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BerWissGesch 3, (1980) Rezensionen Berichte zur WISSENSCHAFTS- GESCHICHTE 1 Akademische Vcrlagsgcsdbchart ! 0:-lO Adolph Wagner, Briefe- Dokumente- Augenzeugenberichte 1851-1917. Ausgewählt und herausgegeben von Heinrich Rubner, Duncker & Humblot, Berlin 1979. DM 158,-. Er muß einigermaßen unleidlich gewesen sein. Streit war Lebenselexier für ihn und Jung- brunnen. Mit Lust und untergründigem Genuß, so scheint's, hat er sich mit aller Welt an- gelegt und überworfen. Deshalb ist Heinrich Rubners verdientsvolle Edition von Adolph Wagners Briefen aus beiläufig 65 Jahren eines langen Lebens vor allem ein Buch über un- ausgesetzte wissenschaftliche und öffentliche Kämpfe. Er war ein empfindsamer Mann, der an sich und den Umständen gelitten hat: von dünnhäutiger Verletzlichkeit, begierig nach Anerkennung, Verständnis und Zuneigung, für die er so wenig geschaffen war, nicht ohne Selbstgerechtigkeit und -mitleid. Deshalb ist diese Sammlung von rund 300 Briefen - persönlichen, amtlichen und öffentlichen, über Nationaökonomie, Sozialpolitik und soziale Reform, Universitäten und Fakultäten, Lehrstühle und Professoren, akademischen Unterricht und akademische Revenuen, an den Bruder und den Schwager, an Rodbertus, Schmoller, Brentano, Bücher, Held, Stieda und wer s-onst als Staatswissenschaftler Rang und Namen hatte zu jener Zeit, an Stöcker und Naumann, an Althoff, an Maximilian Harden, an Kramar und Bülow deshalb ist diese Sammlung von 300 Briefen, die erhellend ergänzt werden durch zeitgenössische Äußerungen über Adolph Wagner, deshalb ist sie auch ein Buch über das erfolgreiche und gleichwohl mühsame und schwierige Leben eines politischen Professors zwischen Reichs- gründung und Reichsuntergang. Und das ist vielleicht das Eigentliche und Beste daran. Man sollte den Band - wie es bei 450 eng bedruckten Seiten naheliegt nicht nur nach Versatzstücken wissenschaftsgeschichtlicher und allgemeinhistorischer Erkenntnis flüchtig durchmustern, sondern von vorn bis hinten lesen. Man tut es nicht eben mit zunehmender Sympathie und Wärme, wohl aber mit zunehmender Spannung und Anteilnahme. Das Leben eines politischen Professors zwischen Reichsgründung und Reichsunter- gang? Obwohl im Titel von "1851" doch die Rede ist. Gewiß und auch zurecht; denn ein knappes Viertel des Bandes füllen Dokumente aus jener frühen Zeit. Sie wären belang- los und vergessen ohne das, was später kam. Für die Nachwelt wurde Adolph Wagners Leben, Wirken und_ Streiten erst im Reichsgründungsjahr interessant. Mit der Reichs- gründung hatte das freilich herzlich wenig zu tun. Obwohl es sich hübsch und symbolisch traf. Adolph Wagner war Deutschnationaler von Geblüt und Temperament sein Leben lang; freilich einer, der wußte, daß "hinterm Berg auch noch Menschen wohnen" und deshalb ein erträglicher. Preuße aus Begeisterung und Bismarckianer sans phrase war er übrigens auch- bevor er in Preußen lebte und mit Bismarck inniger in Berührung kam. "Ich stehe [ ... ] in der deutschen Frage vollständig auf dem preußischen kleindeut- schen Standpunkt." "Es wäre zu traurig, wenn in Preußen abermals legitimistische Vellei- täten obsiegten. [ ... ] Andererseits hoffen wir noch, daß die heutige Thronrede die förm-

Adolph Wagner, Briefe - Dokumente - Augenzeugenberichte 1851-1917: Ausgewählt und herausgegeben von Heinrich Rubner, Duncker & Humblot, Berlin 1979. DM 158,-

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Page 1: Adolph Wagner, Briefe - Dokumente - Augenzeugenberichte 1851-1917: Ausgewählt und herausgegeben von Heinrich Rubner, Duncker & Humblot, Berlin 1979. DM 158,-

BerWissGesch 3, 234~240 (1980)

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Berichte zur WISSENSCHAFTS­GESCHICHTE 1 Akademische Vcrlagsgcsdbchart ! 0:-lO

Adolph Wagner, Briefe- Dokumente- Augenzeugenberichte 1851-1917.

