Aldiss, Brian W. - Der Sternenschwarm

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    Sie leben im STERNENSCHWARM.

    10 000 Welten und mehr sind die neue Heimat jenerWesen, deren Väter vor Äonen die Erde verließen, ei-nen kleinen, unbedeutenden Planeten in den Rand- bezirken der Galaxis.

    Die Bewohner des Sternenschwarms haben die Ur-

    heimat ihrer Väter längst vergessen – doch sie verga-ßen nicht, das Erbe der Menschheit zu bewahren.

    Ungeachtet ihrer Rasse, ihrer Hautfarbe und ihrer Re-ligion, ungeachtet ihrer durch Mutation oder Adap-tion veränderten Gestalt – sie alle wissen, daß sieMenschen sind, daß sie zur großen Familie des Homosapiens gehören.

    Eine packende Menschheitschronik aus den Tagender fernen Zukunft.

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    Vom selben Autor erschienen in denHeyne-Büchern die utopischen Romane

    Am Vorabend der Ewigkeit · Band 3030 Aufstand der Alten · Band 3107Die neuen Neandertaler · Band 3195

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    BRIAN W. ALDISS

    DER

    STERNENSCHWARM

    Utopischer Roman

    Deutsche Erstveröffentlichung

    WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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    HEYNE-BUCH Nr. 3124im Wilhelm Heyne Verlag, München

    Titel der englischen Originalausgabe

    STARSWARM

    Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner

    4. Auflage

    Copyright © 1964 by Brian W. Aldiss

    Printed in Belgium 1973Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, MünchenGesamtherstellung: Gerard & Cie., Verviers

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    SEKTOR ROT

    Ein Riese, der aus den grauen Wassern des Fjordsaufgetaucht wäre, hätte über die steilen Klippen hin-wegsehen können und Endehabven entdecken müs-

    sen, das sich unmittelbar am Rand der Insel erstreck-te.Derek Flamifew/Ende hatte von seinem hohen Fen-

    ster aus einen ähnlichen Blick; seine wachsende Un-ruhe bewirkte sogar, daß er alle Einzelheiten beson-ders deutlich sah, wie es oft vor Gewittern der Fall ist,wenn die Landschaft unnatürlich klar erscheint. Ob-wohl er mit dem Gesicht warmsah, betrachtete er sei-nen Besitz auch mit den Augen.

    In Endehabven war alles eintönig ordentlich – daskann ich am besten beurteilen, denn ich bin für dieseOrdnung verantwortlich. Im Park stehen Büsche undBäume, die niemals blühen; so ist es MyladysWunsch, denn auch der Park soll eintönig, streng wiedie Landschaft am Meer sein. Das Gebäude, Ende-habven selbst, ist riesig und kalt und streng; in frühe-ren Jahrhunderten wäre seine Konstruktion unmög-

    lich gewesen: Tausende eingebaute Schwerkraftre-duktoren sorgen dafür, daß Mauern, Gewölbe, Bogen

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    und Säulen nur einen Bruchteil des scheinbaren Ge-wichts zu tragen haben.

    Zwischen Gebäude und Fjord, wo sich der Park inseiner unterdrückten Pracht ausbreitete, standen My-ladys Laboratorium und die Stallungen für MyladysTiere – und diesmal auch Mylady selbst. Ihre langenHände beschäftigten sich mit dem Minicoypu undden quietschenden Atoshkies. Ich stand neben ihr,

    versorgte die Tiere in den Käfigen oder reichte ihr In-strumente oder bewegte die Tanks und führte jedenihrer Befehle aus. Und Derek Endes Augen sahen aufuns herab; nein – sie blickten nur auf sie herab.

    Derek Flamifew/Ende stand über der Empfänger-schale und nahm die Botschaft von Stern Eins auf. Siespielte leicht über seine starren Züge und die ausge-prägten Höcker seiner Stirn. Obwohl er draußen dienur allzu vertrauten Kulissen seines Lebens betrach-tete, warmsah er die Nachricht trotzdem klar genug.Als sie zu Ende war, schaltete er den Empfänger um,drückte das Gesicht in die Schale und sandte seineAntwort.

    »Ich werde tun, was du verlangt hast, Stern Eins.Ich begebe mich sofort nach Festi XV im Schleiernebelund nehme dort Verbindung mit einem Wesen auf,das du ›Klippe‹ nennst. Nach Möglichkeit werde ich

    auch deinen Wunsch erfüllen und eine Probe derKlippe nach Pyrylyn bringen. Ich danke dir für deine

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    Grüße und Wünsche; ich erwidere sie gleicherma-ßen.«

    Er richtete sich auf und massierte sein Gesicht: übergrößere Entfernungen warmzusehen war immer er-müdend, als wüßten die empfindlichen Gesichtsmus-keln, daß ihre winzigen elektrostatischen Entladun-gen das Vakuum zwischen den Sternen zu überwin-den hatten, und als erschreckten sie davor. Sein Ge-

    sicht entspannte sich allmählich, als er langsam seineAusrüstung zusammensuchte. Der Flug zum Schlei-ernebel würde lange dauern, und die dort gestellteAufgabe genügte, um das tapferste Herz zu ängsti-gen. Aber er zögerte auch aus einem anderen Grund:Bevor er starten konnte, mußte er sich von seinerHerrin verabschieden.

    Er trat in den Korridor hinaus, schritt dort über denMosaikfußboden, dessen Muster er seit seiner Kind-heit im Gedächtnis hatte, und erreichte den Anti-schwerkraftschacht. Minuten später verließ er dengroßen Saal und näherte sich Mylady, hinter der derVatya Jokatt bis zu den niedrigen Wolken aufragte, indenen sein Gipfel verschwand.

    »Geh hinein und hol mir die Schachtel mit Na-mensringen, Hols«, hatte sie zu mir gesagt; ich gingalso an Mylord vorbei, als er sich ihr näherte. Er be-

    achtete mich ebensowenig wie jeden andern Parthe-no, denn er hatte nur Augen für Mylady.

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    Als ich zurückkam, drehte sie ihm noch immer denRücken zu, obwohl er eindringlich mit ihr sprach.

    »Du weißt, daß ich meine Pflicht erfüllen muß,Herrin«, hörte ich ihn sagen. »Nur ein normalgebore-ner Abrogunnaner kann mit dieser Art Aufgabe be-treut werden.«

    »Schöne Aufgaben! Die Galaxis steckt voller Auf-gaben dieser Art! Du kannst dich immer wieder da-

    mit entschuldigen.«»So darfst du nicht davon sprechen«, mahnte er.»Du kennst die Eigenschaften der Klippe – ich habedir alles darüber erzählt. Du weißt, daß es sich nichtum einen Vergnügungsausflug handelt; das Unter-nehmen erfordert meinen ganzen Mut. Und du weißt,daß in unserem Sektor aus irgendeinem Grund nurAbrogunnaner diesen Mut besitzen ... Habe ich nichtrecht, Herrin?«

    Obwohl ich inzwischen herangekommen war und zwischen Käfig und Tank wartete, nahmen sie nicht einmal genug Notiz von mir, um leiser zu sprechen. Mylady starrte die grauen Felswände landeinwärts an, wobei ihr Gesichtsausdruck nicht minder abweisend und streng war; eine Augenbraue zuckte, als sie fragte: »Du hältst dich also für tapfer und stark, nicht wahr?«

    Sie erwähnte nie seinen Namen, wenn sie zornig

    war; darin drückte sich vielleicht der unbewußteWunsch aus, er möge verschwinden.

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    »Das ist es nicht«, antwortete er unterwürfig. »Bittesei vernünftig, Herrin; du weißt, daß ich fort muß –kein Mann kann immer zu Hause sein. Ich bitte dich,sei nicht länger zornig.«

    Sie drehte sich endlich nach ihm um.Ihr Gesicht war verschlossen und streng; es war ab-

    weisend und empfing nicht. Ihre Warmvision wurde nur selten benützt und war beschränkt. Und trotzdem

    besaß sie

    eine

    Art

    Schönheit,

    die

    ich

    nicht

    schildern

    kann, als ob die Vermengung von Müdigkeit und Wis-sen Schönheit hervorbringen könnte. Ihre Augen wa-ren so grau und entfernt wie der schneebedeckte Vul-kan weit hinter ihr. Sie war hundert Jahre älter als De-rek, aber der Unterschied zeigte sich nicht in ihrer

    Haut, die noch ein Jahrtausend lang glatt und faltenlos bleiben würde, sondern in ihrer Autorität.

    »Ich bin nicht zornig. Ich bin nur verletzt. Duweißt, daß es in deiner Macht steht, mich zu verlet-zen.«

    »Herrin ...«, sagte er und trat einen Schritt auf siezu.

    »Rühr mich nicht an«, wehrte sie ab. »Geh, wenn essein muß, aber verspotte mich nicht, indem du mich berührst.«

    Er faßte sie an den Ellbogen. Sie hielt einen Mini-

    coypu in der Armbeuge – alle Tiere hielten unter ih-rer Hand still – und drückte ihn etwas fester an sich.

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    »Ich wollte dich nicht verletzen, Herrin. Du weißt, daß wir Stern Eins zu Lehensdiensten verpflichtet sind; ich muß diese Aufträge durchführen, sonst ist unser Besitz gefährdet. Verabschiede mich bitte diesmal lie- bevoll.«

    »Liebevoll! Du gehst fort und läßt mich mit einerHorde jämmerlicher Parthenos zurück – wie kannstdu da noch einen liebevollen Abschied verlangen?

    Gib dir keine Mühe, deine Freude über diese Tren-nung zu verbergen. Du hast mich satt, nicht wahr?«»Das ist es nicht ...«, begann er langsam.»Siehst du! Du bemühst dich nicht einmal, mich zu

    überzeugen. Warum gehst du nicht endlich? Was ausmir wird spielt doch keine Rolle.«

    »Oh, wenn du nur hören könntest, wie erbärmlichdieses Selbstmitleid klingt!«

    Nun rollte eine einzelne Träne über ihre Wange. Siedrehte den Kopf, damit er sie sehen mußte.

    »Wer würde mich sonst bemitleiden? Du nicht,denn in diesem Fall würdest du nicht immer wiederfortgehen. Was wird aus mir, wenn dich diese Klippeermordet?«

    »Ich komme wieder, Herrin«, versicherte er ihr.»Darauf kannst du dich verlassen.«

    »Das ist leicht zu sagen. Warum hast du nicht den

    Mut, endlich zuzugeben, daß du mich freudigen Her-zens verläßt?«

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    »Weil ich mich nicht zu einem Streit provozierenlassen will.«

    »Pah! Du redest wieder kindisches Zeug. Warum antwortest du nicht klar und deutlich? Statt dessen läufst du fort und weichst deiner Verantwortung aus.«

    »Ich laufe nicht fort!«»Natürlich tust du das, selbst wenn du etwas ande-

    res vorgibst. Du bist einfach noch zu unreif.«

    »Das bin ich nicht! Und ich laufe nicht fort! MeineAufgabe erfordert sogar viel Mut!«»Du überschätzt dich und deine Fähigkeiten!«Er wandte sich mürrisch ab. Er ging auf die Lande-

    plattform zu. Er begann zu rennen.»Derek!« rief sie.Er antwortete nicht.Sie nahm den Minicoypu am Nackenfell und schleu-

    derte ihn wütend in den nächsten Wassertank. Er ver-wandelte sich in einen Fisch und sank in die Tiefe.

    Derek flog in seinem schnellen Protonenschiff zumSchleiernebel. Das Schiff hatte hier im Raum seinehalbkreisförmigen Segmente ausgefahren, die dichtan dicht mit Fotozellen besetzt waren; auf diese Wei-se nahm es die Energie auf, die es für seinen raschenFlug brauchte. Derek lag in seiner Kabine und erlebte

    nur winzige Bruchteile der langen Reise bei vollemBewußtsein.

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    Er wachte in dem therapeutischen Bett auf, als be-hutsame Maschinen seinen Körper massierten, umdie steif gewordenen Muskeln geschmeidig zu ma-chen. Nährflüssigkeit brodelte in einer Retorte undstieg blasig zu einem Mundstück vor seinem Gesichtauf. Er trank. Er schlief wieder, weil ihn die lange Un-tätigkeit müde gemacht hatte.

