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10 LE MONDE diplomatique | September 2012 Durch die Wüste Sinai ins Gelobte Land as hübsche kleine Café liegt etwas versteckt in einer der verwinkelten Gassen der Alt- stadt von Jaffa. Nicht nur die Anwohner kommen gern hierher, auch Besucher aus dem Zentrum von Tel Aviv schätzen die Atmosphäre bei ge- dämpfter Musik und gutem Essen kann man die Hitze und die Hektik in Israels heimlicher Hauptstadt für eine Weile vergessen. Ganz hinten, in einer kleinen Kammer, die auch als Waschraum dient, arbeitet Kasedai. Der Eritreer spült das Geschirr, manchmal bereitet er auch Essen zu, zwölf Stunden jeden Tag, unauffällig und zuverlässig. Kase- dai ist vor der Diktatur in Eritrea geflo- hen, in den drei Jahren seines illegalen Aufenthalts in Israel hat er jede erdenk- liche Art von Gelegenheitsjob angenom- men. Im vergangenen Jahr konnte er genug Geld beiseitelegen, um seine Frau und die Kinder auf die strapaziöse Reise von Eritrea über die Sinai-Halbin- sel nach Israel zu schicken. Solchen Schicksalen begegnet man überall in den großen Städten Israels: Migranten verrichten die niedrigen Ar- beiten, ohne die das Land nicht funktio- nieren würde. Früher verdingten sich Palästinenser in solchen Jobs, doch in- zwischen sind die besetzten Gebieten abgeriegelt. Die Einwanderer aus Afrika und Ostasien, die deren Plätze einge- nommen haben, sind – mit steigender Tendenz in den letzten Monaten – Ziel von ausländerfeindlichen und rassisti- schen Angriffen geworden, wie sie Israel in seiner Geschichte noch nicht erlebt hat. Über kaum ein Thema wird hier heute so heftig gestritten wie über die Einwanderungspolitik. Wichtigste Anlaufstelle für afrika- nische und andere Arbeitsmigranten ist der Süden von Tel Aviv, eine verdreckte, industriell geprägte Gegend. In den ver- gangenen acht Monaten kam es dort immer wieder zu Überfällen auf Schwarzafrikaner. Ende Juli erstach ein Israeli drei Eritreer in einem Internet- café. In der Gegend um den zentralen Busbahnhof, früher vom Drogenmilieu beherrscht, bestimmen heute die Afri- kaner das Straßenbild: Sie schlafen in den Parks, sie stehen irgendwo um Ar- beit an oder warten einfach nur. Worauf, wissen sie selbst nicht. Angriffe auf afri- kanische Migranten gab es aber auch in Jerusalem, dort wurden in diesem Som- mer Brandanschläge auf von Eritreern bewohnte Wohnungen verübt. 1 Im Süd-Tel-Aviver Stadtteil Hatikva („Hoffnung“) versammelten sich an einem schwülen Frühsommerabend im Mai etwa tausend Personen zu einer Kundgebung, um gegen die Anwesen- heit von Afrikanern in der Stadt zu pro- testieren. Bei diesem Anlass traten auch Parlamentsabgeordnete auf und hielten Brandreden. Miri Regev von der Likud- Partei Netanjahus verstieg sich zu der Behauptung, die Afrikaner seien für die israelische Gesellschaft „ein Krebsge- schwür“. (Dafür musste sie sich einige Tage später öffentlich entschuldigen – bei den Krebspatienten, nicht etwa bei den Afrikanern.) Als die Reden beendet waren, zogen mehrere Dutzend Personen randalie- rend zum zentralen Busbahnhof. Sie brüllten rassistische Parolen, schlugen die Schaufenster afrikanischer Läden ein und griffen afrikanische Frauen und Kinder an. „Die Demonstranten waren überall“, berichtete ein Flüchtling aus Nigeria der britischen Zeitung The Tele- graph. „Eine Gruppe von zehn oder fünf- zehn Jugendlichen hielt einen schwar- zen Jungen an, der mit dem Fahrrad vor- beikam. Sie zerrten ihn vom Rad, ver- prügelten ihn und traten ihm gegen den Kopf. Die Polizei war in der Nähe, schau- te aber erst einmal zu und griff erst ein, als die Sache völlig außer Kontrolle ge- riet.