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BRIAN L. WEISS Die zahlreichen Leben er Seele Die Chronik einer Reinkarnationstherapie Vorwort von Raymond Moody GOLDMANN

Brian L. Weiss - Die zahlreichen Leben der Seele

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Der Psychiater Brian Weiss behandelte seine Patientin Catherine 18 Monate lang mit konventionellen therapeutischen Methoden, um ihr bei der Überwindung ihrer schweren Angstsymptome zu helfen. Als nichts zu funktionieren schien, versuchte er es mit Hypnose. In Trance erinnerte sich Catherine an frühere Leben, die sich als Ursache ihrer Symptome erwiesen, und sie wurde geheilt. Parallel zur erfolgreichen Behandlung seiner Patientin entwickelt sich Brian Weiss vom konventionellen Schulpsychiater zum Verfechter der Seelenwanderung.

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BRIAN L. WEISS

Die zahlreichen Leben

er Seele Die Chronik einer Reinkarnationstherapie

Vorwort von Raymond Moody

GOLDMANN

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Buch

Der Psychiater Brian Weiss war Chefarzt der psychiatrischen Abtei­lung eines grogen Krankenhauses in Miami. Eine seiner Patientinnen war Catherine. Sie litt unter schweren Angstsymptomen. 18 Monate lang behandelte er sie mit konventionellen therapeutischen Metho­den, doch nichts schien zu funktionieren. Schließlich versuchte er es mit Hypnose. In Trance erinnerte sich Catherine an frühere Leben, die sich als Ursache ihrer Symptome erwiesen, und sie wurde geheilt. Parallel zur erfolgreichen Behandlung seiner Patientin entwickelt sich Brian Weiss vom konventionellen Schulpsychiater zum Verfech­ter der Seelenwanderung. Ein bahnbrechendes Buch zum Thema

Reinkarnation.

Autor

Brian Weiss machte nach dem Studium der Psychologie und Medizin schnell Karriere als Leiter der psychologisch-pharmakologischen Abteilung der Universitätsklinik Miami. Bereits wenige Jahre später wurde er zum Chefarzt der psychiatrischen Abteilung eines grol~en Krankenhauses berufen. In seiner Praxis hatte er Hunderte von Patienten mit Psychopharmaka und konventionellen psychothera­peutischen Methoden behandelt, bis der >>Fall Catherine« sein Welt-

bild von Grund auf veränderte.

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Brian L. Weiss

Die zahlreichen Leben der Seele

Die Chronik einer Reinkarnationstherapie

Aus dem Englischen von Susanne Seiler

GOLDMANN

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Die arnerikanische Originalausgabe dieses Buches erschien 1988

unter dem Titel »Many Lives, Many Masters« bei Sirnon & Schuster,

lnc., New York, USA.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1994 im Goldmann Verlag

als Taschenbuch mit der Titelnummer 12220.

D FSC _...,.,

MIX Papier aus verwntwor­

tungavollen Quellen

FSC" C014498

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das FSC00-zertifizierte Papier München Super für dieses Buch

liefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.

6. Auflage Taschenbuch-Neuausgabe September 2005

© 1988 Brian L. Weiss © 1994 der deutschsprachigen Ausgabe

Arkana, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagmotiv: Design Team München Redaktion: Christine Schrödl

WL · Herstellung: CZ Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pögneck Printed in Germany

ISBN 978-3-442.-2.1751-9

www.goldmann-verlag.de

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Für Carole, meine Frau, deren Liebe mich länger nährt und unterstützt,

als ich mich erinnern kann.

Wir bleiben zusammen bis zum Ende der Zeit.

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Mein Dank und meine Liebe gehen an meine Kinder Jordan und Amy, die mir verziehen haben, dass ich ihnen so viel Zeit stahl, um dieses Buch zu schreiben. Dank auch an Nicole Paskow für die Transkription der Tonbänder der Therapiesitzungen. Julie Rubins Vorschläge nach der Lektüre des ersten Ent­wurfs dieses Buchs haben mir sehr geholfen. Ganz besonders danke ich Barbara Gess, meiner Lektorin bei Sirnon & Schuster, für ihre Kompetenz und für ihren Mut. Auch allen anderen, die dieses Buch möglich gemacht haben, bin ich herzlich verbunden.

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VoRWORT

Dr. med. Brian Weiss' Karriere weist ihn als einen jener Akademiker aus, der dem Neuen gegenüber stets Offenheit bewahrt hat und der bereit ist, ehrwürdige und fest ver­ankerte Lehren und Theorien in Frage zu stellen, wenn sie zu Zweifeln Anlass geben oder nicht länger stichhaltig erscheinen. Dr. Weiss hatte seine Kompetenz in der Psy­chiatrie längst durch seine ausgezeichneten Studien und wissenschaftlichen Veröffentlichungen bewiesen, als eine schicksalhafte Begegnung mit einer Patientin, die eine spontane »Rückführung« erlebte, als sie sich bei ihm in Therapie befand, ihn in eine völlig neue Richtung drängte: zum Studium von scheinbar »paranormalen« Erlebnissen normaler Personen.

Im Anschluss an die kartesianische Revolution haben wir im Westen uns an die Vorstellung gewöhnt, dass wir allein durch ichbewusstes, reflektives, analytisches Denken Wis­sen erlangen können. Dr. Weiss ist Teil einer wissenschaft­lichen Vorhut in aller Welt, die dabei ist, dieses überholte Muster aufzulösen, was unzähligen gesunden, verantwor­tungsbewussten Menschen, die erweiterte Bewusstseinszu­stände erfahren haben, erlauben wird, offen über ihre Erleb­nisse zu sprechen. Sie werden nicht mehr befürchten müssen, durch schlecht informierte Gegner, die solche Berichte alle­samt als Unsinn abtun, lächerlich gemaehr zu werden.

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Es ist nach wie vor meine persönliche Überzeugung, dass die wissenschaftliche Methode nicht dazu geeignet ist, die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode zu beweisen oder zu verwerfen. Allerdings glaube ich, dass unsere mo­derne Zivilisation durch Techniken wie die von Dr. Weiss beschriebenen mit der Zeit die Existenz eines Lebens nach dem Tode akzeptieren wird.

Viele Amerikaner haben den Fall der Berliner Mauer als spirituelles und als historisches Ereignis erlebt, so dass es mir ein besonderes Vergnügen ist, Dr. Weiss' Arbeit seinen deutschsprachigen Lesern vorstellen zu dürfen. Es scheint offensichtlich so zu sein, dass wir uns an einer kritischen Weggabelung der Weltgeschichte befinden. Ich bin immer mehr der Ansicht, dass die Welt die Entwicklung von si­cheren Techniken zur Bewusstseinserweiterung fördern muss, um einen Weg aus dem gegenwärtigen Sumpf der politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Schrecken und Bedrohungen zu finden. Nur mit Hilfe der Liebe für alle Menschen auf dieser Erde vermögen wir die Probleme zu lösen, mit denen unser Planet heute konfrontiert ist.

Vor dem Hintergrund dieser Hoffnung grüße ich mei­nen lieben Freund Brian Weiss. Ich bin sicher, dass seine Arbeit auch vielen Europäerinnen und Europäern Trost und Verständnis bringen kann.

Dr. med. Raymond A. Moody November 1992

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EINFÜHRUNG

Ich weiß, dass es für alles einen Grund gibt. Vielleicht ha­ben wir in dem Augenblick, wenn ein Ereignis auftritt, we­der die Einsicht noch die Voraussicht, die Ursache dafür zu verstehen, doch mit Zeit und Geduld wird sie ans Licht kommen.

So war es mit Catherine. Als ich sie 1980 zum ersten Mal traf, war sie siebenundzwanzig Jahre alt. Sie war in meine Praxis gekommen, weil sie wegen ihrer Angste, Panikanfälle und Phobien Hilfe suchte. Auch wenn diese Symptome sie schon seit ihrer Kindheit begleiteten, waren sie doch seit kurzem viel schlimmer geworden. Jeden Tag fühlte sie sich emotional mehr gelähmt und weniger in der Lage zu funktionieren. Verständlicherweise war sie völlig verängstigt und deprimiert.

Im Gegensatz zum Chaos, das in ihrem Leben zu jener Zeit herrschte, floss mein Leben glatt dahin. Ich führte eine gute, ausgeglichene Ehe, hatte zwei kleine Kinder, und beruflich kam ich voran.

Mein Leben schien von Anfang an immer in geraden Bahnen verlaufen zu sein. Ich war in einem liebevollen Zu­hause aufgewachsen. Das Universitätsstudium war mir leicht gefallen. Ich hatte mich in meinem dritten Jahr an der Universität entschieden, Psychiater zu werden.

1966 schloss ich mein Studium an der Columbia-Uni-

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versität in New York mit Auszeichnung ab, schrieb mich an der medizinischen Fakultät von Yale ein und machte 1970 meinen Doktor der Medizin. Nach einer Assistenzzeit am Bellevue Medical Center der Universität New York kehrte ich nach Yale zurück, um meine Fachausbildung als Psychiater abzuschließen. Danach nahm ich eine Stelle an der Universität Pittsburgh an. Zwei Jahre ging ich an die Universität in Miami, wo ich die psychopharmakologische Abteilung leitete. Ich erlangte dort nationale Anerkennung auf dem Gebiet der biologischen Psychiatrie und der Er­forschung des Drogenmissbrauchs. Nach vier Jahren wurde ich zum Lehrbeauftragten der Psychiatrie an der medizini­schen Fakultät befördert und zudem Chefarzt der Psychia­trieabteilung eines großen Krankenhauses in Miami, das unter der Obhut der Universität stand. Zu jener Zeit hatte ich auf meinem Fachgebiet bereits siebenunddreißig wis­senschaftliche Abhandlungen veröffentlicht.

Jahre des disziplinierten Lernens hatten meinen Ver­stand darauf ausgerichtet, als Wissenschaftler und Arzt im Rahmen der engen konservativen Leitlinien meines Berufs zu denken. Ich misstraute allem, das nicht durch traditio­nelle wissenschaftliche Methoden bewiesen werden konn­te. Ich kannte einige der parapsychologischen Studien, die an renommierten Universitäten im ganzen Land durchge­führt wurden, doch sie fesselten meine Aufmerksamkeit nicht. Es erschien mir alles zu weit hergeholt.

Dann begegnete ich Catherine. Achtzehn Monate lang setzte ich konventionelle therapeutische Methoden ein, um ihr bei der Überwindung ihrer Symptome zu helfen. Als nichts zu funktionieren schien, versuchte ich es mit Hyp-

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nose. In einer Reihe von Trancezuständen erinnerte sich Catherine an »frühere Leben«, die sich als die Ursachen ihrer Symptome erwiesen. Sie war außerdem in der Lage, als Medium für Informationen von hochentwickelten »Geistwesen« zu dienen, und dadurch offenbarte sie viele Geheimnisse über Leben und Tod. In nur wenigen Monaten verschwanden ihre Symptome. Sie hatte wieder Freude am Leben und war glücklicher und ausgeglichener als je zuvor.

Nichts in meiner Ausbildung hatte mich auf diesen Fall vorbereitet. Ich war völlig überrascht, als diese Ereignisse ihren Lauf nahmen.

Ich habe keine wissenschaftliche Erklärung für das, was geschehen ist. Es gibt viel zu viel im Bereich des mensch­lichen Bewusstseins, das sich unserem Verständnis ent­zieht. Vielleicht war Catherine unter Hypnose in der Lage, sich auf einen Teil ihres Unterbewussten zu konzentrieren, der tatsächliche Erinnerungen aus früheren Leben enthielt, oder vielleicht hatte sie das angezapft, was der Psycho­analytiker C. G. Jung das kollektive Unbewusste nannte, die Energiequelle, die uns umgibt und die Erinnerungen der gesamten menschlichen Rasse enthält.

Oie Wissenschaft hat begonnen, nach Antworten auf diese Fragen zu forschen. Wir können für unser Zusam­menleben viel profitieren von den Untersuchungen der Geheimnisse des Bewusstseins, der Seele, eines Lebens nach dem Tode und des Einflusses unserer Erfahrungen aus früheren Leben auf unser gegenwärtiges Verhalten. Natürlich sind die Verzweigungen dieses Themas endlos, besonders auf dem Gebiet der Medizin, der Psychiatrie, der Theologie und der Philosophie.

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Allerdings befindet sich die systematische wissenschaft­liche Erforschung dieser Gebiete noch in den Kinderschu­hen, und obwohl große Schritte unternommen werden, um dieses Wissen aufzudecken, ist es ein langwieriger Prozess, dem sowohl seitens der Wissenschaft als auch von der Öffentlichkeit viel Widerstand entgegengebracht wird.

Schon immer hat sich der Mensch Veränderungen und neuen Ideen widersetzt. Die Geschichte ist voller Beispiele für diesen Sachverhalt. Als Galilei die Jupitermonde ent­deckte, weigerten sich die Astronomen seiner Zeit, sie zu akzeptieren oder auch nur anzuschauen, weil die Existenz dieser Trabanten mit ihrer Weltsicht kollidierte. So ist es heute mit den Psychiatern und anderen Therapeuten, die sich weigern, die beachtlichen Beweise zu untersuchen und auszuwerten, die hinsichtlich des Weiterlebens nach dem körperlichen Tod und über Erinnerungen an frühere Leben zusammengetragen worden sind. Ihre Augen bleiben fest geschlossen.

Dieses Buch ist mein kleiner Beitrag zu den aktuellen Studien auf dem Gebiet der Parapsychologie und betrifft vor allem jenen Zweig, der sich mit unseren Erfahrungen vor der Geburt und nach dem Tod auseinander setzt. Jedes Wort, das Sie lesen werden, ist wahr. Ich habe nichts hinzugefügt und nur Wiederholungen gestrichen sowie Catherines persönliche Daten leicht verändert, um die Anonymität zu wahren.