    Als er das nächstemal erwachte, stand er langsam

    auf und bewegte seinen erstarrten Körper. Dann ginger nach vorn in den Kontrollraum. Mein Freund Jonsaß dort.

    »Wie steht es?« fragte Derek ihn.»Alles in bester Ordnung, Mylord«, erwiderte Jon.

    »Wir schwenken jetzt in eine Kreisbahn um Festi XVein.« Er gab Derek die Koordination und zog sich zu-rück, um zu essen. Jons Arbeit war die einsamste, dieman sich für einen Partheno vorstellen kann. Wirwerden alle nach dem gleichen Verfahren gezüchtet,das zuverlässig bewirkt, daß uns die erstaunlicheLanglebigkeit echter Abrogunnaner fehlt; noch fünflange Reisen dieser Art, dann ist Jon alt und ver- braucht und taugt nur noch für den Transmuter.

    Derek saß im Kontrollraum. Erkannte er auf demAntlitz von Festi das Gesicht, das er liebte und fürch-tete? Ich glaube, daß er es sah. Ich glaube, daß er dar-

    an dachte, wie ihre Mienen sich bewölkt hatten, als er jetzt die Wolkendecke betrachtete.

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    Jedenfalls steuerte er sein Schiff in eine niedrigeKreisbahn um den toten Planeten. Die Sonne Festiwar kaum mehr als ein glühender Punkt in neun-hundert Millionen Kilometer Entfernung. Ihr Licht er-losch mit einem Schlag, als sie durch die Wolkendek-ke nach unten stießen; hier herrschte nur ein unge-wisses Halbdunkel.

    Derek saß lange über die Empfängerschale gebeugt

    und nahm die Bodenwärme auf. Da er es mit Tempe-raturen zu tun hatte, die sich dem absoluten Null-punkt näherten, war seine Aufgabe nicht leicht; alsdie Klippe sich jedoch genau unter ihnen befand, warkein Irrtum möglich: ihre Masse zeichnete sich vorseinem inneren Auge so deutlich ab, als erscheine sieauf einem Radarschirm. »Das ist sie!« rief Derek aus.

    Jon war wieder hereingekommen. Er gab demElektronenrechner einige Werte ein, ließ ihn anlaufenund las von einem Streifen ab, wann die Klippe sichwieder unter ihnen befinden würde.

    Derek nickte ihm zu und machte sich sprungbereit.Er legte seinen Schutzanzug ohne besondere Eile an,überprüfte jedes Teil, schaltete die Schwerkraftreduk-toren ein und wieder aus, probierte sämtliche Funk-tionen durch und ließ erst dann die Verschlüsse zu-schnappen.

    »Dreihundertneunzig Sekunden bis zum nächstenZenit, Mylord«, sagte Jon.

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    »Du weißt, wie und wann du mich an Bord neh-men sollst?«

    »Ja, Mylord.«»Ich schalte den Sender erst ein, wenn ich mich

    wieder in der Kreisbahn befinde.«»Selbstverständlich, Mylord.«»Schön, ich gehe jetzt.«Er bewegte sich in seinem massiven Panzer lang-

    sam auf die Luftschleuse zu.Drei Minuten bevor das Raumschiff wieder dieKlippe überflog, öffnete Derek die äußere Tür derLuftschleuse und tauchte ins Wolkenmeer hinab. DieAnzugdüsen arbeiteten kurz, um ihn aus dem Gefah-renbereich des Raumschiffs zu bringen. Dann sah ernur noch Wolken um sich.

    Die zwanzig unwirtlichen Planeten, die um Festikreisten, enthielten nur einen Bruchteil aller Geheim-nisse des Sternenschwarms. Jeder Himmelskörperdes Universums barg andere, die er eifersüchtig fürsich zu bewahren versuchte. Aber die Menschheit un-ternahm immer wieder Anstrengungen, diesen Ge-heimnissen auf den Grund zu kommen, um neuesWissen zu sammeln.

    Dieses Wissen hatte seine Einflüsse. In den Jahrtau-senden bemannter Raumfahrt war die Menschheit

    von ihren eigenen Erkenntnissen unmerklich verän-dert worden; mit dieser verlorenen Unschuld war

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    auch die genetische Stabilität verschwunden. Wäh-rend der Mensch Tausende von Planeten besiedelte,paßten sich Denkweise, Gefühle ... und Körperformenneuen Verhältnissen an. Der Mann im Sektor Rot, dersich kopfüber in ein Wolkenmeer stürzte, um einemWesen zu begegnen, das er als ›Klippe‹ kannte, warder Abstammung, aber kaum der Erscheinung nachein Mensch.

    Die Klippe hatte die wenigen Raumschiffe zerstört,die bisher auf dem trostlosen Planeten gelandet wa-ren. Nach langwierigen Untersuchungen in sicherenKreisbahnen hatten die Weisen auf Stern Eins dieTheorie aufgestellt, die Klippe greife jede größereEnergiequelle an – wie ein Mann nach einer sum-menden Fliege schlägt. Dieser Theorie zufolge warDerek ungefährdet, solange er allein kam und nur dieTriebwerke seines Anzugs benützte.

    Er sank langsam auf den dunklen Planeten herab.Die Wolkendecke blieb über ihm zurück, und einstarker Wind pfiff um die Stützen seines Anzugs.Dann kam der Boden näher. Um nicht fortgeweht zuwerden, sank er rascher; im nächsten Augenblick lager der Länge nach auf Festi XV. Er blieb einige Zeitunbeweglich, ruhte sich aus und ließ den Anzug ab-kühlen.

    Die Dunkelheit war nicht undurchdringlich. DasSonnenlicht wirkte sich hier unten fast nicht mehr

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    aus, aber an verschiedenen Stellen flammten grüneFackeln und beleuchteten eine kahle Landschaft. Daer sich an das Halbdunkel gewöhnen wollte, schalteteer keinen der Anzugscheinwerfer ein.

    Eine Art feuriger Strom floß zu seiner Linken. Daer nur ungewisses Licht ausstrahlte, vermischte essich mit Rauch und Schatten, so daß die Rauch-schwaden, die unter vier g dicht über dem Boden

    blieben, seinem Lauf folgten und wie brennendesSchilf aussahen. Etwas weiter entfernt stiegen Flam-mensäulen auf – vermutlich unreines Methan, das als brennender Gasstrahl aus der Erde schoß. An eineranderen Stelle stieg ein feuriger Geiser fast bis zu denWolken auf und umgab sich dabei mit einer dichtenRauchwand. Weiter rechts von Derek brannte eineweiße Feuersäule ohne Bewegung und ohne Rauchwie ein Flammenschwert.

    Er nickte zufrieden. Er war an der richtigen Stellegelandet. Dies war die Feuerregion, in der die Klippelebte.

    Zunächst war er noch damit zufrieden, die Land-schaft zu betrachten, die vor ihm noch kein menschli-ches Auge gesehen hatte – bis ihm auffiel, daß eingroßer Teil des Horizonts nicht im geringsten be-leuchtet war. Er untersuchte ihn mit seiner durch-

    dringenden Warmsicht und stellte fest, daß sich dortdie Klippe befand.

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    Dieser Anblick genügte, um Dereks zwei Herzenrascher schlagen zu lassen. Er blieb bei ein g ausge-streckt auf dem Boden liegen, schluckte mehrmalstrocken und versuchte das ungewisse Halbdunkelmit allen Sinnen zu durchdringen, um die Klippe zudefinieren.

    Eines stand jedenfalls fest: Das Ding war riesig! De-rek verfluchte die Tatsache, daß das unaufhörliche

    Feuerwerk dort draußen seine Warmsicht beeinträch-tigte. In einem Augenblick guter Sicht gelang es ihmendlich, die Entfernung festzustellen: Die Klippe warnoch weit von ihm entfernt! Er hatte zuerst gedacht,er hätte sich ihr auf einige hundert Schritte genähert.

    Jetzt erkannte er, wie groß die Klippe war. Sie wargigantisch!

    Derek war zuerst begeistert. Nur ›unmögliche‹Aufgaben lohnten sich wirklich. Die Astrophysikervon Stern Eins waren der Überzeugung, die Klippeverfüge über ein gewisses Bewußtsein; sie hatten De-rek angewiesen, eine Probe ihrer Substanz zurückzu- bringen. Aber wie sollte er ein Stück dieses kleinenMondes abtrennen?

    Während er dort lag, summten die Stützen seinesAnzugs im Wind. Derek fiel allmählich auf, daß dieVibrationen sich veränderten. Sie waren jetzt niedri-

    ger und kräftiger. Er sah sich um und legte eine be-handschuhte Hand auf den Boden.

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    Der Wind war nicht an diesen Vibrationen schuld.Der Boden selbst zitterte. Die Klippe bewegte sich!

    Als er wieder aufsah, erkannte er die Bewegungs-richtung. Die Klippe näherte sich ihm ...

    »Ist sie intelligent, wird sie zu dem Schluß kommen– falls sie mich überhaupt wahrgenommen hat –, daßich zu klein bin, um ihr gefährlich zu werden? Des-halb wird sie mir nichts tun, und ich kann ganz unbe-

    sorgt sein«, überlegte Derek sich. Trotzdem war ihmäußerst unbehaglich zumute.Seine Sicht war noch immer sehr beschränkt. Derek

    spürte die Vorwärtsbewegung der Klippe, anstatt sieoptisch wahrzunehmen. Das unheimliche Ding ragte bis zu den Wolken auf und löschte nacheinander dieFeuersäulen, die unter seiner Masse verschwanden.Der Boden vibrierte so heftig, daß Derek die Schwin-gungen in seinen Knochen zu spüren glaubte.

    Dann reagierte etwas anderes.Die Beine von Dereks Anzug begannen sich zu be-

    wegen. Die Arme bewegten sich. Der Körper bäumtesich auf.

    Derek streckte verwirrt die Beine aus. Die Knie desAnzugs beugten sich unwiderstehlich und zwangenseine zu der gleichen Bewegung. Und nicht nur seineKnie, sondern auch die Arme bewegten sich selb-

    ständig wie der Anzug. Er konnte sie nicht stillhalten,ohne sich die Knochen zu brechen.

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    Er lag wehrlos in seinem Anzug, führte nacheinan-der alle nur vorstellbaren Bewegungen aus. Dannkroch der Anzug plötzlich vorwärts, als habe er dieseBewegungsart eben erlernt.

    Derek folgte gezwungenermaßen und überlegtedabei, daß in diesem Fall nicht nur der Berg zu Mo-hammed, sondern auch der Prophet zum Berge ging...

    Der Fortgang war durch nichts aufzuhalten; Derek war nicht mehr Herr seiner selbst, denn jede Willensan-strengung war vergebens. Diese Erkenntnis brachte ei-ne gewisse Erleichterung – sollte ihm nun etwas zusto-ßen, konnte seine Herrin ihn kaum deswegen tadeln.

    Er bewegte sich weiter durch die Dunkelheit, krochauf Händen und Knien auf die Klippe zu und warnicht mehr als ein Gefangener in einem selbstbeweg-lichen Gefängnis. Die Klippe hatte sich irgendwieseines Anzugs bemächtigt; wie das möglich war,konnte er nicht einmal vermuten. Er kroch langsamweiter und brauchte sich dabei nicht anzustrengen.Seine Glieder folgten automatisch den Bewegungendes Anzugs.

    Rauchschwaden hüllten ihn ein. Die Vibrationenhörten plötzlich auf, als die Klippe unbeweglich ver-

    harrte. Derek hob den Kopf und sah nur Rauch vorsich – wahrscheinlich war er entstanden, als die un-

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    geheure Masse der Klippe über den Boden rutschte.Dann teilte sich der Rauch, und Derek hatte nur fin-stere Nacht vor sich. Das Ding war unmittelbar vorihm!

