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978-3-476-02255-4 Heuer/Heiter/Rosenmüller (Hrsg.), Arendt-Handbuch © 2011 … · 2015. 10. 11. · ker Walter Benjamin . Doch die wichtigste Beziehung war die zu Heinrich Blücher,

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  • FoersterTextfeld978-3-476-02255-4 Heuer/Heiter/Rosenmüller (Hrsg.), Arendt-Handbuch© 2011 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de)

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    Kindheit und Jugend

    Am 14. Oktober 1906 wurde Hannah Arendt in Hannover geboren. Ihre Eltern, Martha Cohn Arendt und Paul Arendt , ein Ingenieur, stammten ursprüng-lich aus Königsberg, der Heimatstadt von Immanuel Kant. Beide kamen aus etablierten jüdischen Kauf-mannsfamilien, die während der zaristischen Juden-verfolgungen im 19. Jahrhundert von Russland nach Ostpreußen eingewandert waren. Mehrere Jahre nach der Geburt ihrer Tochter kehrten die Arendts von Hannover nach Königsberg zurück, wo Paul Arendt mit Syphilis in eine Klinik eingeliefert wer-den musste. Er starb 1913, nachdem sein Zustand sich zunehmend verschlechtert hatte und als er nicht mehr fähig war, seine Angehörigen zu erkennen. Im selben Jahr starb auch Max Arendt , der Großvater, der während der Krankheit seines Sohnes wie ein Vater für Hannah Arendt gewesen war. Als im dar-auf folgenden Jahr die russische Armee in den be-ginnenden Feindseligkeiten des Ersten Weltkrieges in Ostpreußen einfiel, floh Martha Arendt mit ihrer Tochter vorübergehend in das sichere Berlin. Han-nah Arendts Schulzeit war überschattet vom Krieg und von der Trauer ihrer Familie.

    Als Kind war Arendt früh reif gewesen, sie lernte Lesen, bevor sie in den Kindergarten kam. Ihre Mut-ter war eine aufgeschlossene, progressive Frau und aktive Sozialdemokratin. Sie unterstützte die Ausbil-dung ihrer Tochter sowie ihren Eintritt in ein Mäd-chengymnasium in Königsberg und stand ihr auch bei, als sie wegen eines Disziplinvergehens von der Luisenschule verwiesen wurde und ihre Studien selbständig fortführen musste. Antisemitismus be-einträchtigte das Leben assimilierter jüdischer Kauf-mannsfamilien nicht allzu häufig, aber als Hannah Arendt in der Schule damit konfrontiert wurde, be-stärkte ihre Mutter sie darin, sich zu verteidigen und schrieb selbst Protestbriefe an die Schuldirektion.

    Im Jahr 1920 heiratete Martha Arendt Martin Beerwald , einen verwitweten Kaufmann mit zwei Töchtern im Jugendalter, Clara und Eva. Bald wurde das Beerwaldsche Haus zum Zentrum für Hannah Arendts talentierte junge Freunde – darunter ihre beste Freundin Anne Mendelssohn , die ihr das ganze

    Leben lang nahestand, und ein Freund namens Ernst Grumach , der fünf Jahre älter war als sie – und es war der Treffpunkt für ihren Griechisch-Lesezirkel. Von 1922 bis 1924 bereitete sie sich auf das für die Zulassung zur Universität notwendige Abitur vor, arbeitete zuhause mit einem privaten Tutor und nahm als Gasthörerin an Kursen der Universität Ber-lin teil. Dort begegnete sie dem Theologen Romano Guardini , einem »christlichen Existentialisten«, der über Kierkegaard las. Arendt richtete ihr Hauptinte-resse auf die Philosophie und war begeistert von den aufkommenden kritischen Trends, wie sie Karl Jas-pers und Martin Heidegger vertraten. Nach bestan-dener Prüfung ging sie nach Marburg und begann ihr Studium an der Universität, an der auch Heideg-ger lehrte. Seine Seminare zogen junge Leute an, die Deutschlands philosophische Elite werden sollten – allerdings eine Elite im Exil, da viele von ihnen Ju-den waren.

    Studium

    Als Arendt 1924 in Marburg eintraf, zog sich der po-litische Sturm, der 1933 ausbrechen sollte, bereits zusammen. Doch für sie war dieses Jahr eines des rein persönlichen Umbruchs. Sie stürzte sich gera-dezu in das Studium des Griechischen und mit Ru-dolf Bultmann in das der Theologie des Neuen Tes-taments. Ihr eigentliches Interesse aber, das Interesse einer 18-Jährigen, war auf Heidegger gerichtet. Und sein Interesse zunehmend auf sie. Die Studentin-Lehrer-Beziehung wandelte sich in eine Affäre, die nur einem ihrer studentischen Freunde, Hans Jonas , bekannt war und Heideggers Frau und Kindern sorgfältig verheimlicht wurde. Die einzige Doku-mentation dieser Affäre findet sich in den Liebes-briefen, von denen einige erhalten sind (überwie-gend Heideggers), veröffentlicht in den Briefe(n) 1925–1975 (BwH, s. Kap. II.10.4), etwa fünfund-zwanzig Jahre nach beider Tod.

    Aus den vorliegenden Briefen wird klar, dass die Romanze bis 1926 andauerte, als Arendt Marburg verließ, um schließlich bei Karl Jaspers in Heidel-berg zu studieren und ihre Doktorarbeit abzuschlie-ßen. Arendt und Heidegger blieben in Verbindung,

    I. Leben

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    bis die politische Situation in Deutschland sich ent-scheidend änderte. Nachdem Hitler 1933 Kanzler geworden war, übernahm Heidegger , der sich formal mit der Nazi-Partei verbunden hatte, den Rekto-renposten der Universität Freiburg, die wie alle deutschen Universitäten ihre jüdischen Fakultäts-mitglieder vertrieb. Noch im Winter 1932/33 hatte Heidegger , von Arendt daraufhin befragt, alle An-schuldigungen, ein Antisemit zu sein von sich ge-wiesen. Arendt kommunizierte nicht wieder mit ihm bis 1950.

    Die Bedeutung Heideggers für Hannah Arendts persönliche Entwicklung und für ihren Start als Denkerin ist weitreichend und kann kaum über-schätzt werden. Er brachte ihr eine Ernsthaftigkeit im Denken bei, die sie für den Rest ihres Lebens bei-behalten sollte, und er war ihr ›Modelldenker‹, bis sie den romantischen Anti-Modernismus, der seiner Verblendung durch die Nazis zugrunde lag, lächer-lich fand und seine Weltlosigkeit zurückwies. Hei-degger sah die europäische Philosophie von Platon zu Nietzsche als eine Einheit, eine durchgängige Tra-dition von »Seinsvergessenheit«. Von dieser Tradi-tion setzte er sich sehr entschieden ab, und vom »Ende der Metaphysik« aus sann er in großer Abge-schiedenheit darüber nach, was nun kommen, wie eine Hinwendung zum Sein sich gestalten könnte. Sein anfänglicher Einsatz für einen phänomenologi-schen »zu den Sachen selbst«-Ansatz in Sein und Zeit hatte Arendt inspiriert. Das wirkte nach, noch als sie selbst schließlich das Ende der europäischen Tradition recht anders beschrieb und auf eine neue Philosophie zu hoffen begann; keine vom ›Sein‹, sondern eine ›neue Wissenschaft von der Politik‹, eine Art und Weise des Nachdenkens über Politik, die nicht weltlos, einsam, kontemplativ, sondern vielmehr aufmerksam für die condition humaine sein sollte. Heidegger hatte nach dem Bruch in ihrer Be-ziehung scheinbar keinerlei Interesse an Arendts philosophischer Entwicklung gezeigt, teilte ihr aber mit, dass sie für ihn Quell der Inspiration gewesen sei – während er sein erstes Werk schrieb wie auch stets danach – und die Liebe seines Lebens.

