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SWR 2 Musikstunde mit Ulla Zierau, 27. April 2010
Ein musikalischer Spaziergang durch die Kulturhauptstadt 2011 – Tallinn
„Ich könnte meine Musik mit weißem Licht vergleichen, in dem alle Farben enthalten
sind. Nur ein Prisma kann diese Farben voneinander trennen und sichtbar machen;
dieses Prisma könnte der Geist des Zuhörers sein.“
So erklärt Arvo Pärt, der populärste zeitgenössische estnische Komponist seine
Musik.
Musik 1 Arvo Pärt: Summa 4‘50
Nationales Sinfonieorchester Estland / Neeme Järvi
Radiomax M0274420 001
Weißes Licht, das sich durch ein Prisma in alle Spektralfarben zerlegt – so beschreibt
Arvo Pärt seine Musik. In der SWR 2 Musikstunde hörten wir sein Werk Summa für
Streicher. Neeme Järvi leitete das Nationale Sinfonieorchester Estlands.
Arvo Pärt, letztes Jahre feierte er seinen 75. Geburtstag. Er ist der international
bekannteste Komponist Estlands und zugleich einer der ersten, der nach der 800-
jährigen Fremdbestimmung des kleinen Landes im Baltikum ein musikalisches
Nationalbewusstsein geschaffen hat. Pärt besuchte das Musikkonservatorium in
Tallinn, studierte dort bei Heino Eller, den Pärt als großzügigen, als toleranten
Lehrmeister in Erinnerung hat. „Er trieb nicht in eine bestimmte Richtung“, sagt Pärt,
„er leistete Hilfe, selbst wenn das, was man schrieb, nicht ganz seinem Credo
entsprach. Es waren anregende Lehrjahre.“
Arvo Pärt über seinen Kompositionslehrer Heino Eller. Eller selbst studierte noch am
Petersburger Konservatorium, setzte sich aber dann in seiner Heimat, erst in Tartu,
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dann in Tallinn für eine estnische Kompositionsschule ein. Eller hat viel
Instrumentalmusik geschrieben, sein Stil wird oft als typisch nordisch charakterisiert,
was sicher an den Motiven baltischer Volksweisen liegt. Heimat nannte er das
folgende Stück.
Musik 2 Heino Eller: Heimat
Ostbottnisches Kammerorchester / Juha Kangas
Radiomax M0011311 016 3‘40
Heino Eller – Nach 1945 einer der wichtigsten Musikpädagogen in Estland, auch
Arvo Pärt zählte zu seinen Schülern.
Pärts eigenwilliger Musikstil passte kaum in das von der Sowjetunion geprägte Bild,
das damals nach 1945 in Estland erzwungenermaßen vorherrschte. Er komponierte
zwar, konnte davon aber nicht leben, sondern arbeitete zeitgleich als Toningenieur
beim estnischen Rundfunk. Mit seinen frühen tonalen Werken hat Pärt einige Preise
gewonnen. Doch mit der seriellen Musik, einer streng- reglementierten Zuspitzung
der Zwölftonmusik verspielte er seinen Kredit, man warf ihm „westliche Dekadenz“
vor. Seine spätere Hinwendung zu religiösen Texten und zu geistlicher Musik führte
zur vollständigen Ablehnung, ja Diffamierung durch das sowjetische Regime.
Die Uraufführung seines Credos am 16. November 1968 in Tallinn löste einen
Skandal aus. Ein religiöser Text zu einer Musik, die zwar aus der Tonalität kommt,
genauer gesagt aus dem C-dur Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier von
Johann Sebastian Bach, die sich aber über eine Zwölftonreihe ins vermeintliche
Chaos der Aleatorik, also einer Zufälligkeit steigert – und dennoch ist es der
Dreiklang, der das Credo von Pärt am Ende bestimmt. Für Pärt war der Weg
schlüssig, für das damalige Publikum nicht.
Hören wir das Credo für Klaviersolo, gemischten Chor und Orchester von Arvo Pärt.