    Der Anzug kroch weiter, begann zu klettern undzwang Derek, jede Bewegung mitzumachen. Unterihm befand sich eine teigige Masse – zäh, aber dochnachgiebig. Der Anzug arbeitete sich mühsam in die

    Höhe; die Stützen knarrten, die Schwerkraftredukto-ren summten laut. Er erstieg die Klippe.Derek war unterdessen davon überzeugt, daß die-

    ses Ding nicht nur einen Willen, sondern sogar einBewußtsein entwickelt hatte. Es verfügte auch übereine Fähigkeit, die kein Mensch besaß: es konnte leb-losen Objekten seinen Willen aufzwingen – zum Bei-spiel seinem Anzug. Allerdings schienen dieser Fä-higkeit gewisse Grenzen gesetzt zu sein, denn sonsthätte die Klippe sich bestimmt nicht selbst bewegt,sondern hätte den Anzug gezwungen, zu ihr zukommen. Falls diese Überlegung zutraf, war dasRaumschiff in seiner Kreisbahn ungefährdet.

    Seine Arme bewegten sich jetzt anders. Der Anzuggrub einen Tunnel. Derek blieb unbeteiligt, währendseine Hände Schwimmbewegungen machten. Daß erins Innere der Klippe vordrang, konnte nur bedeuten,

    daß er verdaut werden sollte; trotzdem beherrschte ersich, weil er wußte, daß jede Gegenwehr sinnlos war.

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    Der Anzug verschwand allmählich in der teigigenMasse. Dann blieb er ruhig liegen, sobald Derekwirksam von der Außenwelt abgeschnitten war. Umseine zunehmende Klaustrophobie abzuwehren, ver-suchte er den Helmscheinwerfer einzuschalten; dieArme des Anzugs blieben jedoch so steif, daß er denSchalter nicht erreichen konnte. Er konnte nur in sei-nem Panzer auf dem Rücken liegen und die formlose

    Dunkelheit im Innern der Klippe betrachten. Aber dieDunkelheit war nicht gänzlich formlos, denn er er-kannte mit seiner Warmsicht bedeutungslose Farb-muster, die weder Zweck noch Symmetrie zu besit-zen schienen ...

    Sein Körper reagierte jedoch unbewußt darauf. De-rek spürte, daß er am ganzen Leib heftig zitterte, unddaß seine beiden Herzen ungewöhnlich und fastschmerzhaft rasch schlugen. Unter diesen Umständenlag die Vermutung nahe, daß er mit Kräften in Berüh-rung stand, von denen er nichts wußte; andererseitsschien auch dieses Wesen, mit dem er Verbindunghatte, nichts von seinen Kräften zu wissen.

    Derek hatte plötzlich das Gefühl unendlicherSchwere und spürte die gigantischen Massen derKlippe deutlicher als zuvor. Festi XV war selbstver-ständlich erheblich größer, aber die Klippe entsprach

    trotzdem einem mittelgroßen Asteroiden ... Er konntesich vorstellen, wie ein solches Gebilde durch eine

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    Gasexplosion entstanden war. Die Materie war halbfest, halb flüssig und beschrieb eine exzentrischeKreisbahn um die Sonne, von der sie stammte, kühlteallmählich ab, wobei Kräfte verschiedenster Art ent-standen und sich auswirkten, und bildete in seinemKern einzigartige Kristallformen. So schwebte er vieleMillionen Jahre durch den Raum und sammelte all-mählich eine elektrostatische Ladung ... und erzeugte

    die Lebenssäuren in seinem kristallinen Innern.Festi war ein stabiles System, aber einmal in unge-zählten Millionen Jahren geschah es, daß die riesigendrei ersten Planeten die größte Sonnennähe und diegrößte Nähe zueinander erreichten. Zum gleichenZeitpunkt war auch der Asteroid Festi am nächsten;er wurde aus der Bahn gerissen und hätte fast diedrei Planeten gestreift. Unvorstellbare Kräfte wurdennun frei. Der Asteroid glühte und erwachte zu einerArt Bewußtsein; das Leben wurde nicht auf ihm ge- boren – er wurde zum Leben geboren!

    Bevor er die Möglichkeiten seines Bewußtseinsausgekostet hatte, geriet er auf seiner neuen Bahn insSchwerefeld von Festi XV. Die Schwerkraft bestimm-te sein Leben und war für ihn so wichtig wie Sauer-stoff für Menschen; obwohl er seine Freiheit nicht op-fern wollte, war er zu gierig, um in diesem Fall zu

    widerstehen. Nun wurde ihm erstmals klar, daß seinBewußtsein auch nützlich sein konnte, denn es beein-

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    flußte in gewissem Ausmaß seine Lebensumstände.Anstatt in einer Kreisbahn um Festi XV zu bleibenund dort vielleicht zu zerbrechen, vollbrachte derAsteroid seinen ersten Willensakt und erreichte dieOberfläche des Planeten durchgeschüttelt aber unbe-schädigt.

    Dort lag der Asteroid, der sich nun in die Klippeverwandelt hatte, unendlich lange in dem Krater, den

    der Aufprall erzeugt hatte, und spielte mit Gedanken.Die Klippe war nur mit anorganischen Stoffen ver-traut und erfaßte deshalb rasch ihre Umwelt. Da sieder Schwerkraft ihre Existenz verdankte, machte sieunbefangen davon Gebrauch; sie begann andere Din-ge zu bewegen und bewegte sich schließlich auchselbst.

    Es war der Klippe nie eingefallen, daß es außer ihrnoch andere Lebewesen im Universum geben könnte.Da sie nun einen Beweis dafür hatte, akzeptierte siedie Tatsache; daß dieses andere Leben unterschied-lich funktionierte und nur unter anderen Bedingun-gen möglich war, akzeptierte sie ebenfalls. Sie kannteweder Fragen noch Zweifel.

    Derek Endes Anzug bewegte sich wieder, ohne daßer den Anstoß dazu gegeben hätte. Diesmal bewegteer sich rückwärts, verließ die Klippe und lag still.

    Derek war kaum bei Bewußtsein. Halb betäubtüberlegte er, was geschehen sein mußte.

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    Die Klippe hatte mit ihm gesprochen. Daran warkein Zweifel möglich, denn er hielt den Beweis dafürin der rechten Armbeuge.

    »Und trotzdem hat sie nicht ... trotzdem konnte sienicht mit mir sprechen!« murmelte er vor sich hin.Aber eine Verständigung hatte stattgefunden: er warnoch immer erschöpft davon.

    Die Klippe besaß selbst kein Gehirn. Sie hatte De-

    reks Gehirn nicht als Sitz der Intelligenz erkannt.Statt dessen hatte sie sich mit dem Teil seines Körpersin Verbindung gesetzt, der ihr bekannt erschien – mitseinen Zellen. Dereks Gehirn war übergangen wor-den, aber die Zellen seines Körpers hatten die darge- botenen Informationen aufgenommen.

    Derek erkannte, weshalb er so geschwächt war. DieKlippe hatte seine Kraftreserven erschöpft. Trotzdemwußte er, daß er einen Sieg errungen hatte, denn dieKlippe hatte Informationen aufgenommen, währendsie selbst welche abgab. Die Klippe wußte jetzt, daßes in anderen Teilen des Universums Leben gab. Undsie hatte ihm ohne zu zögern ein Fragment ihrerselbst überlassen, das er in diese anderen Teile desUniversums mitnehmen durfte. Dereks Auftrag warerfüllt.

    Er stand mühsam auf, sah sich um und stellte fest,

    daß er in der Feuerregion allein war. Hier und dortleuchteten Feuersäulen, aber die Klippe war ver-

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    schwunden. Offenbar hatte er länger als erwartet ge- braucht, um sich von seinem Schock zu erholen. Erwarf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß dasRendezvous mit dem Raumschiff bevorstand. DieSchwerkraftreduktoren summten auf, dann schoß ersenkrecht nach oben, durchstieß die Wolkenschichtund verlor die Oberfläche von Festi XV aus den Au-gen.

    Unter Jons Führung steuerte das Raumschiff seinFunksignal an. Minuten später war der Geschwin-digkeitsunterschied ausgeglichen, und Derek konntean Bord gehen.

    »Alles in Ordnung, Mylord?« fragte der Partheno besorgt, als sein Herr aus der Luftschleuse taumelte.

    »Ja ... ich bin nur müde. Ich erzähle dir später alles,wenn ich den Bericht für Pyrylyn auf Band spreche.Sie haben allen Grund, mit uns zufrieden zu sein.«

    Er wog den gelb-grauen Klumpen, der sich inzwi-schen beträchtlich ausgedehnt hatte, in der offenenHand und hielt ihn Jon entgegen.

    »Auf keinen Fall ohne Handschuhe berühren und bei niedriger Temperatur unter vier g lagern. Das istein kleines Andenken an Festi XV.«

    Der Kristallpalast in Pynnati, einer der Hauptstädte

    von Pyrylyn, war unbestritten die eleganteste undteuerste Vergnügungsstätte des Planeten. Derek Ende

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    war auf Einladung seiner Gastgeber hier, während Jon geduldig am Eingang wartete.

    Sie lagen in einem Privatraum auf weichen Liegenund beobachteten ähnliche Gesellschaften in anderenRäumen. Die Wände waren durchsichtig; der Anblickveränderte sich ständig, während der Raum auf un- berechenbaren Bahnen durchs Innere des großen Kri-stallpalastes glitt. Zuerst befanden sie sich an der Au-

    ßenseite des Gebäudes und sahen die Lichter vonPynnati unter sich aufblitzen; dann sanken sie tieferins Innere hinab und hatten dabei eine ständig wech-selnde Szene vor Augen.

    Derek lag unbehaglich auf seiner Couch. Er sah dasAntlitz seiner Herrin vor sich und glaubte zu wissen,wie sie auf diese harmlose Fröhlichkeit reagierenwürde: mit eisiger Verachtung. Deshalb fand er selbstkein Vergnügen daran.

    »Wahrscheinlich wollen Sie möglichst bald nachAbrogunnan zurück?«

    »Was?« murmelte Derek.»Ich habe gesagt, daß Sie wahrscheinlich bald wie-

    der nach Hause wollen«, wiederholte der andere. Erwar Belix Ix Sappose, Oberstverwalter von Stern Eins;als Dereks Gastgeber lag er auf der Couch neben ihm.

    »Tut mir leid, Belix – aber ich muß.«

    »Von ›müssen‹ kann nicht die Rede sein. Sie habeneine völlig neue Lebensform entdeckt, wie ich bereits

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    der Zentrale von Sternenschwarm gemeldet habe; wirkönnen nun Verbindung mit dem Wesen auf Festi XVaufnehmen und unser Wissen vermutlich erheblichvermehren. Die Regierung hätte genügend Anlaß, Ih-nen ihre Dankbarkeit durch Überlassung jedes Po-stens zu erweisen, der Ihnen in den Sinn kommt; ichhabe auf Entscheidungen dieser Art gewissen Ein-fluß, was Ihnen nicht entgangen sein dürfte. Ich kann

    mir nicht vorstellen, daß ein Mann Ihres Kalibers aufAbrogunnan glücklich ist, solange die politischenVerhältnisse sich dort nicht entscheidend ändern. DasMatriarchat auf Ihrem Planeten hat viel zu dieser Er-starrung beigetragen.«

    Derek dachte daran, was Abrogunnan zu bietenhatte; er fühlte sich daran gebunden. Diese dekaden-ten Leute wußten nicht, daß menschliche Bindungensich nicht wie lästige Fesseln abstreifen ließen.

    »Was halten Sie davon, Ende? Ich meine den Vor-schlag ernst.« Belix Ix Sappose klopfte ungeduldig ansein Geweih.

    »Äh ... Oh, von der Klippe können wir bestimmtviel lernen. Aber das betrifft mich nicht. Meine Arbeitist getan. Ich arbeite lieber praktisch, anstatt theoreti-sche Überlegungen am Schreibtisch anzustellen.«

    »Sie sind nicht auf meinen Vorschlag eingegangen.«

    Derek warf Belix einen nachdenklichen Blick zu.Belix war ein Unglaat, ein Angehöriger der Rasse, die

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    mehr als jede andere dafür getan hatte, daß innerhalbder Galaxis Frieden und gute Beziehungen zwischenallen Planeten herrschten. Sein Rückgrat verzweigtesich zu einem komplizierten Geweih, aus dem sechsnachtschwarze Augen Derek unverwandt beobachte-ten. Die übrigen Anwesenden, unter ihnen auch BelixWeibchen Jupkey, sahen ebenfalls zu ihm hinüber.

    »Ich muß nach Hause zurück«, wiederholte Derek.