Ich habe vier Jahre gebraucht, um über das zu schreiben, was passiert ist, vier Jahre, um den Mut aufzubringen und das berufliche Risiko auf mich zu nehmen, diese unortho­doxen Informationen zu veröffentlichen.

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Als ich eines Abends unter der Dusche stand, fühlte ich mich plötzlich gedrängt, meine Erfahrung zu Papier zu bringen. Ich hatte das starke Gefühl, die Zeit sei reif und ich solle diese Informationen nicht länger zurückhalten. Die Lektionen, die ich gelernt hatte, waren dazu da, mit anderen geteilt zu werden, und nicht, unter Verschluss zu bleiben. Das Wissen war durch Catherine hereingekom­men, jetzt musste es durch mich weitergehen. Ich wusste, dass keine mögliche Konsequenz meines Bekenntnisses so schrecklich sein könnte, als wenn ich das Wissen, das ich über die Unsterblichkeit und die wahre Bedeutung des Lebens erlangt hatte, nicht mit anderen teilen würde.

Ich eilte aus der Dusche und setzte mich an meinen Schreibtisch mit dem Stapel von Tonbändern, die ich während meiner Sitzungen mit Catherine aufgenommen hatte. In den frühen Morgenstunden dachte ich an meinen alten ungarischen Großvater, der in meiner Jugend gestor­ben war. Immer wenn ich ihm erzählte, ich hätte Angst, ein Risiko einzugehen, ermutigte er mich liebevoll und wie­derholte mit seinem komischen Akzent seinen Lieblings­spruch. »Zur Hölle damit«, sagte er, »zur Hölle damit!«

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Das erste Mal, als ich Catherine sah, trug sie ein feuerrotes Kleid und blätterte in meinem Wartezimmer nervös in einer Zeitschrift. Sie war sichtlich außer Atem. Die letzten zwanzig Minuten war sie draußen auf dem Gang der Psy­chiatrieabteilung auf und ab gelaufen und hatte versucht, sich zu überzeugen, dass es richtig sei, ihren Termin mit mir einzuhalten und nicht davonzulaufen.

Ich begab mich ins Wartezimmer, um sie zu begrüßen, und wir schüttelten uns die Hand. Mir fiel auf, dass die ihre kalt und feucht war, was ihre Angst dokumentierte. Sie hatte tatsächlich zwei Monate gebraucht, um ihren ganzen Mut zusammenzunehmen und einen Termin mit mir zu vereinbaren, obwohl zwei hausinterne Ärzte, denen sie vertraute, ihr dringend geraten hatten, meine Hilfe zu suchen. Endlich hatte sie es nun geschafft.

Catherine ist eine außergewöhnlich attraktive Frau mit mittellangem blondem Haar und hellbraunen Augen. Da­mals arbeitete sie als Laboramin im Krankenhaus, wo ich Chefpsychiater war, und sie verdiente sich noch etwas mit dem Vorführen von Bademoden dazu.

Ich führte sie in mein Büro, an der Couch vorbei zu einem großen LederfauteuiL Wir saßen einander gegen­über und hatten meinen halbrunden Schreibtisch zwischen uns. Catherine lehnte sich in ihren Sessel zurück und

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schwieg, weil sie nicht wusste, wie sie beginnen sollte. Ich wartete, weil ich sie einen Anfang finden lassen wollte, doch nach einigen Minuten begann ich sie nach ihrer Ver­gangenheit zu fragen. Bei diesem ersten Besuch fingen wir an, daran zu arbeiten, wer sie war und warum sie mich auf­gesucht hatte.

Als Antwort auf meine Fragen enthüllte Catherine ihre Lebensgeschichte. Sie war das mittlere Kind einer konser­vativen katholischen Familie und in einer kleinen Stadt in Massachusetts aufgewachsen. Ihr Bruder, der drei Jahre vor ihr auf die Welt gekommen war, war sehr sportlich und genoss Freiheiten, die ihr verwehrt blieben. Ihre jüngere Schwester war der Liebling der Eltern.

Als wir begannen, über ihre Symptome zu reden, wurde sie zusehends verkrampfter und nervöser. Sie sprach schnell, beugte sich vor und stützte ihre Ellbogen auf den Schreibtisch. Ihr Leben war schon immer von Angsten überschattet gewesen. Sie hatte Angst vor Wasser, fürchte­te sich so sehr zu ersticken, dass sie keine Pillen schlucken konnte, hatte Angst vorm Fliegen und vor der Dunkelheit und fürchtete sich schrecklich vor dem Tod. Zuletzt waren diese Angste immer schlimmer geworden. Um sich sicher zu fühlen, schlief sie häufig im begehbaren Schrank ihrer Wohnung. Jede Nacht brauchte sie zwei bis drei Stunden, bis sie einschlafen konnte, und es war ein leichter, unruhi­ger Schlaf, aus dem sie häufig aufschreckte. Die Albträume und das Schlafwandeln, die sie in ihrer Kindheit geplagt hatten, waren zurückgekehrt. Da ihre Angste und Symptome sie immer mehr lähmten, wurde sie ständig deprimierter.

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Als ich Catherine sprechen hörte, konnte ich spüren, wie sehr sie litt. Seit Jahren hatte ich vielen Patienten wie Catherine geholfen, ihre schlimmen Angste zu überwin­den, und ich war mir sicher, dass ich auch hier helfen konnte. Ich beschloss, dass wir damit anfangen würden, in ihre Kindheit einzutauchen, um nach den ursprünglichen Quellen für ihre Probleme zu suchen. Im Allgemeinen ist diese Art von Einsichten hilfreich, Angste zu beseitigen. Wenn nötig und wenn sie es schaffen würde, Pillen zu schlucken, würde ich ihr ein schwaches angsthemmendes Mittel geben, damit sie sich besser fühlte. Das war gemäß Lehrbuch die Standardbehandlung für Catherines Symp­tome, und ich habe nie gezögert, Beruhigungsmittel oder auch Stimmungsaufheller zu verschreiben, um chronische schwere Angstzustände und Furcht zu behandeln. Heute setze ich diese Mittel weitaus sparsamer ein und, wenn überhaupt, nur vorübergehend. Keine Medizin kann die wirklichen Wurzeln dieser Symptome erreichen. Meine Er­fahrungen mit Catherine und ähnlichen Patienten haben das bewiesen. Jetzt weiß ich, dass es möglich ist, wirklich zu heilen und nicht nur Symptome zu unterdrücken oder zu überlagern.

Während der ersten Sitzung versuchte ich immer wieder, Catherine auf sanfte Weise in ihre Kindheit zurückzufüh­ren. Weil sie sich an erstaunlich wenige Begebenheiten aus ihren frühen Jahren erinnerte, nahm ich mir vor, als mög­liche Abkürzung Hypnotherapie einzusetzen, um diese Ver­drängung zu überwinden. Sie konnte sich an keine spezifi­schen traumatischen Momente in ihrer Kindheit erinnern, welche die Flut von Angsten in ihrem Leben erklärt hätten.

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Als sie sich bemühte und ihr Gehirn anstrengte, um sich zu besinnen, tauchten isolierte Erinnerungsfragmente auf. Als sie etwa fünf Jahre alt war, war sie in Panik geraten, als jemand sie von einem Sprungbrett in ein Schwimmbecken gestoßen hatte. Sie meinte, dass sie sich jedoch auch be­reits vor diesem Ereignis im Wasser nie wohl gefühlt habe. Als Catherine elf war, begann ihre Mutter an schweren Depressionen zu leiden. Der krankhafte Rückzug ihrer Mutter von der Familie hatte einen Besuch beim Psychia­ter erforderlich gemacht, der sie in der Folge mit Elektro­schocks behandelte. Als Auswirkung davon fiel es der Mutter schwer, sich an Dinge zu erinnern. Diese Erfah­rung ängstigte Catherine. Doch als ihre Mutter sich erholte und wieder »sie selbst« wurde, hätten diese Angste sich verflüchtigt, berichtete Catherine. Ihr Vater hatte schon seit vielen Jahren Probleme mit dem Alkohol, und manch­mal musste Catherines Bruder ihn aus der nahen Kneipe holen. Der zunehmende Alkoholkonsum ihres Vaters führte häufig zu Streit, worauf ihre Mutter dann gereizt reagierte und sich zurückzog. Für Catherine war das jedoch das vertraute Familienleben.

Außer Hause standen die Dinge besser. Catherine ging in der High-School-Zeit mit Jungen aus und fand leicht Zugang zu ihren Freunden, von denen sie die meisten schon seit vielen Jahren kannte. Allerdings hatte sie Mühe, Menschen zu vertrauen, besonders wenn diese außerhalb ihres kleinen Freundeskreises standen.

Ihre Religion war einfach und unhinterfragt. Sie wurde entsprechend der traditionellen katholischen Lehre und Praxis erzogen und hatte nie an der Wahrhaftigkeit oder

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Gültigkeit ihres Glaubens gezweifelt. Sie glaubte, dass ein guter Katholik, der ein gerechtes Leben führt und sich an die Gebote hält, in den Himmel kommt. Wenn nicht, kam man ins Fegefeuer oder in die Hölle. Ein patriarchalischer Gott und sein Sohn trafen darüber die endgültige Ent­scheidung. Später erfuhr ich, dass Catherine nicht an die Wiedergeburt glaubte, auch wenn sie ein wenig über den Hinduismus gelesen hatte. Die Seelenwanderung war eine Idee, die ihrer Erziehung und ihrem Verständnis entgegen­lief. Sie hatte nie irgendwelche metaphysische oder okkulte Literatur gelesen, und sie interessierte sich nicht dafür. Sie fühlte sich in ihrem Glauben sehr sicher.

Nach der High-School machte Catherine eine zwei­jährige technische Ausbildung als Laborantin. Ausgerüstet mit einem Berufsabschluss und ermutigt durch den Umzug ihres Bruders nach Tampa, bewarb sich Catherine um einen Job an einem großen Lehrkrankenhaus in Miami, das an die medizinische Fakultät der Universität Miami angeschlossen war. Im Frühjahr 1974 zog sie im Alter von einundzwanzig Jahren nach Miami.

Das Kleinstadtleben war ihr leichter gefallen als ihr neues Leben in Miami, aber sie war glücklich, ihren Fami­lienproblemen entronnen zu sein.

Während ihres ersten Jahres in Miami lernte Catherine Stuart kennen, einen verheirateten Juden mit zwei Kin­dern, der völlig anders war als jeder andere Mann, mit dem sie je ausgegangen war. Er war ein erfolgreicher Arzt, stark und bestimmt. Eine unwiderstehliche Anziehungskraft herrschte zwischen ihnen, doch ihre Affäre war unstet und stürmisch. Etwas an ihm entfachte ihre Leidenschaft, als

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wäre sie von ihm verzaubert. Catherine begann eine The­rapie, als ihr Verhältnis mit Stuart bereits sechs Jahre dau­erte und immer noch sehr lebendig war, wenn es ihr auch nicht unbedingt gut dabei ging. Catherine konnte Stuart nicht widerstehen, auch wenn er sie schlecht behandelte. Sie war wütend wegen seiner Lügen, gebrochener Verspre­chen und Manipulationen.

Mehrere Monate vor ihrem Termin mit mir hatte sich Catherine wegen eines gutartigen Knötchens einer Stirnrn­bandoperation unterziehen müssen. Vor dem Eingriffhatte sie Angst gehabt, aber sie drehte völlig durch, als sie nach der Operation zu sich kam. Das Pflegepersonal brauchte Stunden, um sie zu beruhigen. Nach ihrer Genesung im Krankenhaus suchte sie Dr. Edward Poole auf. Ed war ein sympathischer Kinderarzt, den Catherine kennen gelernt hatte, als sie im Krankenhaus arbeitete. Sie verstanden sich auf Anhieb gut, und es entwickelte sich eine enge Freund­schaft zwischen ihnen. Catherine sprach offen mit Ed und berichtete ihm von ihren Angsten, ihrer Beziehung mit Stuart und dass sie das Gefühl habe, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Ed bestand darauf, dass sie einen Ter­min mit mir und nur mit mir ausmachte und nicht mit einem meiner Abteilungskollegen. Als Ed mich anrief, um mir von dieser Empfehlung zu berichten, erklärte er, dass er aus irgendeinem Grund das Gefühl habe, nur ich könne Catherine wirklich verstehen, auch wenn es andere Psy­chiater mit ausgezeichnetem Ruf gebe, die geschickte Therapeuten wären. Catherine rief mich aber nicht an.

Acht Wochen verstrichen. Im Trubel meiner lebhaften Praxis als Chefarzt der Psychiatrieabteilung hatte ich Eds

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Anruf vergessen. Catherines Ängste und Phobien wurden schlimmer. Dr. Frank Acker, der Chefchirurg, kannte Catherine schon seit Jahren und scherzte gerne mit ihr, wenn er das Labor aufsuchte, wo sie arbeitete. Ihm war aufgefallen, dass sie seit einiger Zeit unglücklich und ver­spannt aussah. Mehrere Male hatte er sie darauf anspre­chen wollen, aber stets gezögert. Eines Nachmittags fuhr Frank zu einem kleinen, entlegenen Krankenhaus, um einen Vortrag zu halten. Unterwegs sah er Catherine, die zu ihrer Wohnung fuhr, die in der Nähe des Krankenhau­ses lag. Impulsiv winkte er sie an den Straßenrand. ))Ich möchte, dass du Dr. Weiss jetzt aufsuchst«, schrie er durchs Fenster. ))Keine Verzögerungen.« Auch wenn Chirurgen für ihre Impulsivität bekannt sind, war Frank über sein Ver­halten selbst überrascht.