Ausgewählt und herausgegeben von Heinrich Rubner, Duncker & Humblot, Berlin 1979. DM 158,-.

Er muß einigermaßen unleidlich gewesen sein. Streit war Lebenselexier für ihn und Jung­brunnen. Mit Lust und untergründigem Genuß, so scheint's, hat er sich mit aller Welt an­gelegt und überworfen. Deshalb ist Heinrich Rubners verdientsvolle Edition von Adolph Wagners Briefen aus beiläufig 65 Jahren eines langen Lebens vor allem ein Buch über un­ausgesetzte wissenschaftliche und öffentliche Kämpfe.

Er war ein empfindsamer Mann, der an sich und den Umständen gelitten hat: von dünnhäutiger Verletzlichkeit, begierig nach Anerkennung, Verständnis und Zuneigung, für die er so wenig geschaffen war, nicht ohne Selbstgerechtigkeit und -mitleid. Deshalb ist diese Sammlung von rund 300 Briefen - persönlichen, amtlichen und öffentlichen, über Nationaökonomie, Sozialpolitik und soziale Reform, Universitäten und Fakultäten, Lehrstühle und Professoren, akademischen Unterricht und akademische Revenuen, an den Bruder und den Schwager, an Rodbertus, Schmoller, Brentano, Bücher, Held, Stieda und wer s-onst als Staatswissenschaftler Rang und Namen hatte zu jener Zeit, an Stöcker und Naumann, an Althoff, an Maximilian Harden, an Kramar und Bülow deshalb ist diese Sammlung von 300 Briefen, die erhellend ergänzt werden durch zeitgenössische Äußerungen über Adolph Wagner, deshalb ist sie auch ein Buch über das erfolgreiche und gleichwohl mühsame und schwierige Leben eines politischen Professors zwischen Reichs­gründung und Reichsuntergang. Und das ist vielleicht das Eigentliche und Beste daran. Man sollte den Band - wie es bei 450 eng bedruckten Seiten naheliegt nicht nur nach Versatzstücken wissenschaftsgeschichtlicher und allgemeinhistorischer Erkenntnis flüchtig durchmustern, sondern von vorn bis hinten lesen. Man tut es nicht eben mit zunehmender Sympathie und Wärme, wohl aber mit zunehmender Spannung und Anteilnahme.

Das Leben eines politischen Professors zwischen Reichsgründung und Reichsunter­gang? Obwohl im Titel von "1851" doch die Rede ist. Gewiß und auch zurecht; denn ein knappes Viertel des Bandes füllen Dokumente aus jener frühen Zeit. Sie wären belang­los und vergessen ohne das, was später kam. Für die Nachwelt wurde Adolph Wagners Leben, Wirken und_ Streiten erst im Reichsgründungsjahr interessant. Mit der Reichs­gründung hatte das freilich herzlich wenig zu tun. Obwohl es sich hübsch und symbolisch traf. Adolph Wagner war Deutschnationaler von Geblüt und Temperament sein Leben lang; freilich einer, der wußte, daß "hinterm Berg auch noch Menschen wohnen" und deshalb ein erträglicher. Preuße aus Begeisterung und Bismarckianer sans phrase war er übrigens auch- bevor er in Preußen lebte und mit Bismarck inniger in Berührung kam.

"Ich stehe [ ... ] in der deutschen Frage vollständig auf dem preußischen kleindeut­schen Standpunkt." "Es wäre zu traurig, wenn in Preußen abermals legitimistische Vellei­täten obsiegten. [ ... ] Andererseits hoffen wir noch, daß die heutige Thronrede die förm-

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liehe Annexion[ ... ] ganz Hannovers proklamieren werde." Das schrieb der 1835 zufällig in Erlangen geborene Hannoveraner am 16.7. und 5.8.1866 an Heinrich von Treitschke. Und dann, am 23. November 1873 an Eduard Wincke1mann: "Berlin bin ich satt bis fast über die Ohren. Ich könnte wieder nach - Österreich oder gar in die Schweiz gehen, wo wenigstens nicht diese Selbstzufriedenheit mit mittelmäßiger Verwaltung besteht. Ja, wenn man hier noch Major oder doch wenigstens Hauptmann erste Klasse wäre, dann ginge es noch".