    Was hatte Belix vorhin gesagt? Ihm irgendeinen Po-sten angeboten? Er starrte mürrisch vor sich hin undfühlte sich äußerst unbehaglich, weil er von Leutenumgeben war, die er nur flüchtig kannte.

    »Sie langweilen sich, Ende.«»Nein, ganz im Gegenteil, Belix. Ich bewundere

    nur den Luxus und die Tanzenden.«»Dann entschuldigen Sie uns hoffentlich, wenn

    Jupkey und ich jetzt ebenfalls tanzen.« Die beidenlegten ihre Kleidung ab und gingen in den nächstenTanzsaal hinüber. Derek hörte nicht, was Jupkey zuBelix sagte, verstand aber die Worte ›arroganterAbrogunnaner‹ deutlich genug.

    Um seine Verlegenheit zu überwinden, stand De-rek auf, verließ den Raum und drängte sich durch dieTanzenden, ohne auf ihre Proteste zu hören. Vor ei-ner der Türen schwebte eine Treppe; er betrat sie,

    weil er der Menge entfliehen wollte. Vier hübsche junge Frauen schritten die Treppe hinab. Derek be-

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    trachtete sie und erkannte eine von ihnen. Er rief in-stinktiv ihren Namen: »Eva!«

    Sie hatte ihn ebenfalls gesehen und ließ ihre Beglei-terinnen allein, um wieder die Stufen hinaufzueilen.

    »Der Held von Abrogunnan betritt also heute diegoldenen Treppen von Pynnati! Nun, Derek Ende,deine Augen sind so dunkel wie immer, und ihrAusdruck ist so stolz wie eh und je!«

    »Eva! ... Deine Augen sind so klar wie früher ... unddu hast keinen Mann bei dir.«»Die Vorhersehung ist dir wohlgesinnt.« Sie lachte

    und fuhr dann ernsthaft fort: »Ich habe gehört, daßdu mit Belix Sappose und seinem Weibchen hier bist;deshalb wollte ich den närrischen Versuch machen,dich wiederzusehen. Du erinnerst dich vielleicht nochdaran, daß ich für närrische Dinge schwärme.«

    »So närrisch?«»So schwärmerisch! Aber du veränderst dich weni-

    ger als der Kern dieses Planeten, Derek Ende. Weretwas anderes erwartet, ist närrisch; wer sich darüberim klaren ist und trotzdem kommt, um dich zu sehen,ist doppelt närrisch.«

    Er nahm ihre Hand und ging neben Eva die Treppehinauf; die vielen Räume an beiden Seiten ver-schwammen vor seinen Augen.

    »Mußt du diesen alten Vorwurf immer wieder an- bringen, Eva?«

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    »Ich habe keine andere Wahl!«»Richtig, darüber haben wir in der Vergangenheit

    oft genug gesprochen. Erforscht sie noch immer dieTransmutabilität verschiedener Rassen?«

    »Selbstverständlich. Die mittelalterliche Vorstel-lung, manche Tiere könnten ihre Gestalt verändern,war damals natürlich unsinnig; heutzutage ist die ge-netische Stabilität so weit abgesunken, daß diese

    Theorie unter bestimmten Umständen zutrifft. Sieversucht zu zeigen, daß die Körperzellen ...«»Ja, ja, aber ich will nichts von ihr, sondern von dir

    hören! Du bist hinter deinen Mauern gefangen, De-rek, und vollbringst deine sterilen Heldentaten, ohne jemals die richtige Welt zu betreten. Du irrst dich ge-waltig, falls du dir einbildest, du könntest noch län-ger mit ihr leben und dann zu mir kommen. DieMauern werden von Jahrhundert zu Jahrhundert hö-her und unbezwingbarer!«

    Er schüttelte hilflos den Kopf.»Wie groß und tapfer und schweigsam du bist –

    selbst jetzt. Du bist so arrogant«, warf sie ihm vorund fügte dann rasch hinzu: »Weil ich dich trotz al-lem liebe, mache ich dir nochmals das gleiche Ange- bot.«

    »Bitte nicht, Eva!«

    »Doch! Vergiß diese lästige Bindung auf Abrogun-nan, vergiß das graue Endehabven, vergiß diese ent-

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    setzliche Matriarchie – lebe hier mit mir zusammen.Ich will dich nicht für immer. Du weißt selbst, daß ichals Eudämonistin nur mein Vergnügen suche – unse-re Verbindung brauchte nur zwei oder drei Jahrhun-derte zu bestehen. In dieser Zeit würde ich dir nichtsverweigern, was deine Sinne begehren könnten.«

    »Eva!«»Und später würden wir uns stillschweigend tren-

    nen. Dann könntest du meinetwegen nach Endehab-ven zurückkehren.«»Eva, du weißt doch, daß ich kein Anhänger der

    Eudämonie bin.«»Vergiß deine Anschauungen! Ich verlange nicht

    allzu viel von dir. Warum versuchst du zu feilschen?Bin ich ein Fisch, von dem man die besten Stückeauswählt und nach Gewicht bezahlt?«

    Derek schwieg betroffen.»Du brauchst mich nicht wirklich«, sagte er schließ-

    lich. »Du hast bereits alles: Schönheit, Witz, Intelli-genz, Wärme, Gefühl, Gleichgewicht, Behaglichkeit.Sie hat nichts. Sie ist seicht, einsam und kalt – sie braucht mich, Eva.«

    »Du entschuldigst nicht sie, sondern dich.«Sie wandte sich rasch ab und lief die Treppe hinun-

    ter. Derek rannte hinter ihr her und hielt sie am Arm

    fest.»Hör mir zu!«

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    »Niemand auf Pyrylyn hätte Lust, sich diesen ma-sochistischen Unsinn anzuhören! Du bist ein arrogan-ter Narr, Derek, und ich bin eine willensschwacheNärrin. Laß mich los!«

    Als der nächste Raum an der Treppe vorüber-schwebte, sprang sie durch den Eingang und tauchtein der Menge unter.

    Nicht alle schwebenden Räume des Kristallpalasteswaren beleuchtet. Manche Vergnügungen sind in derDunkelheit besser zu genießen, und für sie standenSäle und Räume bereit, in denen die Beleuchtung nurein leichtes Flimmern an der Decke war, während be-täubende Düfte die Luft parfümierten. Hier fand De-rek einen Platz, an dem er unbeobachtet weinenkonnte.

    Abschnitte seines Lebens glitten vor seinem Augevorüber, als würden sie durch den gleichen Mecha-nismus bewegt, der den Kristallpalast in Gang hielt.Und auf jedem Bild die gleiche Erscheinung.

    Derek überlegte wütend, wie er stets versuchte, siezufriedenzustellen – ja er bemühte sich immer nur,dieses Ziel zu erreichen! Er kannte nur die Wünscheseiner Herrin und war so von seinem Pflichtbewußt-sein durchdrungen, daß er selbst hier in dieser Um-

    gebung kein Vergnügen fand. Hier im Paradies derHedonisten und Eudämonisten, inmitten fröhlicher

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    Menschen, hübscher Frauen und berühmter Schön-heiten glaubte er Mylady leibhaftig vor sich zu sehenund wußte, daß sie sein Benehmen kontrollierte. Leu-te sprachen ihn an; er stotterte irgendeine Antwort.Sie waren bester Laune; er versuchte wie sie zu sein.Sie hatten keine Geheimnisse vor ihm; er bemühtesich, keine vor ihnen zu haben. Und er hoffte, daß siemerken würden, daß seine Arroganz nur Verlegen-

    heit überdecken sollte – oder hoffte er, daß die Verle-genheit seine Arroganz überdecken würde? Er wußtees nicht.

    Wie sollte er es auch wissen? Beide Eigenschaftensind einander ähnlich. Beide bringen den Menschendazu, daß er sich von seinen Mitmenschen abschließt.

    Derek schrak zusammen, als er irgendwo in seinerNähe Eva Coll-Kennerley sprechen hörte. Sie war al-so noch nicht gegangen! Er hörte ihre Stimme ...

    »Sie machen die unwahrscheinlichsten Scheffelausfindig, unter die Sie Ihr Licht stellen können, aberich ...«

    Er hörte nicht mehr, weil Evas Raum sich von sei-nem entfernte. Sie war also nicht hinter ihm her! De-rek war erleichtert und traurig zugleich. Als er wie-der horchte, hörte er seinen Namen und beugte sich beschämt nach vorn, um besser hören zu können.

    Seine Warmsicht verriet ihm Evas Gesprächspartner:Belix und sein Weibchen Jupkey.

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    »... weitere Versuche zwecklos. Derek hat sich be-reits zurückgezogen«, sagte Eva.

    »Er ist ein Opfer seiner Lebensumstände«, antwor-tete Belix. »Das ist uns bereits aufgefallen. DieseAbrogunnaner sind alle gleich, meine Liebe – sie lei-den alle an der gleichen Krankheit. Betrachten Sie dieSache mit den Augen einer Wissenschaftlerin: Abro-gunn ist die letzte Bastion einer bankrupten Kultur.

    Es gibt nur noch einige fünf- oder sechstausendAbrogunnaner. Sie verachten gesellschaftliche Kon-ventionen und kennen buchstäblich kein gesellschaft-liches Leben. Sie lassen sich von Sklaven bedienen.Sie sind selbst hochgradig dekadent. Aus diesen undanderen Gründen sind sie praktisch nicht mehr mitanderen Rassen vergleichbar. Freund Ende ist einMusterbeispiel dafür. Eine Tragödie, Eva, aber Siemüssen sich damit abfinden.«

    »Vielleicht hast du recht«, warf Jupkey nachdenk-lich ein, »aber trotzdem konnte nur ein Abrogunna-ner erreichen, was Derek auf Festi XV erreicht hat.«

    »Nein, nein!« widersprach Eva. »Derek wird voneiner Frau, nicht von den Überlieferungen seiner Zi-vilisation beherrscht. Er ist ...«

    »In Endes Fall macht das nicht den geringsten Un-terschied, meine Liebe, das können Sie mir glauben.

    Denken Sie nur an die Gesellschaftsstruktur aufAbrogunn. Die Partheno-Sklaven haben fast alle ech-

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    ten Männer ersetzt; die wenigen Überlebenden hau-sen auf ihren großen Besitztümern und werden dortvon Frauen beherrscht.«

    »Ja, ich weiß, aber Derek ...«»Derek ist ein Gefangener dieses Systems, das in

    Sternenschwarm einmalig ist. Die Söhne einer Familieheiraten ihre Mutter, nicht nur um die Linie weiterzu-führen, sondern auch weil zeugungsfähige Frauen

    allmählich selten werden. Derek Endes ›Herrin‹ istMutter und Gattin für ihn. Berücksichtigt man nochdie Langlebigkeit, ergibt sich daraus eine Gefühls- bindung, die fast nichts trennen kann – nicht einmalunsere schöne Eva!«

    »Heute abend war es fast soweit!«»Das bezweifle ich«, antwortete Belix. »Ende ver-

    sucht vielleicht zu entkommen, aber die gleichenKräfte, die ihn dazu zwingen, locken ihn auch wiedernach Hause.«

    »Ich sage Ihnen, es war fast soweit – aber ich habeeher die Nerven verloren.«

    »Wahrscheinlich ist es ohnehin besser so. An IhrerStelle würde ich den Kerl ganz vergessen, Eva.Schließlich bringt er kaum ein vernünftiges Wort her-aus – allein deshalb könnte er Sie nicht einmal eineSaison lang zufriedenstellen.«

    Der heimliche Lauscher konnte es nicht mehr er-tragen, noch länger zuzuhören. Derek Ende sprang

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    auf, drängte sich rücksichtslos durch die Menge underreichte keuchend den Ausgang. Jons rasche Schrittefolgten ihm wie ein Echo bis zum Raumhafen.

    Wäre Endehabven verzaubert gewesen, hätte es dortnicht stiller sein können, als Mylord Ende nach Hausekam.

    Ich benachrichtigte Mylady, sobald sein Schiff die

    Kreisbahn erreichte. Dann beobachtete ich in derEmpfängerschale, wie er und Jon landeten – am äu-ßersten Rand der Insel unmittelbar neben dem Fjordmit seinen stillen Wassern.

