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Insel Verlag Leseprobe Fletcher, Susan Das Geheimnis von Shadowbrook Aus dem Englischen von Marieke Heimburger © Insel Verlag 978-3-458-17816-3

978-3-458-17816-3 - Suhrkamp Verlag · Das Grün eines winzigen Ochsenfroschs. Meine Mutter unterrichtete mich. Sie hatte betont, dass sie mehr als genug Bildung besitze, um die Hauslehrerin

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Insel VerlagLeseprobe

Fletcher, SusanDas Geheimnis von Shadowbrook

Aus dem Englischen von Marieke Heimburger

© Insel Verlag978-3-458-17816-3

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Susan Fletcher

Das Geheimnisvon Shadowbrook

Roman

Aus dem Englischenvon Marieke Heimburger

Insel Verlag

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel House of Glassbei Virago Press, einem Imprint von Little, Brown, London.

Erste Auflage © der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin

© Susan Fletcher, Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN ----

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Für Olli

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I

Mit meinem Gerüst stimmt etwas nicht. Also mit meinemSkelett – dem Teil von mir, über den alles andere gespannt,an dem alles befestigt ist. Ich habe Knochenmark und Hohl-räume, ich habe die glatten, runden Enden, die sich in Ge-lenke fügen – es fehlt kein einziges Teil. Aber meine Kno-chen sind zerbrechlich. Sie knacken bei jeder Bewegung. AlsKind habe ich mir durch die kleinste Geste, wenn ich nurden Kopf hob, Knochenbrüche zugezogen. So leicht, dassselbst die Ärzte erschrocken zurückzuckten und den Kopfschüttelten: völlig marode Knochen.

Die lateinische Bezeichnung meines Leidens ist zu lang, alsdass man sie beiläufig erwähnen könnte. Osteogenesis im-perfecta. Zweiundzwanzig Buchstaben, die den Kiefer knir-schen lassen und die wir anfangs langsamübenmussten. Mei-neMutter flüsterte die beidenWorte wie einGebet oder eineBeschwörungsformel. Auch ich sprach sie, wenn ich alleinwar, manchmal vor mich hin. Aber wir verwarfen sie schonbald und ersetzten sie durchClarasKnochen.Das hatte ich inden Zimmern und auf den Fluren des Krankenhauses aufge-schnappt – und diese wesentlich greifbareren, vertrauterenWorte trugen in sich, dass dieses Leiden mein eigenes war.Dass es in ganz London oder sonst wo niemand anderengab, dessen Rippen brachen, wenn er nieste. Dessen Zähneabbrachen, wenn er mit einem Löffel dagegenstieß.

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Inzwischen hat die Krankheit mich weniger fest im Griff.Ich bin immer noch von seltsamer Gestalt. Das Weiße mei-ner Augen schimmert immer noch bläulich – so wie Milchim Glas. Und meine Haut ist an manchen Stellen blasser –nämlich da, wo sie sich über verheilte Knochenbrüche stre-cken muss: eine hervorstehende Rippe, mein eingedrücktesSchlüsselbein. Darum werde ich diese lateinische Bezeich-nung und ihre Bedeutung nie ganz loswerden. Doch jetztbin ich wenigstens ausgewachsen. Meine Knochen sind stär-ker geworden, sie haben sich gefestigt.

Aber als Kind brach ich sie mir oft. Ich lebte in einer Weltaus Ärzten und Schienen, aus Tinkturen, die mir seltsameKnochenträume bescherten. Immer wieder schwoll ich ir-gendwo an, Blutergüsse wanderten über meinen Körper wieStürme oder Fluten – sanft, in sämtlichen dunklen Schat-tierungen. Der erste Bruch, an den ich mich erinnern kann,widerfuhr mir im Winter: Ich stand auf der Treppe vor derHaustür und bestaunte den Schnee, und das hörbare Kna-cken in meinem Arm wurde nicht durch einen Sturz verur-sacht, sondern durch meineMutter, die mich plötzlich pack-te und festhielt, um mich vor einem Sturz zu bewahren. Siewar ganz richtig ihrem Instinkt gefolgt, doch ihr Griff brachmir den Oberarmknochen – und ihr fast das Herz. Untröst-lich saß sie an meinem Bett, wiegte sich und murmelte vorsich hin.