Inzwischen war er 1870 auf den staatswissenschaftliehen Lehrstuhl der Berliner Fried­rich-Wilhelm-Universität berufen worden. Ein unstetes akademisches Wanderleben (Wien, Hamburg, Dorpat, Freiburg: "Der hiesige süddeutsche Student ist ein schwerfälliger träger Kumpan. Unter den Kollegen befindet sich viel neidisches, kleinliches altes Gerüm­pel.") war zur Ruhe gekommen. Wagner ist -so oft er auch fernerhin damit koketierte, wie nachdrücklich es ihn fortzöge- bis an sein Lebensende in Berlin geblieben, 47 Jahre lang. 46 davon hatte er mit unverbtüchlicher Regelmäßigkeit Semester um Semester 12 bis 15 Stunden Kolleg gelesen und Seminar gehalten. Den Gedanken an Emeritierung, zu der Kollege Schmoller sich im 74. Jahr dann doch verstand, hat er allzeit weit von sich gewiesen aus finanziellen Gtünden; denn er war ein bißchen rapsehig und mochte die Kolleg-Gelder, die mehr als das Gehalt eintrugen, ungern missen; vor allem aber im Geftihl: "das möchte denen so behagen". Wer mit "denen" jeweils gemeint war, blieb offen. Mißverstanden, verkannt und bedrängt von jedermann hat er sich schon bald ge­ftihlt und je später desto mehr. Angesichts seines hitzigen Naturells, in dem Streitsucht und Mißtrauen einander unzutunlich steigerten, konnte das vermutlich gar nicht anders sein. Dazu kam aber, daß ilim in maßgeblichen Kreisen tatsächlich der Ruch anhing, "Staatssozialist" und gefährlich zu sein. Daran war mancherlei richtig und vieles falsch. Wobei zu bestimmen schwerf<illt, wieviel und was je richtig und je falsch war. So geht es mit derlei Schlagworten ja meist. Gleichviel zunächst, richtig war jedenfalls, daß Adolph Wagner, der bis dahin Fachmann ftir Statistik und Finanzwissenschaft gewesen war, noch im Jal1r seines Berliner Amtsantritts die "soziale Frage" entdeckte und zwar mit all der Vehemenz, die ihm nun mal zu eigen war. Sie hat ihn bis zuletzt nicht wieder losgelassen. Sein heftiges und wortreiches Engagement hat seinem Leben und Lehren, Denken, Agieren und Agitieren fortan Farbe und Gestalt gegeben.

Die Briefe und Dokumente geben wenig Auskunft darüber, wie geschlossen und kon­sistent Wagners sozialreformerisches Denken und Streben über die Zeit gewesen ist. Es gibt gute Gründe zu bezweifeln, daß es sehr geschlossen und konsistent war. Es gibt so­gar gute Gründe zu bezweifeln, daß es auch nur zureichend klar und entschieden war und der Sache theoretisch auf den Grund kam. Das galt ja für all die "Sozialpolitiker" unter den Nationalökonomen und Staatswissenschaftlern jener Zeit. Und welcher Staats­wissenschaftler wäre damals kein "Sozialpolitiker" gewesen? Wie geschlossen und klar, entschieden und theoretisch konsistent Adolph Wagners soziales Streben aber auch immer war, fortdauernd war es Anlaß und Hintergrund hitziger öffentlicher Auseinander­setzung. Das fing gleich 1871 an:

Es war Adolph Wagner, der den Prinzipienstreit mit der sozial- und wirtschaftspoli­tisch "herrschenden" Freiliandelsschule recht eigentlich in Gang brachte, der bald darauf zur Gründung des Vereins ftir Socialpolitik geftihrt hat. Auch an ihr ist er initiativ und anfangs maßgebend beteiligt gewesen, hat dann freilich bald das Interesse dran verloren. Mit dem "Katheder-Sozialismus", dessen Forum der Verein schnell wurde, hat er wenig anfangen können. Ich möchte freilich nicht entscheiden, ob das eher an den Lehren, oder eher an den Männern lag, die sie vertraten. So deutlich hat man jedenfalls bisher nicht gewußt, wie falsch es ist, Wagner mit Schmoller und Brentano zu den herausragen­den Exponenten des Kathedersozialismus und der historischen Schule der National-

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ökonomie zu rechnen. Nichts hat ihn mit den beiden verbunden. Schmollers "unklare Conceptionen", seine "unnötige Verflüchtigung der Nationalökonomie in Wirtschafts­geschichte" hat er für einen bedenklichen Irrweg gehalten, im Methodenstreit eher auf Mengers Seite gestanden, soweit die beherzigenswerte und unverbrauchte Einsicht: "Wir streiten in unserem Fach viel zu sehr über das, wie es machen, und vergessen darüber das wichtigere; überhaupt etwas machen", ihn von entschiedener Anteilnahme nicht zurückhielt.