    Inzwischen war auch der Wind eingeschlafen, alsfürchte er eine ungewisse Drohung in der Luft, undunsere großen Bäume bewegten sich nicht mehr.

    »Wo ist meine Herrin, Hols?« fragte Derek, als ichihn begrüßte und ihm aus dem Anzug half.

    »Sie hat mir aufgetragen, Ihnen mitzuteilen, daß siesich in ihre Bäume zurückgezogen hat und Sie nichtempfangen kann, Mylord.«

    Er sah mir in die Augen, was er selten tat. »Ist siekrank?«

    »Nein. Sie hat mir nur diesen Auftrag erteilt, My-lord.«

    Er zog seinen Anzug nicht aus, sondern ver-

    schwand rasch im Hauptgebäude.An den beiden nächsten Tagen war er nur selten zu

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    sehen und blieb meistens in seinem Zimmer, wäh-rend Mylady darauf bestand, in ihrem zu bleiben.Einmal sah ich ihn zwischen den Versuchstanks undKäfigen. Er nahm einen Fisch aus dem Wasser, warfihn in die Luft und beobachtete die Verwandlung, bisein Vogel daraus geworden war, der sich in die Lüfteschwang; dabei war nicht zu übersehen, daß er sichweniger für die Vorgänge während der Transmutati-

    on interessierte, sondern vielmehr den Symbolgehaltdieser Verwandlung zu deuten versuchte.Meistens saß er in seinem Arbeitszimmer und be-

    sprach die Spulen, auf denen die Geschichte seinesLebens festgehalten war. Eine Wand des Zimmerswar mit Regalen voller Spulen bedeckt – die festge-haltenen Herzschläge vergangener Jahrhunderte. Ausden letzten Spulen habe ich diesen Bericht zusam-mengestellt; trotz seines unausgesprochenen Selbst-mitleids war er wenigstens nicht dazu verdammt, nur beobachten zu dürfen.

    Wir Parthenos sind nicht imstande, die Denkpro-zesse eines vielschichtigen Gehirns zu erfassen; wirkennen nur unsere Aufgabe und sind damit zufrie-den. Aber ist es nicht auch eine Art Kunst, zu leidenund stumm zu ertragen?

    An dem Tag, an dem er die Aufforderung von

    Stern Eins erhielt, eine neue Aufgabe zu übernehmen, begegnete er Mylady im blauen Korridor.

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    »Ich freue mich, daß du wieder an unserem Lebenteilnimmst, Herrin«, sagte Derek und küßte ihreWange. »Es ist nicht gut für dich, wenn du freiwilligabgeschieden lebst.«

    Sie strich über sein Haar. An ihrer nervösen Handtrug sie einen Bernsteinring; ihr fließendes Gewandwar grün und braun.

    »Du darfst mir deswegen keine Vorwürfe machen,

    Derek! Ich war nur traurig, weil du mich verlassenhast. Diese Welt stirbt, Derek, und ich fürchte michvor der Einsamkeit. Du hast mich zu oft allein zu-rückgelassen. Aber jetzt habe ich mich wieder erholtund freue mich, daß du hier bist.«

    »Du weißt, daß ich mich immer freue, dich zu se-hen. Lächelst du für mich? Komm, wir gehen nachdraußen – die Sonne scheint.«

    »Das letztemal ist schon so lange her. Erinnerst dudich noch an die Zeit, in der sie immer schien? Ichkann es nicht ertragen, ständig Streit zu haben. Nimmmeinen Arm und sei freundlich zu mir.«

    »Herrin, ich will stets freundlich zu dir sein. Undich habe alle möglichen Dinge mit dir zu besprechen.Du willst bestimmt hören, was ich getan habe, undich ...«

    »Verläßt du mich nie wieder?«

    Ihre Hand lag schwer auf seinem Arm. Sie sprachlauter als gewöhnlich.

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    »Darüber wollte ich ebenfalls mit dir sprechen –später«, sagte Derek. »Aber zuerst möchte ich dir vonder wunderbaren Lebensform erzählen, die ich aufFesti XV gefunden habe.«

    Als sie den Korridor verließen und durch den Anti-schwerkraftschacht nach unten sanken, erwiderteMylady müde: »Damit willst du vermutlich andeu-ten, wie sehr dich hier alles langweilt?«

    Er hielt ihre Hände in seinen. Dann ließ er sie losund hielt statt dessen ihr Gesicht zwischen denHandflächen.

    »Du weißt doch, Herrin, daß ich dich liebe, unddaß ich dir dienen will. Du bist ein Teil meiner selbst;ich kann dich nicht vergessen, wohin ich auch gehe.Mein sehnlichster Wunsch ist es, dich glücklich zumachen – das mußt du wissen. Aber du mußt auchwissen, daß ich selbst einige Bedürfnisse habe.«

    »Ich weiß, daß diese Bedürfnisse dir wichtiger alsalles andere sind, selbst wenn du das Gegenteil vor-gibst.«

    Sie ging rascher als er und schüttelte die Hand ab,die er auf ihren Arm legte. Er dachte an eine ähnlicheSzene zurück, in der er Eva aufzuhalten versucht hat-te. Sein Leben war eine endlose Kette abgeschmackterWiederholungen ...

    »Du bist grausam!« warf er ihr vor.»Wirklich?« Ihre kalten Augen blitzten förmlich.

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    »Wolltest du Endehabven etwa nicht schon wiederverlassen?«

    »Ja, ja, das ist wahr, ich habe daran gedacht und...«, begann er zögernd. »Ich weiß selbst, daß ich zutadeln bin, weil ich freundlicher sein könnte. Aber duschließt dich ein, wenn ich zurückkomme; du begrüßtmich nicht, sondern ...«

    »Natürlich erfindest du wieder einmal alle mögli-

    chen Ausflüchte, anstatt deine Charakterfehler ein-zugestehen«, sagte sie verächtlich und trat in denGarten hinaus. Bernsteinfarben und oliv und kastani-enbraun und hellblond – so schritt sie den Pfad ent-lang. Ihre Umrisse waren in der klaren Winterluftdeutlich zu erkennen; in der Perspektive seines inne-ren Auges wurde sie nicht kleiner.

    Einige Minuten lang stand er bewegungslos auf derSchwelle und versuchte den Aufruhr seiner Gefühlezu beschwichtigen.

    Dann trat auch er in den Sonnenschein hinaus.Sie stand an ihrem Lieblingsplatz am Fjord und ließ

    einen alten Badiger aus ihrer Hand fressen. Nur ihreintensivere Beschäftigung mit dem Tier verriet, daßsie Dereks Annäherung bemerkt hatte.

    Sein Gesicht zuckte, als er sagte: »Es tut mir leid.«»Meinetwegen tust du, was dir Spaß macht.«

    Er ging hinter ihr auf und ab, runzelte die Stirnund fuhr fort: »Auf Pyrylyn habe ich einige Leute

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    über unser matriarchalisches System reden gehört.Sie diskutierten die Vor- und Nachteile ...«

    »Das geht sie nichts an.«»Vielleicht nicht. Aber ihr Gespräch hat mich auf

    neue Gedanken gebracht.«Sie setzte den Badiger wortlos in seinen Käfig zu-

    rück.»Hörst du zu, Herrin?«

    »Bitte weiter.«»Hoffentlich verstehst du mich richtig. Stelle dirdie Geschichte der Erforschung des Raumes vor –oder noch besser die Erforscher einzelner Welten inder Zeit vor dem ersten bemannten Raumflug. Natür-lich waren alle diese Männer tapfer, aber wäre esnicht seltsam, wenn sich die meisten nur deshalb insUnbekannte vorgewagt hätten, weil sie den ständigenKampf zu Hause nicht länger ertragen konnten?«

    Er sprach nicht weiter. Sie drehte sich nach ihmum; das leichte Lächeln auf ihrem Gesicht hatte blin-dem Zorn Platz gemacht.

    »Und du versuchst mir zu erzählen, daß du dichebenfalls so siehst – als Märtyrer? Wie du mich has-sen mußt, Derek. Du verläßt mich nicht nur, sonderngibst mir insgeheim auch noch die Schuld daran, daßdu mich verläßt. Es spielt keine Rolle, daß ich dich

    schon tausendmal gebeten habe, hier bei mir zu blei- ben – nein, alles ist mein Fehler! Ich vertreibe dich!

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    Das erzählst du wahrscheinlich auch den bezaubern-den Leuten auf Pyrylyn, nicht wahr? Oh, wie du michhaßt! Wie du mich verachtest und ...«

    Er griff mit harter Faust nach ihren Handgelenken.Sie rief mich zur Hilfe und wehrte ihn ab. Ich kamnäher, blieb jedoch wieder stehen und beobachtetewie üblich hilflos. Er schrie sie an, wollte sie zumSchweigen bringen und brüllte dabei immer lauter;

    sie setzte sich erregt zur Wehr und wand sich in sei-nen Armen.Dann schlug er sie ins Gesicht.Sie war augenblicklich still. Ihre Augen schlossen

    sich wie in höchster Ekstase. Sie schien sich ihm dar-zubieten.

    »Schlag mich doch! Du willst mich schlagen! Waszögerst du noch?« flüsterte sie.

    In diesem Augenblick, mit diesen Worten verän-derte auch er sich. Als habe er ihr wahres Wesenerstmals erkannt, ließ er jetzt die Fäuste sinken, trateinen Schritt zurück und starrte sie erschrocken an.Sein Fuß fand keinen Halt. Er drehte sich zur Seite, breitete die Arme aus, als wolle er fliegen, und stürz-te über die Klippe.

    Ihr Schrei verfolgte seinen Sturz.Aber als sein Körper im Wasser des Fjords auf-

    schlug, begann eine seltsame Verwandlung. Schaum- blasen stiegen an die Oberfläche und schienen einen

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    schmerzlichen Kampf in der Tiefe anzudeuten. Danntauchte ein Seehund auf, stürzte sich der nächstenWoge entgegen und schwamm meerwärts, von woein frischer Wind aufgekommen war.

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    SEKTOR GRAU

    Sergeant Taylor lag in einem Krankenhausbett undträumte einen Traum.

    Er war ein bestimmter Oberst. Er hatte diesen Rang

    von seinem Vater und seines Vaters Vater geerbt. Erhatte die erste Nacht seines jungen Lebens allein inden Sümpfen von As-A-Merekass verbracht. Da erweder von Hydro-Monitoren noch von Alligatorengefressen worden war, durfte er die militärische Er-ziehung beginnen, die dem Stand seiner Familie ent-sprach. Der Exerzierplatz war ihm von frühester Ju-gend an vertraut. Alle Frauen, die ihn in den erstenLebensjahren versorgten, waren streng und hart. Erwußte genau, daß er eines Tages sehr erfolgreich seinwürde.

    Er war ein bestimmter Oberst, dessen Unterkunftin diesem Kriegsjahr tief unter der Erde lag. In derKantine feierte die Spezialabteilung. Der Raum warüberfüllt; Soldaten und die eingeladenen Frauen sa-ßen an langen Tischen, die sich vor Essen und Trin-ken bogen. Trotz der spartanischen Ausstattung der

    Kantine herrschte Feststimmung – die etwas hekti-sche Stimmung von Männern, die nach dem alten

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    Motto lebten: Eßt, trinkt und seid fröhlich, denn mor-gen müssen wir sterben.

    Der Oberst aß und trank, ohne fröhlich zu sein.Obwohl er sich freute, daß seine Männer in guterStimmung waren, hatte er keinen Teil an ihrer Fröh-lichkeit. Er wußte noch, was sie bereits vergessen hat-ten – die Sirene konnte jederzeit aufheulen. Und dannwürden sie abmarschieren, ihr Gerät empfangen und

    nach oben fahren, um dort zu bekämpfen, was zu be-kämpfen war.Das alles war Beruf und Lebensinhalt des Obersten.

    Er hatte nichts dagegen, er fürchtete sich keineswegsdavor; er hatte nur eine Art Lampenfieber.

    Die Gesichter um ihn herum waren undeutlich ver-schwommen. Jetzt betrachtete er sie aufmerksamerund fragte sich ohne sonderliches Interesse, wie vieleund welche Männer ihn begleiten würden. Er beo- bachtete auch die Frauen.