Catherines Panikanfälle und Angstzustände wurden häufiger und länger. Zwei Albträume kehrten immer wie­der. Im einen brach eine Brücke zusammen, während sie darüber hinwegfuhr. Ihr Auto fiel ins Wasser, sie war ge­fangen und am Ertrinken. Im zweiten Traum war sie in einem stockfinsteren Raum gefangen, stolperte und fiel über Hindernisse, ohne den Ausgang zu finden. Schließlich suchte sie mich auf.

Bei meiner ersten Sitzung mit Catherine hatte ich keine Ahnung, dass mein Leben bald auf den Kopf gestellt wür­de, dass die verängstigte, verwirrte Frau mir gegenüber als Auslöser dafür dienen sollte und dass für mich nichts so blieb, wie es war.

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Es folgten achtzehn Monate intensiver Therapie, wobei Catherine mich ein- oder zweimal pro Woche aufsuchte. Sie war eine gute Patientin: ausdrucksstark und einsichts­voll und sehr darauf bedacht, gesund zu werden.

Während dieser Zeit untersuchten wir ihre Gefühle, Ge­danken und Träume. Ihr Erkennen von wiederkehrenden Verhaltensmustern brachte ihr Einsicht und Verständnis. Sie erinnerte sich jetzt an viele wichtige Einzelheiten aus ihrer Vergangenheit wie die häufige Abwesenheit ihres Vaters, der in der Handelsmarine tätig war, und an seine gelegentlichen Wutausbrüche, wenn er zu viel getrunken hatte. Sie hatte größeren Einblick in ihre turbulente Bezie­hung mit Stuart und verlieh ihrer Wut angemessener Aus­druck. Ich erwartete, dass es ihr jetzt viel besser gehen müsste. Bei den meisten Patienten ist das nämlich der Fall, wenn sie sich an unangenehme Einflüsse ihrer Vergangen­heit erinnern und angemessene Verhaltensmuster erken­nen und korrigieren, weil sie ihre Probleme als Teil eines größeren Ganzen und mit mehr Abstand sehen lernen. Doch Catherine ging es nicht besser.

Angstzustände und Panikanfälle plagten sie nach wie vor. Ihre äußerst lebhaften Albträume hielten an, und sie hatte immer noch schreckliche Angst im I )unklcn, vor Wasser und vor dem Eingeschlossensein. Ihr Schlaf war so

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unruhig und unerquickend wie eh und je. Sie litt noch unter Herzklopfen, und immer noch weigerte sie sich, Medikamente einzunehmen, weil sie Angst hatte, an den Pillen zu ersticken. Ich hatte das Gefühl, auf eine Mauer gestoßen zu sein. Gleich, was ich tat, diese Mauer blieb so hoch, dass keiner von uns beiden über sie hinwegsteigen konnte, doch gesellte sich zu meiner Frustration ein Ge­fühl der Entschlossenheit. Auf irgendeine Weise würde ich Catherine helfen.

Da geschah etwas Merkwürdiges. Auch wenn sie schreckliche Angst vor dem Fliegen hatte und sich mit meh­reren Drinks stärken musste, sobald sie im Flugzeug saß, begleitete Catherine Stuart im Frühjahr 1982 zu einem medizinischen Kongress nach Chicago. Während ihres Auf­enthaltes drängte sie ihn, die ägyptische Ausstellung im Kunstmuseum zu besuchen, wo sie sich einer Führung an­schlossen.

Catherine hatte sich zwar immer schon für alte ägypti­sche Kunstgegenstände und Reproduktionen von Relikten aus dieser Zeit interessiert, aber sie hatte diese Periode der Geschichte nie intensiv studiert. Doch irgendwie kamen ihr damals die Stücke bekannt vor.

Als der Führer begann, Erläuterungen zu einigen der Kunstgegenstände der Ausstellung zu geben, korrigierte sie ihn spontan - und hatte Recht! Der Führer war überrascht und Catherine wie vor den Kopf geschlagen. Woher wusste sie diese Dinge? Woher war sie sich so sicher, dass sie den Führer in aller Öffentlichkeit verbesserte? Vielleicht waren es vergessene Erinnerungen aus ihrer Kindheit.

Bei unserer nächsten Sitzung erzählte sie mir von dem

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Erlebnis. Monate zuvor hatte ich Catherine den Einsatz von Hypnose vorgeschlagen, aber weil sie Angst hatte, lehnte sie ab. Auf Grund ihrer Erfahrung in der ägypti­schen Ausstellung erklärte sie sich jetzt jedoch widerwillig damit einverstanden.

Die Hypnose ist ein ausgezeichnetes Werkzeug, um einem Patienten dabei zu helfen, sich an längst vergessene Ereignisse zu erinnern. Es ist nichts Geheimnisvolles da­ran. Die Hypnose entspricht lediglich einem Zustand kon­zentrierter Aufmerksamkeit. Unter den Anweisungen eines ausgebildeten Hypnotiseurs entspannt sich der Körper des Patienten, was dazu führt, dass das Erinnerungsvermögen sich erweitert. Ich hatte schon Hunderte von Patienten hypnotisiert, und für mich hatte sich die Hypnose als nütz­lich erwiesen, Ängste zu mindern, Phobien zu beheben, schlechte Gewohnheiten zu verändern und beim Erinnern von verdrängtem Material zu helfen. Gelegentlich hatte ich Patienten erfolgreich in ihre Kindheit zurückversetzt, sogar bis ins Alter von zwei oder drei Jahren, und hatte so längst vergessene Traumata aufgedeckt, die ihr Leben beeinträch­tigten. Ich war überzeugt, dass eine Hypnose Catherine helfen würde.

Ich wies sie an, sich mit leicht geschlossenen Augen auf die Couch zu legen, den Kopf auf ein kleines Kissen ge­bettet. Zunächst konzentrierten wir uns auf ihre Atmung. Bei jedem Ausatmen ließ sie angestaute Spannungen und Ängste los, mit jedem Einatmen entspannte sie sich noch mehr. Nach mehreren Minuten dieses Atmens bat ich sie, sich vorzustellen, wie ihre Muskeln sich mehr und mehr entspannten, angefangen beim Gesicht und dem Kiefer.

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Dann sollten sich ihr Hals und ihre Schultern, ihre Arme, ihr Rücken und Magen und schließlich ihre Beine ent­spannen. Sie spürte, wie ihr ganzer Körper tiefer und tiefer in die Couch sank.

Dann wies ich sie an, sich ein hell~s weißes Licht oben in ihrem Kopf vorzustellen. Dann ließ ich sie dieses Licht langsam in ihrem ganzen Körper ausbreiten, bis jeder Mus­kel, jeder Nerv und jedes Organ entspannt waren und sie in einen immer tieferen Zustand der Entspannung und des Friedens versank. Sie fühlte sich schläfriger und schläfriger, ruhiger und ruhiger, bis auf meine Anweisungen hin das Licht ihren Körper nicht nur füllte, sondern ihn auch ganz einhüllte.

Langsam zählte ich von zehn bis eins zurück. Mit jeder Zahl tauchte sie in einen tieferen Entspannungszustand ein. Ihre Trance vertiefte sich. Es gelang ihr, sich auf meine Stimme zu konzentrieren und alle Außengeräusche auszu­blenden. Als ich bei eins angekommen war, befand sie sich bereits in einer mittleren Trance. Der ganze Prozess hatte etwa zwanzig Minuten erfordert.

Nach einer Weile begann ich mit der Rückführung, in­dem ich sie bat, sich an immer frühere Begebenheiten aus ihrer Kindheit zu erinnern. Sie konnte sprechen und meine Fragen beantworten, während sie in tiefer Hypnose ver­weilte. Sie entsann sich an eine traumatische Erfahrung beim Zahnarzt, als sie sechs Jahre alt gewesen war. Lebhaft erinnerte sie sich an ein beängstigendes Erlebnis im Alter von fünf Jahren, als sie von einem Sprungbrett in ein Schwimmbecken gestoßen worden war. Damals hatte sie gewürgt und war halb erstickt, weil sie Wasser geschluckt

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hatte, und während sie davon sprach, begann sie tatsäch­lich zu würgen. Ich gab ihr zu verstehen, dass das Ereignis vorbei sei und sie nicht länger im Wasser wäre. Sie hörte mit dem Würgen auf und atmete wieder normal. Sie be­fand sich immer noch in tiefer Trance.

Als sie drei war, hatte sie das schlimmste Erlebnis. Sie erinnerte sich, dass sie im Dunkeln aufgewacht war und gemerkt hatte, dass ihr Vater im Zimmer war. Er roch nach Alkohol, und den konnte sie auch jetzt riechen. Er berühr­te sie und streichelte sie, sogar »dort unten«. Sie hatte schreckliche Angst und begann zu weinen, also hielt ihr Vater ihren Mund mit seiner rauen Hand zu. Sie kriegte keine Luft mehr! In meiner Praxis, auf meiner Couch, be­gann Catherine fünfundzwanzig Jahre später zu schluchzen. Mir war, als hätten wir jetzt die gesuchte Information, den Schlüssel zum Schloss, und ich war überzeugt, dass ihre Symptome jetzt schnell und drastisch nachlassen würden. Sanft gab ich ihr zu verstehen, dass das Erlebnis vorbei war und dass sie nicht länger in ihrem Bettehen lag, sondern sich, immer noch in Trance, ausruhte. Das Schluchzen ließ nach. Ich führte sie vorwärts in der Zeit bis zu ihrem ge­genwärtigen Alter und weckte sie auf, nachdem ich sie durch eine posthypnotische Suggestion angewiesen hatte, sich an alles zu erinnern, was sie mir erzählt hatte. Wir ver­brachten den Rest der Sitzung damit, ihre plötzlich so leb­hafte Erinnerung des Traumas mit ihrem Vater zu bespre­chen. Ich versuchte ihr zu helfen, ihr »neues« Wissen zu akzeptieren und zu integrieren. Jetzt verstand sie ihre Be­ziehung zu ihrem Vater, seine Reaktion auf sie, seine Dis­tanz und ihre Angst vor ihm. Sie zitterte immer noch, als

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sie mein Büro verließ, aber ich wusste, dass das Verständ­nis, das sie erlangt hatte, den vorübergehenden Schmerz wert war.

Wegen des Dramas der Entdeckung ihrer schmerzlichen und tief verdrängten Erinnerungen hatte ich völlig verges­sen, nach einer möglichen Verbindung zu ihrem Wissen über die ägyptischen Kunstgegenstände zu fragen. Immer­hin wusste sie nun mehr über ihre Vergangenheit. Sie hatte sich an mehrere beängstigende Vorfälle erinnert, und ich erwartete eine beachtliche Besserung ihrer Symptome.

Trotz dieser neuen Einsichten berichtete sie in der fol­genden Woche, dass ihre Symptome die alten seien und sie so schlimm wie eh und je quälten. Ich konnte nicht verste­hen, was schief gelaufen war. Könnte etwas noch vor dem Alter von drei Jahren geschehen sein? Wir hatten mehr als hinreichende Gründe entdeckt, um ihre Angst vor dem Er­sticken, vor Wasser, vor dem Dunkel und vor geschlosse­nen Räumen zu erklären, und dennoch ließen die heftigen Angste und die unkoutrollierte Furcht sie nicht los. Ihre Albträume waren so beängstigend wie zuvor. Ich beschloss, sie weiter zurückzuführen.

Unter Hypnose sprach Catherine mit einer langsamen und betonten Flüsterstimme. Deswegen war es mir mög­lich, wörtlich aufzuschreiben, was sie sagte, und ich zitiere sie hier direkt. (Die Pünktchen stellen Sprechpausen dar, keine Auslassung von Worten oder Streichungen meiner­seits. Wiederholungen habe ich jedoch fortgelassen.)

Langsam führte ich Catherine zurück bis zum Alter von zwei Jahren, aber es kamen keine wichtigen Erinnerungen hoch. Laut und deutlich schlug ich vor: »Gehen Sie zurück

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zu der Zeit, aus der Ihre Symptome stammen.« Und ich war völlig unvorbereitet auf das, was als Nächstes kam.

»Ich sehe weiße Stufen, die zu einem Gebäude führen, einem großen weißen Gebäude mit Säulen, vorne offen. Es gibt keine Türen. Ich trage ein langes Kleid ... , einen Sack aus grobem Material. Ich habe langes blondes Haar, das zu einem Zopf geflochten ist.«

Ich war verwirrt und unsicher, was vorging. Ich fragte sie, welches Jahr wir schrieben und wie sie heiße. »Aronda ... Ich bin achtzehn. Ich sehe einen Marktplatz vor dem Gebäude. Es gibt Körbe dort ... Sie tragen die Körbe auf ihren Schultern. Wir leben in einem Tal ... Es gibt kein Wasser. Es ist 1863 vor Christi Geburt. Die Gegend ist un­fruchtbar, heiß und sandig. Es gibt einen Brunnen, keine Flüsse. Wasser kommt ins Tal von den Bergen.«

Als sie weitere topographische Einzelheiten berichtet hatte, bat ich sie, mehrere Jahre in der Zeit voranzuschrei­ten und mir zu sagen, was sie sah.