    Nachdem sie sich entschieden hatte, den Kontakt zu Heidegger 1950 wieder aufzunehmen, war sie er-leichtert. Sie hatte ihrem Bedürfnis nachgegeben, dem nachzukommen, was sie ›Kontinuität‹ bezogen auf ihre Vergangenheit und ihre große Liebe nannte. Sie war auch erleichtert, dass sie – nun 44 Jahre alt – in der Lage war, sehr viel offener und ehrlicher mit ihm zu sprechen. Aber erst ein äußerst schwieriger Lebensweg und entscheidende neue Beziehungen

    hatten sie dahin gebracht. In Karl Jaspers hatte sie so-wohl eine Vaterfigur als auch ein neues philoso-phisches Modell gefunden: einen Mann, dessen per-sönliche Integrität und Einsatz für die politischen Ideale der Aufklärung – seine Affinität galt Kant – ihn dazu befähigt hatten, den Nationalsozialisten mutig zu widerstehen. Mit seiner Unterstützung ver-lagerte sich ihr Interesse darauf, gesellschaftliche Bin-dungen zu erforschen (ihre Dissertation handelt von der Auffassung der Nächstenliebe bei Augustinus). Sie schrieb eine Biographie über Rahel Varnhagen und untersuchte das jüdische Salonleben des 18. Jahr-hunderts auch unter dem Aspekt, was es damals für die Juden bedeutet hatte, keine politische Gemein-schaft zu haben. In Kurt Blumenfeld , dem Präsiden-ten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVD), hatte sie einen politischen Mentor gefunden, und auf seine Anregung hin übernahm sie 1933 ei-nen Auftrag, mit dem sie die politische Arbeit der Zi-onisten unterstützte – ein Auftrag, der ihr die Verhaf-tung durch die Gestapo eintrug und zu ihrer Flucht nach Frankreich führte. Durch eine glückliche Fü-gung war sie von den Nazis, die sie gefangengenom-men hatten, wieder freigelassen worden. Zu dieser Zeit trennte sie sich von Günther Stern (später Gün-ther Anders ), dem jungen jüdischen Philosophen, den sie 1929 geheiratet und mit dem sie in Berlin zu-sammengelebt hatte, nachdem ihre Ehe, von ihrer Seite keine Liebesheirat, im Grunde beendet war.

    Exil

    Arendt arbeitete in Paris weiter für die deutschen Zi-onisten und auch für die Jugend Aliyah, eine Orga-nisation, die die Reise junger deutscher Juden nach Palästina organisierte (sie selbst begleitete eine Gruppe dorthin). In Paris fand sie eine Gemein-schaft von Exilanten, viele von ihnen linke politische Aktivisten und Intellektuelle aus Berlin, die in den Cafés mit sympathisierenden französischen Schrift-stellern und Künstlern zusammentrafen. Es entwi-ckelte sich eine Freundschaft zu dem Literaturkriti-ker Walter Benjamin . Doch die wichtigste Beziehung war die zu Heinrich Blücher , einem aus der Arbeiter-klasse stammenden nichtjüdischen Berliner, einem unabhängigen Geist und Autodidakten, der Anhän-ger Rosa Luxemburgs und Aktivist im Spartakus-bund gewesen war. Arendt war zunächst vorsichtig, denn sie war überzeugt, dass keine Beziehung wirk-lich derjenigen würde folgen können, die sie zehn Jahre zuvor mit Heidegger gehabt hatte. Doch aus den, inzwischen veröffentlichten, Briefen, die sie

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    1936/37 (BwBl 33–85; s. Kap. II.10.1) mit Blücher wechselte, wird deutlich, dass er – ein so anderer Mann als Heidegger, weltbezogen, menschlich weise, zu tiefer Freundschaft fähig und hingebungsvoll an ihr und ihrem Denken interessiert – sie umstimmte. Als sie die rechtliche Bindung an Stern hatte lösen lassen, heiratete sie Blücher 1940 in Paris, und es ge-lang ihnen die Emigration nach New York, nachdem beide Wochen in den Internierungslagern durchlit-ten hatten, die von der Regierung der Dritten Repu-blik in Frankreich für ›feindliche Ausländer‹ errich-tet worden waren. Ihre Fluchtroute, quer durch Süd-frankreich über die Pyrenäen nach Lissabon, war ähnlich der, die auch Walter Benjamin versucht hatte. Er war jedoch an der spanischen Grenze ge-stoppt worden und hatte sich das Leben genommen.

    Arendt gelang es, ihre Mutter zu sich nach New York zu holen und für die drei begann eine Zeit unsi-cherer Flüchtlingsexistenz. Sie versuchten, irgendwie zu Geld zu kommen, Englisch zu lernen und fragten sich täglich, welche entsetzlichen Neuigkeiten wohl die Morgenzeitungen über den in Europa wütenden Krieg bringen würden. Heinrich Blücher wurde Fa-brikarbeiter, Martha Arendt stellte in Heimarbeit Spitze her und Hannah Arendt produzierte Buchbe-sprechungen in ihrem inzwischen brauchbaren Eng-lisch, während sie zur gleichen Zeit politische Ko-lumnen auf Deutsch für den Aufbau schrieb, eine vielgelesene Tageszeitung (s. Kap. II.3). Wie schon in Paris, fanden sie eine Exilanten-Gemeinschaft, in der jeder jedem behilflich war und mehr und mehr ka-men sie mit Amerikanern zusammen, insbesondere mit der Gruppe um die Partisan Review. Arendt fand eine Teilzeitarbeit als Dozentin am Brooklyn Col-lege, als Mitarbeiterin des bekannten jüdischen His-torikers Salo Baron bei der Conference on Jewish Re-lations und schließlich als Lektorin bei Schocken Books, wo es ihr gelang, Franz Kafka beim amerika-nischen Publikum bekannt zu machen. Die Etablie-rung neuer, gesicherter Lebensumstände war lang-wierig und nahm die Blüchers stark in Anspruch. Aber als sie im Winter 1942/43 von den Vernich-tungslagern der Nazis erfuhren, widmeten sie sich fortan der vorrangigen Frage, was in Europa und mit der Welt geschehen war und wie man das verstehen konnte. Arendt begann, sich über ihre politischen Kolumnen im Aufbau hinaus mit dem Buch zu be-schäftigen, das schließlich den Titel The Origins of Totalitarianism (dt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft; s. Kap. II.4.1) tragen sollte.

    Obwohl sie fast jeden wachen Moment, den sie nicht mit einer ihrer bezahlten Tätigkeiten ver-

    brachte, für die Arbeit an ihrem monumentalen Werk nutzte, unternahm sie 1948 einen letzten Vor-stoß in die politische Arbeit. Diese Arbeitsperiode war nicht für die deutsche zionistische Organisation (im Exil), sondern gegen sie und gegen alle Zionisten gerichtet, die nicht die Gefahr und das moralische Desaster vorhersahen: Der neu zu gründende Staat, der die Staatenlosigkeit des jüdischen Volkes been-den sollte, würde ein anderes Volk – die palästinen-sischen Araber – staatenlos machen. Arendt schloss sich Judah Magnes an, dem Präsidenten der Hebräi-schen Universität in Jerusalem. Er führte eine kleine Gruppe von zumeist deutschen Juden in Palästina an, die sich für einen binationalen Staat einsetzten. Magnes hatte versucht, Arendt für seine Sache zu ge-winnen, nachdem er ihre Artikel im Aufbau und in verschiedenen amerikanischen Publikationen wie The Nation gelesen und in ihr eine verwandte Den-kerin erkannt hatte. Sie schrieb die Positionspapiere der Magnes-Gruppe in New York, zog sich aber zu-rück, als die Idee eines binationalen Staates 1948 un-terging und der Unabhängigkeitskrieg einen jüdi-schen Staat hervorbrachte, der tatsächlich palästi-nensische Araber in großer Zahl zu staatenlosen Flüchtlingen machte. Viele ihrer Überlegungen in Elemente und Ursprünge zum Nationalstaat europäi-scher Prägung – als einer politischen Form, die Völker unterdrückt, welche in einem Staatsterritorium le-ben, der herrschenden nationalen Gruppe aber nicht angehören – gehen auf diese Kritik am Zionismus, und später am israelischen Nationalismus, zurück.

