so einer mehrteiligen Do-kumentation am Stück folgen.

PHOENIX nutzt konsequent die Möglichkeit, jen-seits fester Programmschemata und Redaktions-ressorts Programminnovationen zu versuchen, neue Formate auszuprobieren. Nach dem im Vor-jahr erfolgreich eingeführten »Forum Wirtschaft« hat PHOENIX im Jahr 2010 auch das »Forum Ma-nager« aus der Taufe gehoben, in dem Spitzen-kräfte deutscher Konzerne Rede und Antwort ste-hen. Im viel beachteten Format »Politiker-Speed-Dating«, bei dem Wähler den Volksvertretern unmittelbar auf den Zahn fühlen können, gab es 2010 eine erfolgreiche Fortsetzung. Und gleich zwei Mal war PHOENIX im Jahr 2010 mit einer Themenwoche »Unter den Linden spezial« unter-wegs: ein Mal, um den deutschen Sozialstaat kri-tisch zu hinterfragen und beim zweiten Mal, um der Frage »Quo vadis, Europa?« nachzugehen.

Stephan Kulle und Elif Senel

I 213Schneller, flexibler, moderner

Nicht nur so außergewöhnliche Programmhigh-lights in der Ereignisberichterstattung wie die rund 80-stündige Liveübertragung der »Stuttgart 21«-Schlichtungen, die Bundespräsidentenwahl oder die NRW-Landtagswahl, sondern auch die aus-führliche Berichterstattung über den Klimagipfel in Kopenhagen, die Folgen der Weltwirtschaftskrise, die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung in Afrika jenseits der Fußball-WM oder die aktuelle Integrationsdebatte und die Themenschwerpunkte zu 20 Jahren Deutsche Einheit haben das positive Image von PHOENIX weiter verstärkt. Und genau hier liegen auch die Stärken und die Zukunfts-fähigkeit des Senders. PHOENIX ist die Alternative zum Häppchen-Journalismus und zu der auf

Schlagzeilen reduzierten Nachricht. PHOENIX setzt nicht Information und Gerücht gleich wie etwa das Internet. PHOENIX setzt auf Wissensver-mittlung durch Kompetenz. Wir sehen unsere Auf-gabe und Chance darin, das Publikum mit nach-haltigen Informationen und ausführlicher Bericht-erstattung zu binden und dauerhaft unseren Platz zu behaupten. Mit der konsequenten Fokussie-rung auf eine ausführliche Berichterstattung, mit einem Schwerpunkt auf differenzierten Analysen und Hintergründen wurde PHOENIX zur Marke. Als Spartenkanal wird er auch künftig das Infor-mationsprofil der öffentlich-rechtlichen Sender stärken und zugleich ein Komplementärprogramm zu den Mutterhäusern bieten.

2010.Jahrbuch214 I

Das liebste Abendprogramm des deutschen TV-Zuschauers ist nach wie vor der Krimi. Der deutsche Krimi wuchs in den Großstädten dieses Landes auf. Die meisten ihrer Art spie-len klassisch in einem städtischen Milieu, und dort werden sie auch gedreht.

Doch mit »Ein Dorf sucht seinen Mörder« lenkt Markus Imboden schon 2002 das Interesse der Zuschauer mit Erfolg auf einen Mikrokosmos. Und der ZDF-Fernsehfilm entdeckt das Ländliche als einen Ort, der viel zu bieten hat an erzählerischem und visuellem Potenzial.

2006 etabliert Reinhold Elschot mit Matti Ge-schonnecks Network-Movie-Film »Mord am Meer« – in den Hauptrollen Heino Ferch und Nadja Uhl – das Format »Landschaftskrimi« auf ganz besondere Weise. Hinter der Krimihandlung, die uns zunächst in ein Dorf nahe Husum führt, verbirgt sich ein Familiendrama mit einem kom-plexen politischen Hintergrund, das uns schließ-lich zurück nach Berlin in eine urbane Umgebung bringt. Mit diesen für den Fernsehfilm überra-schend eingesetzten Gegensätzen von Land und Stadt entdecken wir ein weiteres Potenzial, das bis dahin nicht oft genutzt wurde. Der Film war

nicht nur ein großer Zuschauererfolg, er erhielt auch viele Preise und Nominierungen.