»Ich sehe Bäume und eine gepflasterte Straße. Ich sehe ein Feuer mit Essen darauf. Mein Haar ist blond. Ich trage ein langes, grobes braunes Kleid und Sandalen. Ich bin fünfundzwanzig. Ich habe eine Tochter, deren Name Claestra ist ... Es ist Rachel. [Rachel ist in ihrem jetzigen Leben ihre Nichte; die beiden haben sich immer außer­ordentlich gut verstanden.] Es ist sehr heiß.«

Ich war überrascht. Mein Magen zog sich zusammen. Mir war kalt. Ihre Visionen und Erinnerungen schienen so eindeutig zu sein. Sie war kein bisschen unsicher. Namen, Daten, Kleider, Bäume - alles wurde so lebhaft geschil­dert. Was ging vor? Wie konnte ein Kind, das sie damals

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hatte, heute ihre Nichte sein? Meine Verwirrung nahm zu. Ich hatte Tausende von Psychiatriepatienten untersucht, davon viele unter Hypnose, und nie zuvor waren mir Fan­tasien begegnet wie diese - nicht einmal in Träumen. Ich hieß sie, vorwärtszugehen bis zur Zeit ihres Todes. Ich war mir nicht sicher, wie ich jemanden befragen sollte, der sich inmitten einer solch starken Fantasie (oder Erinnerung?) befand, aber ich war auf der Suche nach traumatischen Er­fahrungen, die gegenwärtigen Angsten oder Symptomen zugrunde lagen. Die Ereignisse rund um den Todesaugen­blick könnten sich als besonders traumatisch erweisen. Offenbar hatte eine Überschwemmung oder Sturmflut das Dorf zerstört.

))Große Wellen werfen Bäume um. Es gibt keinen Ort, wo man hinrennen könnte. Es ist kalt, das Wasser ist kalt. Ich muss mein Baby retten, aber ich kann es nicht ... , muss sie einfach festhalten. Ich ertrinke, das Wasser erstickt mich. Ich kann nicht atmen, nicht schlucken ... Salzwasser. Mein Kind wird mir aus den Armen gerissen.« Plötzlich entspannte sich ihr Körper vollkommen, und ihr Atem ging leicht und gleichmäßig.

))Ich sehe Wolken ... Mein Baby ist bei mir. Und andere aus meinem Dorf. Ich sehe meinen Bruder.«

Sie ruhte sich aus; dieses Leben war zu Ende. Sie war immer noch in tiefer Trance. Ich war völlig vor den Kopf gestoßen! Frühere Leben? Wiedergeburten? Mein ärzt­licher Verstand sagte mir, dass sie nicht bloß fantasierte und dieses Material nicht einfach erfand. Ihre Gedanken, ihr Ausdruck, die Hervorhebung besonderer Einzelheiten - alles hob sich von ihrem Wachzustand ab. Die ganze

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Palette psychiatrischer Diagnosen ging mir durch den Kopf, doch ihr psychischer Zustand und ihre Charakter­struktur erklärten diese Enthüllungen keineswegs. Schizo­phrenie? Nein, sie hatte nie Anzeichen eines kognitiven oder mentalen Fehlverhaltens gezeigt. Sie hatte im Wach­zustand nie auditive Halluzinationen oder Visionen oder irgendeine andere Art von psychotischen Schüben gehabt. Sie war weder verwirrt, noch hatte sie den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Sie hatte keine multiple oder ge­spaltene Persönlichkeit. Es gab nur eine wahre Catherine, und ihr bewusster Verstand war sich dessen völlig gewahr. Sie hatte keine soziapathischen oder asozialen Neigungen. Sie war keine Schauspielerin. Sie nahm weder Drogen noch Halluzinogene. Ihr Alkoholkonsum war minimal. Sie hatte keine neurologischen oder psychischen Krankheiten, die ihre lebhaften und unmittelbaren Hypnoseerlebnisse hätten erklären können.

Es waren eindeutig Erinnerungen, doch woher kamen sie? Mein Bauch sagte mir, dass ich auf etwas gestoßen war, von dem ich nur wenig wusste: Seelenwanderung und Erinnerungen aus früheren Leben. Gleichzeitig sagte ich mir, dass das unmöglich sei; mein wissenschaftlich aus­gebildeter Verstand widersetzte sich. Doch es war wirklich und geschah hier vor meinen Augen. Ich konnte es nicht erklären, aber das Geschehen auch nicht leugnen.

»Machen Sie weiter«, sagte ich, etwas entnervt, doch fasziniert von dem, was vor sich ging. »Können Sie sich noch an etwas anderes erinnern?« Sie besann sich auf Frag­mente aus zwei weiteren Leben.

»Ich trage ein Kleid mit schwarzen Spitzen und schwarze

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Spitzen auf dem Kopf. Ich habe graumeliertes, dunkles Haar. Es ist im Jahr 1756. Ich bin Spanierin. Mein Name ist Louisa, und ich bin fünfundsechzig Jahre alt. Ich tanze, andere tanzen auch. Lange Pause. Ich bin krank. Ich habe Fieber und kalte Schweißausbrüche ... Viele Leute sind krank, sie sterben. Die Arzte wissen nicht, dass es vorn Wasser kommt.« Ich führte sie etwas in der Zeit voraus. »Ich erhole mich, aber mein Kopf tut immer noch weh; meine Augen und mein Kopf schmerzen immer noch vorn Fieber, vorn Wasser ... Viele sterben.«

Später erzählte sie mir, sie sei in jenem Leben eine Pros­tituierte gewesen, doch hätte sie mir das nicht sofort mit­geteilt, weil sie sich deswegen schämte. Scheinbar konnte Catherine unter Hypnose gewisse Erinnerungen zensieren, ehe sie sie mir mitteilte.

Da Catherine in einem früheren Leben ihre Nichte wieder erkannt hatte, fragte ich sie impulsiv, ob auch ich in irgendeinem Leben gegenwärtig sei. Ich war neugierig zu erfahren, ob ich in ihren Erinnerungen eine Rolle spielte. Sie antwortete schnell im Vergleich zu den vorhe­rigen, sehr langsam und betont vorgebrachten Erinne­rungen.

»Sie sind mein Lehrer und sitzen auf einem Mauer­vorsprung. Sie lehren uns aus Büchern. Sie sind alt und haben graues Haar. Sie tragen ein weißes Kleid [Toga] mit einer goldenen Borte ... Ihr Name ist Diogenes. Sie lehren uns Symbole, Dreiecke. Wir schreiben 1568 vor Christus.« (Das war ungefähr zwölfhundert Jahre, ehe der berühmte griechische Philosoph Diogenes lebte. Der Name war ziemlich verbreitet.)

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Die erste Sitzung war zu Ende. Es sollten noch viel er­staunlichere folgen.

Als Catherine gegangen war und während der nächsten Tage dachte ich über die Einzelheiten der Rückführung unter Hypnose nach. Sogar von einer »normalen« Thera­piestunde entgingen meiner strengen geistigen Analyse nur sehr wenige Details, und diese Sitzung war kaum »normal« gewesen. Zudem war ich sehr skeptisch, was das Leben nach dem Tod, die Wiedergeburt, außerkörperliche Erfah­rungen und verwandte Phänomene anbelangte. Meine logische Seite gab zu bedenken, sie könnte sich das alles nur eingebildet haben. Ich würde kaum je in der Lage sein, ihre Behauptungen oder Visionen nachzuprüfen. Doch ich war mir ebenfalls eines weiteren und weit weniger emotio­nalen Gedankens bewusst, wenn auch viel dunkler. »Im­mer schön offen bleiben«, flüsterte diese Stimme. »Wahre Wissenschaft beginnt mit der Beobachtung.« Ihre »Erin­nerungen« konnten auch nicht ihrer Fantasie oder Einbil­dung entsprungen sein. Vielleicht war da mehr, als das Auge - oder irgendein anderer Sinn - wahrnehmen konnte.

»Bleibe offen und verschaffe dir zusätzliches Material«, sagte ich mir.

Noch ein weiterer Gedanke beschäftigte mich: Würde Catherine, die sich schnell fürchtete und sich sowieso schon allerlei Angstzuständen ausgesetzt sah, nicht zu ver­ängstigt sein, um sich nochmals einer Hypnose zu unter­ziehen? Ich beschloss, sie nicht anzurufen und sie das Er­lebnis ebenfalls verdauen zu lassen. Ich würde bis zur nächsten Woche warten.

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Eine Woche später kam Catherine voller Schwung zu ihrer nächsten Hypnosesitzung in meine Praxis. Sie war von Natur aus schön, doch sie sah besser aus denn je zuvor. Sie verkündete glücklich, dass ihre lebenslange Angst vor dem Ertrinken verschwunden sei. Ihre Angst zu ersticken hatte etwas nachgelassen. Ihr Schlaf wurde nicht länger unter­brochen durch den Albtraum einer einstürzenden Brücke. Auch wenn sie sich an die Einzelheiten ihrer Rückführung erinnerte, hatte sie dieses Material aber noch nicht wirklich integriert.

Die Konzepte der Seelenwanderung und der Wieder­geburt schienen ihrem Weltbild fremd zu sein. Doch ihre Erinnerungen waren so lebendig, das Geschaute, Gehörte und Gerochene so klar, und das Wissen, dort gewesen zu sein, war so heftig und unmittelbar, dass sie das Gefühl hatte, das alles müsse einfach stattgefunden haben. Sie zweifelte nicht daran: Die Erfahrung war so überwältigend gewesen. Dennoch fragte sie sich bang, wie das alles zu ihrer Erziehung und ihrem Glauben passte.

Während der vergangenen Woche hatte ich mein Text­buch eines Kurses in vergleichender Religionswissenschaft durchgesehen, den ich im ersten Jahr an der Columbia­Universität belegt hatte. Es gab tatsächlich Hinweise auf die Wiedergeburt im Alten und im Neuen Testament. Im

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Jahr 325 nach Christus hatte der römische Kaiser Kons­tantinder Große zusammen mit seiner Mutter Helena alle

Anspielungen auf die Reinkarnation im Neuen Testament

gestrichen. Beim Zweiten Konzil von Konstantinopel, das

553 stattfand, wurde dieses Vorgehen abgesegnet und der Begriff der Seelenwanderung zur Häresie erklärt. Schein­

bar dachte man, dieser Gedanke würde die wachsende

Macht der Kirche schwächen, da er dem Menschen zu viel

Zeit gab, sein Heil zu suchen. Doch die ursprünglichen

Erwähnungen hatte es gegeben; die älteren Kirchenväter

hatten das Konzept der Wiedergeburt akzeptiert. Frühe Gnostiker wie Klemens von Alexandria, Origenes, der hei­

lige Hieronymus und viele andere hatten geglaubt, dass sie

schon einmal gelebt hätten und wieder geboren werden

würden.

Ich hingegen hatte noch nie an die Wiedergeburt ge­

glaubt. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir kaum je Gedan­

ken darüber gemacht. Auch wenn meine frühe religiöse Er­

ziehung von einer nebulösen Existenz der »Seele« nach

dem Tode sprach, war ich nicht davon überzeugt.

Ich war das älteste von vier Kindern, die jeweils im Ab­

stand von drei Jahren zur Welt kamen. Wir gehörten einer

konservativen jüdischen Synagoge in Red Bank an, einer

kleinen Stadt unweit der Küste New Jerseys. Ich war der

Schlichter und Diplomat der Familie. Mein Vater machte

sich mehr aus Religion als der Rest der Familie. Wie alles

andere nahm er auch seinen Glauben sehr ernst. Die aka­

demischen Erfolge seiner Kinder waren das größte Glück

seines Lebens. Er geriet leicht aus der Fassung, wenn zu

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Hause nicht alles friedlich verlief, zog sich dann zurück und überließ mir die Vermittlung. Auch wenn sich das als ausgezeichnete Vorbereitung für eine psychiatrische Kar­riere erwies, war meine Kindheit schwerer und verantwor­tungsbeladener, als ich es mir rückblickend gewünscht hät­te. Ich ging als sehr ernsthafter junger Mann daraus hervor, jemand, der sich früh daran gewöhnt haue, zu viel Verant­wortung zu übernehmen.

Meine Mutter brachte stets ihre Liebe zum Ausdruck. Es gab nichts, das sie hätte bremsen können. Sie war ein ein­facherer Mensch als mein Vater und setzte Schuld, Mär­tyrertum, Schamgefühle und eine lebhafte Identifikation mit ihren Kindern als manipulative Werkzeuge ein, ohne sich etwas dabei zu denken. Sie war selten bedrückt, und wir konnten immer mit ihrer Liebe und Unterstützung rechnen.

Mein Vater hatte eine gute Anstellung als Industriefoto­graf, doch auch wenn wir mehr als genug zu essen hatten, war das Geld immer knapp. Mein jüngster Bruder, Peter, wurde geboren, als ich neun Jahre alt war. Jetzt mussten sechs Leute in einer kleinen Dreizimmerwohnung mit Garten Platz finden.

Das Leben in dieser kleinen Wohnung war hektisch und laut, so dass ich bei meinen Büchern Zuflucht suchte. Ich las viel, wenn ich nicht Baseball oder Basketball spielte, zwei weitere Leidenschaften meiner Kindheit. Mir war be­wusst, dass ein Studium mich aus der Kleinstadt erlösen würde, so bequem es dort war, deshalb war ich immer Klassenbester oder -zweiter.

Als ich ein volles Stipendium für die Columbia-Univer-

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sität erhielt, war ich ein ernsthafter und gelehriger junger Mann. Der akademische Erfolg fiel mir nach wie vor leicht. Ich wählte Chemie als Hauptfach und bestand mein Exa­men mit Erfolg. Ich beschloss, Psychiater zu werden, weil dieses Gebiet sowohl mein wissenschaftliches Interesse als auch meine Faszination für die Funktionen des mensch­lichen Gehirns berührte. Außerdem würde eine medizini­sche Laufbahn mir erlauben, meiner Sorge und meinem Mitgefühl für meine Mitmenschen Ausdruck zu verleihen. Inzwischen hatte ich in den Semesterferien in einem Hotel in den Catskill-Bergen, wo ich als Hausboy arbeitete und sie Gast war, Carole kennen gelernt. Wir fühlten uns sofort zueinander hingezogen und hatten ein starkes Gefühl von Verwandtschaft und Vertrautheit. Wir korrespondierten, verliebten uns und waren verlobt, ehe mein erstes Jahr in Columbia zu Ende ging. Sie war sowohl klug als auch schön. Alles schien sich optimal zu entwickeln. Wenige junge Männer machen sich Gedanken über den Tod und das Leben danach, vor allem, wenn die Dinge reibungslos laufen. Ich war keine Ausnahme. Ich war dabei, Wissen­schaftler zu werden und zu lernen, auf logische, leiden­schaftslose, rationale Art zu denken.