    Totalitarismus

    In ihrem Buch, wie auch in Artikeln, die sie zwischen 1946 und 1950 schrieb (s. Kap. II.4), argumentiert Arendt, dass sich im 19. Jahrhundert, der Ära des überseeischen und kontinentalen Imperialismus in Europa, eine Reihe von Elementen – darunter der Nationalstaat – entwickelten, die schließlich zur He-rausbildung des Totalitarismus in Deutschland bei-trugen (wie auch, so erweiterte sie ihr Argument, in der Sowjetunion, der anderen kontinentalen imperi-alistischen Macht). Totale Herrschaft, als eine neue Staatsform, konnte nicht zustande kommen ohne ganz bestimmte proto-totalitäre Entwicklungen. Bis ins feinste Detail untersuchte sie, wie nationalstaatli-che Klassenstrukturen sich entwickelten, verhärte-ten und dann zusammenbrachen; wie Massengesell-schaften sich herausbildeten, wie entwurzelte und entrechtete ›überflüssige Menschen‹ Instrumente und Opfer des Imperialismus wurden. Sie erkundete

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    das Wesen der Bürokratien, die imperialistische Staaten benötigen, die Einrichtungen und Ideolo-gien, die sie hervorbringen, um ein totalitäres Sys-tem als der Naturentfaltung entsprechend oder als unausweichlichen Lauf der Geschichte zu rechtferti-gen. (Als sie über deutsche intellektuelle Kollabora-teure als Ideologen schrieb, schloss sie denjenigen ein, den sie 1946 in einem in der Partisan Review er-schienenen Artikel als »letzten deutschen Romanti-ker« bezeichnet hatte – Martin Heidegger ).

    Das Buch als Ganzes und auch jeder seiner drei Teile – Antisemitismus, Imperialismus und totale Herrschaft – wurde nach der Veröffentlichung 1951 zum Klassiker und Bezugspunkt für alle nachfol-gende Forschung. Hannah Arendts Argument, die Sowjetunion sei ein totalitäres Regime, entzündete im Kontext des Kalten Krieges – der in den USA (ge-rade als Hannah Arendt amerikanische Staatsbürge-rin wurde) aufgrund der Umtriebe Senator McCar-thys und des Komitees für unamerikanische Aktivi-täten bedrohliche Züge annahm – eine heftige Kontroverse. Die Antikommunisten begrüßten das Argument; diejenigen auf Seiten der amerikanischen Linken, die unter dem McCarthyismus litten und immer noch hofften, der Kommunismus sei die Lö-sung für die Krise, fanden das Werk zu hilfreich für die ›Kalten Krieger‹. Ihr Buch, wie alle ihre folgen-den Bücher auch, ließ sich nicht leicht in die über-kommenen Vorstellungen von Rechts und Links ein-ordnen. Diese Kategorien, so hatte sie argumentiert, seien in der Ära des Totalitarismus überholt. Wer weiterhin in den alten Kategorien dachte, konnte die dringliche Botschaft ihres Vorworts kaum hören: »An insight into the nature of totalitarian rule, directed by our fear of the concentration camp, might serve to devalu-ate all outmoded political shadings from left to right, and, beside and above them, to introduce the most essential po-litical criterion for judging the events of our time: will it lead to totalitarian rule or will it not?« (zit. nach Young-Bruehl 2006, 39).

    Wer weiterhin in den alten Kategorien dachte, hatte auch Schwierigkeiten ihre hoffnungsvolle Botschaft zu vernehmen, dass man auf den Totalitarismus mit der Idee eines »comity of nations« antworten könnte und mit Föderationen multi-nationaler Staaten, die nicht wie die Vereinten Nationen durch die Rivalitä-ten des Kalten Krieges in Formen gezwängt wären, die ein »comity« unmöglich machten.

    Arendt hatte ihr Totalitarismusbuch auf Englisch geschrieben und von einer amerikanischen Freun-din, Rose Feitelson , weiter »verenglischen« lassen. Noch während sie das Manuskript beendete, begann

    sie mit der Übersetzung ins Deutsche. Als Arendt im Winter 1949/50 als Geschäftsführerin der Jewish Cultural Reconstruction (einer Organisation zur Rettung gestohlenen jüdischen Kulturgutes) nach Deutschland zurückkehrte, nahm sie ihr Überset-zungsprojekt mit, nutzte bei ihrem Besuch verschie-dener deutscher Universitäten Teile davon als Vorle-sungstext und brachte ihren Zuhörern so die Ge-schichte des deutschen Totalitarismus nahe.

    Nachkriegsdeutschland

    Die Rezeption der Arendtschen Ideen war in Deutschland besonders vielschichtig, zumal die Nazi-Vergangenheit – im gängigen Terminus – ›un-bewältigt‹ blieb. Darüber hinaus forderte Arendts Einsatz für eine »Gemeinschaft der Nationen« ( Arendt 1949), die ihrer Vorstellung nach auch eine Föderation europäischer Staaten einschließen sollte, unverbesserliche deutsche Nationalisten aller Art heraus. Zunächst allerdings wurden ihre Ideen von einer kleinen Gruppe um die Zeitschrift Die Wand-lung enthusiastisch aufgenommen, unter ihnen Karl Jaspers , Dolf Sternberger , Werner Kraus und Alfred Weber . Die Wandlung ging weiter über alle veralte-ten politischen Schattierungen von links bis rechts hinaus als jede andere Publikation in Deutschland zu jener Zeit. Die Zeitschrift hatte nicht nur Essays publiziert, die Hannah Arendt während des Schrei-bens von Origins verfasst hatte, sondern diese Texte auch als Sammlung unter dem Titel Sechs Essays im Verlag Lambert Schneider 1948 veröffentlicht.

    Arendts Zusammenarbeit mit Die Wandlung war durch Karl Jaspers zustandegekommen, der den Krieg gemeinsam mit seiner jüdischen Frau Gertrud in Heidelberg überlebt und inzwischen eine Profes-sur in Basel hatte. Dort fand auch die erste einer Reihe von Wiederbegegnungen statt, der Beginn ei-ner Freundschaft, von der der veröffentlichte Brief-wechsel 1926–1969 (BwJa; s. Kap. II.10.5) auf umfas-sende Weise berichtet. Mit Jaspers konnte sie endlich frei über Heidegger und über ihre Theorie sprechen, dass er einen gespaltenen Charakter habe: oberfläch-lich und verlogen, doch zugleich tief und echt, wie auch über ihre unambivalenten Gefühle für ihren Ehemann. Jaspers freute sich, per Briefwechsel eine eigene Beziehung zu Blücher aufbauen zu können. Diejenige zu Heidegger hatte er beendet, weil dieser sich weigerte, seine Verbindung zu den Nazis zu the-matisieren und zu widerrufen. Mit Jaspers konnte Arendt ihre Eindrücke von Deutschland teilen, die sie in dem Artikel »The Aftermath of Nazi Rule«

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    (EIU 248–269) festhielt, 1950 veröffentlicht in der amerikanisch-jüdischen Zeitschrift Commentary – ein Artikel, der als Ergänzung zu Origins gelesen werden kann.

    Für die Deutschen sei der Nazismus schlimmer gewesen als eine Tyrannei, erklärte Arendt. Der To-talitarismus töte die Wurzeln des politischen, sozia-len und persönlichen Lebens mit seinem radikal Bö-sen, dessen Kern die Konzentrationslager waren. Bis 1952 zeigte sie keinerlei Zuversicht, dass die Wur-zeln des deutschen Volkes nicht abgetötet worden waren und sich regenerieren könnten. Zu dieser Zeit aber meinte sie im Verhalten der deutschen Wähler etwas erkennen zu können, das sie zunächst als den zögerlichen Beginn einer Distanzierung von der Nazi-Vergangenheit betrachtete. Repräsentiert durch Konrad Adenauers Unterstützung für die geplante Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) schienen sich die Deutschen von ihrem primitiven Nationalismus zu lösen und für die Vision eines zu-künftigen Europa einzusetzen. Doch schon bald misstraute Arendt diesem Votum und sogar Ade-nauer selbst, dessen Einsatz für ein christliches Eu-ropa und die Wiederbewaffnung Deutschlands sie als Renazifizierung betrachtete (Arendt 1966). Als sie schließlich einen deutschen Verleger für ihre Übersetzung von Origins fand, erwartete sie nieder-geschlagen, dass die in ihrem Werk geäußerten An-sichten zum Nazi- und Sowjettotalitarismus von der Adenauer-Mehrheit verdreht und instrumentalisiert werden würden, wie sie es bei den amerikanischen Anti-Kommunisten erlebt hatte. Sie sollte Recht be-halten.