Der Kathedersozialismus ist weichliche Vermittlung für ihn gewesen. Zumindest ge­danklich ist er Marx und Lassalle anfangs sehr nahegerückt. Im Prinzip hat er die Richtig­keit des Sozialismus anerkannt. "Diese Kathedersozialisterei ist doch was Halbes [ ... ] Die sozialdemokratische Lehre hat mehr tief Religiöses als irgendeine andere [ ... ] und wissenschaftlich sind die Marx und Lassalle den Kathedersozialisten und Manchester­leuten um einen Chimborazo und Dhaulagieri überlegen. Soll man den letzten Schritt tun?" (7.12.1872). Vor solch letztem Schritt ist er freilich stets zurückgescheut. Es steht dahin, wie ernst es ihm mit dem Gedanken wirklich war, als geistiger Führer an die Spitze der Sozialdemokratie zu treten, die ihm eines "neuen Lassalle" so dringend bedürftig zu sein schien. Im vertrauten Kreis des längeren mit ihm umgegangen ist er jedenfalls. Und am 26. Mai 1878 noch schrieb er an seinen Bruder: "Das erbärmliche Sozialistengesetz famos durchgefallen. [ ... ] Eine so tiefe Geisterbewegung, wie die Welt sie seit der Re­formation nicht gesehen, mit preußischen Polizeibütteln töten. Ja, wenn ,Geister' auch mit Zündnadelgewehren totzuschießen wären! Es ist doch schließlich wahr: die Ideen beherrschen die Welt und das ist schön, wenn auch Bismarckscher Corporalismus es nicht glaubt und nicht begreift". In den 90er Jahren ist er freilich um einiges von diesem ent­schiedenen Standpunkt abgerückt. Die Sozialdemokratie hat ihm trotzdem die Hochach­tung bewahrt, der Freiherr von Stumm ihn trotzdem im Duell totschießen wollen.

Persönlich schließlich hat er sich an Schmoller und Brentano fortgesetzt geschrieben. Mit Brentano, "dem kleinen eitlen Fant", der sich übrigens bei ihm habilitiert hat, hat er so herausfordernde Briefe gewechselt, daß der -kaum weniger aufgeregt-streitbaren Tem­peraments - ihn alsbald "reif für ein Irrenhaus" gehalten hat. Und Schmoller - der "in­trigante Schwabe" - ist 1881 auf den zweiten staatswissenschaftliehen Lehrstuhl der Friedrich-Wilhelms-Universität berufen worden und hat ihm fortan das Leben vollends vergällt. Nicht- etwa, weil Schmoller ein ähnlich angreifender Streithammel gewesen wäre wie Brentano und Wagner selbst; im Gegenteil: weil er eine geschmeidig-ausgleichende, ge­lassen-irenische Natur war und damit reüssierte: Staatsrat, Mitglied des Herrenhauses, Exzellenz "von" und überall geschätzt und geehrt, zu allem, was halbwegs sein Metier betraf, gefragt, gehört und beachtet. Und auch noch besser bezahlt. Für Wagner war eins so schlimm wie das andere. Im hohen Alter ist ihm schließlich als eine Art "Charakter­major" der Titel des "Geheimen Rats" verliehen worden. Sonst nichts, was seiner Ehr­sucht hätte schmeicheln können. Und um seine Einkünfte hat er sich bis zuletzt mit dem Ministerium rumgestritten. Dabei ging es ihm wahrlich nicht schlecht. Der Tatsache, daß Geld ihm ungeheuer wichtig war und er ausgiebig mit Bruder und Schwager drüber kor­respondierte, verdanken wir erhellende Auskünfte darüber, wie gut es Professoren im kaiserlichen Deutschland ging. Rund 10.000,- Mark Gehalt und 12. bis 15.000 Mark Kolleggelder im Jahr dazu, davon konnte einer leben und auch noch ein Vermögen an­sammeln, das nach heutiger Kaufkraft einer knappen Million entsprochen haben mag. Über drei Viertel aller Haushalte mußten damls ja mit weniger als einem Zehntel dieses Einkommens auskommen.