2006 entsteht auch der erste Film unserer Krimi-reihe »Unter anderen Umständen« mit Natalia Wörner als ermittelnder Kommissarin in Schleswig und Umgebung. Nach dem eindrucksvollen Quo-tenerfolg sind mittlerweile vier weitere erfolgreiche Filme in der Reihe entstanden, die unter anderem die Popularität eines auf den ersten Blick so un-spektakulären Schauplatzes deutlich machen. Die Nähe zu Ostsee und Schlei sowie die faszinieren-de Natur üben als Orte des Geschehens eine ganz besondere Anziehungskraft auf den Zu-schauer aus.

2007 inszeniert Matti Geschonneck »Die Tote vom Deich« mit Christiane Paul in der Hauptrolle, die Geschichte spielt wieder an der Nordseeküste. Der große Quotenerfolg bestätigt erneut, dass es für die Zuschauerinnen und Zuschauer attraktiv ist, wenn sich die Handlung in einer überschau-baren Welt entfaltet. Familienstrukturen haben sich hier noch nicht gänzlich aufgelöst, sondern spielen im Gegenteil eine maßgebliche Rolle, wenn es darum geht, hinter das Motiv einer Tat zu kommen.

Der LandschaftskrimiEin schöner Ort für den Mord

Jutta Lieck-KlenkeGeschäftsführerin Network Movie

Hans Hohlbein, Bjarne Mädel, Marcus Mittermeier und Christiane

Paul in »Die Tote vom Deich«

»Ein Dorf sieht Mord«: Lavinia Wilson, Corinna Harfouch und

August Zirner

I 215Der Landschaftskrimi

2009 produziert Network Movie »Ein Dorf sieht Mord« mit Lavinia Wilson, August Zirner und Co-rinna Harfouch als Montagsfilm der Woche. Der geheimnisvolle Krimi spielt in einem Dorf in der Nähe von Gorleben. Die dortige Anti-AKW-Bewe-gung der 80er Jahre liefert den Hintergrund für einen spannenden Familienkonflikt und führt zur Aufklärung einer Mordserie. Das Drehbuch ent-stand nach Motiven des Romans In unnütz toller Wut des holländischen Bestsellerautors Maarten ´t Hart. Die Handlung wurde vom niederländischen Friesland ins malerische Wendland verlegt. Doch die Idylle erweist sich als trügerisch.

Im Landschaftskrimi passieren die Morde dort, wo es besonders schön ist, wo wir gern Urlaub ma-chen und uns erholen möchten: am Meer, in den Bergen, in einsamen Fluss- oder Seenland-schaften. Dann bricht die Gewalt über die Idylle herein, zerstört die friedliche Beschaulichkeit, de-maskiert den schönen Schein. Schauen wir uns das so gern im Fernsehen an, weil die schönen Bilder uns mitnehmen auf eine scheinbar roman-tische Fantasiereise, um uns dann umso mehr das Gruseln zu lehren? Oder kommen uns diese Filme allein deshalb schon so nah, weil uns die ländlichen Gegenden vertrauter sind als die gro-ßen Städte? 80 Prozent der Fernsehzuschauer sind in Kleinstädten und auf dem Land zu Hause und nicht in der Großstadt, wo Morde ja traditio-nell eher verortet werden. Aber das allein kann es

nicht sein, was uns da fasziniert. Da ist noch mehr: die tief verwurzelte, archaische Sehnsucht nach der Natur, nach dem Ursprünglichen. Und wenn hinter der Fassade von Schönheit das Ge-fährliche zum Vorschein kommt. Wie unheimlich, wenn jede vermeintliche Sicherheit des Idylls ver-loren geht, die heile, glückliche Welt mit enormer Wucht zerstört wird, das Böse aus dem Nichts auftaucht. Die unberührte Natur ist um uns herum, und in uns kommt eine dunkle Seite zum Vor-schein. Die Landschaft wird zum Spiegel des Unbewussten.