    Als Arendt The Origins of Totalitarianism für eine Wiederauflage überarbeitete und aktualisierte, ver-schob sie die Gedanken der »Concluding Remarks« in den zweiten und dritten Teil. Sie hatte darin ihrer Hoffnung auf ein »comity of nations« (Arendt 1949) Ausdruck gegeben, das sich der Aufgabe widmen sollte, das »Recht, Rechte zu haben« zu sichern. An-stelle des ursprünglichen Schlusses beendete sie den Band mit einem »Ideologie und Terror« betitelten Essay. Hier rechtfertigt sie in größerer Detailgenau-igkeit ihre Behauptung, die Sowjetunion unter Stalin sei totalitär gewesen. Zudem fügte sie einen Epilog an, der sich auf die Ungarische Revolution von 1956 konzentriert. Hierin untersucht sie die Sowjetunion nach Stalin und preist vor allem eine in Ungarn auf-gekommene Institution: die Revolutionsräte. Diese Überarbeitungen an Origins kündigten bereits die sich in den 1950er und 1960er Jahren vollziehende Verlagerung ihrer Interessen auf die Untersuchung

    revolutionärer Traditionen in Europa und Amerika an. Sie schrieb nie wieder über ein mögliches »comity of nations«, doch blieben ihr Kosmopolitismus und ihre Zurückweisung jeglichen nationalen Chauvinis-mus weiterhin bestehen.

    Die neue Wissenschaft von der Politik

    Die 1960er Jahre brachten eine weitere Überarbei-tung von The Origins of Totalitarianism. Als Arendt 1961 nach Jerusalem gegangen war, um dort dem Gerichtsverfahren gegen Adolf Eichmann beizu-wohnen, hatte ihre Reaktion auf dieses Ereignis eine neue Dimension in ihr Denken gebracht. Ihr kon-troverser Bericht Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil – zunächst in The New Yorker und anschließend als Buch veröffentlicht (s. Kap. II.6.1) – wurde mit seiner Diskussion des »radikal Bösen« Teil der sich entfaltenden Geschichte von Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Arendt war sich darüber im Klaren, dass sie der Frage nach der Motivation der Täter nicht nachge-gangen war, als sie das ›radikal Böse‹ in den Konzen-trationslagern verortet hatte, die dadurch gekenn-zeichnet waren, dass ihnen jeglicher militärischer oder politischer Zweck fehlte. Die nationalsozialisti-sche Ideologie hatte sie beschrieben, nicht aber ei-nen einzigen Nationalsozialisten – nicht einmal Hit-ler selbst – als zielbewusste Person oder Denker be-trachtet. Während sie Eichmann im Jerusalemer Gerichtssaal beobachtete, kam sie zu dem Schluss, dass er gerade nicht jemand war, der dachte oder ur-teilte, sondern nur jemand, der gedankenlos dem Willen des ›Führers‹ gehorcht hatte und das morali-sche Umfeld, in dem er gelebt hatte, widerspiegelte. Diese Schlussfolgerung, zusammen mit ihren Über-legungen zur Schonungslosigkeit, mit der die Natio-nalsozialisten die Judenräte manipuliert hatten, machte Arendts Report zum Mittelpunkt einer in-ternational ausgetragenen Kontroverse. Diese Kon-troverse floss in Deutschland in den öffent lichen Fu-ror über ein Theaterstück von Rolf Hochhuth ein. Hochhuth hatte in Der Stellvertreter die Frage aufge-worfen, weshalb Papst Pius XII. geschwiegen hatte, als er von den Vernichtungslagern erfuhr. In Deutsch land wurde Eichmann in Jerusalem der Leit-faden für die Generation der 1968er in ihrem Ver-such, mit der Generation der Nazi-Väter zu bre-chen.

    Seit Mitte der 1960er Jahre löste die Möglichkeit eines Wiedererstehens des Totalitarismus – in der Form, die sie untersucht hatte – keine verzehrende

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    Furcht mehr in ihr aus und war nicht mehr das allei-nige Kriterium für ihr politisches Urteil. Origins konnte in drei Teilen neu herausgegeben werden, wobei jedes Buch einen der drei Teile des Originals Antisemitism, Imperialism bzw. Totalitarianism, um-fasste. Jedes erhielt ein neues Vorwort, das die politi-schen Realitäten der Welt der mittleren und späten 1960er Jahre beschrieb. Im Vorwort zu Totalitaria-nism diskutiert sie die »Ent-Totalitarisierung« der Sowjetunion, die Rückkehr zu politischen Zielen, nationalen Interessen und zu einer Form von konti-nentalem Imperialismus des späten 20. Jahrhunderts – dem Gegenstück des überseeischen ökonomischen Imperialismus, der von den USA in z. B. Lateiname-rika und Südostasien praktiziert wurde.

    In dem Jahrzehnt zwischen Arendts ausgedehn-tem Besuch in Deutschland 1950 und ihrer Entschei-dung, 1961 dem Verfahren gegen Eichmann in Jeru-salem beizuwohnen, musste sie sich um Jobs bei jü-dischen Organisationen oder Verlagen nicht mehr bemühen. Blücher , obwohl ohne formalen Abschluss oder besondere Vorliebe für Universitäten, hatte eine Dozentenstelle am Bard College bekommen. Arendt wurde semesterweise an verschiedene amerikani-sche Universitäten eingeladen, erhielt Preise (ein-schließlich des Lessing-Preises) und Stipendien. Für das Ehepaar begann eine ruhigere, finanziell sichere und produktive Zeit, die nicht mehr durch die dau-ernde Erwartung politischer Katastrophen geprägt war – insbesondere nachdem der McCarthyismus sich als Krise begrenzten Ausmaßes erwiesen hatte. Arendt nutzte ihre Lehrverpflichtungen an verschie-denen Universitäten dazu, Vorlesungen auszuarbei-ten, die später zu Essays und Büchern wurden. The Human Condition erschien 1958, eine Essaysamm-lung unter dem Titel Between Past and Future 1961 und On Revolution 1963 (im Hintergrund der ge-nannten Titel steht ein lange unveröffentlichter Text über Karl Marx , s. Kap. II.5.1).