Mein Studium an der medizinischen Fakultät und mei­ne Fachausbildung an der Universität Yale verstärkten diese wissenschaftliche Art zu denken noch mehr. Meine Diplomarbeit befasste sich mit Gehirnchemie und der Rol­le von Neurotransmittern, den chemischen Botenstoffen im Gehirn.

Ich schloss mich der neuen Schule der biologisch orien­tierten Psychiatrie an, wo traditionelle psychiatrische

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Theorien und Techniken eine Ehe mit der neuen Wissen­schaft der Gehirnchemie eingingen. Ich schrieb viele wis­senschaftliche Arbeiten, hielt Vorträge bei Konferenzen und wurde ein ziemliches Ass auf meinem Gebiet. Ich war von meiner Arbeit fast besessen und unflexibel, aber das waren nützliche Eigenschaften für einen Arzt. Ich fühlte mich absolut in der Lage, jeden Menschen zu behandeln, der für eine Therapie in meine Praxis kam.

Dann wurde aus Catherine plötzlich Aronda, ein junges Mädchen, das 1863 vor Christi Geburt gelebt hatte. Oder war es umgekehrt?

Und da kam sie wieder zur Praxistür herein, glücklicher, als ich sie je gesehen hatte. Erneut machte ich mir Sorgen, Catherine würde sich vielleicht vor einer Fortführung der Sitzungen fürchten, doch sie bereitete sich begierig auf die Hypnose vor und war schnell eingetaucht:

»Ich werfe Blumenkränze aufs Wasser. Es ist eine Zere­monie. Ich habe blonde Zöpfe und trage ein braunes Kleid mit Gold und dazu Sandalen. Jemand ist gestorben, jemand im Königshaus ... die Mutter. Ich bin eine Dienerin im Königshaus, ich helfe mit dem Essen. Wir legen die Körper der Toten dreißig Tage lang in Salzwasser. Sie trocknen aus, und die Organe werden herausgenommen. Ich rieche sie, ich rieche diese Körper.«

Sie war spontan in ihr Leben als Aronda zurückgekehrt, doch zu einem anderen Zeitpunkt, als es ihre Aufgabe war, die Körper der Verstorbenen für ihre letzte Reise vorzu­bereiten.

»In einem anderen Gebäude«, fuhr Catherine fort, »kann ich die Leichen sehen. Wir wickeln sie ein. Die Seele geht

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weiter. Du nimmst deine Besitztümer mit dir, um für das nächste, größere Leben vorbereitet zu sein.« Sie vertrat scheinbar eine ägyptische Auffassung des Lebens und des Jenseits, die sich sehr stark von unserem Glauben abhebt. In dieser Religion konnte man alles mitnehmen.

Sie verließ dieses Leben, ruhte sich aus und wartete mehrere Minuten, bis sie offenbar in eine uralte Zeit ein­ging.

))Ich sehe Eis, das in einer Höhle hängt ... Steine ... « Vage beschrieb sie einen dunklen und schrecklichen Ort. Ihr war jetzt sichtlich unwohl. Später beschrieb sie, was sie von sich selbst wahrgenommen hatte: ))Ich war hässlich, schmutzig und stank.« Sie machte sich auf die Suche nach einem anderen Leben.

))Ich sehe mehrere Gebäude und einen Wagen mit stei­nernen Rädern. Meine Hand ist braun und von einem Tuch bedeckt. Im Wagen ist Stroh. Ich bin glücklich. Mein Vater ist bei mir ... Er umarmt mich ... Es ist ... , es ist Ed­ward [der Kinderarzt, der darauf bestand, dass sie mich aufsuchte]. Er ist mein Vater. Wir leben in einem Tal mit Bäumen. Im Hof sind Oliven- und Feigenbäume. Die Leu­te schreiben auf Papier. Es stehen komische Zeichen da­rauf, wie Buchstaben. Manche Leute schreiben den ganzen Tag und stellen eine Bibliothek her. Es ist 1536 vor Chris­tus. Das Land ist unfruchtbar. Mein Vater heißt Perseus.«

Das Jahr stimmte nicht überein, aber ich war überzeugt, dass sie sich in demselben Leben befand wie anlässlich der Sitzung in der vorangegangenen Woche. Ich führte sie zeit­lich voraus, blieb aber im selben Leben.

))Mein Vater kennt Sie. [Sie meinte mich.l Sie und er

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sprechen von Ernten, Gesetzen und Regierungsgeschäften. Er sagt, Sie seien sehr klug, und ich solle auf Sie hören.« Ich führte sie weiter in der Zeit. »Er [Vater] liegt in einem dunklen Zimmer. Er ist alt und krank. Es ist kalt ... Ich füh­le mich so leer.« Sie reiste in der Zeit voraus bis zu ihrem eigenen Tod. »Jetzt bin ich alt und schwach. Meine Toch­ter ist da, neben meinem Bett. Mein Mann ist bereits ge­storben. Der Mann meiner Tochter und ihre Kinder sind auch da. Es sind viele Leute anwesend.«

Dieses Mal starb sie einen friedlichen Tod. Sie schwebte dahin. Schweben? Das erinnerte mich an Dr. Raymond Moodys Studien von Menschen mit Nahtoderlebnissen. Seine Versuchspersonen waren geschwebt und dann in ihren Körper zurückgezogen worden. Ich hatte dieses Buch einige Jahre zuvor gelesen und nahm mir vor, diese Lektüre zu wiederholen. Ich fragte, ob Catherine nach diesem Tod noch mehr sehen könne, aber sie sagte nur: »Ich schwebe einfach.« Ich weckte sie auf und beendete die Sitzung.

Mit einem neuen, unersättlichen Hunger nach wissen­schaftlichen Abhandlungen zum Thema Wiedergeburt machte ich mich in verschiedenen Bibliotheken auf die Suche. Ich studierte die Arbeiten von Dr. lan Stevenson, einem angesehenen Professor für Psychiatrie an der Uni­versität Virginia, der auf seinem Fachgebiet sehr viel ver­öffentlicht hat. Dr. Stevenson sammelte über zweitausend Fälle von Kindern mit wiedergeburtähnlichen Erinnerun­gen und Erfahrungen. Viele von ihnen neigten zur Xeno­glossie, der Fähigkeit, eine fremde Sprache zu sprechen, der man nie ausgesetzt gewesen ist. Seine Fallstudien sind sehr umfassend, gut recherchiert und überaus bemerkenswert.

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Ich las eine ausgezeichnete wissenschaftliche Über­blicksdarstellungvon Edgar Mitchell. Mit großem Interes­se durchforstete ich die ASW-Daten (ASW = außersinn­liche Wahrnehmung) der Duke-Universität und die Schriften von Professor C.J. Ducasse der Brown-Univer­sität, und ich analysierte die Studien von Dr. Martin Ebon, Dr. Helen Wambach, Dr. Gertrude Schmeichler, Dr. Fre­derick Lenz und Dr. Edith Fiore. Je mehr ich las, desto mehr wollte ich wissen. Ich begann einzusehen, dass ich nur eine sehr beschränkte Ausbildung genossen hatte, auch wenn ich der Meinung gewesen war, ich sei über jede Di­mension des Gehirns sehr gut informiert. Es gibt ganze Bibliotheken voll von dieser Art Forschungsliteratur, und nur wenige Menschen wissen davon. Viele von diesen Untersuchungen wurden von namhaften Kliniken und Wissenschaftlern durchgeführt, verifiziert und repliziert. War es möglich, dass sie sich alle irrten oder täuschten? Die Beweise schienen überwältigend zu sein, doch ich hat­te immer noch meine Zweifel. Überwältigend oder nicht, ich fand es schwer, daran zu glauben.

Sowohl Catherine als auch ich waren, jeder auf seine ei­gene Weise, bereits tief von unserer Erfahrung beeinflusst worden. Ihr ging es emotional besser, und ich erweiterte den Horizont meines Bewusstseins. Catherine war viele Jahre von ihren Ängsten geplagt worden und machte end­lich Fortschritte. Ob durch tatsächliche Erinnerungen oder lebhafte Fantasien, ich hatte einen Weg gefunden, um ihr zu helfen, und ich würde jetzt nicht aufgeben.

Für einen kurzen Augenblick dachte ich über das alles nach, als Catherine am Anfang der nächsten Sitzung in

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ihre Trance glitt. Vor dem Beginn der Hypnose hatte sie mir einen Traum erzählt, in dem auf alten Steinstufen ein Spiel gespielt wurde, und zwar auf einem Schachbrett mit Löchern. Dieser Traum war ihr besonders stark in Erinne­rung geblieben. Jetzt hieß ich sie, sich über die normalen Grenzen von Raum und Zeit hinauszubegeben und zu sehen, ob der Traum Wurzeln in einem früheren Leben hatte.

»Ich sehe Stufen, die zu einem Turm führen ... mit Aus­blick auf die Berge und auch über das Meer. Ich bin ein Knabe ... Mein Haar ist blond ... , eigenartiges Haar. Meine Kleider sind kurz, braun und weiß und aus Tierhäuten ge­fertigt. Es sind einige Männeroben auf dem Turm und hal­ten Ausschau ... , Wachen. Sie sind schmutzig. Sie spielen ein Spiel wie Schach, aber es ist nicht Schach. Das Brett ist rund, nicht viereckig. Sie spielen mit spitzen, dolchartigen Figuren, die in die Löcher passen. Die Figuren haben Tier­köpfe. Kirustan [phonetische Schreibweise]? Aus den Niederlanden, um 1473.«

Ich fragte sie nach dem Namen des Orts, wo sie lebte, und ob sie eine Jahreszahl sehen oder hören könnte. »Ich bin jetzt in einem Hafen; das Land neigt sich zum Meer. Ich sehe eine Festung ... und Wasser, ich sehe eine Hütte ... Meine Mutter kocht etwas in einem irdenen Topf. Mein Name ist Johan.«

Sie schritt bis zum Augenblick ihres Sterbens vor. An diesem Punkt in unseren Sitzungen suchte ich immer noch nach dem überwältigenden traumatischen Einzelereignis, das die Symptome in ihrem gegenwärtigen Leben verur­sachte oder erklären würde. Sogar wenn diese bemerkens-

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wert ausführlichen Visualisierungen Fantasien waren, und dessen war ich mir nicht sicher, konnte auch das, was sie glaubte, ihre Symptome auslösen. Schließlich hatte ich Patienten gehabt, die unter ihren Träumen litten. Manche konnten sich nicht erinnern, ob ein Kindheitstrauma tat­sächlich geschehen war oder nur im Traum stattgefunden hatte. Dennoch verfolgte sie die Erinnerung jenes Traumas als Erwachsene immer noch.

Was ich noch nicht ganz begriffen hatte, war, dass die ständige, tagtägliche Einwirkung von negativen Einflüs­sen, wie zum Beispiel die beißende Kritik eines Elternteils, viel mehr psychischen Schaden anrichten kann, als durch einen einzigen traumatischen Anlass verursacht wird. Weil sie sich im alltäglichen Hintergrund unseres Lebens verlie­ren, ist es sogar noch viel schwieriger, sich an diese schäd­lichen Einflüsse zu erinnern und sie auszutreiben. Ein ständig kritisiertes Kind kann genauso viel Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl einbüßen wie eines, das sich daran erinnert, an einem spezifischen, schrecklichen Tag ge­demütigt worden zu sein. Ein Kind, dessen Familie wenig Geld hat und täglich an der Nahrung sparen muss, wird mit der Zeit vielleicht unter denselben psychischen Prob­lemen leiden wie eines, das ein zufälliges Erlebnis hatte, wo es beinahe verhungerte. Bald würde ich erkennen müs­sen, dass die tagtäglichen Schläge negativer Kräfte mit der­selben Aufmerksamkeit erkannt und aufgelöst werden müssen, wie sie einzelnen traumatischen Ereignissen ein­geräumt wird.

Catherine hob zu sprechen an. »Es sind Boote da, wie Kanus, in leuchtenden Farben.

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Die Gegend um Providence [Rhode Island - Anm. d. Übers]. Wir haben Waffen, Speere, Schlingen, Pfeile und Bogen, aber größer. Es sind große, eigenartige Ruder im Boot ... Alle müssen rudern. Vielleicht sind wir verloren, es ist dunkel. Es gibt keine Lichter. Ich habe Angst. Es sind andere Boote bei uns [scheinbar Angreifer]. Ich habe Angst vor Tieren. Wir schlafen auf dreckigen, übel riechenden Tierhäuten. Wir sind Kundschafter. Meine Schuhe sehen komisch aus ... Bänder um die Fesseln ... aus Tierhäuten. [Lange Pause.] Mein Gesicht ist heiß wie Feuer. Meine Leute töten die anderen, aber ich nicht. Ich will nicht töten. Ich halte mein Messer in der Hand.«

Plötzlich begann sie zu würgen und nach Atem zu rin­gen. Sie berichtete, dass ein feindlicher Kämpfer sie von hinten an der Gurgel gepackt und ihr mit seinem Messer die Kehle durchschnitten habe. Ehe sie starb, sah sie das Gesicht ihres Mörders. Es war Stuart. Er sah damals anders aus, aber sie wusste, dass er es war. Johan war im Alter von einundzwanzig Jahren gestorben.

Als Nächstes fand sie sich über ihrem Körper schwebend wieder und beobachtete das Geschehen unter ihr. Erstaunt und verwirrt schwebte sie zu den Wolken hoch. Bald spür­te sie, wie sie von einem »kleinen, warmen« Ort angezogen wurde. Sie war dabei, geboren zu werden.