“ 2 Einen derart heftigen und gewaltsa- men Ausbruch antiafrikanischer Res- sentiments hatte Tel Aviv noch nicht er- lebt. Dennoch war der Vorfall der letzte in einer langen Reihe ähnlicher Vor- kommnisse, die überall in Israel zu ver- zeichnen sind, unorganisiert, aber immer häufiger. „Diese Proteste gegen Migranten aus Afrika in Süd-Tel-Aviv gibt es schon seit 2010, neu ist nur das Interesse der Medien daran“, meint die Journalistin Mya Guarnieri, die an einem Buch über die Arbeitsmigranten in Israel arbeitet. „Und von Anfang an tauchten bei solchen Protesten auch Po- litiker der extremen Rechten auf. Sie waren die Vorreiter, dann folgten die Po- pulisten, und schließlich wurde es ge- sellschaftsfähig, antimigrantische Res- sentiments zu pflegen. Das Ganze nahm D seinen Ausgang bei der extremen Rech- ten, und ich glaube, zu diesem Lager darf man auch Eli Jischai rechnen.“ Tatsächlich vertrat Israels Innen- minister Eli Jischai von der ultraortho- doxen Schas-Partei in der Migrantenfra- ge stets eine radikale Haltung – man- chen gilt er gar als geistiger Brandstifter. Erst kürzlich erklärte er in einem Inter- view mit der Tageszeitung Maariv: „Die meisten dieser Menschen, die hierher kommen, sind Muslime; die glauben, das Land gehöre gar nicht uns, den Wei- ßen [] Gemeinsam mit den Palästi- nensern werden diese Eindringlinge den zionistischen Traum bald zerstört haben.“ 3 Hass auf die Eindringlinge Jischai war auch die treibende Kraft hin- ter einer Vielzahl neuer Gesetze, die die afrikanischen Migranten in Israel im Status der Illegalität halten und sie gera- dezu kriminalisieren. Jüngst hat das Parlament ein „Gesetz zum Schutz vor Eindringlingen“ verabschiedet, das unter anderem erlaubt, Asylbewerber bis zu drei Jahren ohne Gerichtsverfah- ren in Haft zu behalten – und diese Frist kann immer wieder unbegrenzt verlän- gert werden. Das neue Gesetz stellt die Novellierung einer Regelung von 1954 dar, die das Ziel hatte, den während des Kriegs von 1947/48 geflüchteten Palästi- nensern die Rückkehr an ihre Wohnorte innerhalb des neu gegründeten Staates Israel zu verwehren. Damals galten alle Palästinenser als „feindliche Eindring- linge“. Dass Israel heute zunehmend zum Ziel afrikanischer Migranten wird, hat viele Gründe. Jean Luc, ein Flüchtling aus der Demokratischen Republik Kon- go, der seit fünf Jahren illegal in Tel Aviv lebt, erinnert daran, dass Israel doch selbst ein „Land der Flüchtlinge“ sei. Bei unserem Gespräch in einem Stra- ßencafé im Süden Tel Avivs erzählt er von seinem Fußmarsch durch die Wüste Sinai. Dort habe er das Gefühl ge- habt, auf den Spuren der Israeliten auf dem Weg ins Gelobte Land zu wandeln. Der Landweg über die Sinai-Halbin- sel ist die häufigste Route für afrikani- sche Migranten. In diesem wenig kon- trollierten Teil Ägyptens haben die Schlepperbanden der lokalen Bedui- nenstämme das Sagen. Sie schleusen die Flüchtlinge von Kairo bis zur israeli- schen Grenze. Dabei soll es immer wie- der zu Vergewaltigungen, Misshandlun- gen und sogar Erschießungen gekom- men sein. Wer es durch den Sinai ge- schafft hat, muss noch einen Weg fin- den, die Grenze zu überwinden, die durch einen hochmodernen, inzwi- schen fast vollständig fertiggestellten Sperrwall geschützt ist. Im Juni drangen israelische Soldaten sogar auf ägypti- sches Staatsgebiet vor, um Migranten festzunehmen, die zu Fuß über die Grenze wollten. 4 Die israelischen Streit- kräfte (IDF) verstärken seit einer Weile ihre Präsenz an der Sinai-Grenze – mit dem erklärten Ziel, die illegale Einwan- derung aus Afrika endgültig zu been- den. Vielen ist die Einreise dennoch ge- glückt. Nach Schätzungen israelischer NGOs leben heute etwa 60 000 Afrikaner illegal in Israel – die überwältigende Mehrheit (über 60 Prozent) kommt aus Eritrea. Insgesamt sind seit dem Jahr 2000 etwa 180 000 Arbeitsmigranten ins Land gekommen, von denen über die Hälfte illegal arbeitet. Das zeigt ein Be- richt der israelischen NGO „Hotline for Migrant Workers“, die ihnen Hilfe an- bietet. 