Musik 3 Arvo Pärt: Credo für Klaviersolo, gemischten Chor und Orchester
Boris Berman Philharmonia Chorus und Orchestra / Neeme Järvi
Radiomax M0042144 011 12‘19
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Credo für Klavier, gemischten Chor und Orchester von Arvo mit dem Pianisten Boris
Berman. Neeme Järvi leitete Philharmonia Chorus und Orchestra. Järvi leitete auch
schon die Uraufführung damals am 16. November 1968. Er ist zwei Jahre nach Pärt
in Tallinn geboren, ein langjähriger Wegbegleiter. Er war Chefdirigent des estnischen
Radio-Sinfonieorchesters und Intendant der estnischen Staatsoper bis er sich dann
1980 in die USA abgesetzt hat.
Im selben Jahr emigrierte übrigens auch Arvo Pärt auf Druck des sowjetischen
Regimes. Er ließ sich in Berlin nieder, wo er heute noch im Wechsel mit Tallinn lebt.
Neeme Järvi, der Vater der beiden Dirigenten Paavo und Kristjan hat Arvo Pärts
Musik damals über den eisernen Vorhang in den Westen gebracht und sich sehr für
die Verbreitung gerade auch in Amerika eingesetzt. Auch Gidon Kremer war einer
der frühen Botschafter von Pärts Musik. Tabula rasa und Fratres waren mit die ersten
internationalen CD-Veröffentlichungen.
Heute ist Pärt einer der populärsten zeitgenössischen Komponisten, auch wenn er
unter den Gegenwartskomponisten nicht ohne weiteres zur Neuen Musikszene
gezählt wird.
Sie merken es, Pärts Musik ist umstritten. Für die einen ist sie nicht neu, nicht
modern genug, zu rückwärtsgewandt, zu tonal, für die anderen ein typischer Fall von
Minimalismus, auch da sieht sich Pärt selbst nicht angesiedelt. Fest steht, dass er
äußerst populär und erfolgreich ist und von einem riesen Publikum gerne gehört wird.
Es ist Musik, die berührt.
„Ich bin nicht sicher, ob es Fortschritt in der Kunst geben kann.“ – sagt er. „Es ist als
gäbe man uns eine Aufgabe zu lösen, eine Zahl (eins z.B.), die schrecklich komplex
wird, wenn sie zerlegt wird. Das Finden einer Lösung ist ein langer Prozess und
erfordert tiefe Konzentration, doch die Weisheit liegt in der Reduktion.“
Gedanken von Arvo Pärt.
Dieser Reduktion hat er einen Namen gegeben: „Tintinnabuli“, das bedeutet
Glöckchen: „Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich
baue aus primitivem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonqualität. Die
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drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich.“ So ist der Name Tintinnabuli
entstanden und das erste Werk, das Pärt nach einer langen kompositorischen
Abstinenz in diesem neuen Stil geschrieben hat, heißt „Für Alina“, einem etsnischen
Mädchen gewidmet.
Ein Klavierstück, das aus der Stille kommt. Über einen tiefen Oktavklang ertönen im
Tintinnabuli-Stil Dreiklänge….
Musik 4 Arvo Pärt: Für Alina
Alexei Lubimov, Klavier
Radiomax M0044677 001 2‘06
Für Alina, gespielt von Alexei Lubimov, der Beginn einer neunen Musiksprache von
Arvo Pärt. 1976 wurde das Stück in Tallinn uraufgeführt.
Pärts Werke werden in diesem Jahr in Tallinn zu den Feierlichkeiten Kulturhauptstadt
2011 viel gespielt und gesungen. Er schreibt eigens ein Werk für Tallinn, das im
Sommer uraufgeführt wird: Aadama itk – Adams Lamento. Arvo Pärt ist, bei aller „In
sich Gekehrtheit“, bei aller musikalischen Stille, ein sehr politischer Mensch ist. Für
sein völkerverbindendes und friedenstiftendes Engagement wurde er mehrfach
ausgezeichnet.
In den Jahren 2006 und 2007 widmete er all seine Konzerte der ermordeten
russischen Journalistin und Putin-Kritikerin Anna Politkovskaya. Seine vor zwei
Jahren uraufgeführte 4. Sinfonie widmete er dem inhaftierten russischen Oligarchen
Michail Chodorkowski.
Für den ehemaligen estnischen Präsidenten Lennart Meri schrieb Pärt die Begräbnis
Musik – „Für Lennart in memoriam“. Er würdigte damit einen charismatischen
Politiker, den ersten Außenminister der Republik Estland und den zweiten frei
gewählten Präsidenten. Meri war einerseits Politiker, andererseits ein Schöngeist, ein
kulturinteressierter Zeitgenosse, er war selbst Historiker, Filmemacher und
Schriftsteller.