    Dies waren die Werke, die die ›neue Wissenschaft von der Politik‹ boten, die Arendt seit den 1930er Jahren vorgeschwebt hatte, nachdem sie unter Hei-degger mit dem Gedanken Bekanntschaft gemacht hatte, dass die Tradition europäischer Philosophie – und wohl die europäische Tradition überhaupt – be-endet war. Ihr Denken kam von der anderen Seite des politischen Bruches, nach dem Aufkommen ei-ner beispiellosen Regierungsform, des Totalitaris-mus. In ihren Essays unterwirft sie jeden einzelnen wichtigen politischen Begriff seit Platon einer his-torischen Analyse, rekonzeptualisiert ihn, oder nimmt, wie sie es nannte, eine begriffliche »Entei-

    sung« vor. Sie nutzte dabei viele der bei Heidegger gelernten Techniken etymologischer und philoso-phischer Analyse. In Vita activa oder Vom tätigen Leben bietet sie darüber hinaus neue Denkrahmen an: Ein Schema von sechs Bedingungen, die das menschliche Leben bestimmen – das Leben selbst, Erdgebundenheit, Wohnen in der Welt (einer Kul-tur), Natalität (Gebürtlichkeit), Mortalität, Plurali-tät (leben mit voneinander verschiedenen anderen) sowie ein Schema von Typen menschlicher Tätig-keiten – Arbeit, Herstellen, Handeln (s. Kap. IV.3). Diese Schemata erlaubten es ihr, in großer Breite und Tiefe darüber nachzudenken, welche Verände-rungen im Hinblick auf die Bedingungen und Rück-entwicklungen der Tätigkeiten eingetreten waren, die die heutige menschliche Existenz bestimmen. In Über die Revolution untersucht sie am Beispiel der amerikanischen Geschichte den menschlichen Drang zu handeln, um Neues hervorzubringen und neue politische Formen auszugestalten. Sie ver-gleicht die Amerikanische Revolution, die eine Ver-fassung hervorbrachte, mit den Revolutionen in Frankreich, Russland und der zu ihrer Jugendzeit fehlgeschlagenen Revolution in Deutschland von 1918/19, d. h. mit den Revolutionen, die nicht in eine Republik mündeten, deren Verfassung in der Lage gewesen wäre, Freiheit zu gewährleisten. Cha-rakteristischerweise hatten moderne Revolutionen lokale Räte unterschiedlichster Art hervorgebracht. Arendt ging davon aus, dass eben diese Räte die ge-eignetste politische Form darstellten, den Raum für die Worte und Taten zu bewahren, der sie selbst her-vorgebracht hatte. Die Räte waren die regenerative politische Form, die in einer posttotalitären Welt am dringendsten gebraucht wurde.

    Der Eichmann-Prozess

    Arendts friedvolles Leben endete, als die Kontro-verse über ihr 1963 erschienenes Buch Eichmann in Jerusalem ausbrach. Es begann ein immer noch sehr produktives, aber auch sehr aufwühlendes Jahrzehnt, in dem sie mit Einladungen zu Vorträgen überschüt-tet wurde, sich aber in öffentlichen Gesprächen häu-fig in der Defensive befand. Zur selben Zeit, da eine wachsende Zahl vor allem jüngerer Leser ihre Refle-xionen über politische Ereignisse mit Spannung er-wartete, fand sie sich als Paria unter jüdischen Intel-lektuellen in Amerika, Europa und Israel wieder. Ab-gesehen von einigen kurzen Stellungnahmen auf Englisch und Deutsch, überließ sie es im Wesentli-chen ihren Freunden sich an der Kon troverse zu be-

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    teiligen. Mary McCarthy , mit der sie seit einem Jahr-zehnt eine enge Freundschaft verband, schrieb eine eindringliche Verteidigung in The Partisan Review, trotzdem versuchten viele aus dem Umkreis dieses Magazins, Arendt auszuschließen. In Europa war es Karl Jaspers , der von Basel aus über ihr Werk und die sich aus dem Eichmann-Prozess ergebenden Rechts-fragen schrieb und Interviews gab. In Israel fand sich kein Verteidiger, und Arendt musste die Entfrem-dung von ihrem alten Freund Kurt Blumenfeld er-tragen.

    Während die Kontroverse immer weiterging, be-gann Arendt ihrerseits, erneut über Eichmann nach-zudenken. Sie wollte über den Rahmen eines »Be-richts über die Banalität des Bösen« hinausgehen, um philosophisch zu erkunden, was sie als Eich-manns »Gedankenlosigkeit« bezeichnet hatte; sie wollte sein Urteilsvermögen bzw. seine Weigerung eigene Urteile zu fällen, indem er dem Willen des ›Führers‹ gehorchte, vor dem Hintergrund der Mo-ralphilosophie der Aufklärung betrachten. Sie erin-nerte sich, dass sich ihr eine Frage geradezu »von selbst aufgedrängt« hatte, während sie diesen Mann vor Gericht beobachtete: »Könnte vielleicht das Den-ken als solches – die Gewohnheit, alles zu untersu-chen, was sich begibt oder die Aufmerksamkeit er-regt, ohne Rücksicht auf die Ergebnisse und den spe-ziellen Inhalt – zu den Bedingungen gehören, die die Menschen davon abhalten oder geradezu dagegen prädisponieren, Böses zu tun?« (LG 1, 15).

    Die Krisen der Republik

    Mit der Zeit bildete sich der Plan für ein dreibändi-ges Werk heraus, das den Titel Vom Leben des Geis-tes tragen und die Teile »Denken«, »Wollen« und »Urteilen« enthalten sollte (s. Kap. II.8). Arendt rief sich die Figur Eichmanns ins Gedächtnis zurück, als sie über Gedankenlosigkeit schrieb, über die Unter-werfung des eigenen Willens unter die Herrschaft eines anderen und über die Weigerung, eigenstän-dig zu urteilen. Jeder der drei Teile sollte zu einer historisch-philosophischen Tour des Überprüfens und Rekonzeptualisierens werden, um zu Beschrei-bungen jeder der drei Fähigkeiten des Geistes und zu einem Überblick über ihre wechselseitigen Be-ziehungen zu gelangen. Das Buch sollte eine ›Phä-nomenologie des Geistes‹ werden, doch ohne einen Hauch Hegelscher Metaphysik oder noch besser: zu drei ›Kritiken‹ – wie diejenigen Kant s – ohne sich auf irgendwelche Imperative oder Absolutheiten zu verlassen.

    Während Arendts philosophisches Interesse sich auf Vom Leben des Geistes richtete, schrieb sie weiter über amerikanische und europäische Politik, und sicherlich veranlassten die späten 1960er Jahre sie dazu, dies aus einem stets stärker werdenden Gefühl von Dringlichkeit und Gefahr heraus zu tun. Per-sönlich begann sie sich Sorgen über die Gesundheit Heinrich Blüchers zu machen, Grund genug, einem Ruf an die nahe ihrer Wohnung in New York gele-gene New School for Social Research zu folgen. Da-mit entfielen die Reisen nach Chicago und an andere Universitäten, die sie auf sich genommen hatte. Auch politisch machte sie sich Sorgen: Die amerikanische Republik, die sie in Über die Revolution mit Enthusi-asmus und Bewunderung beschrieben hatte, drohte ihrer Ansicht nach, die Orientierung und die Erin-nerung an ihre revolutionäre Tradition zu verlieren (s. Kap. II.7). Das Hauptsymptom dieses Verlustes war der Krieg in Vietnam, gegen den sie zusammen mit ihrer deutschen Emigrantentruppe, dem »tribe« – inzwischen um Hans Morgenthau , den Sicher-heitsberater Präsident Johnsons erweitert – von An-fang an aufbegehrt hatte, und sie unterstützte die aufkommende Studentenbewegung, die diesen Pro-test in die Öffentlichkeit trug. Ihrer Neigung folgend, sich auf ein Schlüsselkonzept zu konzentrieren, das – falsch verstanden – fatale politische Folgen nach sich ziehen konnte, schärfte Arendt ihre Aufmerk-samkeit für das Konzept der Gewalt und verfasste ei-nen langen Essay »Reflections on Violence«, der u. a. 1969 in einer Ausgabe von The New York Review of Books erschien.

    Ein großer Teil dieses 1970 in Buchform unter dem Titel On Violence (dt. Macht und Gewalt) er-schienenen Textes (s. Kap. II.7.1) richtete sich an die Studenten der amerikanischen und europäischen Studentenbewegung und warnte sie davor, sich auf jegliche Form von Gewalt als Mittel zum Zweck ein-zulassen. Arendt übt vernichtende Kritik an den un-terschiedlichen philosophischen Verfechtern der Gewalt, von Sorel über Fanon bis Sartre , wie auch an den Ideologien, die sie rechtfertigten, einschließlich des Maoismus. Doch vor allem argumentiert sie für eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen Ge-walt, als Instrument, und Macht, die entsteht, wenn Menschen zusammenkommen und gemeinsam han-deln – gewaltfrei. Menschen greifen auf Gewalt zu-rück, so Arendt, wenn sie keine Macht haben oder wenn sie die Macht, die sie haben, verlieren. Bestä-tigt wurde dies durch die »mächtigste Nation der Welt«, die angesichts von Machtverlust ihre Bomben auf Vietnam regnen ließ, wohingegen die nordviet-

  • 8 I. Leben

    namesischen Zivilisten in den Städten und auf dem Land wieder und wieder ihre Macht bewiesen. Ihre Guerillakämpfer waren in eine Bürgerschaft einge-bettet und wurden von ihr unterstützt.