5 Während Menschenrechtsorga- nisationen stets von „Asylsuchenden“ und „Migranten“ sprechen, ist in vielen israelischen Medien häufig nur noch von „den Eindringlingen“ die Rede. Oberflächlich betrachtet, ähnelt die israelische Kontroverse um die Ein- wanderung den Debatten, die auch in der Europäischen Union und in den USA geführt werden. In allen westlichen Ländern stellt sich ja die schwierige Fra- ge, in welchem Verhältnis der Bedarf an billigen Arbeitskräften zu den Bürger- rechten und zum Anspruch ethnisch- nationaler Kontinuität steht. In Israel werden diese Probleme allerdings durch tief verwurzelte Vorstellungen verstärkt, die auf der widersprüchlichen Ideologie von die Sonderstellung des Ju- dentums gründen: Wie definiert sich Is- rael? Als jüdischer Staat, als westliche Demokratie, als eine Mischung aus bei- dem? Und was bedeutet es in diesem Zusammenhang, wenn eine große Zahl von Menschen im Land lebt, die weder Juden noch Araber sind? Die Gewalt gegen Migranten in Israel, die die Pro- bleme ja noch verstärkt, hängt auch mit der erfolgreichen Abgrenzung der jü- disch-israelischen Gesellschaft von der palästinensischen zusammen. Nach der immer noch bestimmenden zionisti- schen Ideologie ist Israel eben ein rein jüdischer Staat. Seit der Staatsgründung 1948 haben in Israel lediglich 200 nichtjüdi- sche Menschen politisches Asyl erhal- ten. Weltweit gesehen erhalten 84 Pro- zent der Flüchtlinge aus Eritrea politi- sches Asyl und 64 Prozent der Flüchtlin- ge aus dem Sudan. 6 Dass Israel offenbar nicht bereit ist, dieses Recht zu gewäh- ren, macht deutlich, wie wichtig der jü- dische Staat die ethnisch-religiöse Ho- mogenität seiner Bevölkerung nimmt. Seit seiner Gründung kommt Israel ohne geschriebene Verfassung aus, ein Mangel, der nicht ohne Folgen blieb: Der Staat konnte es sich stets erlauben, grundsätzliche Fragen, wie den Status und die Rechte der nichtjüdischen Bür- ger, vor allem der in Israel lebenden Pa- lästinenser, einfach offen zu lassen. Ebenso unklar blieb, nach welchen Kri- terien entschieden wird, wer überhaupt als Jude gilt. Dass die Palästinenser nicht als Staatsbürger behandelt wer- den, hat zu einer anhaltenden und oft- mals heftigen Debatte über das Selbst- und Demokratieverständnis Israels ge- führt. Auch innerhalb der israelischen Führung tat man sich schwer mit einer Identität, die auf Absonderung beruht und in der Praxis schließlich zur Tren- nung von palästinensischer und jü- disch-israelischer Bevölkerung führen musste. Da der junge israelische Staat jedoch zunächst auf die palästinensi- schen Arbeitskräfte und ihre Kenntnis- se und Fähigkeiten angewiesen war, vollzog sich diese Trennung eigentlich erst mit dem Oslo-Friedensprozess in den 1990er Jahren. Diese These vertrat der – inzwi- schen verstorbene – palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said, der 1999 in seinem Essay „What Can Se- paration Mean?“ 7 auseinandersetzte, was der Oslo-Prozess für das Verhältnis zwischen israelischer Gesellschaft und palästinensischer Bevölkerung in der Praxis bedeutete. Mit „Separation“ meinte er weniger die territoriale Tei- lung, da Israel seine massiven Sied- lungsprojekte im Westjordanland (und damals auch noch im Gazastreifen) nicht aufgab, sondern die soziale Segre- gation. Lange Zeit hatten die Israelis regel- mäßigen Kontakt zu Palästinensern; zu Tagelöhnern, die in Israel arbeiteten, oder zu Händlern, die man beim Ein- kaufen in Ramallah traf. Das änderte sich in den 2000er Jahren: Die Palästi- nenser verschwanden aus dem israeli- schen Alltag. Die gewaltsamen Ausein- andersetzungen der Zweiten Intifada ab 2000 und Israels 2003 begonnenes Pro- jekt, das Westjordanland mit einem