»Jemand hält mich«, flüsterte sie langsam und träume­risch, »jemand, der bei der Geburt geholfen hat. Sie hat ein grünes Kleid an und eine weiße Schürze. Sie trägt eine weiße Haube, die an den Ecken zurückgefaltet ist. Das Zimmer hat eigenartige Fenster ... , viele Unterteilungen. Das Haus ist aus Stein. Meine Mutter hat langes, dunkles

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Haar. Sie möchte mich halten. Sie hat ein komisches ... raues Nachthemd an. Es tut weh, sich an ihm zu reiben. Es ist schön, wieder im Licht und in der Wärme zu sein ... Es ist ... , es ist dieselbe Mutter, die ich jetzt habe!«

Während der letzten Sitzung hatte ich sie angewiesen, die bedeutsamen Menschen in ihren früheren Leben gut zu beobachten, um zu sehen, ob sie für sie auch in ihrem jet­zigen Leben als Catherine eine Rolle spielten. Die meisten Autoren sind sich einig, dass Gruppen von Seelen dazu neigen, über die Zeitspanne vieler Leben immer wieder ge­meinsam auf die Welt zu kommen, um Karma abzutragen (Schulden gegenüber anderen und sich selbst, Lektionen, die zu lernen sind}.

Bei meinen Versuchen, dieses fremdartige, spektakuläre Drama zu verstehen, das, ohne dass der Rest der Welt davon wusste, in meinem ruhigen, schwach beleuchteten Praxiszimmer vor meinen Augen abrollte, wollte ich diese Informationen gleichzeitig auch prüfen. Es war mir ein Be­dürfnis, die wissenschaftliche Methode anzuwenden, die ich über die letzten fünfzehn Jahre in meinen Forschungen eingesetzt hatte, um dieses höchst ungewöhnliche Material auszuwerten, das von Catherines Lippen floss.

Zwischen den Sitzungen entwickelte Catherine ihre medialen Fähigkeiten. Sie hatte Intuitionen über Leute und Begebenheiten, die sich als wahr erwiesen. Unter Hypnose hatte sie angefangen, meine Fragen vorwegzu­nehmen, bevor ich überhaupt eine Chance hatte, sie zu stellen. Viele von ihren Träumen besaßen eine präkogni­tive Komponente.

Bei einer Gelegenheit, als ihre Eltern zu Besuch kamen,

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machte ihr Vater seinen grogen Zweifeln Luft über das, was ihr geschah. Um ihm zu beweisen, dass sie die Wahr­heit sprach, nahm sie ihn mit zum Pferderennen. Dort, vor seinen Augen, begann sie den Gewinner eines jeden Ren­nens vorherzusagen. Er war außer sich. Als ihr klar war, dass sie ihn überzeugt hatte, nahm sie das ganze Geld, das sie gewonnen hatte, und gab es dem erstbesten armen Teu­fel, dem sie auf ihrem Heimweg auf der Straße begegnete. Sie hatte das intuitive Gefühl, dass ihre neu entdeckten spirituellen Kräfte nicht für finanzielle Zwecke eingesetzt werden durften. Für sie hatten sie eine viel höhere Bedeu­tung. Sie gestand, dass diese Erfahrung ihr ein bisschen unheimlich war, aber sie fühlte sich so zufrieden mit den Fortschritten, die sie gemacht hatte, dass sie begierig war, mit den Rückführungen fortzufahren. Ich war sowohl schockiert als auch fasziniert von ihren erwachenden me­dialen Fähigkeiten, besonders von ihrem Erlebnis auf der Rennbahn, für das sie handfeste Beweise mitbrachte. Sie hatte die Gewinnkarten aller Rennen an diesem Nachmit­tag aufbewahrt. Das konnte kein Zufall sein. Etwas sehr Merkwürdiges ging in diesen wenigen letzten Wochen vor sich. Ich rang mit mir und meiner bisherigen Sichtweise der Dinge. Ich konnte ihre medialen Fähigkeiten nicht leugnen. Und wenn diese Fähigkeiten real waren und handfeste Beweise hervorbrachten, könnten dann ihre Be­richte über frühere Leben nicht auch wahr sein?

Jetzt kehrte sie zu dem Leben zurück, in das sie in jener Sitzung gerade hineingeboren worden war. Diese Inkarna­tion schien weniger weit zurückzuliegen, aber sie konnte mir kein Jahr nennen. Ihr Name war Elizabeth.

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»Ich bin jetzt schon älter und habe einen Bruder und zwei Schwestern. Das Abendessen steht auf dem Tisch ... Mein Vater ist da ... , es ist Edward [der Kinderarzt, der ein zweites Mal als ihr Vater auftritt]. Meine Mutter und mein Vater streiten sich schon wieder. Das Essen besteht aus Kartoffeln und Bohnen. Er ist wütend, weil sie kalt sind. Sie streiten sich häufig. Dauernd trinkt er. Er schlägt meine Mutter. [Catherines Stimme klang ängstlich, und sie zitterte merk­lich.] Er schubst die Kinder. Er ist nicht der, der er früher war, nicht derselbe Mensch. Ich mag ihn nicht. Wenn er nur gehen würde.« Sie sprach wie ein kleines Kind.

Mein Vorgehen bei der Befragung war in diesem Fall schon sehr verschieden von dem, was ich in der konven­tionellen Psychiatrie anwandte. Mit Catherine verhielt ich mich mehr wie ein Führer und versuchte, ein ganzes Leben in ein oder zwei Stunden durchzugehen, auf der Suche nach traumatischen Ereignissen und schädlichen Mustern, die ihre gegenwärtigen Symptome erklären würden. Eine konventionelle Therapie wird viel langsamer und detail­lierter abgewickelt. Bei jedem Wort, das der Patient wählt, wird nach Untertönen und verstecktem Sinn gesucht. Je­der Gesichtsausdruck, jede Körperbewegung, jede Modu­lation der Stimme wird in Betracht gezogen und ausge­wertet. Jede emotionale Reaktion wird unter die Lupe genommen. Verhaltensmuster werden mühsam zusam­mengesetzt. Bei Catherine konnten Jahre innerhalb von Minuten verstreichen. Catherines Sitzungen waren, als würde man bei Höchstgeschwindigkeit in die Achterbahn einsteigen und dann versuchen, in der Menge einzelne Ge­sichter auszumachen.

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Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Catherine zu und bat sie, in der Zeit vorwärts zu reisen.

))Jetzt bin ich verheiratet. Unser Haus besteht aus einem einzigen großen Raum. Mein Mann hat blondes Haar. Ich kenne ihn nicht. [Das heißt, dass er in Catherines gegen­wärtigem Leben bisher nicht vorkommt.] Wir haben noch keine Kinder ... Er ist sehr nett zu mir. Wir lieben einander und sind glücklich.« Offenbar war es ihr gelungen, sich von der Misere ihres Elternhauses zu befreien. Ich fragte sie, ob sie die Gegend erkannte, in der sie lebte.

))Brennington?«, flüsterte Catherine zögernd. ))Ich sehe Bücher mit komischen Einbänden. Die großen werden mit einer Schnalle geschlossen. Es ist die Bibel. Es sind große und schöne Buchstaben drin ... Gälisch.«

Dann sagte sie einige Worte, die ich nicht verstand. Ich habe keine Ahnung, ob es Gälisch war oder nicht.

))Wir leben im Hinterland und nicht an der Küste. Be­zirk ... Brennington? Ich sehe einen Bauernhof mit Schwei­nen und Lämmern. Es ist unser Hof.« Sie war in der Zeit fortgeschritten. ))Wir haben zwei Söhne ... Der ältere wird heiraten. Ich kann den Kirchturm sehen ... , ein sehr altes Steingebäude.« Plötzlich tat ihr Kopf weh. Catherine litt Schmerzen und berührte ihre linke Schläfe. Sie berichtete, sie sei auf den Steinstufen ausgerutscht, aber sie habe sich erholt. Sie starb an Altersschwäche, zu Hause in ihrem Bett und in Anwesenheit ihrer Familie.

Wieder schwebte sie nach dem Tode aus ihrem Körper, doch diesmal war sie nicht überrascht oder verwirrt.

))Ich bin mir eines hellen Lichts bewusst. Es ist wunder­bar, man kriegt Energie von diesem Licht.« Sie ruhte sich

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zwischen zwei Leben aus. Minuten verstrichen in Ruhe. Plötzlich sprach sie wieder, aber nicht im langsamen Flüsterton, den sie zuvor immer angeschlagen hatte. Ihre Stimme war jetzt tief, laut und bestimmt:

»Unsere Aufgabe ist es, zu lernen, durch Wissen gott­ähnlich zu werden. Du bist hier, um mein Lehrer zu sein. Ich habe so viel zu lernen. Durch Wissen nähern wir uns Gott und können uns ausruhen. Dann kommen wir zu­rück, um anderen zu helfen.«

Ich war sprachlos. Sie erteilte mir eine Lehre aus dem Jenseits, dem Zwischenreich. Woher kam dieses Material? Es klang überhaupt nicht wie Catherine. Sie hatte bislang nie auf diese Weise gesprochen, noch hatte sie solche Wor­te und einen solchen Satzbau benutzt. Sogar die Tonlage ihrer Stimme war völlig anders.

In jenem Moment war mir nicht klar, dass diese Gedan­ken nicht von Catherine stammten, auch wenn sie sie aus­gesprochen hatte. Sie gab das weiter, was man ihr sagte. Später identifizierte sie Meister, hochentwickelte Seelen, die sich gegenwärtig nicht in einem Körper befanden, als die Quelle. Durch Catherine vermochten sie mit mir zu sprechen. Nicht nur konnte Catherine in frühere Leben zurückgeführt werden, sondern sie war jetzt auch in der Lage, Wissen aus dem Jenseits zu empfangen. Na wunder­bar. Ich rang um Objektivität.

Eine neue Dimension war hinzugekommen. Catherine hatte die Arbeiten von Dr. Elisabeth Kübler-Ross oder Dr. Raymond Moody nicht gelesen, die beide über Nahtod­erfahrungen berichtet haben. Sie hatte nie vom Tibetischen

Totenbuch gehört, doch schilderte sie ähnliche Erfahrun-

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gen, wie sie in diesen Schriften beschrieben werden. Das war eine Art Beweis. Wenn es nur mehr Fakten gäbe, mehr handfeste Einzelheiten, die ich überprüfen könnte. Meine Skepsis schwankte, aber sie blieb bestehen. Vielleicht hat­te sie in einer Zeitschrift über Nahtoderfahrungen gelesen, oder sie hatte im Fernsehen ein entsprechendes Interview gesehen. Auch wenn sie leugnete, sich bewusst an einen solchen Artikel oder eine solche Sendung zu erinnern, heg­te sie vielleicht eine unbewusste Erinnerung daran. Aber sie ging über diese Schriften hinaus und hatte eine Bot­schaft aus dem Zwischenreich übermittelt. Wenn ich doch nur mehr Fakten zur Verfügung hätte!

Als sie aufwachte, erinnerte sich Catherine, wie immer, an die Einzelheiten ihrer vergangeneo Leben. Sie konnte sich jedoch nicht an irgendetwas erinnern, das nach ihrem Tod als Elizabeth stattgefunden hatte. In Zukunft würde sie sich nie an Einzelheiten aus den Zwischenzuständen erinnern. Sie erinnerte sich lediglich an frühere Leben.

))Durch Wissen nähern wir uns Gott.« Wir hatten uns auf den Weg gemacht.

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»Ich sehe ein viereckiges weißes Haus mit einer Sand­straße davor. Menschen auf Pferden reiten hin und her.« Catherine sprach in ihrem gewohnten träumerischen Flüs­terton. »Es sind Bäume dort ... , eine Plantage, ein sehr gro­ßes Haus mit einer Gruppe kleiner Häuser wie Sklaven­hütten. Es ist sehr heiß. Wir sind im Süden ... Virginia?« Sie meinte, das Datum sei 1873. Sie war ein Kind.

»Ich sehe Pferde und viele Felder ... , Mais, Tabak.« Sie und die anderen Bediensteten aßen in der Küche des gro­ßen Hauses. Sie war schwarz und hieß Abby. Dann hatte sie eine Vorahnung, ihr Körper verkrampfte sich. Das Haupthaus stand in Flammen, und sie schaute zu, wie es abbrannte. Ich führte sie fünfzehn Jahre voraus bis ins Jahr 1888.

»Ich trage ein altes Kleid, reinige einen Spiegel im zwei­ten Stock eines Hauses, ein Steinhaus mit Fenstern ... , mit vielen Scheiben. Der Spiegel ist wellig, nicht flach, und hat Knöpfe an den Enden. Der Mann, dem das Haus gehört, heißt James Manson. Er trägt einen eigenartigen Mantel mit drei Knöpfen und einem großen schwarzen Kragen. Er hat einen Bart ... Ich erkenne ihn nicht [als jemand, der in Catherines heutigem Leben vorkommt]. Er behandelt mich gut. Ich lebe in einem Haus auf dem Besitz. Ich putze die

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Zimmer. Es ist eine Schule auf dem Grundstück, aber ich darf sie nicht betreten. Ich mache auch Butter!«

Catherine flüsterte langsam, gebrauchte einfache Worte und achtete sehr auf Einzelheiten. Während der nächsten fünf Minuten erfuhr ich, wie man Butter macht. Abbys Wissen über das Buttern war Catherine ebenfalls neu. Ich führte sie zeitlich voran.