    Im Verlauf des Krieges hatte sich das Militär unterdie Erde zurückgezogen. Das Leben war dort hart,aber einigermaßen erträglich, weil synthetische Nah-rungsmittel und Getränke reichlich zur Verfügungstanden. Nach zehn Jahren Krieg schmeckt Plankton-Whisky ebenso gut wie der beste Skotch – wenn nurnoch die Nachahmung erhältlich ist. Aber die Frauen

    waren nicht synthetisch. Sie waren aus den zerstörtenStädten der Erde in die verhältnismäßig sicheren un-

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    terirdischen Garnisonen geflüchtet. Dabei hatten diemeisten von ihnen das Leben mit dem Verlust ihrerMenschlichkeit bezahlt. Nun stritten sie sich lärmendum ihre Männer, ohne eigentlich darauf zu achten,was sie errangen.

    Der Oberst beobachtete sie mitleidig und verächt-lich zugleich. Wie der Krieg auch ausgehen mochte –die Frauen hatten ihn bereits verloren.

    Dann sah er ein Gesicht, das weder lachte nochkreischte.Es gehörte einer jungen Frau, die ihm fast genau

    gegenüber am Tisch saß. Sie hörte sich geduldig dasGeschwätz eines rotgesichtigen Unteroffiziers an,dessen Arm schwer auf ihrer Schulter lag, während erundeutlich lallend auf sie einsprach. Mary, dachte derOberst; sie mußte einen schlichten Namen haben –zum Beispiel Mary.

    Ihr Gesicht wirkte fast durchschnittlich, war jedochim Gegensatz zu den Gesichtern der anderen Frauennicht von Lastern und Ausschweifungen gezeichnet.Ihre Haare waren hellbraun, die großen Augen blau-grau; das Gesicht war schmal, aber die Lippen warentrotzdem voll.

    Mary hob den Kopf und sah, daß der Oberst sie an-starrte. Sie erwiderte lächelnd seinen Blick.

    Enthüllungen im Leben eines Menschen kommenstets unerwartet. Bisher war der Oberst ein gewöhnli-

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    cher Soldat gewesen; als Mary lächelte, ging eineVerwandlung in ihm vor. Er sah sich plötzlich wie ineinem Spiegel – ein alter Mann unter dreißig, der seinPrivatleben einer Militärkarriere geopfert hatte. Die-ses traurige, schöne, gewöhnliche Gesicht drückte al-les aus, was er bisher nie gekannt hatte: die schönerenSeiten des Lebens, die sich nur einem Mann und einerFrau auftun, die einander lieben.

    Aber das Gesicht sagte ihm auch mehr. Es sagteihm, daß es selbst jetzt noch nicht zu spät für ihn sei.Das Gesicht war Versprechen und Tadel zugleich.

    Das alles und noch mehr beschäftigte den Oberstund war in seinen Augen zu lesen. Mary schien sei-nen Ausdruck richtig zu deuten.

    »Kannst du ihn nicht einfach sitzenlassen?« bat derOberst.

    Mary sah den Soldaten nicht an, dessen Arm aufihren Schultern lag, als sie irgend etwas antwortete.Ihre Antwort ging in dem allgemeinen Lärm unter.Der Oberst rief ihr zu, sie möge den Satz wiederho-len.

    In diesem Augenblick ertönte die Sirene.Der Lärm verdoppelte sich. Militärpolizei strömte

    in die Kantine, jagte die Betrunkenen mit Schlägenund Tritten hoch und trieb sie hinaus.

    Der Oberst stand auf. Er beugte sich über denTisch, berührte Marys Hand und sagte: »Ich muß

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    dich wiedersehen und mit dir sprechen. Falls ich die-sen Einsatz überlebe, bin ich morgen abend hier. Tref-fen wir uns dann?«

    Ein rasches Lächeln. »Ich komme«, versprach sie.Hoffnung überflutete ihn. Liebe, Dankbarkeit, alle

    verborgenen Quellen seiner Natur begannen zusprudeln. Dann marschierte er auf die Tür zu.

    An der Tür stand ein langer Wagen bereit. Die Spe-

    zialabteilung stolperte darauf zu oder wurde hinein-gestoßen. Als der letzte Mann an Bord war, schlossensich automatisch die Türen; der Wagen setzte sich inBewegung und raste pfeifend durch den Tunnel nachoben.

    Er hielt am Krankenrevier, wo Sanitäter mit Alko-holtestern die Männer erwarteten. Sobald der Zeigerausschlug, erhielt der Betreffende eine Injektion, dieihn augenblicklich nüchtern machte. Auch der Oberstmußte sich eine Sprite geben lassen, obwohl er kaumetwas getrunken hatte. Der Alkohol in seinem Blutwurde in wenigen Sekunden neutralisiert. Innerhalbvon fünf Minuten waren alle Männer wieder stock-nüchtern. Drogen dieser Art machten den modernenKrieg überhaupt erst möglich.

    Die Spezialabteilung marschierte in guter Ordnungin den Wagen zurück; die Männer waren ruhiger und

    gesetzter. Der Wagen schraubte sich durch die Tun-nelspiralen nach oben und hielt diesmal am Bespre-

  • 8/18/2019 Aldiss, Brian W. - Der Sternenschwarm

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    chungsraum. Sie befanden sich nun an der Oberflä-che. Die Luft war weniger abgestanden.

    Der Oberst betrat das Gebäude, in dem die Einsatz- besprechung stattfinden sollte, und wurde dabei von fünf Offizieren und Unteroffizieren begleitet. Die an-deren Männer – oder zumindest diejenigen, die für diesen Einsatz ausgewählt worden waren – wurden zur Abteilung Psychologie geführt. Dort standen Wis-

    senschaftler bereit,

    um

    sie

    auf

    die

    drohenden Gefahrenihres Einsatzes vorzubereiten.

    Der Oberst und seine Begleiter sahen sich einemGeneral gegenüber, der sofort zu sprechen begann,als sie ihre Plätze eingenommen hatten.

    »Heute handelt es sich um eine neuartige Aufgabe.Der Gegner versucht einen neuen Schachzug, undwir haben uns eine neue Abwehrmaßnahme ausge-dacht. Für diesen Einsatz erhält jeder von Ihnen nurdrei Mann zugeteilt. Sie sind dabei nur leicht bewaff-net und müssen auf den Überraschungseffekt ver-trauen. Wenn ich Ihnen nun sage, daß wir Ihre Rück-kehr in etwa zehn Stunden erwarten, möchte ich Siegleichzeitig daran erinnern, daß diese zehn Stundenvielleicht kriegsentscheidend sind.«

    Der General beschrieb Zweck und Ziel des Einsat-zes. Das Bild in der Vorstellung des Obersten war

    einfach und klar, denn er schied alle überflüssigenDetails aus. An der Küste entlang des achtundvier-

  • 8/18/2019 Aldiss, Brian W. - Der Sternenschwarm

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    zigsten Breitengrades hielt der Gegner einen Stegor-wald besetzt. Jenseits des Waldes erhoben sich unü- bersteigbare Klippen. Auf dem höchsten Punkt dieserKlippen stand ein fünf Stockwerke hohes Holzhausälterer Bauart. Im fünften Stock dieses Gebäudes, derüber die Baumwipfel aufragte, befand sich eine Wet-terstation. Von hier aus hatte man einen guten Blicküber die enge Meeresstraße, die Feind von Feind

    trennte.Die Wetterstation achtete auf günstige Winde. So- bald sie zu wehen begannen, würde sie das Zeichengeben, die Segler zu starten. Die Segler würden auf-steigen, übers Meer fliegen und auf feindlichem Ge- biet landen. Sie hatten Bakterien an Bord.

    »Wir müssen mit verheerenden Seuchen rechnen,wenn diese Aktion nicht verhindert wird«, erklärteder General. »Eine andere Gruppe erhält den Auf-trag, die Segler zu zerstören. Die Wetterstation mußebenfalls unbrauchbar gemacht werden – und das istIhre Aufgabe.

    Unser Gebiet liegt am Rand einer ausgedehntenTiefdruckzone. Nach letzten Berechnungen ist zu er-warten, daß der Gegner in zehn bis zwölf Stundenideale Verhältnisse für seinen Plan vorfindet. Wirmüssen rechtzeitig eingreifen.«

    Dann beschrieb er, wie die Streitkräfte des Gegnersentlang der Angriffsroute verteilt waren. Die Abwehr

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    war tief gestaffelt, aber schlecht aufgeteilt; nur dieWaldpfade wurden beobachtet, denn ein Angriff mitFahrzeugen war ausgeschlossen.

    »Wir setzen unsere ganze Hoffnung auf Sie und Ih-re Männer, Oberst. Unsere Laboratorien haben kürz-lich eine neue Droge entwickelt. Soweit ich die Sacheverstehe, handelt es sich um das Endstadium der al-ten Hyperaktivitätspille. Leider sind die Versuche

    damit noch nicht abgeschlossen, aber in verzweifeltenLagen greift man zu verzweifelten Mitteln ...«

    Als die Einsatzbesprechung beendet war, trafen dieOffiziere und Unteroffiziere wieder mit den Männernzusammen, die heute unter ihrer Führung kämpfensollten. Sie marschierten gemeinsam zur Waffen-kammer und nahmen dort Handfeuerwaffen und ku-gelsichere Westen in Empfang.

    Draußen im Freien war es noch immer dunkel. Siewurden in einem Lastwagen zum Flugplatz gefahrenund durchquerten dabei die Ruinen einer alten Ober-flächenstadt. Sie stiegen vor einem wartendenTragschrauber ab. Zehn Minuten später waren sie allean Bord und angeschnallt.

    Ein Sanitäter kam herein. Er sollte die neuen Pillenausgeben, sobald sie den Wald erreicht hatten; jetzt

    teilte er Beruhigungspillen aus.Der Tragschrauber stieg mit einem Satz in die Hö-

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    he. Vierundzwanzig Männer versanken im Halb-schlaf, während sie durch die Stratosphäre flogen.Dann erschien tief unter ihnen der Wald.

    Die Maschine sank rasch und setzte am Waldrand vor den ersten Bäumen auf. Das Schlafmittel hörte auf zu wirken, als die Heckrampe den Boden berührte.

    »Kein überflüssiger Lärm!« mahnte der Oberst.Er verglich seine Uhr mit dem Chronometer des Pi-

    loten, bevor er aus der Maschine sprang. Ein kühlerWind trieb Nebelschwaden vor sich her durch dieMorgendämmerung.

    Der Sanitäter ging wieder von einem Mann zumanderen und teilte diesmal längliche gelbe Pillen aus.

    »Steckt sie in den Mund und zerbeißt sie erst, wennder Oberst den Befehl dazu gibt«, sagte er zu jedem.»Ansonsten braucht ihr euch keine Sorgen zu ma-chen. Seht nur zu, daß ihr euren Tragschrauber wie-der erreicht, dann wird für alles weitere gesorgt.«

    »Berühmte letzte Worte«, murmelte einer derMänner spöttisch.

    Der Sanitäter ging rasch an Bord zurück. Die Ma-schine würde sofort starten; die Spezialabteilung soll-te anderswo von einem anderen Tragschrauber auf-genommen werden. Die Soldaten marschierten inReihe auf den Wald zu; schon nach den ersten Schrit-

    ten begann ein schweres Maschinengewehrfeuer zurattern.

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    »Weiter!« befahl der Oberst. »Damit ist derTragschrauber gemeint.«

    Die ersten Schwierigkeiten tauchten früher als er-wartet auf. Ein Strobolicht schwebte über der Lich-tung und tauchte alles in flackerndes Weiß. Gleichzei-tig ertönte der Summer im Helm des Obersten undwarnte ihn vor einem Fernsehauge in seiner Nähe.

    »Deckung!« brüllte er.

    Das Abwehrfeuer setzte ein, als sie durch eine Sen-ke krochen.»Wir teilen uns hier in fünf Gruppen«, befahl der

    Oberst. »Eins und zwei links von mir, vier und fünfrechts von mir. In genau siebzig Sekunden ertönt einPfiff; ihr eßt eure Pillen und setzt euch in Bewegung.Los, worauf wartet ihr noch?«

    Zwanzig Männer bewegten sich. Vier blieben neben dem Oberst liegen. Er achtete nicht auf die Einschläge, sondern beobachtete seine Uhr und hielt die Pfeife in der rechten Faust. Das Abwehrfeuer war wie erwartet verstummt, als sein Pfiff ertönte. Er schluckte die Pille hinunter und sprang auf; die vier Männer folgten ihm.