Sperrwall abzuriegeln, besiegelten die Politik der Abtrennung. Nun hatten die meisten Israelis nur noch während ihres Wehrdienstes im Westjordanland Kontakt zu Palästinensern. Den Platz des Fremden, des Nichtjuden in der is- raelischen Gesellschaft, übernahmen immer mehr die Flüchtlinge und Ar- beitsmigranten aus Afrika und Asien. Als Israel im Sommer 2011 die größten Demonstrationen und sozialen Proteste seiner Geschichte erlebte, ent- schieden die Demonstranten bewusst, die Palästinafrage und die israelische Besatzung nicht zu thematisieren. Es ging ihnen um ihre Rechte, ihre Gesell- schaft, ihre Zukunft, da war kein Platz für die Palästinenser. Umso deutlicher zeigten die Bilder von einer halben Mil- lion Israelis, die „soziale Gerechtigkeit“ forderten, während von der Unterdrü- ckung der Palästinenser keine Rede war, wie sehr sich die israelische Gesell- schaft gegen die Palästinenser abge- schottet hat. 8 Damit bestätigen die so- zialen Proteste auf ihre Weise die Be- hauptung von Edward Said, dass Israel nach Oslo auch intellektuell und emo- tional die Trennung von den Palästinen- sern vollzogen hat. Die aktuellen Gewaltausbrüche gegen Afrikaner haben in Israel bislang nicht zu einer Infragestellung des eige- nen Umgangs mit den Einwanderern geführt. Stattdessen verweist man auf die offizielle Zuwanderung äthiopischer Juden (Falascha) seit Mitte der 1980er Jahre als Beweis für multikulturelle Of- fenheit. Die Wirklichkeit aber sieht an- ders aus: In allen Bereichen der israeli- schen Gesellschaft werden die dunkel- häutigen äthiopischen Juden diskrimi- niert – in Tel Aviv tragen manche von ihnen heute T-Shirts mit dem Aufdruck „Wir sind keine afrikanischen Asylan- ten“. Die Anwesenheit der Afrikaner stellt die israelische Gesellschaft vor ein grundsätzliches Problem, das durch die massenhafte Abschiebung oder den Bau neuer Gefängnisse nicht zu lösen ist: Wie geht der jüdische Staat mit Nichtjuden auf seinem Territorium um? Der Streit darüber legt zunehmend die Risse im israelischen Gesellschafts- gefüge offen. Erst kürzlich, an einem Abend im August, gingen mitten in Westjerusalem israelische Jugendliche brutal auf eine Gruppe von Palästinen- sern los. Hunderte Passanten sahen ta- tenlos zu. Ein palästinensischer Jugend- licher landete auf der Intensivstation, die Polizei sprach später von versuch- tem „Lynchmord“. Viele Israelis waren schockiert von diesem Vorfall, doch er ist nur ein weite- rer Beleg für die wachsende Fremden- feindlichkeit im Land. Israel muss sich entscheiden: Solche Gewaltausbrüche, die letztlich die ethischen Grundlagen einer Gesellschaft gefährden, sind nur zu verhindern, wenn im nationalen Selbstverständnis auch den Nichtjuden Platz eingeräumt wird. 1 Siehe „African migrants wounded in Jerusalem fire, in suspected hate attack“, Haaretz, 12. Juli 2012. 2 Siehe „Israeli anti-immigration riots hit African neighbourhood of Tel Aviv“, The Telegraph, 24. Mai 2012. 3 Maariv, 1. Juni 2012. 4 „Rights Groups: IDF Catching African Migrants In- side Egyptian Territory“, Haaretz, 10. August 2012. 5 Siehe hotline.org.il/english/about_migrants.htm. 6 Siehe 972mag.com/myths-facts-and-sugges- tions-asylum-seekers-in-israel/33740/. 7 Deutsch in: Edward Said, „Das Ende des Friedens- prozesses. Oslo und danach“, Berlin (Berlin Verlag) 2002. 8 Siehe Max Blumenthal und Joseph Dana, „How Could the Largest Social Justice Movement in Isra- el’s History Manage to Ignore the Country’s Biggest Moral Disaster?“: www.guernicamag.com/blog/ max_blumenthal_and_joseph_dana/. Aus dem Englischen von Edgar Peinelt Afrikanische Flüchtlinge in Israel von Joseph Dana Illegale Einwanderung über die ägyptische Grenze ASSAF GOLAN/dapd Joseph Dana ist Journalist in Ramallah und Jeru- salem. © Le Monde diplomatique, Berlin