Die isolierten Orte, in die die Handlungen verlegt sind, scheinen letztlich auch einen spannenden Gegenentwurf zum Global Village darzustellen. Und je vernetzter, virtueller und polyglotter die Web 2.0-Facebook-Community vor dem Laptop sitzt, umso eigenwilliger werden die Kommissare, die sich in den Landschaften und Orten bewegen. Romantik 2.0. Die Sehnsucht nach einem Ort fern-ab aller Zwänge, fernab der Errungenschaften der Zivilisation, ist die gleiche geblieben wie zu Zeiten Caspar David Friedrichs. Und wir geben uns heute gern 90 Minuten der Illusion hin, dass es einen solchen Ort geben könnte – wären da nicht Mord und Totschlag, deren Aufklärung uns erst recht in Atem halten.

Network Movie dreht mittlerweile mehr Filme in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, in

»Schandmal – Der Tote im Berg«: Team bei der Arbeit

Max Riemelt auf gefährlichen Höhen

2010.Jahrbuch216 I

der Eifel oder im ländlichen Bayern als in den Städten.

Im Sommer 2010 sind wir für unseren nächsten Landschaftskrimi bis in die Alpen gefahren. Für »Schandmal – Der Tote im Berg« drehten wir mit Katja Flint, Max Riemelt und Herbert Knaup an der Zugspitze. Die psychologische Fallhöhe der Fi-guren entspricht hier ganz der realen Fallhöhe eines Kletterers am Abgrund. Um bestimmte Sze-nen zu drehen, hing das gesamte Team tagelang

mit Seilen gesichert »in der Wand« und trotzte dem Wetterumschwung. Solche Produktionen be-deuten für eine Produktionsfirma eine weitaus größere Anstrengung als ein Dreh in der Stadt. Das gesamte Team ist für Wochen von zu Hause weg, Drehorte müssen erwandert werden, das Wetter ist völlig unkalkulierbar, und eine einge-spielte Infrastruktur gibt es nicht. Aber es lohnt sich immer wieder! Für die Spannung und den Unterhaltungswert, die solch ein faszinierendes Panorama erzeugen kann.

Tobias Oertel, Katja Flint und Max Riemelt in »Schandmal – Der Tote

im Berg«

»Unter anderen Umständen – Tod im Kloster«: Annett Renneberg

und Natalia Wörner

I 217Hirn will Arbeit

Willi SteulIntendant des Deutschlandradios

In zweifacher Hinsicht konnte Deutschlandra-dio im Jahr 2010 einen erheblichen Zuwachs verzeichnen: Mit dem jungen, digitalen Pro-gramm »DRadio Wissen« und mit einer neuen, äußerst starken UKW-Frequenz in Nordrhein-Westfalen, die den Verbreitungsradius von »Deutschlandradio Kultur« im dichtesten Bal-lungsgebiet Deutschlands verzehnfacht.

Das Jahr 2010 begann für Deutschlandradio unter einem »grünen« guten Stern: Es begann mit dem Start des neuen digitalen Programms »DRadio Wissen«, dem in der Programmfamilie des Deutschlandradios die Farbe Grün zugeordnet wurde. Seit dem 18. Januar 2010 werden der »Deutschlandfunk« mit seinem Schwerpunkt auf Information und »Deutschlandradio Kultur«, des-sen Markenkern schon der Name unterstreicht, durch ein drittes Programm ergänzt, das sich dem Wissen verpflichtet hat.