    On Violence war das letzte Werk politischer Ana-lyse, das Arendt veröffentlichte, bevor der erste von zwei – nicht politischen, sondern sehr persönlichen – Schlägen sie traf, vor denen sie sich in all den un-ruhigen letzten Jahren gefürchtet hatte. Der fort-schreitende körperliche Verfall des 86-jährigen Karl Jaspers endete mit seinem Tod, und am 26. Februar 1969 erhielt Arendt von Gertrud Jaspers die trau-rige Nachricht: »Karl gestorben«. Sofort flog Arendt nach Basel, um an der Beerdigung teilzunehmen. Bei der Gedenkfeier hielt sie eine wunderbare Anspra-che, eine Reflexion über den »Umgang mit den To-ten«: »Das, was an einem Menschen das Flüchtigste und doch zugleich das Größte ist, das gesprochene Wort und die einmalige Gebärde, das stirbt mit ihm und das bedarf unser, daß wir seiner gedenken« (BwJa 720).

    Jaspers ’ Tod ließ Arendt verstärkt um Blücher bangen, der seit Ende der 1960er Jahre zunehmend schwere Kreislaufstörungen hatte. Doch sie war fä-hig, weiter an Vom Leben des Geistes zu arbeiten, hielt 1970 einen Vortrag »Über den Zusammenhang von Denken und Moral« (VZ 128–155) und fuhr fort, die politische Situation in den USA mit kraft-vollen Essays über »Zivilen Ungehorsam« oder »Die Lüge in der Politik« zu kommentieren, Letzterer war ein Kommentar zu den Pentagon-Papieren und der zunehmenden Beherrschung des politischen Lebens durch »image making«. Während sie arbeitete und sich, soweit ihr Zeitplan es zuließ, weitgehend zu Hause aufhielt, hatte Blücher einige gesundheitliche Einbrüche und ermüdete schnell. Er erholte sich je-doch wieder und 1970 genossen sie gemeinsam ru-hige Sommerferien. Doch am 31. Oktober 1970 er-litt er in ihrer Wohnung am Riverside Drive in Man-hattan plötzlich einen Herzanfall und starb nur Stunden später im Krankenhaus. Arendts verhal-tenes und stoisches Telegramm an die Freunde lau-tete: »Heinrich starb Samstag an einem Herzinfarkt. Hannah.«

    Die Trauergäste, die sich zu Blüchers Beerdigung zusammenfanden, kamen aus den ältesten Schichten ihres gemeinsamen Lebens, aus dem Frankreich der 1930er Jahre, über die Emigrantengruppe, den »tribe« aus dem New York der 1940er Jahre und die amerikanischen Freunde, die sie in den 1950er Jah-ren gewonnen hatten, bis hin zu seinen jüngeren Freunden und ehemaligen Studenten des Bard Col-

    lege, an dem er sehr verehrt worden war. Arendt fand Trost in ihrer Anwesenheit und Unter stützung darin, das Gedenken und den »Umgang mit dem Toten« zu teilen, insbesondere mit Mary McCarthy und ihrer Freundin Lotte Köhler , einer Germanistik-professorin am City College, die die jährlichen Sommerferien in den Catskill Mountains oft zusam-men mit Arendt und Blücher verbracht hatte. Doch Arendt fühlte sich erschöpft und leer. In den dreißig Jahren ihrer Ehe hatte Blücher für sie Kontinuität bedeutet, war er ihre Zuflucht gewesen und ihr Zuhause.

    Vom Leben des Geistes

    Arendt war 64 Jahre alt, als Blücher starb und ob-gleich sie außergewöhnliche Energien für ihre Ar-beit, das Zusammensein mit Freunden und Reisen nach Europa aufbrachte (nach Blüchers Tod verla-gerte sie ihre Sommerferien weg von den Catskills hin zu einer ruhigen Pension in der Nähe von Lo-carno), hatte sie ihrer eigenen Gesundheit niemals besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ihre Einstel-lung zu dem von ihrem Arzt erhaltenen Ratschlag, das Rauchen einzustellen, war eindeutig: Sie würde versuchen aufzuhören, doch wenn keine Zigaretten kein Schreiben bedeuteten, würde sie den Versuch beenden. Als sie zum Manuskript von Vom Leben des Geistes zurückkehrte, versuchte sie, ihren Ziga-rettenkonsum zu reduzieren, doch arbeitete sie mit großer Intensität und las mehr philosophische Lite-ratur als sie es je seit ihrer Jugend als Philosophie-studentin getan hatte. Sie setzte sich Fristen für die Fertigstellung der Teile »Denken« und »Wollen« (der Teil über das »Urteilen« wurde nie begonnen), als sie die Einladung erhielt, die renommierten Gif-ford-Lectures in Aberdeen, Schottland, zu halten. Doch als sie 1974 in Aberdeen den zweiten Teil ihrer Vorlesung hielt, erlitt sie einen Herzinfarkt.

    Nachdem Arendt sich erholt hatte, begann sie, vorsichtiger zu werden. Sie gönnte sich mehr Frei-zeit, verbrachte ihre Abende entspannt im Kreis ih-rer Freunde – den alten Emigrantenfreunden, den, auch jüngeren, amerikanischen Freunden und älte-ren Studenten – oder ging mit ihnen ins Kino oder Konzert. Sie versuchte, Freundschaften wieder auf-zunehmen, die während der Eichmann-Kontroverse gelitten hatten und traf Menschen, die sie, um Blü-cher trauernd, seit seinem Tod nicht gesehen hatte. In dieser ruhigeren Periode erreichte sie die Nach-richt, dass sie den von der dänischen Regierung ver-gebenen Sonning-Preis, einen Preis für Beiträge zur

  • 9I. Leben

    europäischen Kultur, erhalten sollte. Sie reiste nach Kopenhagen und sprach dort in ihrer Dankesrede (Arendt 2005) von den Problemen und Gefahren, die Ruhm und Berühmtheit mit sich bringen, insbe-sondere für diejenigen, die das Denken üben. Ihre Rede war eine Art Meditation über die Frage, wie das ›Leben des Geistes‹ zu bewahren und zu schüt-zen sei, nicht um sich von der Sorge um die politi-schen Angelegenheiten zurückzuziehen, sondern um gut zu urteilen.

    Viele Einladungen zu Vorträgen an Universitäten und auf Konferenzen lehnte sie ab, doch die Einla-dung zu einer politischen Rede nahm Arendt an: Sie wurde in eine Gruppe von angesehenen Personen des amerikanischen öffentlichen Lebens aufgenom-men, die mit ihren Reden im Boston Hall Forum die Feierlichkeiten für die im kommenden Jahr, 1976, stattfindende Zweihundertjahrfeier der amerikani-schen Republik eröffneten. Ihre Rede, unter dem Ti-tel »Home to Roost« (dt. in IG 354–369) über Natio-nal Public Radio ausgestrahlt und in The New York Review of Books veröffentlicht, war eine kurze aber eindringliche Zusammenfassung der zunehmenden Bedrohungen, durch die sie die amerikanische Ver-fassung und die republikanische Form der Regie-rung seit dem Vietnamkrieg bis hin zur Watergate-Affäre herausgefordert sah.