Afrikanische Flüchtlinge in Israel

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LMD German September 2012

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Page 1: Afrikanische Flüchtlinge in Israel

10 LE MONDE diplomatique | September 2012

Durch dieWüste Sinaiins Gelobte Land

as hübsche kleine Café liegtetwas versteckt in einer derverwinkelten Gassen der Alt-stadt von Jaffa. Nicht nur die

Anwohner kommen gern hierher, auchBesucher aus dem Zentrum von Tel Avivschätzen die Atmosphäre – bei ge-dämpfter Musik und gutem Essen kannman die Hitze und die Hektik in Israelsheimlicher Hauptstadt für eine Weilevergessen. Ganz hinten, in einer kleinenKammer, die auch als Waschraumdient, arbeitet Kasedai. Der Eritreerspült das Geschirr, manchmal bereiteter auch Essen zu, zwölf Stunden jedenTag, unauffällig und zuverlässig. Kase-dai ist vor der Diktatur in Eritrea geflo-hen, in den drei Jahren seines illegalenAufenthalts in Israel hat er jede erdenk-liche Art von Gelegenheitsjob angenom-men. Im vergangenen Jahr konnte ergenug Geld beiseitelegen, um seineFrau und die Kinder auf die strapaziöseReise von Eritrea über die Sinai-Halbin-sel nach Israel zu schicken.

Solchen Schicksalen begegnet manüberall in den großen Städten Israels:Migranten verrichten die niedrigen Ar-beiten, ohne die das Land nicht funktio-nieren würde. Früher verdingten sichPalästinenser in solchen Jobs, doch in-zwischen sind die besetzten Gebietenabgeriegelt. Die Einwanderer aus Afrikaund Ostasien, die deren Plätze einge-nommen haben, sind – mit steigenderTendenz in den letzten Monaten – Zielvon ausländerfeindlichen und rassisti-schen Angriffen geworden, wie sie Israelin seiner Geschichte noch nicht erlebthat. Über kaum ein Thema wird hierheute so heftig gestritten wie über dieEinwanderungspolitik.

Wichtigste Anlaufstelle für afrika-nische und andere Arbeitsmigranten istder Süden von Tel Aviv, eine verdreckte,industriell geprägte Gegend. In den ver-gangenen acht Monaten kam es dortimmer wieder zu Überfällen aufSchwarzafrikaner. Ende Juli erstach einIsraeli drei Eritreer in einem Internet-café. In der Gegend um den zentralenBusbahnhof, früher vom Drogenmilieubeherrscht, bestimmen heute die Afri-kaner das Straßenbild: Sie schlafen inden Parks, sie stehen irgendwo um Ar-beit an oder warten einfach nur. Worauf,wissen sie selbst nicht. Angriffe auf afri-kanische Migranten gab es aber auch inJerusalem, dort wurden in diesem Som-mer Brandanschläge auf von Eritreernbewohnte Wohnungen verübt.1

Im Süd-Tel-Aviver Stadtteil Hatikva(„Hoffnung“) versammelten sich aneinem schwülen Frühsommerabend imMai etwa tausend Personen zu einerKundgebung, um gegen die Anwesen-heit von Afrikanern in der Stadt zu pro-testieren. Bei diesem Anlass traten auchParlamentsabgeordnete auf und hieltenBrandreden. Miri Regev von der Likud-Partei Netanjahus verstieg sich zu derBehauptung, die Afrikaner seien für dieisraelische Gesellschaft „ein Krebsge-schwür“. (Dafür musste sie sich einigeTage später öffentlich entschuldigen –bei den Krebspatienten, nicht etwa beiden Afrikanern.)

Als die Reden beendet waren, zogenmehrere Dutzend Personen randalie-rend zum zentralen Busbahnhof. Siebrüllten rassistische Parolen, schlugendie Schaufenster afrikanischer Lädenein und griffen afrikanische Frauen undKinder an. „Die Demonstranten warenüberall“, berichtete ein Flüchtling ausNigeria der britischen Zeitung The Tele-graph. „Eine Gruppe von zehn oder fünf-zehn Jugendlichen hielt einen schwar-zen Jungen an, der mit dem Fahrrad vor-beikam. Sie zerrten ihn vom Rad, ver-prügelten ihn und traten ihm gegen denKopf. Die Polizei war in der Nähe, schau-te aber erst einmal zu und griff erst ein,als die Sache völlig außer Kontrolle ge-riet.“2