Eine wichtige Figur in der Selbstfindung Estlands, im Kampf um seine
Unabhängigkeit. Vielleicht erinnern Sie sich noch an Meris Rede, die er 1995 am 5.
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Jahrestag der deutschen Einheit in Berlin gehalten hat. Eine Rede, in der er sich mit
dem schwierigen Umgang der Deutschen und ihrer Geschichte auseinandergesetzt
hat. Das ist hier nicht unser Thema, man kann die Rede nachlesen.
Auch Erkki-Sven Tüür hat für den außergewöhnlichen Staatsmann ein musikalisches
Porträt geschrieben, das eine kurze Beschreibung seines Lebens sein soll, voller
Auseinandersetzungen und Veränderungen. Der Anfang erinnert an die
Jahrtausende alte schamanische Tradition Estlands.
Musik 5 Erkki-Sven Tüür: Igavik – Ewigkeit Estnisches Nationalorchester /
Estnischer Nationaler Männerchor / Leitung: Paavo Järvi
Radiomax Virgin Classics Nr. 385785 2, Take 3 4‘24
Igavik - Ewigkeit – ein musikalisches Porträt des estnischen Staatspräsidenten
Lennart Meri, der 2006 gestorben ist. Erkki-Sven Tüür hat es komponiert. Paavo
Järvi leitete den Estnischen Nationalen Männerchor und das Estnische
Nationalorchester.
Arvo Pärt und Erkki Sven Tüür zwei gegensätzliche Komponisten, der eine hat sich
aus der geistlichen Musik heraus erneuert, der andere, Tüür kommt von der
Rockmusik, gründete mit 20 als Flötist die Gruppe „In Spe“ – „In der Hoffnung“, ein
Name der im sowjetischen Estland als Provokation empfunden wurde. Tüür setzt in
seiner kompositorischen Arbeit auf Kontraste, auf alte Runengesänge und moderne
Elemente.
Die beiden international bedeutendsten estnischen Komponisten prägen auch die
Feierlichkeiten zur Kulturhauptstadt in diesem Jahr. Als ich Anfang März in Tallinn
war, steckten die kulturellen Aktivitäten noch ein wenig im Winterschlaft. In der
Staatsoper wurde ein Pipi Langstrumpf Musical gezeigt und Erkki Sven Tüürs
Uraufführung von Awakening stand kurz bevor und war in der ganzen Stadt schon
plakatiert. Inzwischen ist die Premiere in der Estnischen Konzerthalle erfolgt und die
Kollegen des estnischen Rundfunks haben uns eine Aufnahme zur Verfügung
gestellt. Awekening – Erwachen für gemischten Chor und Kammerorchester. Der
Komponist beschreibt es als ein Zusammentreffen des immer noch präsenten alten
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pantheistischen Glaubens Estlands und des Christentums. Es basiert auf liturgischen
österlichen Texten, deutschen Gedichten von Hölderlin und estnischen Texten von
Juhan Liiv, Ernst Enno, Jaan Kaplinski und Doris Kareva.
Musik 6 Erkki Sven Tüür: Awakening, Ausschnitt
Estnischen Philharmonischen Chor und die Sinfonietta Riga / Leitung
Daniel Reus
Radiomax Mitschnitt vom Estnischen Rundfunk EURO/2011-2011/TA/004 6‘00
Erkki Sven Tüür, Ausschnitt aus Awekening für gemischten Chor und
Kammerorchester. Daniel Reus leitete den Estnischen Philharmonischen Chor und
die Sinfonietta Riga. Das Werk wurde im März in der Konzerthalle in Tallinn
uraufgeführt.
Die Theater und Konzertsäle von Tallinn liegen auf dem Ring, der sich um die
Altstadt zieht.
Das Theater „Estonia“ wurde 1870 als Gesangs- und Spielverein gegründet. Erst 30
Jahre später hat sich eine professionelle Theatertruppe gebildet und kurz darauf kam
eine Musikbühne hinzu. Den schlichten klassizistischen Bau haben zwei finnischen
Architekten entworfen. Im zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude zerstört und dann
auf Initiative der Bevölkerung Tallinns wieder aufgebaut. Heute heißt es offiziell
„Estnische Nationaloper“. Einer der bekannten estnischen Opernsänger, der hier
gefeiert wurde, war Georg Ots, nach ihm ist in Tallinn auch eine Straße benannt.