Im Juni 2009 erhielt der Nationale Hörfunk durch das Inkrafttreten des 12. Rundfunkänderungs-staatsvertrags den Auftrag, ein neues Programm zu entwickeln, das ausschließlich digital – also über Kabel, Satellit, DAB (Digital Audio Broadcas-ting) und das Internet – verbreitet wird. Hoch mo-tiviert machte sich ein junges Team daran, ein Ra-dioprogramm zu entwickeln, das nicht nur dem hohen Qualitätsanspruch des Deutschlandradios, sondern auch den besonderen Möglichkeiten der digitalen Verbreitung gerecht wird. Zum ersten Mal überhaupt wurde auch ein Hörfunkprogramm entwickelt, das konzeptionell neben der linearen Verbreitung eines »klassischen« Hörfunkpro-gramms die komplementäre Verzahnung mit dem Internet von Anfang an als Aufgabenstellung er-hielt. Dabei sollte weder ein »Deutschlandfunk« noch ein »Deutschlandradio Kultur« »in Grün« ent-stehen, sondern ein Programm mit eigenen Cha-rakteristika und dem Schwerpunkt auf Wissen. Für das Corporate Design wurde ein frischer Grünton gewählt. So bekam nicht nur das ZDF im vergan-genen Jahr ein grün angestrichenes modernes Nachrichtenstudio. Auch die Ende 2009 einge-richteten Studioräume von »DRadio Wissen« im Kölner Funkhaus des »Deutschlandradios« sind grün geprägt.

Der Slogan »Hirn will Arbeit« skizziert die inhalt-liche Ausrichtung. »DRadio Wissen« bietet dem Hirn eine ganze Menge Arbeit, will ihm durchaus auch etwas zumuten: Ein intelligentes Programm, das detaillierte Information mit hintergründigem Wissen und anspruchsvoller Unterhaltung verbin-det. Adressaten sind alle Hörer, die sich nicht mit Oberflächlichem zufriedengeben. Durch die aus-schließlich digitale Verbreitung nimmt ein großer Teil der Hörer »DRadio Wissen« über das Internet wahr und zählt damit eher zu einer jüngeren, web-

Hirn will Arbeit Oder: Wissen ist grün

Werbeplakat für »DRadio Wissen«

2010.Jahrbuch218 I

affinen Generation. Dem entspricht die Anmutung: Das Moderatorenteam ist jung, der Ton leicht, die Herangehensweise an Themen gelegentlich wun-derbar unkonventionell-überraschend und die Musik exklusiv komponiert oder zusammenge-stellt von bekannten DJs.

Das Programmschema berücksichtigt ein großes Spektrum an Wissenswertem aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft: Während des Tages wechseln sich im Zweistundentakt so genannte Quadranten ab – viertelstündige Einheiten zu The-men wie Agenda, Globus, Medien oder Meine Zu-kunft. Aktuelle Neuigkeiten werden außerdem in den jeweils zur Viertelstunde ausgestrahlten Welt- und Wissensnachrichten dargeboten. Der Abend gehört längeren Formaten: Neu entwickelt wurde etwa die Sendung »Redaktionskonferenz«, in der Themen des Tages mit Hörern, Gästen und Kolle-gen diskutiert werden – nicht immer mit berechen-barem Ausgang. Im Anschluss lädt »DRadio Wis-sen« in den »Hörsaal« zu aktuellen wie auch histo-rischen Vorträgen ein.

Neben den selbst entwickelten Formaten wird auch anderen Rundfunkanstalten Sendeplatz ein-geräumt. Im Rahmen von Kooperationen über-nimmt »DRadio Wissen« als so genannte »Radio-links« täglich Wissens- und Kultursendungen von insgesamt fünf ARD-Anstalten. Den Blick über den Tellerrand wagen die »Radiolinks Internatio-nal« mit ausgewählten Sendungen des Schweizer Radio DRS, der BBC und von Radio France.

Das Charakteristikum von »DRadio Wissen« ist je-doch nicht nur die Mischung von Aktuellem, Hin-tergrundinformationen und der Art der Präsenta-tion. Zugleich lebt das Programm durch seinen Internetauftritt. Er bietet neben dem Livestream ein breites Podcast- und Audio-on-Demand-An-gebot. Außerdem findet der Hörer hier eine Platt-form zur Interaktion mit den Programm-Machern: Er ist eingeladen, sich über die Kommentar- und

Blogfunktionen zu Wort zu melden, über Twitter wird er zum Gedankenaustausch aufgefordert und über das aktuelle Programm auf dem Lau-fenden gehalten. Hier liegt noch ein ausdrücklich gewünschtes weites Experimentier- und Spielfeld der interaktiven Entwicklungen.