Einen derart heftigen und gewaltsa-men Ausbruch antiafrikanischer Res-sentiments hatte Tel Aviv noch nicht er-lebt. Dennoch war der Vorfall der letztein einer langen Reihe ähnlicher Vor-kommnisse, die überall in Israel zu ver-zeichnen sind, unorganisiert, aberimmer häufiger. „Diese Proteste gegenMigranten aus Afrika in Süd-Tel-Avivgibt es schon seit 2010, neu ist nur dasInteresse der Medien daran“, meint dieJournalistin Mya Guarnieri, die aneinem Buch über die Arbeitsmigrantenin Israel arbeitet. „Und von Anfang antauchten bei solchen Protesten auch Po-litiker der extremen Rechten auf. Siewaren die Vorreiter, dann folgten die Po-pulisten, und schließlich wurde es ge-sellschaftsfähig, antimigrantische Res-sentiments zu pflegen. Das Ganze nahm

D

seinen Ausgang bei der extremen Rech-ten, und ich glaube, zu diesem Lagerdarf man auch Eli Jischai rechnen.“

Tatsächlich vertrat Israels Innen-minister Eli Jischai von der ultraortho-doxen Schas-Partei in der Migrantenfra-ge stets eine radikale Haltung – man-chen gilt er gar als geistiger Brandstifter.Erst kürzlich erklärte er in einem Inter-view mit der Tageszeitung Maariv: „Diemeisten dieser Menschen, die hierherkommen, sind Muslime; die glauben,das Land gehöre gar nicht uns, den Wei-ßen […] Gemeinsam mit den Palästi-nensern werden diese Eindringlingeden zionistischen Traum bald zerstörthaben.“3

Hass auf

die Eindringlinge

Jischai war auch die treibende Kraft hin-ter einer Vielzahl neuer Gesetze, die dieafrikanischen Migranten in Israel imStatus der Illegalität halten und sie gera-dezu kriminalisieren. Jüngst hat dasParlament ein „Gesetz zum Schutz vorEindringlingen“ verabschiedet, dasunter anderem erlaubt, Asylbewerberbis zu drei Jahren ohne Gerichtsverfah-ren in Haft zu behalten – und diese Fristkann immer wieder unbegrenzt verlän-gert werden. Das neue Gesetz stellt dieNovellierung einer Regelung von 1954dar, die das Ziel hatte, den während desKriegs von 1947/48 geflüchteten Palästi-nensern die Rückkehr an ihre Wohnorteinnerhalb des neu gegründeten StaatesIsrael zu verwehren. Damals galten allePalästinenser als „feindliche Eindring-linge“.

Dass Israel heute zunehmend zumZiel afrikanischer Migranten wird, hatviele Gründe. Jean Luc, ein Flüchtlingaus der Demokratischen Republik Kon-go, der seit fünf Jahren illegal in Tel Avivlebt, erinnert daran, dass Israel dochselbst ein „Land der Flüchtlinge“ sei.Bei unserem Gespräch in einem Stra-ßencafé im Süden Tel Avivs erzählt ervon seinem Fußmarsch durch dieWüste Sinai. Dort habe er das Gefühl ge-habt, auf den Spuren der Israeliten aufdem Weg ins Gelobte Land zu wandeln.

Der Landweg über die Sinai-Halbin-sel ist die häufigste Route für afrikani-sche Migranten. In diesem wenig kon-

trollierten Teil Ägyptens haben dieSchlepperbanden der lokalen Bedui-nenstämme das Sagen. Sie schleusendie Flüchtlinge von Kairo bis zur israeli-schen Grenze. Dabei soll es immer wie-der zu Vergewaltigungen, Misshandlun-gen und sogar Erschießungen gekom-men sein. Wer es durch den Sinai ge-schafft hat, muss noch einen Weg fin-den, die Grenze zu überwinden, diedurch einen hochmodernen, inzwi-schen fast vollständig fertiggestelltenSperrwall geschützt ist. Im Juni drangenisraelische Soldaten sogar auf ägypti-sches Staatsgebiet vor, um Migrantenfestzunehmen, die zu Fuß über dieGrenze wollten.4 Die israelischen Streit-kräfte (IDF) verstärken seit einer Weileihre Präsenz an der Sinai-Grenze – mitdem erklärten Ziel, die illegale Einwan-derung aus Afrika endgültig zu been-den.

Vielen ist die Einreise dennoch ge-glückt. Nach Schätzungen israelischerNGOs leben heute etwa 60000 Afrikanerillegal in Israel – die überwältigendeMehrheit (über 60 Prozent) kommt ausEritrea. Insgesamt sind seit dem Jahr2000 etwa 180000 Arbeitsmigranten insLand gekommen, von denen über dieHälfte illegal arbeitet. Das zeigt ein Be-richt der israelischen NGO „Hotline forMigrant Workers“, die ihnen Hilfe an-bietet.5 Während Menschenrechtsorga-nisationen stets von „Asylsuchenden“und „Migranten“ sprechen, ist in vielenisraelischen Medien häufig nur nochvon „den Eindringlingen“ die Rede.