Georg Ots, 1920 in Petrograd geboren. Er war ein sowjetischer Held, sang in
Petersburg, am Moskauer Bolschoi-Theater und debütierte als Eugen Onegin an der
Estonia Oper in Tallinn. Er spielte in einigen Musikfilmen mit, sang Kunst-, aber auch
estnische und russische Volkslieder. Sein Ruhm reichte bis nach Westeuropa und
Amerika. Im Alter von 44 Jahren ist Georg Ots in Tallinn an einer Krebserkrankung
gestorben.
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Ich habe in unserem SWR Archiv nur ein einziges Lied mit Ots gefunden, ein
russisches Lied: es handelt von der tüchtigen Melkerin Sorka.
Hören wir uns den bekannten estnischen Opernsänger Georg Ots an, eine
Aufnahme aus dem Jahr 1960, es knistert und knackt, aber dennoch erkennt man die
schöne, warme Stimme
Musik 7 Anonymus: Sorka, Lied / Georg Ots
Radiomax M0075926 003 2‘17
Georg Ots mit dem russischen Lied Sorka – nach Ots in ist in Tallinn nicht nur eine
Straße benannt, sondern so hieß auch eine Fähre, die viele Jahre zwischen Tallin
und Helsinki hin und her schipperte und Osts fliegt auch im Weltraum um die Sonne,
denn ein russischer Astronom hat 1977, zwei Jahre nach Ots Tod, einen Asteroiden
nach ihm benannt.
Wir sind mit unserer Stippvisite in der Estnischen Nationaloper noch nicht ganz
durch. Im Seitenflügel ist ein großer Konzertsaal eingerichtet. Dort wo Erkki Sven
Tüürs Awakening uraufgeführt wurde. Der Saal ist Heimstätte für den Staatlich
Akademischen Männerchor und das Estnische Nationalorchester.
Nicht weit vom Theaterplatz und dem anschließenden Tammsaare Park, benannt
nach dem estnischen Schriftsteller Anton Hansen Tammsaare, kommen wir zum
Freiheitsplatz, dem Vabaduse Väljak, kein besonders schöner, aber ein
repräsentativer Platz. Hier sitzt die Stadtverwaltung, hier bauen im Dezember
Händler die Buden des Weihnachtsmarktes auf, hier findet am 24. Februar, am Tag
der Unabhängigkeit der Parademarsch der estnischen Wehrtruppen statt und im
Sommer reicht der Platz für Freilichtveranstaltungen.
Schönstes und zugleich ältestes Gebäude am Freiheitsplatz, ist die neugotische
Johanniskirche. Der estnische Orgelbauer Gustav Normann hat die erste Orgel
eingebaut, die jedoch im Original nicht mehr erhalten ist. August Terkmann hat die
Orgel umgebaut, vergrößert und modernisiert. Vor dem zweiten Weltkrieg wurden
jedoch einige Pfeifen geklaut und durch ständige Wärmeschwankungen ist die Orgel
nicht in bestem Zustand. Eine Bürgerinitiative hat sich dafür eingesetzt, dass der
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deutsche Orgelbauer Kristian Wegschneider die Originalorgel von Norman
rekonstruiert.
In der vorliegenden Aufnahme spielt die Organistin Pille Metsson an der August
Terkmann Orgel der Johanniskirche in Tallinn Finale aus der Orgelsonate von
Johannes Hiob, der lange Zeit in Tallin Organist und Chorleiter war.
Morgen lesen wir in den kuriosen Geschichten Werner Bergengruens „Der Tod von
Reval“-
Musik 8 Johannes Hiob: Orgelsonate Take 9
Pille Metsson, Orgel
eres CD 103 5’53
Pille Metsson spielte an der Orgel der Johanniskirche in Tallinn Finale aus der
Orgelsonate von Johannes Hiob. Das war in SWR 2 die Musikstunde mit Ulla Zierau:
Ein musikalischer Spaziergang durch die Kulturhauptstadt 2011 – Tallinn.
Musiktitel, Manuskript sowie einige Illustrationen zu dieser Reise finden Sie auf
unserer Internetseite. SWR 2.de.