Die Möglichkeiten zur Partizipation werden rege genutzt. Die Redaktion erhält darüber nicht nur ein sehr positives Feedback zu »DRadio Wissen«, sondern auch Anregungen für das Programm – sowie eine Vorstellung, wer unsere Hörer sind und wie sie »ticken«. Dass dieses neue Programm an-kommt, lässt sich nicht nur an den positiven Kom-mentaren ablesen. Im Durchschnitt wird der Livestream täglich rund 30 000 Mal abgerufen. Festzustellen ist außerdem ein sehr erfreulicher Nebeneffekt: Mit dem Beginn von »DRadio Wis-sen« und dem Start seiner Website ist auch die

Werbeplakat für »DRadio Wissen« mit Till Brönner

I 219Hirn will Arbeit

Nutzung des Onlineauftritts von »Deutschland-funk« und »Deutschlandradio Kultur« signifikant gestiegen. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass Interessierte über das Angebot von »DRadio Wis-sen« auch zu den beiden anderen Programmen finden. Somit wäre ein weiteres Anliegen erreicht: eine Brücke vom Onlineangebot des Deutsch-landradios zu seinen On-Air-Ausstrahlungen zu schlagen.

Bei aller Freude über den frischen Wind in der Programmfamilie bleibt jedoch ein Kernproblem von Deutschlandradio: Der Auftrag für »DRadio Wissen« wurde für ein attraktives Angebot zur di-gitalen Verbreitung erteilt. Die Ausstrahlung über DAB spielt nicht nur für »DRadio Wissen« eine wichtige Rolle. Der digitale Distributionsweg stellt auch für unsere beiden anderen Programme auf absehbare Zeit die einzige Möglichkeit dar, flä-chendeckend im gesamten Bundesgebiet emp-fangbar zu sein.

Durch das unbefriedigende Netz der zur Verfü-gung stehenden UKW-Frequenzen erreicht »Deutschlandradio Kultur« technisch bundesweit nur 55 Prozent der Bevölkerung, der »Deutsch-landfunk« wenig mehr als 70 Prozent. Aus diesem Grund verfolgt Deutschlandradio nachdrücklich bei den derzeitigen Gesprächen mit den kommerziellen Rundfunkanbietern und Media Broadcast die Einführung der digitalen ter-

restrischen Übertragungstechnik DABplus – mit immer noch offenem Ausgang.

So unbefriedigend die Frequenz-Ausstattung wei-terhin ist, so unsicher die digitale Zukunft, so kann sich der Nationale Hörfunk zumindest über einen Erfolg bei der UKW-Versorgung freuen: Im Jahr 2010 wurde dem Deutschlandradio in Nordrhein-Westfalen die starke UKW-Frequenz 96,5 MHz des britischen Militärsenders BFBS zur Verfügung gestellt. Seit August 2010 wird sie mit »Deutsch-landradio Kultur« bespielt, das in dieser Region nun über zehn Millionen Menschen erreichen kann – statt wie zuvor 1,2 Millionen.

Im Gegenzug übernehmen die Briten die Hälfte der kleinen Frequenzen, über die »Deutschlandra-dio Kultur« in Nordrhein-Westfalen zuvor verfügte. BFBS kann damit seine noch hier stationierten Soldaten erreichen. Die weiteren freiwerdenden Frequenzen kann die Landesmedienanstalt an andere Bewerber vergeben. Ein solches Erfolgs-erlebnis ist leider selten. Vergleichbar starke Fre-quenzen, mit denen die dringend notwendige flä-chendeckende Empfangbarkeit der Programme von Deutschlandradio vorangebracht werden könnte, sind von den Landesrundfunkanstalten der ARD besetzt. Aber da halten wir es einfach mit der gewählten Farbe: Grün steht nicht nur für »DRadio Wissen«, sondern überhaupt ja für die Hoffnung.