    1975 verbrachte Arendt einen ruhigen Spätsom-mer in ihrer Schweizer Pension, las Kant für »Das Urteilen«, den letzten Teil ihres Buches Vom Leben des Geistes, besuchte Freunde und versuchte, sich zu erholen. Sie hatte einen anstrengenden Monat im Li-teraturarchiv in Marbach verbracht, wo sie als lite-rarische Nachlassverwalterin Karl Jaspers’ Papiere durchgegangen war, und einen anstrengenden Be-such bei Heidegger hinter sich , den sie krank und fast taub antraf, weltabgeschieden. In diesem Herbst kehrte sie nur teilweise erholt und beklommen zu-rück nach New York, wo aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Zeiten die Straßen gefährlich ge-worden waren. Überdies stürzte sie Ende November vor ihrem Wohnhaus und nur wenige Tage später, am 4. Dezember 1975, erlitt sie während eines Abendessens, zu dem sie Freunde eingeladen hatte, einen weiteren Herzinfarkt – dieses Mal tödlich.

    Wie bereits Blüchers Beerdigung, so brachte auch Hannah Arendts Trauerfeier in der nahegelegenen Riverside Kapelle Menschen aus allen Zeiten ihres, wie auch ihres gemeinsamen Lebens zusammen. Doch es kamen auch viele, die sie nur durch ihre Bü-cher oder politischen Kommentare kannten. Dies war der Beginn des posthumen Phänomens, welches

    mit jedem Jahr, das seit der Trauerfeier verging, au-ßergewöhnlicher wurde: Das Treffen von Lesern und Bewunderern Hannah Arendts, die zusammenkom-men, um ihr Leben zu würdigen und ihren Beitrag – nicht nur zur europäischen Zivilisation, sondern zur Weltkultur. Als sich 2006 ihr Geburtstag zum 100. Male jährte, wurden Konferenzen, Lesungen und Workshops in New York und Paris, in Berlin, Rom und Belgrad, in Beijing und Caracas organisiert. Zahlreiche Bücher über ihr Werk sind im Lauf der Jahre veröffentlicht worden, erklären es, kommentie-ren es und kritisieren es. Kluge Chronisten betrach-ten sie als die einflussreichste politische Denkerin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht nur wegen ihres direkten Einflusses auf politisch Handelnde oder politische Ereignisse, sondern wegen ihres ebenso tiefen wie breiten Verständnisses von Politik im 20. Jahrhundert: im schlimmsten Fall totaler Herrschaft wie im besten Fall der spontanen »Neuan-fänge« von Menschen, die sich zusammenfinden um in Frieden zu handeln.

    Literatur

    Abensour, Miguel: Hannah Arendt contre la philosophie po-litique? Paris 1997.

    Arendt, Hannah: »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht«. In: Die Wandlung IV (1949), 754–770.

    – : The Negatives of Positive Thinking: A Measured Look at the Personality, Politics and Influence of Konrad Ade-nauer«. In: Book Week, Washington Post, 5. Juni 1966, 1.

    – : »Die Sonning-Preis-Rede. Kopenhagen 1975«. In: Heinz L. Arnold (Hg.): Hannah Arendt. Text+Kritik 166/167. München 2005, 3–17.

    Beiner, Ronald: Political Judgment. London 1983.Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Den-

    kerin der Moderne. Hamburg 1998.Bradshaw, Leah: Acting and Thinking. The Political Thought

    of Hannah Arendt. Toronto u. a. 1989.Caloz-Tschopp, Marie-Claire (Hg.): Les sans-état dans la

    philosophie d’Hannah Arendt: Les humains superflus, le droit d’avoir des droits et la citoyennete. Lausanne 2000.

    Canovan, Margaret: Hannah Arendt. A Reinterpretation of her Political Thought. Cambridge 1995.

    Disch, Lisa J.: Hannah Arendt and the Limits of Philosophy. Cornell 1994.

    Hill, Melvyn A. (Hg.): Hannah Arendt: The Recovery of the Public World. New York 1979.

    Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heideg-ger. Geschichte einer Liebe. München 2006.

    Hahn, Barbara: Hannah Arendt – Leidenschaften, Menschen und Bücher. Berlin 2005.

    Hansen, Phillip: Hannah Arendt. Politics, History and Citi-zenship. Oxford/Cambridge 1993.

    Heuer, Wolfgang: Citizen. Persönliche Integrität und politi-sches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Hu-manismus Hannah Arendts. Berlin 1992.

  • 10 I. Leben

    Hinchman, Lewis P./Hinchman, Sandra K. (Hg.): Hannah Arendt: Critical Essays. New York 1994.

    Honig, Bonnie (Hg.): Feminist Interpretations of Hannah Arendt. Philadelphia 1995.

    Kristeva, Julia: Das weibliche Genie: Hannah Arendt. Ber-lin/Wien 2002.

    Opstaele, Dag Javier: Politik, Geist, Kritik. Eine hermeneuti-sche Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebe-griff. Würzburg 1999.

    Pitkin, Hanna Fenichel: The Attack of the Blob. Hannah Arendt’s Concept of the Social. Chicago 1998.

    Smith, Gary (Hg.): Hannah Arendt Revisited: Eichmann in Jerusalem und die Folgen. Frankfurt a. M. 2000.

    Sontheimer, Kurt: Hannah Arendt. Der Weg einer großen Denkerin. München/Zürich 2005.

    Taminiaux, Jacques: The Thracian Maid and the Profes-sional Thinker: Arendt and Heidegger. Albany 1997.

    Tassin, Étienne: Le trésor perdu: Hannah Arendt, l’intelli-gence de l’action politique. Paris 1999.

    Villa, Dana R.: Arendt and Heidegger. The Fate of the Politi-cal. Princeton/New Jersey 1996.

    Wild, Thomas: Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schrift-steller um Hannah Arendt. Berlin 2009

    Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt – Leben, Werk und Zeit. Frankfurt a. M. 1986.

    – : Why Arendt Matters. New Haven/London 2006.Elisabeth Young-Bruehl

    (aus dem Englischen von Susanne Post)

  • 11

    Einleitung

    Überblick

    Die Schriften Hannah Arendts werden im Folgen-den weitgehend in der chronologischen Abfolge ih-rer Entstehung dargestellt. Dabei werden auch Un-terschiede zwischen den deutsch- und englischspra-chigen Überlieferungen berücksichtigt, die durch Veränderungen entstanden sind, die Arendt bei Übertragungen in die jeweils andere Sprache vor-nahm. Auf diese Weise sollen Arendts Denkwege sichtbar gemacht und die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt werden. Unsere Absicht ist, Arendts Denken als lebendige Tätigkeit des Verstehens vorzustellen und ihr denkerisches Experimentieren deutlich wer-den zu lassen. Mit anderen Worten: Einer nachträg-lichen Systematisierung, die dieses Denken nur in-terpretierend sortiert und in die Gefahr gerät, ihm seine Offenheit und Dynamik zu nehmen, soll mög-lichst widerstanden werden. Eine durchgehende Un-terteilung in Veröffentlichungen zu Lebzeiten und nach dem Tod der Autorin bzw. in veröffentlichtes und unveröffentlichtes Werk verbietet sich deshalb, denn sie würde Arendts Denkentwicklungen eher verwischen. Beispielsweise stellen die Fragmente aus den 1950er Jahren zu einer »Einführung in die Poli-tik« einen wichtigen Schritt in Arendts Auseinan-dersetzung mit der westlichen Tradition des politi-schen Denkens dar, doch wurden sie erst posthum (Was ist Politik?, 1993) veröffentlicht. Auch waren die ersten beiden Bände des Werks Vom Leben des Geistes bereits so gut wie fertiggestellt, aber noch nicht veröffentlicht, als Arendt 1975 starb.

    Ausnahmen von der chronologischen Orientie-rung an der Werkentstehung bilden das Denktage-buch und die Briefwechsel. Das Denktagebuch ent-hält Arendts Schreibhefte mit philosophischen Auf-zeichnungen zwischen 1950 und 1973. Seit der Fertigstellung ihres 1951 veröffentlichten Buches über die totale Herrschaft, The Origins of Totalitaria-nism, notierte Arendt in ihnen ihre Überlegungen zu wesentlichen Themen ihres Werkes. Über längere Zeiträume hinweg geben auch die Briefwechsel Aus-kunft über Arendts Denken und können wie das Denktagebuch parallel zum Werk gelesen werden.