Mal brach ich mir auf der Regent Street den Kiefer. Malstieß ich mit einem Passanten zusammen und brach mirdie Rippen, worauf ich jäh den Atem ausstieß und aufdem Boden zusammensank, als hätte man die Luft aus mirherausgelassen.Mal kugelte ichmir auf demTrafalgar Squaredie Schulter aus, als ich die Hand nach einem vorbeiflattern-den Vogel ausstreckte – und mein Aufschrei ließ alle ande-

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ren Vögel auffliegen, so viele, dass ich ihren Luftzug spürte.Danach verfügten die Ärzte, dass mein Leben von nun anausschließlich drinnen stattfinden müsse. Bis ich ganz aus-gewachsen wäre, sollte ich zu meiner eigenen Sicherheit dasHaus nicht mehr verlassen. Als meine Mutter protestierte– Aber sie ist doch ein Kind! –, verwiesen sie auf die anderen,kleineren Knochen in meinem Nacken. Die Halswirbel undihre Funktion. »Begreifen Sie, was das für Ihre Tochter be-deuten könnte, Mrs Waterfield?« Und dann erwähnten sienoch den sehr fragilen Teil meines Schädels, der aufbrechenkönnte wie ein Ei.

Zu Hause wurde alles gepolstert. Mit Samt und Daunen, be-sticktenKissen, Perserteppichen und Seide.Wir hatten einenGlobus. Und ein Schaukelpferd, das ich zwar anfassen, aufdem ich aber nicht reiten durfte. Meine Eltern brachtenmir aus der turbulentenWelt draußen Dinge mit, von denensie glaubten, dass sie mir vielleicht fehlen könnten: Tannen-zapfen und Taubenfedern; den Pferdegeruch an den rotenHandschuhenmeinerMutter, den ich mit geschlossenen Au-gen einsog. Sie erzählten mir, wie der Fluss in der Dämme-rung ausgesehen hatte.Wie die Weihnachtssänger gesungenhatten, trotz des Regens. Als Mr Jamrachs Menagerie einenBären erwarb, streckte meine Mutter die Arme weit emporund sagte: »Der Bär ist so groß, Clara! Und so breit!«

In jedem Zimmer standen Blumen. An den Wänden hin-gen Karten ferner Länder. Einmal imHerbst bat ich um ech-tes Laub von den Bäumen, über die ich in Büchern gelesenhatte –Bergahorn, Buche, Kastanie, Eiche –, undmeineMut-ter streifte durch sämtliche Londoner Parks. Jeden Tag be-schrieb siemir,was sie gesehenhatte: einenwunderhübschenHut oder einen eleganten Schnurrbart oder ein Pferd mit ei-

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nem sternförmigen Abzeichen auf der Stirn. Sie berichtetevon Schornsteinfegern und Fuchsstolen – und wenn sie malnicht aus demHaus ging, erzählte sie mir eine ihrer Geschich-ten aus Indien und gab mir das Gefühl, selbst weitgereistund weltgewandt zu sein. Möbelecken waren mit Stoff ab-gepolstert. Glaswaren wurden außerhalb meiner Reichweiteaufbewahrt. Um meine Zähne zu schonen, dünstete Milli-cent – unser Dienstmädchen – das Obst, bis es jegliche Formund jeden Geschmack verloren hatte. Sie buk extra weichenLebkuchen.

Vor allem aber gab es bei uns zu Hause Bücher. Bücherwaren mein Trost. Denn wenn ich schon nicht in der strah-lenden, fabelhaften Welt da draußen herumlaufen konnte, sokonnte ich wenigstens drinnen von ihr lesen. In Büchern, sosagte man mir, stünde das alles drin. Und so wurde das Ess-zimmer zu meinem siebten Geburtstag in eine Bibliothekverwandelt, ein Zimmer voller Regale undKartenundGobe-lins, mit einer Leselampe mit Fransen am Schirm und einemKonzertflügel, auf dem ich wegen meiner Finger und Hand-gelenke nicht spielen konnte – dafür spielte meine Mutter,und zwar sehr gut. Es gab eine Chaiselongue, die zunächstmoosfarben war. Doch je mehr ich las, je mehr Karten ich stu-dierte, desto mehr verwandelte sich das tiefe, samtige Grünin die Farbe vonKolibriflügeln oder vonOthellosNeid odervon Edelsteinen, die am Äquator im Boden schlummerten.Das Grün eines winzigen Ochsenfroschs.