Oberflächlich betrachtet, ähneltdie israelische Kontroverse um die Ein-wanderung den Debatten, die auch inder Europäischen Union und in denUSA geführt werden. In allen westlichenLändern stellt sich ja die schwierige Fra-ge, in welchem Verhältnis der Bedarf anbilligen Arbeitskräften zu den Bürger-rechten und zum Anspruch ethnisch-nationaler Kontinuität steht. In Israelwerden diese Probleme allerdingsdurch tief verwurzelte Vorstellungenverstärkt, die auf der widersprüchlichenIdeologie von die Sonderstellung des Ju-dentums gründen: Wie definiert sich Is-rael? Als jüdischer Staat, als westlicheDemokratie, als eine Mischung aus bei-dem? Und was bedeutet es in diesemZusammenhang, wenn eine große Zahlvon Menschen im Land lebt, die weder

Juden noch Araber sind? Die Gewaltgegen Migranten in Israel, die die Pro-bleme ja noch verstärkt, hängt auch mitder erfolgreichen Abgrenzung der jü-disch-israelischen Gesellschaft von derpalästinensischen zusammen. Nach derimmer noch bestimmenden zionisti-schen Ideologie ist Israel eben ein reinjüdischer Staat.

Seit der Staatsgründung 1948haben in Israel lediglich 200 nichtjüdi-sche Menschen politisches Asyl erhal-ten. Weltweit gesehen erhalten 84 Pro-zent der Flüchtlinge aus Eritrea politi-sches Asyl und 64 Prozent der Flüchtlin-ge aus dem Sudan.6 Dass Israel offenbarnicht bereit ist, dieses Recht zu gewäh-ren, macht deutlich, wie wichtig der jü-dische Staat die ethnisch-religiöse Ho-mogenität seiner Bevölkerung nimmt.

Seit seiner Gründung kommt Israelohne geschriebene Verfassung aus, einMangel, der nicht ohne Folgen blieb:Der Staat konnte es sich stets erlauben,grundsätzliche Fragen, wie den Statusund die Rechte der nichtjüdischen Bür-ger, vor allem der in Israel lebenden Pa-lästinenser, einfach offen zu lassen.Ebenso unklar blieb, nach welchen Kri-terien entschieden wird, wer überhauptals Jude gilt. Dass die Palästinensernicht als Staatsbürger behandelt wer-den, hat zu einer anhaltenden und oft-mals heftigen Debatte über das Selbst-und Demokratieverständnis Israels ge-führt. Auch innerhalb der israelischenFührung tat man sich schwer mit einerIdentität, die auf Absonderung beruhtund in der Praxis schließlich zur Tren-nung von palästinensischer und jü-disch-israelischer Bevölkerung führenmusste. Da der junge israelische Staatjedoch zunächst auf die palästinensi-schen Arbeitskräfte und ihre Kenntnis-se und Fähigkeiten angewiesen war,vollzog sich diese Trennung eigentlicherst mit dem Oslo-Friedensprozess inden 1990er Jahren.

Diese These vertrat der – inzwi-schen verstorbene – palästinensischeLiteraturwissenschaftler Edward Said,der 1999 in seinem Essay „What Can Se-paration Mean?“7 auseinandersetzte,was der Oslo-Prozess für das Verhältniszwischen israelischer Gesellschaft undpalästinensischer Bevölkerung in derPraxis bedeutete. Mit „Separation“meinte er weniger die territoriale Tei-

lung, da Israel seine massiven Sied-lungsprojekte im Westjordanland (unddamals auch noch im Gazastreifen)nicht aufgab, sondern die soziale Segre-gation.

Lange Zeit hatten die Israelis regel-mäßigen Kontakt zu Palästinensern; zuTagelöhnern, die in Israel arbeiteten,oder zu Händlern, die man beim Ein-kaufen in Ramallah traf. Das ändertesich in den 2000er Jahren: Die Palästi-nenser verschwanden aus dem israeli-schen Alltag. Die gewaltsamen Ausein-andersetzungen der Zweiten Intifada ab2000 und Israels 2003 begonnenes Pro-jekt, das Westjordanland mit einemSperrwall abzuriegeln, besiegelten diePolitik der Abtrennung. Nun hatten diemeisten Israelis nur noch währendihres Wehrdienstes im WestjordanlandKontakt zu Palästinensern. Den Platzdes Fremden, des Nichtjuden in der is-raelischen Gesellschaft, übernahmenimmer mehr die Flüchtlinge und Ar-beitsmigranten aus Afrika und Asien.