    Die Chronologie beginnt mit dem Jahr 1928, als Arendts Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin entstand, und endet mit dem Spätwerk, das in den Jahren ab 1973 Gestalt annahm. Dazwischen liegen Denkwege, die verschiedene Stationen aufweisen, welche wir jeweils unter einen Titel gestellt haben, wobei diese Titel nicht abschließend zu verstehen sind und thematische Verzahnungen nicht verde-cken sollen.

    Nach »1. Frühe Schriften« sind unter »2. Jüdische Existenzen« Arendts kritische Auseinandersetzun-gen mit dem Scheitern einer unpolitischen Assimila-tion versammelt.

    Unter »3. Europa, Palästina und Amerika« finden sich all jene Aufsätze und aktuellen Kommentare, in denen sich Arendt in den 1940er und 1950er Jahren mit dem Vordringen des Nationalsozialismus be-fasste, aber auch mit Fragen des Zionismus, der Staatsgründung Israels und den Beziehungen zwi-schen Europa und den USA am Beginn des Kalten Krieges.

    Das Kapitel »4. Die Erscheinungsformen des Tota-litarismus« thematisiert Arendts umfangreiches Werk The Origins of Totalitarianism/Elemente und Ur-sprünge totaler Herrschaft sowie weitere Texte, die sich mit dieser neuen Herrschaftsform und den Proble-men, sie zu analysieren und zu verstehen, befassen.

    Die unter »5. Denkwege einer Politischen Theo-rie« vorgestellten Texte machen deutlich, wie sehr Arendt ihre These des ›Traditionsbruchs‹ als Her-ausforderung verstand, um die westliche Tradition des politischen und philosophischen Denkens einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Ihre erst 2002 gekürzt publizierte Vorlesung »Karl Marx and the Tradition of Western Political Thought« von 1953 geht auf ihre ursprüngliche Absicht zurück, die durch Marx und Engels begründete geistige Tradi-tion in ihrer Bedeutung für das Phänomen des Tota-litarismus im 20. Jahrhundert zu ergründen. Doch widmete sich Arendt bald in dieser Vorlesung, wie auch in derjenigen über »Philosophy and Politics.The Problem of Action and Thought After the French Revolution« von 1954, den Defiziten des westlichen politischen und philosophischen Den-kens. Im Mittelpunkt stehen die Veränderungen in der Neuzeit, der Verlust von Tradition und Autorität

    II. Werke und Werkgruppen

  • 12 II. Werke und Werkgruppen

    und die neue Rolle von Natur und Geschichte, wie sie Arendt in den 1957 veröffentlichten vier Essays in Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart beschreibt. Ihre Untersu-chung des Wandels der grundlegenden menschli-chen Tätigkeiten in The Human Condition (1958)/Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960) ist eben-falls dieser gedanklichen Landschaft zuzuordnen. Die geplante »Einführung in die Politik« mit einer Neubestimmung des Politischen kam nicht zustande, von diesem Projekt sind nur Fragmente unter dem Titel Was ist Politik? (1993) erhalten. An ihre Stelle trat Arendts Auseinandersetzung mit dem Problem der dauerhaften Gründung von politischer Freiheit in On Revolution (1963)/Über die Revolution (1965). Für Between Past and Future: Six Exercises in Politi-cal Thought, 1961 erschienen, überarbeitete Arendt die vier Essays von 1957 und erweiterte die Samm-lung um ›Übungen‹ zu den Begriffen ›Erziehung‹, ›Freiheit‹ und ›Kultur‹; später (1968) fügte sie noch »Truth and Politics« sowie einen Essay über die Er-oberung des Weltraums hinzu.

    Die Beschäftigung mit dem Eichmann-Prozess (1961) und dem neuen Verbrechertypus in Gestalt des Obersturmbannführers Adolf Eichmann veran-lasste Arendt einerseits zu einer Rückbesinnung auf die Totalitarismusproblematik. Andererseits öffnete sie Denkwege, die auf das Spätwerk hinführten. Das Kapitel »6. Politik und Verantwortung« stellt den Zusammenhang her, der zwischen Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess und ihrer These von der engen Beziehung zwischen Denken und morali-schem Urteil besteht, wie sie u. a. in der Vorlesung von 1965 »Some Questions of Moral Philosophy« (2003)/Über das Böse (2006) entwickelt werden. Ihre Porträts Men in Dark Times/Menschen in finsteren Zeiten (zwischen 1958 und 1967 verfasst, in der er-weiterten deutschen Ausgabe zwischen 1958 und 1975, MZ 1989) stellen beispielhafte Menschen dar, die sich denkerisch und handelnd der (moralischen) Herausforderung ihrer Zeit stellten.

    Unter »7. Die Krisen der Republik« werden nicht nur die in dem gleichnamigen, 1972 in den USA er-schienenen Band veröffentlichten Essays vorgestellt, sondern auch der bereits 1959 erschienene Essay »Reflections on Little Rock« (s. Kap. II.7.2: »Little Rock – Ketzerische Ansichten über die Neger-Frage und equality«), in dem Arendt ihre provokativen Thesen zum Problem der Überwindung der Rassen-trennung darlegte.

    Arendts »Spätwerk« (8.) war der Untersuchung der geistigen Tätigkeiten Denken, Wollen und Urtei-

    len gewidmet. Sie konnte aber nur noch ihre Aus-führungen zu Denken und Wollen fertigstellen, die posthum in der Bearbeitung durch ihre Freundin Mary McCarthy unter dem Titel The Life of the Mind (1978)/Vom Leben des Geistes (1979) veröffentlicht wurden. Die geplante Untersuchung über das Urtei-len wurde von Ronald Beiner anhand der Kant-Vor-lesungen Arendts rekonstruiert und unter dem Titel Lectures on Kant’s Political Philosophy (1982)/Das Urteilen (1985) veröffentlicht.

    Nicht alle in den jeweiligen Unterkapiteln er-wähnten Texte sind im Inhaltsverzeichnis genannt. Und nicht alle Artikel Arendts konnten so eingehend berücksichtigt werden, wie sie es verdient hätten. Sie werden aber im Kapitel VI.2.1 in alphabetischer Rei-henfolge vollständig aufgeführt – mit Verweisen auf die Kapitel, in denen sie jeweils dargestellt werden. Wolfgang Heuer

    Zweisprachigkeit

    Hannah Arendt hat ein Werk in zwei Sprachen hin-terlassen (s. die Bibliographie in IWV 257–341). Die deutsche und die englische Sprache, die Mutterspra-che und die erlernte Fremdsprache, sind mit jeweils eigenständigen Titeln in ihrer Bibliographie vertre-ten.

    Die ersten Veröffentlichungen waren auf Deutsch verfasst. Nach 1933, nachdem sie aus Deutschland vertrieben worden war, lebte Arendt im französi-schen Sprachraum, ohne als Schriftstellerin nen-nenswert an die Öffentlichkeit zu treten. Bei der Einwanderung in die USA im Mai 1941 waren ihre Englischkenntnisse minimal, hatten doch in der Schul- und Studienzeit als fremde Sprachen das Griechische und Lateinische im Vordergrund ge-standen. Sie lernte die neue Sprache gern und schnell, die ersten kleineren englischen Veröffentlichungen erschienen 1942. Unter Inanspruchnahme der Hilfe ihrer ›Englisher‹ gelang ihr dann 1951 mit The Ori-gins of Totalitarianism die Veröffentlichung des Wer-kes, das ihren Ruf als englischsprachige Autorin be-gründete. Fortan schrieb sie in beiden Sprachen, wo-bei »ein bisschen Angst« in der »Sprachenfrage« (BwBl 316) sie lebenslang begleitet haben dürfte. Im veröffentlichten Werk gewann das Englische zuneh-mend die Oberhand, während für die deutschen Ti-tel mehr und mehr Übersetzer/innen hinzugezogen wurden. Für alle englischsprachigen Titel gilt aller-dings, nach einem Zeugnis von Mary McCarthy : »All of Hannah Arendt’s books and articles were

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