Meine Mutter unterrichtete mich. Sie hatte betont, dasssie mehr als genug Bildung besitze, um die Hauslehrerin ih-res einzigen Kindes zu sein – und stimmte das etwa nicht?ChemieundMultiplikation, Sternbilderund französischeVer-ben. Und natürlich kannte sie das menschliche Skelett, seitmeiner Geburt hatte sie alles über sämtliche Knochen ge-

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lernt – wo sie sich befanden, was ihre Funktion war, wie sieauf Lateinisch hießen.Welches Geräusch sie machten, wennsie brachen. Sie konnte Knochen aufsagen wie die Konti-nente.

Wir hatten Bücher über die arktische Tundra. Über Mu-scheln. Über Dinosaurier. Darüber, wie Bienen Honig ma-chen. Über den Krimkrieg. Bis in den Abend redeten wirüber die höchsten Berge der Welt und Magellans Route unddie Eigenschaften von Quecksilber und über Eulenreviereund die Suffragette Emmeline Pankhurst – »Verstehst dumich, Clara?« –, über die griechischenGöttinnen undGötterund ihre späteren römischen Namen. Manchmal klopfte ichan Patricks Tür, er sah vom Schreibtisch auf und ließ denFüller sinken. »Was hast du heute gelernt?«Und freudestrah-lend gab ich Auskunft: Saturn ist der Planet mit den Ringen.König Richard hat die ersten Kreuzzüge angeführt. Und ersagte Du meine Güte!, als hätte er das alles nicht gewusst.

In unserer Bibliothek gab es auch Romane. Die las meineMutter. Sie verschlang sie förmlich: Milton und Brontë undaus dem Russischen übersetzte Bücher, so dick, dass sie mirleicht einen Knochen hätten brechen können. Ich aber laslieber vom wirklichen Leben. Ich wollte Fakten – niederge-schrieben von Menschen, die tatsächlich geklettert oder ge-schwommen waren, die tatsächlich getanzt oder sonst wiegetan hatten, worüber sie schrieben, Menschen, die sich dasalles nicht nur ausgedacht hatten. Zum Geburtstag wünsch-te ich mir immer wieder Almanache. Ich mochte Kalender,ihrer geordneten Form wegen, wo alles seinen Platz hatte.Und seither frage ich mich, ob ich damit etwas kompensie-ren wollte. Ob ich, weil ich meinem eigenen Gerüst nichttrauen konnte, nach anderen Dingen suchte, auf die Verlasswar: Wörterbücher,Tabellen, Fachliteratur. Botanische Zeich-

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nungen.Vogel-Enzyklopädien. Das in Leder gebundene, duf-tende Buch zurAnatomie desMenschen gabmir so viel mehrals Knochen: Organe und Gefäße, Muskeln undWörter wie»Herzkammer«.

Mein Stiefvater war es, der all das beschaffte.Wenn er abendsmit Büchern beladen nach Hause kam, trampelte Patrick sichim Flur so nachdrücklich den Regen von den Schuhen, dassich fürchtete, er könnte dabei zerbrechen. Patrick war so ha-ger. So blass, fast blutleer. Ein scheuer, wortkarger Brillenträ-ger, der nur selten mit den Augen lächelte. Er las auch nurselten Bücher – und er war noch nie irgendwo anders als inLondon gewesen. Es mutete seltsam an, dass ein Mann wieer für die knackende Tochter seiner Frau eine Bibliothek ein-richtete und ein Schaukelpferd kaufte.Vielleicht war es Mit-leid. Denn auch Patrick wusste, was es hieß, sich stets drin-nen aufzuhalten.