»Ich bin mit jemandem zusammen, aber ich glaube nicht, dass wir verheiratet sind. Wir schlafen zusammen ... , aber wir leben nicht immer zusammen. Ich habe ein gutes Gefühl dabei, aber mehr nicht. Ich sehe keine Kinder, son­dern Apfelbäume und Enten und andere Leute in der Feme. Ich pflücke Apfel. Etwas macht, dass meine Augen jucken.« Catherine schnitt eine Grimasse mit geschlosse­nen Augen. »Es ist der Rauch. Der Wind bläst ihn in mei­ne Richtung ... , Rauch von brennendem Holz. Sie verbren­nen Holzfässer.« Jetzt hustete sie. »Das passiert häufig. Sie schwärzen das Innere der Fässer ... Teer ... , um sie wasser­dicht zu machen.«

Nach der Aufregung der Sitzung der vergangeneo Woche war ich begierig, erneut in den Zwischenbereich zu gelan­gen. Wir hatten bereits neunzig Minuten damit zugebracht, ihr Leben als Dienstmagd zu untersuchen. Ich hatte von Bettüberwürfen, Butter und Fässern gehört und war hung­rig nach einer spirituelleren Lehre. Ich gab meine Geduld auf und führte sie bis zum Augenblick ihres Todes.

>>Das Atmen fällt mir schwer. Meine Brust tut so weh.« Catherine schnappte nach Luft und litt offensichtlich Schmerzen. »Mein Herz tut mir weh, es schlägt ganz schnell. Ich friere so sehr ... Mein Körper schüttelt sich.« Catherine

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fing an zu zittern. »Es sind Leute im Zimmer, die mir Blät­ter zu trinken geben [einen Tee]. Es riecht eigenartig. Sie reiben mir ein Mittel auf die Brust. Fieber ... , aber mir ist sehr kalt.« Still starb sie. Als sie zur Decke emporschweb­te, konnte sie ihren Körper im Bett liegen sehen, eine kleine, zusammengeschrumpfte Frau in den Sechzigern. Sie glitt einfach dahin und wartete auf jemanden, der ihr helfen würde. Dann wurde sie sich eines Lichts gewahr, von dem sie sich angezogen fühlte. Das Licht wurde lang­sam heller und leuchtete stärker. Wir warteten in Ruhe, während die Minuten langsam verstrichen. Plötzlich war sie in einem anderen Leben, Tausende von Jahren vor Abby.

Catherine flüsterte leise: »Ich sehe ganz viel Knoblauch, der in einem offenen Raum hängt. Ich kann ihn riechen. Man glaubt, er würde viele Übel im Blut töten und den Körper reinigen, doch man muss ihn jeden Tag nehmen. Auch draußen ist Knoblauch, oben im Garten. Es gibt auch andere Kräuter ... , Feigen, Datteln und andere Kräu­ter. Diese Pflanzen helfen dir. Meine Mutter kauft Knob­lauch und andere Kräuter. Jemand im Haus ist krank. Das sind eigenartige Wurzeln, etwas, das man einfach im Mund behält, in die Ohren oder andere Körperöffnungen steckt. Man lässt sie einfach dort stecken.

Ich sehe einen alten Mann mit einem Bart. Er ist einer der Heiler des Dorfes. Er sagt einem, was man tun soll. Es herrscht eine Art Pest ... , die die Leute umbringt. Sie wer­den nicht einbalsamiert, weil alle Angst vor der Krankheit haben. Die Toten werden einfach nur begraben. Darüber sind die Leute unglücklich. Sie meinen, die Seelen können

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auf diese Weise nicht weiterreisen [im Gegensatz zu Catherines Berichten über die Ereignisse nach dem Tod]. Doch so viele sind schon gestorben. Auch das Vieh stirbt. Wasser ... , Überschwemmungen ... , die Menschen sind krank wegen der Überschwemmungen. [Offenbar hatte sie ge­rade dieses bisschen Epidemiologie verstanden.] Ich habe auch irgendeine Krankheit vom Wasser, die macht, dass mir der Magen schmerzt. Die Krankheit steckt in den Ein­geweiden und im Magen. Der Körper verliert sehr viel Was­ser. Ich gehe zum Wasser, um noch mehr davon zu holen, aber das bringt uns um. Ich trage das Wasser zurück. Ich sehe meine Mutter und meine Brüder. Mein Vater ist be­reits gestorben. Meine Brüder sind sehr krank.«

Ich wartete, bis ich sie weiterführte. Es faszinierte mich, wie ihre Konzepte vom Tod und dem Leben danach sich von einem Leben zum nächsten so sehr veränderten. Den­noch war ihre Erfahrung des eigentlichen Todes sehr gleich bleibend und jedes Mal ganz ähnlich: Ein bewusster Teil von ihr verließ den Körper im Augenblick des Todes, schwebte über ihm und wurde dann von einem wunder­schönen, energetisierenden Licht angezogen. Dann war­tete sie darauf, dass jemand kommen und ihr helfen würde. Die Seele wanderte automatisch weiter. Einbalsamierung, Begräbnisse oder jeder andere Brauch rund um das Ster­ben hatten nichts damit zu tun. Es geschah automatisch, ohne erforderliche Vorbereitungen, als ginge man durch eine sich öffnende Tür.

))Das Land ist unfruchtbar und trocken ... Ich sehe hier keine Berge, nur die Ebene, sehr flach und trocken. Einer meiner Brüder ist gestorben. Ich fühle mich besser, aber

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der Schmerz ist immer noch da.« Sie lebte jedoch nicht viel

länger. »Ich liege auf einer Bahre mit irgendeiner Decke über mir.« Sie war sehr krank, und weder Knoblauch noch andere Kräuter konnten sie vor dem Tod retten. Bald schwebte sie über ihrem Körper und wurde vom bekann­

ten Licht angezogen. Sie wartete geduldig, bis jemand sie abholte.

Ihr Kopfbegann langsam von einer Seite zur anderen zu rollen, als würde sie irgendeine Landschaft absuchen. Ihre Stimme war wieder tief und laut:

»Man sagt mir, es gäbe viele Götter, denn Gott ist in jedem von uns.«

Ich erkannte die Stimme der Zwischenlebenzustände wieder an ihrer Tiefe und auch am entschieden spirituellen Ton ihrer Botschaft. Was sie sagte, raubte mir den Atem

und presste mir die Luft aus den Lungen. »Dein Vater ist hier und dein Sohn, der ein kleines Kind

ist. Dein Vater sagt, du wirst ihn erkennen, weil sein Name Avrom ist und deine Tochter nach ihm benannt wurde.

Überdies kam sein Tod durch sein Herz. Bei diesem Sohn war es auch das Herz, denn es lag verkehrt wie bei einem Huhn. Aus Liebe zu dir hat er für dich ein großes Opfer gebracht. Seine Seele ist sehr fortgeschritten. Sein Tod be­glich die Schuld seiner Eltern. Auch wollte er dir zeigen,

dass die Medizin ihre Grenzen hat und ihr Spielraum sehr eng ist.«

Catherine hörte auf zu sprechen, und ich verharrte in ehrfurchtsvollem Schweigen, während mein betäubter Ver­

stand versuchte, Ordnung in die Dinge zu bringen. Das Zimmer fühlte sich eiskalt an.

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Catherine wusste sehr wenig über mein Privatleben. Auf meinem Schreibtisch stand ein Bild von meiner Tochter als Baby, auf dem sie glücklich mit ihren unteren zwei Babyzähnen grinste, die sich in ihrem sonst leeren Mund befanden. Das Bild meines Sohnes stand daneben. Abge­sehen davon wusste Catherine praktisch nichts über meine Familie oder meine persönliche Geschichte. Man hatte mich gründlich in den traditionellen psychotherapeuti­schen Techniken geschult. Der Therapeut hatte eine Tabu­la rasa zu sein, eine leere Tafel, auf die der Patient seine eigenen Gefühle, Gedanken und Einstellungen projizieren konnte. Diese wurden daraufhin vom Therapeuten analy­siert, um das Bewusstsein des Patienten zu erweitern. Ich hatte bei Catherine diese therapeutische Distanz bewahrt. Sie kannte mich wirklich nur als Psychiater und wusste nichts von meiner Vergangenheit oder meinem Privat­leben. Ich hatte nicht einmal meine Diplome in meinem Büro aufgehängt.

Die größte Tragödie meines Lebens war der unerwartete Tod meines Erstgeborenen gewesen, eines Sohnes namens Adam, der nur dreiundzwanzig Tage alt war, als er Anfang 1971 starb. Etwa zehn Tage nachdem wir ihn aus der Klinik nach Hause geholt hatten, hatte er Atemprobleme bekommen und Blut erbrochen. Die Diagnose war äußerst schwer zu stellen gewesen. »Völlig anormale Drainage des Lungengewebes mit einem atrialen septalen Defekt«, sagte man uns. ))Das kommt etwa einmal auf zehn Millionen Ge­burten vor.« Die Lungenvenen, die sauerstoffangereicher­tes Blut zurück zum Herzen führen sollten, lagen verkehrt und traten auf der falschen Seite in das Herz ein. Es war,

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als wäre sein Herz nach hinten umgestülpt worden. Sehr, sehr selten kam so etwas vor.

Eine dramatische Operation am offenen Herzen konnte Adam nicht retten, der einige Tage später starb. Wir trau­erten monatelang; alle unsere Hoffnungen und Träume schienen zerstört zu sein. Unser Sohn Jordan, der ein Jahr später auf die Welt kam, war ein willkommener Balsam für unsere Wunden.

Zu der Zeit, als Adam starb, hatte ich daran gezweifelt, ob eine psychiatrische Karriere die richtige Wahl gewesen war. Ich genoss meine Assistenzzeit in der Inneren Medi­zin, und man hatte mir einen Posten als Arzt angeboten. Nach Adams Tod entschloss ich mich endgültig, die Psy­chiatrie zu meinem Beruf zu machen. Ich war voller Wut, dass die moderne Medizin, mit all ihren fortgeschrittenen Möglichkeiten und Technologien, meinen Sohn nicht hatte retten können, dieses einfache, winzige Baby.

Mein Vater war bei ausgezeichneter Gesundheit gewe­sen, bis er Anfang 1979 im Alter von einundsechzig Jahren einen schweren Herzanfall erlitt. Er überlebte den ur­sprünglichen Infarkt, doch seine Herzkammer war so an­gegriffen, dass er drei Tage danach starb. Das war etwa neun Monate vor Catherines erstem Termin geschehen.

Mein Vater war ein gläubiger Mensch gewesen, aber mehr im Sinne der Rituale als spirituell. Sein hebräischer Name, Avrom, passte besser zu ihm als das englische Alvin. Vier Monate nach seinem Tod wurde unsere Toch­ter Amy geboren und nach ihm benannt.

Hier, 1982, in meiner ruhigen abgedunkelten Praxis, prasselte eine betäubende Flut von unbekannten, gehei-

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men Wahrheiten auf mich nieder. Ich schwamm in einem Meer der Spiritualität und war davon entzückt. Auf mei­nem Arm fühlte ich eine Gänsehaut. Catherine konnte die­se Dinge unmöglich wissen. Es gab nicht einmal einen Ort, wo man sie hätte nachlesen können. Meines Vaters hebräi­scher Name, dass ich einen Sohn gehabt hatte, der an einer Säuglingskrankheit gestorben war, die einmal in zehn Mil­lionen Fällen vorkam, mein Brüten über die Medizin, der Tod meines Vaters und der Name meiner Tochter - das war einfach zu viel, zu spezifisch und nur zu wahr. Diese unbedarfte Laboramin war ein Kanal für transzendentales Wissen. Und wenn sie diese Wahrheiten enthüllen konn­te, was war denn da sonst noch? Ich musste es erfahren.

»Wer«, stotterte ich, »wer ist da? Wer erzählt Ihnen diese Dinge?«

»Die Meister«, flüsterte sie, »die Meisterwesen sagen es mir. Sie sagen mir, ich hätte sechsundachtzigmal in einem physischen Körper gelebt.«

Catherine atmete langsamer, und ihr Kopf hörte auf, von einer Seite zur anderen zu rollen. Sie ruhte sich aus. Ich wollte weitermachen, aber die Implikationen dessen, was sie gesagt hatte, lenkten mich ab. Hatte sie wirklich sechsundachtzig frühere Leben gehabt? Und was war mit den »Meistern«? War es möglich, dass unser Leben von Wesen gelenkt wurde, die keinen physischen Körper, aber großes Wissen zu besitzen schienen? Gab es Schritte auf dem Weg zu Gott? War dies wirklich? Wegen der Dinge, die sie mir gerade enthüllt hatte, fand ich es schwer, daran zu zweifeln, doch rang ich immer noch um Glauben. Ich hatte eine jahrzehntelange anders lautende Programmie-

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rung zu überwinden, aber in meinem Herzen und in mei­nem Bauch wusste ich, dass sie Recht hatte. Sie offenbarte Wahrheiten.

Und was war mit meinem Vater und mit meinem Sohn? Sie lebten gewissermaßen immer noch; sie waren nie wirk­lich gestorben. Sie sprachen Jahre nach ihrem Tod zu mir und bewiesen es, indem sie spezifische und sehr geheime Informationen zur Verfügung stellten. Und wenn das alles der Wahrheit entsprach, war mein Sohn dann wirklich geistig so hoch entwickelt, wie Catherine gesagt hatte? War er einverstanden gewesen, uns nur geboren zu wer­den, um dreiundzwanzig Tage später zu sterben und uns mit unseren karmischen Schulden zu helfen, mich darüber hinaus etwas über die Medizin und die Menschheit zu leh­ren und mich zurück in die Psychiatrie zu drängen? Diese Gedanken ermutigten mich sehr. Unter meinem Erschau­dern fühlte ich eine große Liebe aufsteigen, ein starkes Gefühl von Einheit und Verbundenheit mit Himmel und Erde. Mein Vater und mein Sohn hatten mir gefehlt. Es tat gut, wieder von ihnen zu hören.