    Sie rannten auf den Wald zu.Sie erreichten die ersten Bäume. Die anderen Grup-

    pen erreichten ebenfalls die Bäume. Drei von ihnen sollten den Gegner verwirren und ablenken. Nur eine

    weitere Gruppe – Gruppe vier – sollte die Wetterstati-on ebenfalls, aber auf einem anderen Weg erreichen.

  • 8/18/2019 Aldiss, Brian W. - Der Sternenschwarm

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    Sekunden später setzte die Wirkung der Droge ein.Der Oberst fühlte sich schwindlig und hatte einSummen in den Ohren. Diese kleinen Beschwerdengaben sich jedoch, als ein neues Wohlbehagen seinenKörper erfüllte. Er begann rascher zu atmen, konnterascher denken und bewegte sich schneller. Sein Me-tabolismus wurde beschleunigt.

    Einen Augenblick lang empfand er eine unerklärli-

    che Angst, obwohl er wußte, was er zu erwarten hat-te. Die Angst kam tief aus seinem Innern, als setztesich der Körper selbst gegen diesen Eingriff in seinenpersönlichen Lebensrhythmus zur Wehr. Zugleich er-schien Marys Bild vor seinem inneren Auge, als habeer sie durch das Einnehmen der Pille irgendwie be-schmutzt und entwürdigt. Dann verschwanden dieAngst und Marys Gesicht wieder.

    Der Oberst lief vor seinen Männern her. Sie bra-chen durch das Unterholz und wichen einer Lichtungaus. Ein Suchscheinwerfer flammte auf und beschriebseltsame Muster aus Licht und Schatten zwischen denBaumstämmen. Als er die Gruppe drei erfaßte, schoßder Oberst.

    Er hatte schnell reagiert und nahm kaum wahr, daßer bereits schoß. Ihre Waffen hatten einen besondersempfindlichen Abzug, der ihrem neuen Tempo ange-

    paßt war.Ein halbes Dutzend Feuerstöße antwortete auf sei-

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    nen Schuß, aber der Oberst und seine Männer ließensich nicht aufhalten. Sie rannten schneller. Sie liefengeduckt zwischen den Bäumen weiter. Im Morgen-grauen sahen sie besser. Der Gegner war völlig un-vorbereitet. Sie rannten unaufhörlich weiter. Sie liefenan getarnten Fahrzeugen, Panzern und Zelten mitschlafenden Männern vorbei. Niemand konnte sieaufhalten. Sie schossen auf jede Bewegung. Sie rea-

    gierten um die Hälfte schneller und waren deshalbSupermänner.Der Oberst war erstaunlich ruhig und gelassen. Er

    bewegte sich mit der Präzision einer tödlichen Ma-schine; er sah und hörte übernatürlich gut, schienBewegungen zu erkennen, bevor sie tatsächlich aus-geführt wurden, und nahm Geräusche auf, die er frü-her nie wahrgenommen hätte.

    Er hörte sein Herz rasend schnell schlagen, seinen Atem, die Atemzüge seines Nebenmannes, das Ra-scheln ihrer Arme und Beine unter den Kampfanzü-gen. Er hörte Zweige unter ihren Füßen knacken, leise Rufe im Wald, entfernte Schüsse – vermutlich die Posi-tion einer anderen Gruppe. Er schien alles zu hören.

    Sie legten die erste Meile in fünf Minuten zurückund brauchten weniger als vier für die zweite. DerOberst sah nur gelegentlich auf seinen Kompaß und

    verließ sich meist auf seinen erstaunlichen neuenRichtungssinn.

  • 8/18/2019 Aldiss, Brian W. - Der Sternenschwarm

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    Als ein Feuerüberfall von rechts einen Mann derGruppe tötete, rannten die anderen vier ohne Pauseweiter. Sie hatten das Gefühl, nie wieder stillstehenzu können. Die zweite und dritte Meile waren nichtschwieriger als die erste. Der Gegner war auf alleMöglichkeiten vorbereitet – aber er rechnete nicht miteiner Handvoll rennender Männer. Dieser Gedankewar zu lächerlich, um ernstgenommen zu werden.

    Der Oberst und seine Männer kamen nur durch, weilein Angriff dieser Art für unmöglich galt.Dann hatten sie ihr Ziel fast erreicht. Der Gegner

    war offenbar gewarnt, denn er hatte Drahthindernis-se aufgebaut und Maschinenwaffen in Stellung ge- bracht. Die zunehmende Tageshelle begünstigte diefeindlichen Schützen.

    »Ausschwärmen!« brüllte der Oberst, als vor ihnenein Maschinengewehr zu bellen begann.

    Seine Männer verteilten sich, hielten aber Sichtver- bindung zueinander. Sie bewegten sich nun wie laut-lose Schatten; sie rannten, ohne zu schießen.

    Der Gegner begann aus allen Rohren zu schießen.Da er die vier geisterhaften Schemen nicht traf, schoßer weiter Sperrfeuer, um das Vordringen der feindli-chen Hauptstreitmacht zu unterbinden, die aber niekam. Die vier Gestalten rannten weiter und litten vor

    allem unter dem Lärm, der sich wie Säure durch ihreTrommelfelle fraß.

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    Dann ragte vor ihnen ein hölzerner Turm zwischenden Bäumen auf – das Ziel war erreicht!

    Die vier schlossen sich zusammen, als die Wach-mannschaft aus ihrer Unterkunft stürzte. Sie erschos-sen einen MG-Schützen, der seine Waffe in Stellung brachte. Sie warfen Handgranaten in einen mit Sand-säcken befestigten Schützengraben. Dann drangen siein die Wetterstation ein.

    Alles war wie erwartet. Sie rannten die knarrendeWendeltreppe hinauf, der Oberst noch immer an derSpitze seiner Männer. Vor ihnen wurden Türen auf-gestoßen. Aber der Gegner bewegte sich im Zeitlu-pentempo und starb, ohne einen Schuß abgegeben zuhaben. Sekunden später erreichte die Gruppe dasoberste Stockwerk.

    Der Oberst riß die einzige Tür auf und blieb an derSchwelle stehen.

    Vor ihm lag der Wetterraum.Überall standen Apparate unordentlich aufgesta-

    pelt und zeigten, daß die Station noch nicht lange inBetrieb war. Aber die großen Wetterkarten an denWänden waren unverkennbar.

    Einige feindliche Soldaten hielten sich hier auf. DieSchüsse ganz in der Nähe hatten sie alarmiert. Vonden Fenstern aus hatte man einen weiten Blick auf

    Klippen und das Meer. Ein Mann telefonierte; die an-deren standen an den Fenstern und diskutierten er-

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    regt miteinander. Der Mann am Telefon sah die Ge-fahr zuerst.

    Er ließ den Hörer fallen, öffnete verblüfft denMund, als wolle er die anderen warnen, und brachtedoch kein Wort heraus. Er beugte sich langsam nachvorn und wollte nach der Pistole auf seinem Schreib-tisch greifen. Der Oberst hatte den Eindruck, der an-dere bewege sich in Zeitlupe, während die anderen

    sich ebenso langsam nach ihm umdrehten.Der Oberst stieß einen lauten Schrei aus undkrümmte den rechten Zeigefinger. Er sah die Kugeleinschlagen. Der Mann warf die Arme hoch, rutschtevom Stuhl und blieb neben seinem Schreibtisch lie-gen.

    Einer der Männer des Obersten warf eine Brand-handgranate in den Raum. Als sie detonierte, ranntensie bereits wieder nach unten. Die Türen flogennochmals auf, und sie schossen, ohne zu überlegen.Diesmal wurde zurückgeschossen. Ein Mann derGruppe schrie auf und fiel kopfüber die Treppe hin-ab. Seine drei Kameraden liefen an ihm vorbei in denWald.

    Der Oberst führte die beiden Überlebenden auf ei-nem anderen Weg zurück. Dies war der leichtesteTeil ihres Auftrags; der Gegner erwartete sie nicht

    aus dieser Richtung, so daß sie seine Stellungen hin-ter sich ließen, bevor er einen klaren Entschluß fassen

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    konnte. Weit hinter ihnen brannte die Wetterstationund schickte dunkle Rauchschwaden in den bleifar- benen Morgenhimmel.

    Sie hatten vier Meilen zu laufen. Nach der zweitenMeile ließ die Wirkung der Droge allmählich nach.Der Oberst merkte, daß sein Gehirn plötzlich nichtmehr anomal klar funktionierte, sondern von Zeit zuZeit auszusetzen schien. Er rannte weiter.

    Nach der dritten Meile brach einer seiner beidenMänner lautlos zusammen. Sein Gesicht war dunkel-rot angelaufen, und er schlug der Länge nach wie eingefällter Baum zu Boden. Er war völlig ausgebrannt.Die beiden anderen liefen weiter.

    Der Oberst und sein Begleiter erreichten den ver-einbarten Treffpunkt. Dort blieben sie zuckend lie-gen, bis der Tragschrauber herabsank. Inzwischen la-gen dort zwölf Männer, die unkontrollierbar mit Ar-men und Beinen zuckten – die Überlebenden der fünfGruppen. Zwei Sanitäter schnallten sie auf Tragbah-ren fest und gaben ihnen Beruhigungsspritzen.

    Plötzlich war es zwölf Stunden später, obwohl erstSekunden vergangen zu sein schienen.

    Der Oberst saß wieder in der Kantine. Trotz der Er-schöpfung, die er in allen Gliedern spürte, war er

    hierher gekommen. Er hatte ein Rendezvous mit Ma-ry.

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    Der Lärm um ihn herum schwoll an, als die Stim-mung sich ihrem Höhepunkt näherte. Viele der Män-ner, die sich hier betranken, hatten tagsüber wie derOberst dem Tod ins Auge gesehen; viele würden ihmmorgen bei diesem oder jenem Einsatz begegnen. Eswar ihre Pflicht, irgendwie zu überleben: ihre Ge-sundheit befand sich in Schluckkapseln.

    Der Oberst saß am Ende eines langen Tisches mit

    dem Rücken zur Wand und hielt einen Stuhl nebensich frei, als die Kantine sich langsam füllte. DerLärm tat ihm in den Ohren weh. Er hielt nach MaryAusschau.

    Als die erste halbe Stunde vergangen war, wurdenseine Befürchtungen wach. Er kannte nicht einmal ih-ren richtigen Namen. Die Ereignisse des vergangenenTages hatten die Erinnerung an ihr Gesicht ausge-löscht. Sie hatte gelächelt, ja. Sie hatte ganz durch-schnittlich ausgesehen, ja. Aber das war alles, woraner sich noch erinnern konnte – das und eine schwacheHoffnung, die sie in seinem Herzen erweckt hatte.

    Eine Stunde verstrich, aber der Platz neben ihm blieb leer. Der Oberst blieb unbeweglich sitzen undertrug geduldig den Lärm. Vielleicht war Mary ir-gendwo mit dem Betrunkenen, der gestern den Armum sie gelegt hatte. Der Krach war fast unerträglich,

    und der Stuhl neben ihm blieb leer.Gegen zwei Uhr morgens leerte sich die Kantine

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    allmählich. Der Oberst wußte plötzlich, daß Marynicht kommen würde. Sie würde nie kommen. Er warnur ein Soldat; der Stuhl neben ihm würde sein Lebenlang leer bleiben. Keine Mary würde jemals daraufsitzen. In seinem Leben gab es keinen Platz für Ma-rys. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen, alskönne er sich in diesen harten Handflächen verkrie-chen wie in einer schützenden Höhle.

    Das war Sergeant Taylors Traum, von dem er lautschreiend erwachte.

    Er weinte vor sich hin, bis der Mann im nächstenBett nach seiner Schulter griff und ihn heftig schüttel-te. Dann kehrte er in die Wirklichkeit zurück, legtesich auf den Rücken und dachte über seinen Traumnach. Dabei vergaß er fast, wie sehr sein geplatztesTrommelfell schmerzte.