Tagsüber arbeitete er in einer Bank in der Nähe von Char-ing Cross, die Nächte und Wochenenden verbrachte er inseinem Arbeitszimmer, in dem die Vorhänge stets halb zu-gezogen waren. Umgeben von Mahagonimöbeln und einerWagenuhr, die zu jeder vollen Stunde schlug, saß er Pfeiferauchend da und las Zeitung. Ab und zu spielte er mit mei-ner Mutter Schach – dann war die Tür nur angelehnt, damitich ihnen zusehen konnte –, eine stille, gemächliche Angele-genheit, während der sie nur wenig sprachen, sie kommen-tierten höchstens das Spiel oder wechselten Bemerkungen zumeinen Knochen. Doch sie schienen zufrieden zu sein – mitihrer Ehe, die so viele große Wüstenflecken aufwies. Manch-mal spielte Patrick auch eine Partie mit einem Freund – ei-nem zurückhaltenden, nach Pomade duftenden Mann. Beidiesen Spielen konnte ich nicht zusehen, weil sie hinter ver-

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schlossener Tür stattfanden – und das Schlüsselloch war zuklein, als dass ich dadurch etwas hätte sehen können. Ichlungerte derweil im Flur herum und beäugte den an derGarderobe hängenden Filzhut.

Meine Mutter – Charlotte – war völlig anders. Sie strahl-te, gestikulierte und war abenteuerlustig. Sie war auch viellieber draußen als drinnen, oft stand sie ohne jeglichen fürmich ersichtlichen Grund barfuß im Garten. Sie war nichtgroß – aber robust. Charlotte konnte kämpfen, sich wehren;sie ging für die Rechte der Frauen auf die Straße, und wennsie wiederkam, legte sie sich auf die grüne Chaiselongue,ganz außer Atem vor Zorn oder Stolz oder Erschöpfung. Sieerzählte mir seltsame, exotische Geschichten aus ihrer Kind-heit, über die ich oft noch tagelang nachdachte: Sorbets imHotel Peliti oder nachtblühende Blumen, die bei Sonnen-aufgang aufhörten zu duften. Leoparden, die auf Bäumenschliefen und dabei alle vier Tatzen und den Schwanz herun-terhängen ließen.

Ein seltsames Paar, sagte Millicent einmal, als sie die Rin-de von meinem Brot abschnitt. Wie hätte ich ihr nicht zu-stimmen sollen? Sie waren so unterschiedlich wie Sonne undMond. Der eine zog sich in ein verdunkeltes Zimmer zurück.Die andere liebte die frühen Morgenstunden und wirkte wieaus Licht gemacht.

Meine kleine, tapezierte Welt. Ich war fleißig, man kümmer-te sich ummich – und an guten Tagen konnte ich zwitschernwie ein Vögelchen. Aber ich hatte auch eine dunkle Seite.Manchmal verkroch ich mich wochenlang hinter meinenBüchern und aß nichts, manchmal schimpfte ich über meinEingesperrtsein, als sei es die größtmögliche Grausamkeit.Dann versuchte ich, Fenster zu öffnen, oder schleuderte Bü-

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cher quer durch das Zimmer –was meine Mutter jeweils mitbösenBlicken quittierte. »DeineKnochen,Clara! Schon ver-gessen?« Einmal entgegnete ich, meinen Knochen gehe esganz hervorragend, eine ständige Überwachung meines Le-bens sei nicht mehr nötig – und kleidete mich an, als wollteich hinaus auf die Straße gehen: Ausgerüstet mit MillicentsSchal und Hut bat ich meine Mutter, mich vorbeizulassen,aber sie weigerte sich. Sie stand vor der Haustür, den Zeige-finger mahnend erhoben. Mit wütender Miene erinnerte siemich an ausgekugelte Gelenke.

Renitent nannteMillicent mich. Sie raunte dasWort einemHuhn zu, während sie es rupfte – ich hatte es vorher nochnie gehört. Ich schlug es im Wörterbuch nach: aufmüpfig.Ein Neuzugang auf meiner persönlichen über die Jahre ge-sammelten Liste von Adjektiven: dickköpfig, verwöhnt, be-dauernswert, ungezogen. Traurig. Zu anspruchsvoll. Armeskleines Ding. Auch müde – eine Begleiterscheinung meinerKrankheit war bleierne Müdigkeit, die mir abends wie feuchteLuft in die Knochen kroch. Aber ich war auch des Lebensmüde, des Lebens, das ich führte – der langen, immer glei-chen Tage, an denen ich den Wind nur als ein Rauschen imSchornstein kannte und das echte Leben nur aus Büchern.MeineMutter wusste, wann es mir so ging. Sie wusste, wannich in denArmgenommenwerdenmusste.Und abends, wennsie mich zudeckte, sprach sie davon, wie alles werden wür-de, wenn ich erst erwachsen wäre – stark, behände und un-versehrt. »Eines Tages wirst auch du reiten.«