Als Israel im Sommer 2011 diegrößten Demonstrationen und sozialenProteste seiner Geschichte erlebte, ent-schieden die Demonstranten bewusst,die Palästinafrage und die israelischeBesatzung nicht zu thematisieren. Esging ihnen um ihre Rechte, ihre Gesell-schaft, ihre Zukunft, da war kein Platzfür die Palästinenser. Umso deutlicherzeigten die Bilder von einer halben Mil-lion Israelis, die „soziale Gerechtigkeit“forderten, während von der Unterdrü-ckung der Palästinenser keine Rede war,wie sehr sich die israelische Gesell-schaft gegen die Palästinenser abge-schottet hat.8 Damit bestätigen die so-zialen Proteste auf ihre Weise die Be-hauptung von Edward Said, dass Israelnach Oslo auch intellektuell und emo-tional die Trennung von den Palästinen-sern vollzogen hat.

Die aktuellen Gewaltausbrüchegegen Afrikaner haben in Israel bislangnicht zu einer Infragestellung des eige-nen Umgangs mit den Einwandererngeführt. Stattdessen verweist man aufdie offizielle Zuwanderung äthiopischerJuden (Falascha) seit Mitte der 1980erJahre als Beweis für multikulturelle Of-fenheit. Die Wirklichkeit aber sieht an-ders aus: In allen Bereichen der israeli-schen Gesellschaft werden die dunkel-häutigen äthiopischen Juden diskrimi-niert – in Tel Aviv tragen manche vonihnen heute T-Shirts mit dem Aufdruck„Wir sind keine afrikanischen Asylan-ten“.

Die Anwesenheit der Afrikanerstellt die israelische Gesellschaft vor eingrundsätzliches Problem, das durch diemassenhafte Abschiebung oder denBau neuer Gefängnisse nicht zu lösenist: Wie geht der jüdische Staat mitNichtjuden auf seinem Territoriumum? Der Streit darüber legt zunehmenddie Risse im israelischen Gesellschafts-gefüge offen. Erst kürzlich, an einemAbend im August, gingen mitten inWestjerusalem israelische Jugendlichebrutal auf eine Gruppe von Palästinen-sern los. Hunderte Passanten sahen ta-tenlos zu. Ein palästinensischer Jugend-licher landete auf der Intensivstation,die Polizei sprach später von versuch-tem „Lynchmord“.

Viele Israelis waren schockiert vondiesem Vorfall, doch er ist nur ein weite-rer Beleg für die wachsende Fremden-feindlichkeit im Land. Israel muss sichentscheiden: Solche Gewaltausbrüche,die letztlich die ethischen Grundlageneiner Gesellschaft gefährden, sind nurzu verhindern, wenn im nationalenSelbstverständnis auch den NichtjudenPlatz eingeräumt wird.

1 Siehe „African migrants wounded in Jerusalem

fire, in suspected hate attack“, Haaretz, 12. Juli

2012.2 Siehe „Israeli anti-immigration riots hit African

neighbourhood of Tel Aviv“, The Telegraph, 24. Mai

2012.3 Maariv, 1. Juni 2012.4 „Rights Groups: IDF Catching African Migrants In-

side Egyptian Territory“,Haaretz, 10. August 2012.5Siehe hotline.org.il/english/about_migrants.htm.6Siehe 972mag.com/myths-facts-and-sugges-

tions-asylum-seekers-in-israel/33740/.7Deutsch in: Edward Said, „Das Ende des Friedens-

prozesses. Oslo und danach“, Berlin (Berlin Verlag)

2002.8 Siehe Max Blumenthal und Joseph Dana, „How

Could the Largest Social Justice Movement in Isra-

el’s History Manage to Ignore the Country’s Biggest

Moral Disaster?“: www.guernicamag.com/blog/

max_blumenthal_and_joseph_dana/.

Aus dem Englischen von Edgar Peinelt

Afrikanische Flüchtlinge in Israel

von Joseph Dana

Illegale Einwanderung über die ägyptische Grenze ASSAF GOLAN/dapd

Joseph Dana ist Journalist in Ramallah und Jeru-

salem.

© Le Monde diplomatique, Berlin