Genug. Mehr als Andeutungen der informativen Fülle der Edition können diese ein wenig sprunghaften Annotationen ohnedies nicht sein. Scharfzüngige, aber auch hellsich­tige und gerechte, nachhaltig gültige Anmerkungen und Urteile über fast alle Fachgenos-

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sen seiner Zeit, würzen das Buch. Die Bedeutung Max Webers und Werner Sombarts zum Beispiel hat Wagner zwar nicht mehr recht verstanden, wohl aber frühzeitig geahnt und anerkannt. Viel ist über Lehrstuhlvakanzen und -besetzungen, Berufungsaussichten und -listen zu lesen und im Interesse der Verhaltenskontinuität dabei beruhigend zu erfahren, daß es wenig gab, was Professoren mehr interessierte, und daß Qualifikation nicht immer das ausschlaggebende Kriterium ftir die Auswahl war. "Allerdings, die großen genialen, wenn auch einseitigen Talente, zu denen ich doch Sombart, Oppenheimer und, trotz seiner Schrullen, Max Weber in ihrer Generation rechne, werden dabei immer übergangen. Das ist aber einmal professorale und akademische Tradition" (30.1.1914).

Nicht ganz auf seine Kosten kommt, wer neue Aufschlüsse nicht nur über die personel· le, sondern auch über die institutionelle und sachliche Entwicklung der Staatswissenschaf. ten an den deutschen Universitäten sucht. Bemerkenswert ist nur die Dokumentation eines von Wagner gleich in den 70er Jahren inspirierten, rasch und sang- und klanglos im Sande, will sagen, in der preußischen Hochschulbürokratie verlaufeneu Versuchs, die staatswissenschaftliehen Lehrstühle aus der philosophischen in die juristische Fakultät zu verpflanzen und Staatswissenschaften zum oligatorischen Prüfungsgegenstand ftir Juristen zu erheben.

Wenig auch erfahrt man über Interna des Evangelisch-sozialen Kongresses, dessen Vize. präsident Wagner doch lange Zeit gewesen ist, und des Nationalsozialen Vereins. Die freundschaftliche Beziehung zu Stöcker scheint zunehmend distanziert geworden zu sein, zu Harnack und Naumann hat er nie ein persönliches Verhältnis gewonnen. Ge­schätzt hat er beide.

Ein Verdienst der Auswahl ist, daß nicht nur der amt· und öffentliche Wagner darin gegenwärtig wird, sondern auch der private und alltägliche. Die erste, herzlich geliebte Frau starb ihm in Dorpat, als er gerade 33 Jahre war. Er hat es bis ans Lebensende nicht verwunden. Die zweite Frau hat er geheiratet, weil sie die Cousine der ersten war. Nach deren frühen Tod im Jahre 1872, der ihn fast gleichgültig ließ, die dritte, weil es mit ftinf Kindern ohne Frau nicht ging. Drei Kinder kamen noch dazu. Freude hat er an ihnen nicht gehabt. Sie sind ihm fremd geblieben, weil er unter der Gefühlskälte und Lieblosigkeit ihrer Mutter zeitlebens schwer gelitten hat. Die Söhne aus erster Ehe haben ihm vorwie­gend Sorge bereitet. Das einzige Kind, an dem er mit zärtlicher Liebe gehangen hat, eine Tochter aus zweiter Ehe, starb nach kurzem, verzehrendem Leben vor seinen Augen eines langen, schlimmen Todes. Der ergreifende Brief, den er aus diesem Anlaß Gustav Schmoller schrieb, deutet mehr von Adolph Wagners Sein und Streiten als hundert andere.

Zweierlei ist höchlichst zu bedauern. Die Briefe und Dokumente sind über die Maßen asketisch kommentiert. Natürlich ist nicht jeder Herausgeber ein Peter de Mendelssohn, kann nicht jede Edition persönlicher und öffentlicher Lebenszeugnisse so opulent ausge· stattet sein, wie es Thomas Manns Tagebücher sind. Aber etwas mehr wäre schon er· wünscht gewesen: ein paar biographische Stichworte zu den zahlreichen wichtigeren Namen beispielsweise, etwas Aufklärung über recherchierbare Vorgänge, auf die Briefe sich beziehen. Manches, was so im Dunkeln oder zumindest doch im Zwielicht bleibt, wäre - so scheint es - unschwer zu erhellen gewesen.

Und dann der Preis: 158,- Mark garantieren, daß der Band in ein paar dutzend Biblio· theken vergraben und dann und wann "benutzt" wird. Kaufen, um ihn zu lesen, wird ihn niemand. Und das ist eigentlich schade ... und entschuldigt vielleicht ein bißchen die "substitutive" Länge dieser Besprechung.

J ohannes Guten berg· Universität, Fachbereich 03 Saarstr. 21 D-6500 Mainz

Professor Dr. Volker Hentschel