Und dennoch brach ich mir die Knochen. Sämtliche Kis-sen und Vorsichtsmaßnahmen konnten nicht verhindern, dassmir hin und wieder ein Zahn abbrach oder ich mir den Zehan einem Möbelbein stieß und zertrümmerte. Meine Knieknickten unter mir weg. Ich brach mir die Rippen, wenn ich

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schlecht träumte oder im Winter mal zu kräftig nieste – undeines Nachmittags, ich war schon kein Kind mehr, stieß ichmit der Hüfte gegen das Treppengeländer. Der Bruch wardeutlich zu hören, die Schmerzen so unmittelbar und hef-tig, dass sich mein Mund mit bitterem Speichel füllte unddie Welt um mich herum kurz schwarz wurde. Ich hattemir den Oberschenkel gebrochen: Drei Monate lang warich anschließend von Medikamenten benommen auf einemBrett festgebunden, würdelos. Ich nahm ab.Wenn ich konn-te, weinte ich – still, zurWand gewandt. Mein einziger Trostwaren die Fürsorge meiner Mutter und ihre Geschichten –

Geschichten aus dem Land, in dem sie gelebt hatte, bevorsie mich bekam, einem Land, in dem es zu jeder vollen Stun-de regnete.Wo Männer auf den Märkten mit Eis handelten.

Damals hieß sie noch Charlotte Pugh. Sie war die Tochtereines Colonels der britischen Armee und seiner pflichtbe-wussten Ehefrau, die Kalkutta gehasst hatte. Die Hitze unddie Märkte. Den Hafengeruch und die Geckos, die über dieAnrichten flitzten und ihre Exkremente auf Tellern hinter-ließen. Und so verbrachten sie die heißen Monate immerwieder im Norden, in Simla. Im Land des High Tea.Wo Ra-sentennis und Whist gespielt wurde.

»Hat es dir dort gefallen?«Ein Schrein für einen Affengott auf dem Jakku Hill. Streu-

nendeHunde, die unter demKasuarinenbaum schliefen. »Ja,das hat es.«

»Und warum bist du dann fortgegangen?«Sie erzählte von einemVogel, von einemHirtenmaina, der

mit einem Stock geschlagen und dann freigelassen wurde,nachdem er ein sündiges Wort ausgesprochen hatte – undich ahnte, dass Charlotte weggeschickt worden war. Aber

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warum? Sie antwortete nicht direkt. Sagte nur, dass sie zukühn und ihr Gefieder zu schwarz gewesen sei für ihre El-tern, die Wert auf Glauben und Disziplin legten und dieihr nicht verzeihen konnten – aber was machte das schon?»Jetzt bin ich rundherum glücklich.«

Sie lächelte – aber ich war nicht überzeugt. »Was konn-ten sie dir nicht verzeihen?«

Doch sie antwortete nicht. Meine Mutter deckte mich or-dentlich zu, meinte, Millicent rufen gehört zu haben, undverließ das Zimmer. Ich betrachtete ihren Stuhl und spürtedie Lüge.

Ich fragte sie wieder. Ich wollte mich nicht abwimmeln las-sen. Und so sagte ich eines stickigen Abends im Spätsom-mer – ich lag auf meinemHolzbrett, meineMutter saß nebenmir, ein Bein untergeschlagen, und las –: »War mein Vaterschuld?«

Sie sah von ihren Gedichten auf,Wachsamkeit im Blick.»Daran, dass sie dich weggeschickt haben.Weil du so ein

schwarzes Gefieder hattest.War es seine Schuld?«Charlotte wirkte wie in die Enge getrieben. Langsam schlug

sie das Buch zu und legte es beiseite. Dann betrachtete sie dieWand. Dann antwortete sie auf meine Frage – teilweise zu-mindest. »Ich war neunzehn, Clara. Ich war noch jung – aberich hielt mich für viel älter. Und klüger. Aber ich war nichtklüger. Und hinterher stand ich an Deck eines Schiffs na-mens Persia und sah Kalkutta immer kleiner werden.«