    Der Traum war eine wunderbare Mischung ausRealität und Superrealität. Alle Details des Einsatzeswaren genau rekonstruiert. Er hatte seine Männer aufdiese Weise vor wenigen Stunden zum Erfolg ge-führt. Die Hyperaktivitätspillen hatten in der Wirk-lichkeit nicht anders als im Traum gewirkt.

    »Was träumst du eigentlich für einen Quatsch?«erkundigte sich Taylors Bettnachbar. »Hat dich ein

    Mädchen sitzenlassen oder so ähnlich?«Sergeant Taylor nickte langsam, weil er sah, daß

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    die Lippen des anderen sich bewegten. Nun, schließ-lich hatte er gewußt, daß unliebsame Nebenwirkun-gen auftreten konnten. Vielleicht wurde eben jetzt ir-gendwo ein Mittel entwickelt, das neue Trommelfellenachwachsen ließ ...

    Nur in zwei Punkten wich der Traum von derWirklichkeit ab.

    Er hatte nie bewußt eine Mary gesehen oder nach

    ihr Ausschau gehalten. Aber der Traum war so wirk-lichkeitsnah und natürlich, daß er nun wußte, daß ersein Leben lang insgeheim nach einer Mary gesuchthatte. Und er erkannte, daß der Traum die Zukunftrichtig vorausgesagt hatte: Solange dieser Krieg an-dauerte, würde es nie eine Mary für ihn geben. Ge-nügend Frauen, aber keine Frau wie Mary.

    Der zweite Punkt paßte zum ersten. Daran warkein Zweifel möglich ...

    »Oder hast du dir vielleicht eingebildet, wieder ander Oberfläche zu sein und Soldat zu spielen, was?«meinte der andere im nächsten Bett.

    Sergeant Taylor lächelte verloren und nickte denLippen zu, die sich bewegten. Er befand sich in einereigenen Welt, und er war mit ihr zufrieden.

    Ja, der zweite Punkt stimmte mit dem ersten über-ein. In seinem Traum hatte er sich selbst befördert

    und war als Oberst aufgetreten. Das konnte größen-wahnsinnige Selbstbefriedigung sein – aber vermut-

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    lich war es mehr: eine Voraussage, die ebenso wie dieandere eintreffen würde.

    Sergeant Taylor war Soldat. Er war als Soldat gebo-ren worden, aber erst jetzt hatte er diese Tatsachedeutlich vor Augen. Das machte ihn zum überlege-nen Soldaten. Mary war die zartere Seite seines Le- bens, die sich jetzt nicht mehr auswirken konnte; folg-lich würde er nur noch härter, zäher, verbitterter und

    brutaler werden. Er würde ein hervorragender Soldatsein.Keine Liebe – aber rasche Beförderungen!Sergeant Taylor hatte nun alles klar vor Augen. Er

    war sehr mit sich zufrieden, weil er diese sentimenta-len Ideen in einem Traum abreagiert hatte. Dannlachte er so seltsam, daß der Mann im nächsten Bettihn wieder anstarrte.

    Für einen stocktauben Mann gab es bestimmt rechtmerkwürdige Aufträge, die nur er richtig durchfüh-ren konnte ...

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    SEKTOR VIOLETT

    Die Durchsage ertönte aus tausend Lautsprechern anBord des Raumschiffs und war trotzdem kaum mehrals ein Flüstern:

    »Die Einwanderer von Istinogurzibeshilaha gehenals erste auf Dansson an Land. Die Einwanderer vonIstinogurzibeshilaha halten sich bitte in der Nähe ih-rer Schleuse zur Fahrt ins Immunisationszentrum be-reit. Ihr Gepäck wird später ausgeladen. Ende derDurchsage.«

    Der Mann, an dessen Kehle nur ein schwacher Pulsklopfte, blieb auf dem Rücken liegen und hörte sichdie Wiederholung der Durchsage an, ohne die wim-pernlosen Augenlider zu bewegen. Die sanfte Stimmerief ihn ins Leben zurück. Als er sich wieder orientierthatte, öffnete er langsam die Augen.

    Seine Gefährtin Corbis hockte zitternd an der Ka- binentür.

    Er richtete sich langsam auf, denn die Temperaturder Kammer war noch immer zu niedrig, um seine

    Lebensgeister zu erwecken. Aber Corbis war wenigerkälteempfindlich als er; sie stand auf, kam auf ihn zu

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    und legte ihm einen Arm um die Schultern, bevor ersich aufgerichtet hatte.

    »Ich habe Angst, Saton«, flüsterte sie.Die Wörter bewirkten keine vernünftige Reaktion,

    obwohl er kurz an die Befürchtungen dachte, die ergelegentlich gehabt hatte, wenn er durch die dichtenWälder seines Heimatplaneten schlich.

    »Wir sind angekommen, Saton. Wir sind endlich

    auf Dansson gelandet und sollen aussteigen. Aber ichhabe jetzt Angst. Ich fürchte mich, seitdem ich ausdem Tiefschlaf erwacht bin. Sie haben uns hohe Tem-peraturen zur Wiederbelebung versprochen, aber hierist es nicht wärmer als fünf Grad. Sie wissen, daß wirpraktisch hilflos sind, solange es so kalt bleibt.«

    Saton reagierte nicht. Er ließ sich in die Koje zu-rücksinken und bewegte nur die Augen.

    »Was wird aus uns, wenn Dansson nicht das Para-dies ist, von dem wir immer gehört haben?« fragteCorbis ängstlich. »Es könnte sich doch um einen Trickhandeln, nicht wahr? Ich meine, alle Tests und Unter-suchungen auf Istinogurzibeshilaha könnten dochnur den Zweck gehabt haben, uns hierher zu locken... Oh, wir haben gehört, daß Dansson so herrlich ist –aber haben wir je gehört, daß irgend jemand von dortzurückgekommen ist? Falls uns das gleiche Schicksal

    bevorsteht, sind wir ... einfach hilflos!«Sie horchte nach draußen, wo fremde Schritte im

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    Korridor ertönten und wieder verklangen. Auch siehatte auf dem langen interstellaren Flug schrecklicheTräume gehabt.

    Sie hatte den Tag vor vierzig Jahren miterlebt, an dem ihre Mutter als kleines Mädchen die Landung der ersten Menschen von anderen Planeten gesehen hatte; diese Forscher hatten ihren Stamm und andere Stäm-me in kümmerlichen Holzhütten in den wenigen Zo-

    nen von

    Istinogurzibeshilaha

    entdeckt,

    in

    denen

    Leben

    möglich war. In ihren Träumen waren die Menschen wahre Riesen gewesen und hatten nicht Geschenke und Wunder mitgebracht, sondern waren mit eisernenKäfigen und Särgen gekommen. Sie war aufgewacht,als eine Eisentür hinter ihr zufiel.

    »Wir hätten nicht kommen dürfen, Saton«, wieder-holte sie. »Ich habe Angst. Wir müssen Dansson baldverlassen.«

    Er hob langsam den Kopf. »Dansson gehört zu denHauptplaneten des Universums.«

    Das war die erste Tatsache, die sein unterkühlterVerstand erfaßte. Saton war noch nicht wach genug,um wie gewohnt zu reagieren; deshalb bezweifelte erauch, daß seine Gefährtin wußte, was sie sagte –vermutlich war das nur Ausdruck ihrer unbewußtenÄngste und Zweifel.

    Eine jahrelange Ausbildung in einer der neuenSchulen auf seinem Heimatplaneten, in der Menschen

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    von Dansson unterrichteten, hatte endlich dazu ge-führt, daß er und Corbis eine Reihe von Prüfungen bestanden, die ihnen einen Freiflug nach Dansson si-cherten – dem Hauptplaneten des Sektors Violett, ei-nem der wichtigsten Sektoren der Galaxis. Er erinner-te sich deutlich an das Vergnügen und die Überra-schung, als er hörte, daß er die besten Resultate er-zielt hatte. Nun waren Corbis und er in der Lage, auf

    Dansson Arbeit zu finden und mehr oder mindergleichberechtigt mit anderen Menschenarten zu ver-kehren, die dort lebten. Eine unendlich wichtige Auf-gabe, bei der sie nicht versagen durften ...

    Die Stimme aus den Lautsprechern forderte sie noch-mals dazu auf, sich an der Schleuse bereitzuhalten.

    »Sie holen uns ab«, flüsterte Corbis erschrocken.»Sie kommen hierher, um uns abzuholen. Wir müs-sen wahnsinnig gewesen sein, als wir uns darauf ein-gelassen haben.«

    Er schüttelte müde den Kopf und schien wider-sprechen zu wollen, aber sie unterbrach ihn mit einerkurzen Handbewegung.

    »Es hat keinen Zweck«, stellte sie fest. »Ich weiß,daß wir hereingelegt worden sind, Saton. Wir hättenden Warmblütern nie trauen dürfen. Sie sind unsüberlegen.«

    Ihre schönen gelben Pupillen waren zu schmalenSchlitzen geworden. Saton beobachtete erstaunt, daß

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    Corbis sich im Kleiderschrank versteckte; dann hatteer plötzlich ebenfalls Angst und empfand das alteMißtrauen, das alle Istinogurzibeshilahaner empfan-den, wenn sie mit sogenannten Warmblütern umgin-gen. Es war das instinktive Mißtrauen der Benachtei-ligten gegenüber den Privilegierten, und da es in-stinktiv war, reichte es tief. Vielleicht hatte Corbisdoch recht? Er kletterte zu ihr in den Einbauschrank.

    Sie klammerte sich in der Dunkelheit an ihn undwisperte: »Wir können hier warten, bis das Schiff leerist, und dann fliehen.«

    »Wohin? Istinogurzibeshilaha ist Hunderttausendevon Lichtjahren weit entfernt.«

    »Hier gibt es doch ein Stadtviertel, in dem unsereArtgenossen leben – Klein-Istino, nicht wahr? Falls esdieses Viertel wirklich gibt, finden wir dort vielleichtHilfe.«

    »Du bist verrückt, Corbis. Komm, wir gehen zurSchleuse. Wie kommst du plötzlich auf diese Ideen?Wir haben uns jahrelang danach gesehnt, auf Dans-son leben zu dürfen.«

    »Ich habe im Tiefschlaf geträumt, Warmblüter sei-en in unserer Kabine gewesen«, erklärte Corbis ihm.»Sie haben uns untersucht, Experimente mit uns an-gestellt und mir etwas Blut abgezapft. Ich habe ein

    kleines Pflaster am Handgelenk, das vorher nicht dawar. Hier!«

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    Er spürte die weichen Schuppen ihres Unterarmsan seinen Fingerspitzen. Das Pflaster war wirklich da,aber dieses Symbol medizinischer Fürsorge beruhigteSaton nur.

    »Du hast schlecht geträumt ... Schließlich leben wirnoch, nicht wahr?«

    Während er sprach, betrat jemand die Kabine. Sieerstarrten zur Bewegungslosigkeit und horchten an-

    gestrengt. Jemand blieb mitten in der Kabine stehen,murmelte etwas vor sich hin und ging wieder hinaus.Sie blieben lange nebeneinander liegen und hörten

    weit entfernte Durchsagen. Dann verstummte dieletzte Stimme, und das gigantische Raumschiff standendlich leer.

    Saton und Corbis bewegten sich langsam durch dieStraßen; dazu zwang sie ihre Vorsicht, aber auch dieTatsache, daß sie die Nachwirkungen des künstlichenWinterschlafs noch nicht völlig überwunden hatten.

    Es war verhältnismäßig leicht gewesen, dem Reini-gungspersonal in den Korridoren des Raumschiffsauszuweichen. Die Flucht aus dem weitläufigenRaumhafen war ebenfalls nicht schwierig gewesen.Aber nun standen sie in der Stadt selbst und wußtennicht, wohin sie sich wenden sollten.

    Zunächst hatten sie die Stadt gar nicht als solcheerkannt, denn im Vergleich zu ihrem Heimatplaneten

  • 8/18/2019 Aldiss, Brian W. - Der Sternenschwarm

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    waren die Gebäude phantastische Wolkenschlösser,die unmöglich bewohnt sein konnten. Für Saton undCorbis war alles schön – die hoch aufragenden Kon-struktionen, die kaum Ähnlichkeit mit Häusern aufIstinogurzibeshilaha besaßen, in Terrassen angelegteParks und herrliche Freigehege für wilde Tiere. DerGesamteindr