Stundenlang habe sie sich an der Reling festgehalten. Ihrsei übel gewesen, aber nicht nur vom Seegang. Und ich ver-stand einen Teil ihrer Geschichte – aber nicht alles. »Sie ha-ben dich wegenmir weggeschickt? Weil ich in deinem Bauchwar?«

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»Wegen dir? Oh, nein, nicht wegen dir.Wie sollte das denngehen? Du bist doch das Beste, was ich habe, schon verges-sen? Nein – ich trug keinen Ehering.«

»Warum?«»Darum.«»Wer war er? Mein richtiger Vater?« Eine unschuldige,

unbedeutende Frage.Aber die Frage war nicht unbedeutend. Sie veranlasste

meine Mutter, sich zu verschließen – wie ein Luftzug eineTür schloss. Sie erhob sich, das Buch in der Hand. »DeinVater«, sagte sie, »ist Patrick. Dein Familienname ist Water-field. Brauchst du noch etwas Wasser, Clara?«

In jener Nacht verstand ich es. Das war doch ein seltsamerTausch gewesen: Indische Sommer, der Duft von Jasmin undihre Familie – gegen was? Gegen London. Gegen ewigesGrau. Gegen ein Leben mit einemMann, der sie kaum je an-rührte, der keine Bücher las und den Monsun nicht kann-te. Und warum? Um den Anstand zu wahren, vermuteteich. Eine Frau mit einem Kind konnte nicht allein leben, siebrauchte einen Ehemann. Ein Kind brauchte einen Vater.Und ich dachte, kein Wunder, dass sie auf die Straße geht.KeinWunder, dass sie mir erklärt, dass die Stärke einesMen-schen nicht in seinen Knochen liegt.

Der Morgen graute, und mir wurde bewusst, wie sehrmeine Frage sie verletzt hatte. Und dass ich meine Mutterzu sehr liebte, als dass ich sie jemals wieder so etwas fragenwürde.Wozu auch? Ich war eineWaterfield. Patrick erzählteAnekdoten aus meinen ersten Lebenswochen – wie es Väternun mal tun. Nie wieder würde ich Fragen zu dem schwarzgefiederten Vogel oder Eheringen stellen. Ich ließ die Persiaweiter gen Süden segeln.

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Der Bruch in meinem Oberschenkel heilte nicht. Jedenfallsnicht so, wie er sollte. Mein linkes Bein war hinterher kür-zer. Ich hatte Unglück im Glück.

»Vielleicht würde es helfen, wenn du ein bisschen herum-läufst«, schlug meine Mutter vor. »Ein bisschen mehr alssonst.« Denn in unseren tapezierten Räumen waren keinelängeren Spaziergänge möglich.

Die Ärzte pflichteten ihr bei: Es wurde Zeit. Und so hießes an einem strahlenden, kalten Donnerstagmorgen EndeOktober – drei Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag –endlich, ich sei stark genug, zusammen mit meiner Mutterdas Haus zu verlassen. Ich stand extra früh auf. Meine Mut-ter steckte mir die Haare hoch und tupfte etwas Rosenwas-ser auf meine Handgelenke. Sie bewunderte mich im Spiegelim Flur, stand mit den Händen auf meinen Schultern hintermir, und in demAugenblick sahenwir uns sehr ähnlich. »Bistdu bereit, Clara?«

Ichbetrat eineWelt aus LaubgeruchundPfeifenrauch, ausdem Rufen der Gänse über uns. Aus sich über die Themsereckenden Brücken und Omnibussen und Leierkästen undeiner Luft, die sich anfühlte, als würde ich kaltesWasser trin-ken, immer wieder – und eine Zeitlang vergaß ich mein Un-glück imGlück. Aber dann erinnerte ich mich wieder daran.Ich sah mein Spiegelbild in einem Schaufenster. Ich lief wei-ter – energisch, damitmeinHumpeln nachließ oder ganz ver-schwand. Aber es blieb. Es ließ mich nicht in Ruhe: ein aus-geprägtes, drehendes Schleifen, das esmir unmöglichmachte,mich schnell fortzubewegen. Ich wogte wie Wellen auf See,schraubtemich durch dieGegendwie ein Stößel durch einenMörser.

Krüppel. Dawar es plötzlich, als neuer Teil meines Lebens.Hast du dasMädchen gesehen…?AlsmeineMutter das hör-

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te, versuchte sie, mich abzulenken, indem sie auf die kunst-vollen Tore zum Richmond Park und ein Werbeplakat füreinen Zirkus hinwies. Aber ich hatte es gehört, und ich ver-gaß es nicht.

AmAbend sagte ich kaum etwas.MeineKnochen schmerz-ten vom vielenGehen. Ichwar erschöpft und roch nachKoh-lenfeuer.Vor allem aber war ich traurig. Die Vorstellung, denRest meines Lebens zu humpeln, fand ich unerträglich.Vonjetzt an würde ich für immer ein Krüppel und nie wie dieanderen sein. Und was war mit dem eines Tages, das meineMutter mir immer zugeflüstert hatte, um mich zu trösten?Was warmit jenem Tag in der Zukunft, an dem ich auf einemechten Pferd reiten würde? Ich würde nie auf einem echtenPferd reiten.

Ich musste mich auf einen Stock stützen. Patrick kaufte ihnmir – und in gewisser Weise war er richtig schön.Walnuss-holz mit einer silbernen Spitze. Ein runder, silberner Griff,der sich so fest in meine Handfläche drückte, dass ich an-fangs Blutergüsse bekam. Beim Gehen machte mein Stockleise, klickende Geräusche.

Ich schwor mir, mich nicht in dämmrige Räume zurück-zuziehen. Ich würdemich vor demKrüppel nicht versteckenund abends nicht heimlich weinen wie ein Kind – weil Ent-deckungsreisende und Königinnen das nicht taten. Ich woll-te lieber vorwärts gehen. Ich sah mir die Kunst, die Straßenund die Sehenswürdigkeiten an, von denen ich gehört hatte,ich erforschte London Straßenzug um Straßenzug. MeineMutter begleitete mich. Sie ging zwischenmir und der Bord-steinkante, sie funkelte alle an, die uns zu nah kamen odersich zu schnell bewegten – und bei feuchterWitterung wink-te sie eine Droschke herbei, damit ich nicht irgendwo aus-

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rutschte. Aber vor allem benannte sie alles, was wir passier-ten, damit ich es kennenlernte, damit ich alles begriff. DieHansom-Kutsche. Der Humpelrock. Das Alhambra Theateram Leicester Square. Die Veilchenverkäufer und die Baptis-tenprediger und die kleinen Pasteten, die an den Straßen-ecken von Jungs verkauft wurden, die halb so alt und großwaren wie ich. Sie brachtemir denUmgangmit Geld bei. Be-nannte jede Frucht auf demMarkt. Und in der National Gal-lery zeigte sie mir Kunstwerke, die die knienden Weisen ausdem Morgenland darstellten oder eine ruhende Venus oderwie Samson das Haar abgeschnitten wurde, und auf einmalkamen mir Bücher so unwichtig und klein vor.

Hinterher nahm sie mich mit zum Tee im The Strand.»Wie haben dir die Gemälde gefallen, Clara?« Die Spitze anden Servietten war hauchzart, die Küchlein zierten rosa Zu-ckerrosen. Und während meine Mutter den Tee einschenk-te, wurde mir klar, dass in der Vollkommenheit eine großeSchönheit lag. Sie lag in dem komplexenMuster auf den Tee-löffeln. Sie hatte in der erröteten, nackten Venus gelegen undin jeder entblößten Schulter, in jedem runden Oberschen-kel. Ganz gleich, was Bücher mir bisher beigebracht hatten:Schönheit war dunkelhaarig und dunkelmündig, Schönheitlag in Rundungen, die mir vollkommen abgingen. Und alsmeine Mutter die Zuckerzange zur Hand nahm, ging mirauf, dass meine Knochen nicht meine einzige Merkwürdig-keit waren. Ich war auch viel zu dünn. Und zu klein – ichwar kleiner als Mutter, die ihrerseits bereits nicht als großgalt. Und ich war viel zu blass: milchfarbene Brauen undWimpern sowie Haare, die meine Mutter einmal mit demMond verglichen hatte. Als ich jünger war, hatten mir dieseGeschichten gefallen. Aber jetzt fragte ich mich, welcher Teilvon mir überhaupt akzeptabel und irgendetwas wert war.

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