Mein Leben würde nie mehr dasselbe sein. Eine Hand hat­te sich nach mir ausgestreckt und den Verlauf meines Le­bens unwiderruflich verändert. Meine Literaturstudien, die ich mit kritischer Vorsicht und skeptischer Distanz unter­nommen hatte, kamen mir nun in den Sinn. Catherines Erinnerungen und Botschaften waren also wahr. Meine Intuitionen über die Richtigkeit ihrer Erfahrungen stimm­ten. Ich hatte die Fakten und die Beweise.

Doch sogar in jenem Augenblick der Freude und des Er-

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kennens, sogar im Augenblick der mystischen Erfahrung brachte der altbekannte, logisch zweifelnde Teil meines Verstands einen Einwand hervor. Vielleicht war es nur ASW oder eine andere mediale Begabung. Zugegeben, es war eine große Begabung, doch bewies sie noch keine Wiedergeburt oder die Existenz von Meisterwesen. Doch dieses Mal wusste ich es besser. Die Tausende von belegten Fällen in der wissenschaftlichen Literatur, vor allem von Kindern, die fremde Sprachen sprachen, denen sie nie aus­gesetzt gewesen waren, von Körpermalen anstelle von früheren tödlichen Wunden, wobei dieselben Kinder oft­mals wussten, wo Wertgegenstände an Tausende von Mei­len entfernten Plätzen Jahrzehnte oder Jahrhunderte zuvor versteckt worden waren, bestätigten Catherines Botschaft. Ich kannte ihren Charakter und ihren Geist. Sie wusste, wer sie war und wer nicht. Nein, mein Verstand konnte mich dieses Mal nicht täuschen. Die Beweise waren zu stark und zu überwältigend. Ich hatte es mit realen Dingen zu tun. Im Verlauf unserer Sitzungen würde sie mehr und mehr an Informationen liefern.

Manchmal vergaß ich in den folgenden Wochen die Macht und das Unmittelbare jener Sitzung. Gelegentlich versank ich wieder in meiner Alltagsroutine und sorgte mich wegen der üblichen Dinge. Zweifel tauchten auf. Es war, als neigte mein Geist dazu, in alte Muster, alte Ansich­ten und in die alte Skepsis abzurutschen, wenn ich mich nicht konzentrierte. Dann hielt ich mir jeweils vor, dass es wirklich passiert war! Ich erfuhr, wie schwierig es ist, an diese Begriffe zu glauben, wenn man keine entsprechenden persönlichen Erfahrungen gemacht hat. Es braucht die Er-

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fahrung, um dem intellektuellen Begreifen gefühlsmäßiges

Verstehen an die Seite zu stellen. Doch auch tatsächliche

Erlebnisse verblassen immer bis zu einem gewissen Grad.

Zunächst war mir gar nicht bewusst, wie sehr ich mich

veränderte. Ich wusste, dass ich ruhiger und geduldiger ge­

worden war. Andere sagten mir, wie zufrieden ich aussähe

und dass ich ihnen ausgeruhter und glücklicher erschiene.

Ich empfand mehr Hoffnung, mehr Freude, mehr Sinn und

mehr Befriedigung in meinem Leben. Mir ging auf, dass

ich dabei war, die Angst vor dem Tod zu verlieren. Ich hat­

te keine Angst mehr vor meinem eigenen Tod oder vor

dem Nichts. Ich fürchtete mich weniger davor, andere zu

verlieren, auch wenn sie mir sicherlich fehlen würden. Wie

mächtig ist doch die Angst vor dem Tod! Die Menschen

unternehmen riesige Anstrengungen, um dieser Angst aus

dem Weg zu gehen: Midlife-Crisis, Liebesaffären mit

jüngeren Partnern, kosmetische Operationen, obsessives

Muskeltraining, Anhäufung von materiellem Besitz, Zeu­

gen von Kindern, um den Namen fortbestehen zu lassen,

Versuche, immer jünger auszusehen, und so weiter. Wir

sind schrecklich mit unserem eigenen Tod beschäftigt,

manchmal so sehr, dass wir den wirklichen Sinn unseres

Lebens vergessen.

Ich lebte auch weniger angespannt. Ich brauchte nicht

mehr ständig alles unter Kontrolle zu haben. Doch wenn

ich versuchte, weniger ernst zu sein, fiel mir diese Ver­

wandlung schwer. Ich hatte noch viel zu lernen.

Mein Verstand hatte sich der Möglichkeit und gar der

Wahrscheinlichkeit geöffnet, dass Catherines Äußerungen

der Wahrheit entsprachen. Die unglaublichen Tatsachen

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über meinen Vater und meinen Sohn konnten nicht durch ihre gewöhnlichen Sinne empfangen worden sein. Ihr Wis­

sen und ihre Fähigkeiten zeugten zweifelsohne von einer außergewöhnlichen medialen Begabung. Es ergab einen Sinn, ihr zu glauben, doch ich war nach wie vor besorgt

und skeptisch wegen der Dinge, die ich in der populären Literatur las. Wer waren diese Leute, die über übersinn­liche Phänomene berichteten, über das Leben nach dem Tod und andere erstaunliche paranormale Begebenheiten? Waren sie überhaupt in der wissenschaftlichen Methode

der Beobachtung und Validierung geschult worden? Trotz meiner überwältigenden und wunderbaren Erfahrung mit Catherine wusste ich, dass mein von Natur aus kritischer Verstand jeder neuen Tatsache und jeder neuen Informa­

tion nachgehen würde. Ich würde die Daten prüfen, um zu sehen, ob sie in den Rahmen passten, der mit jeder Sitzung aufgebaut wurde, und ich würde sie von jeder Seite unter die wissenschaftliche Lupe nehmen. Dennoch konnte ich nicht länger leugnen, dass dieser Rahmen bereits bestand.

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Wir befanden uns immer noch mitten in der Sitzung. Ca­therine beendete ihre Pause und fing an, von einer grünen Statue vor einem Tempel zu sprechen. Ich erwachte aus meiner Träumerei und hörte zu. Sie befand sich in einem altertümlichen Leben, irgendwo in Asien, aber ich war im­mer noch bei den Meistern. ))Unglaublich«, sagte ich mir. ))Sie spricht von früheren Leben und über die Seelenwan­derung, und dennoch kommt es mir vor, als sei es nichts im Vergleich zu den Botschaften der Meister.« Ich hatte je­doch bereits verstanden, dass sie ein Leben durchleben musste, ehe sie ihren Körper verlassen und den Zwi­schenzustand erreichen konnte. Es war ihr nicht möglich, direkt in diesen Zustand zu treten. Und nur dort konnte sie die Meister erreichen.

))Die grünen Statuen stehen vor einem großen Tempel­gebäude«, flüsterte sie leise, ))in einem Gebäude mit Spit­zen und braunen Kugeln. Es sind siebzehn Stufen davor, und man kommt in einen Raum, wenn man die Stufen hi­naufgestiegen ist. Räucherwerk brennt. Niemand trägt Schuhe. Ihre Köpfe sind kahl geschoren. Sie haben runde Gesichter, dunkle Augen und eine dunkle Hautfarbe. Ich bin auch dort. Ich habe meinen Fuß verletzt und bin dort­hin gegangen, um mir helfen zu lassen. Mein Fuß ist ge­schwollen, ich kann nicht damit auftreten. Sie legen einige

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Blätter auf meinen Fuß, unbekannte Blätter ... Tannis? [Tannin oder Gerbsäure, das in der Natur in den Wurzeln, im Holz, in der Rinde, den Blättern und Früchten vieler Pflanzen vorkommt, ist seit uralten Zeiten benutzt worden wegen seiner blutstillenden oder zusammenziehenden Eigenschaften.] Erst wurde mein Fuß gereinigt. Das ist ein Ritual vor den Göttern. Es ist ein Gift in meinem Fuß. Ich war auf etwas getreten. Mein Knie ist geschwollen. Mein Bein ist schwer und gestreift [Blutvergiftung?]. Sie schnei­den ein Loch in meinen Fuß und gießen etwas sehr Heißes darüber.«

Catherine wand sich jetzt vor Schmerz. Sie würgte auch an einem sehr bitteren Getränk, das man ihr verabreicht hatte. Dieser Trank war aus gelben Blumen gemacht. Sie wurde wieder gesund, aber die Knochen in ihrem Fuß und in ihrem Bein erholten sich nie mehr. Ich ließ sie in der Zeit vorangehen. Sie sah nichts als ein blasses und arm­seliges Leben. Sie lebte mit ihrer Familie in einer kleinen Hütte mit nur einem Zimmer ohne Tisch-. Sie aßen irgend­einen Reis, eine Art Getreide, aber sie waren ständig hung­rig. Sie alterte schnell, wobei sie der Armut und dem Hun­ger nie entrann. Dann starb sie. Ich wartete, konnte sehen, wie erschöpft Catherine war, doch ehe ich sie wecken konnte, sagte sie mir, Roben Jarrod brauche meine Hilfe. Ich hatte weder eine Ahnung, wer Roben Jarrod war, noch, wie ich ihm helfen konnte. Mehr kam nicht.

Als sie aus ihrer Trance erwachte, erinnerte sich Cathe­rine wieder nur an ihre früheren Leben und wusste nichts mehr von ihren Erfahrungen nach dem Tod, nichts von den Zwischenreichen, nichts von den Meistern oder vom

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unglaublichen Wissen, das enthüllt worden war. Ich stell­te ihr eine Frage:

))Catherine, was bedeutet der Ausdruck >Meister< für Sie?« Sie dachte, es ginge um ein Golfturnier! Sie machte jetzt rapide Fortschritte, aber sie hatte immer noch Schwie­rigkeiten, den Begriff der Wiedergeburt in ihre Glaubens­vorstellungen zu integrieren. Deshalb beschloss ich, ihr noch nichts von den Meistern zu erzählen. Abgesehen da­von war ich mir nicht sicher, wie man jemandem beibringt, dass er oder sie ein unheimlich begabtes Trancemedium ist, das wundersames transzendentales Wissen von Meister­wesen empfängt.

Catherine erklärte sich einverstanden, meine Frau an der nächsten Sitzung teilnehmen zu lassen. Carole ist eine gut ausgebildete, äußerst geschickte Sozialarbeiterin im Psy­chiatriebereich, und mir war an ihrer Meinung über diese unglaublichen Begebenheiten gelegen. Nachdem ich ihr erzählt hatte, was Catherine über meinen Vater und unse­ren Sohn Adam gesagt hatte, war sie begierig zu helfen. Es bereitete mir keine Schwierigkeiten, jedes Wort zu notie­ren, das Catherine in früheren Leben von sich gab, wenn sie langsam flüsterte, aber die Meister sprachen viel schnel­ler, weshalb ich beschloss, alles auf Tonband aufzuneh­men.

Eine Woche später erschien Catherine zu ihrer nächsten Sitzung. Sie machte ständig Fortschritte und litt jetzt we­niger unter Angsten und Befürchtungen. Ihre gesundheit­liche Besserung war eindeutig, aber ich war mir immer noch nicht sicher, weshalb es ihr so viel besser ging. Sie hatte sich daran erinnert, als Aronda ertrunken zu sein, als

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Johan die Kehle aufgeschlitzt gekriegt zu haben und als Louisa das Opfer einer durch Wasser ausgelösten Epide­mie gewesen zu sein wie auch an andere traumatische Be­gebenheiten. Sie hatte Leben in Armut und Knechtschaft oder von Missbrauch innerhalb der Familie erfahren be­ziehungsweise nochmals durchlebt. Letzteres ist ein Bei­spiel für die tagtäglichen Minitraumata, die in unserer Psyche ebenfalls eingegraben werden. Die Erinnerung an beide Arten von Leben könnte zu ihrer Besserung beige­tragen haben. Doch es gab auch eine andere Möglichkeit. Konnte es sein, dass es die spirituelle Erfahrung war, die Catherine half? Konnte das Wissen, dass der Tod nicht das ist, was er zu sein scheint, zu einem Gefühl des Wohlbe­findens und einer Minderung ihrer Angste beitragen? Konnte der gesamte Prozess, und nicht nur die Erinnerun­gen selbst, Teil der Heilung sein?

Catherines mediale Fähigkeiten nahmen zu, und sie wurden sogar noch intuitiver. Sie hatte immer noch Prob­leme mit Stuart, aber sie meinte, sie könne jetzt besser mit ihnen umgehen. Ihre Augen strahlten, ihre Haut schimmer­te. Sie hatte in der vergangenen Woche einen eigenartigen Traum gehabt, doch sie konnte sich nur an ein Fragment erinnern. Sie hatte geträumt, dass die rote Flosse eines Fisches sich in ihrer Hand verfangen hatte.

Sie ging schnell und leicht in Trance und erreichte in­nerhalb von Minuten einen tiefen hypnotischen Zustand.

»Ich sehe eine Art Klippen. Ich stehe auf diesen Klippen und schaue nach unten. Ich habe nach Schiffen Ausschau zu halten - das ist meine Aufgabe ... Ich trage etwas Blaues, eine blaue Art Hose ... , eine kurze Hose und eigenartige

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Schuhe ... , schwarze Schuhe ... mit einer Schnalle. Die Schuhe haben Schnallen, sehr merkwürdige Schuhe ... Ich sehe am Horizont, dass keine Schiffe da sind.« Catherine Hüsterte leise. Ich führte sie in der Zeit voraus zum nächs­ten bedeutungsvollen Ereignis in ihrem Leben.

»Wir trinken Bier, dunkles Bier. Es ist sehr dunkel. Die Krüge sind dick. Sie sind alt und werden von Metallbän­dern zusammengehalten. Es riecht sehr schlecht an diesem Ort, und es sind viele Leute dort. Es ist sehr geräuschvoll. Alle sprechen laut durcheinander.«

Ich fragte sie, ob sie hören könne, dass jemand ihren Namen rufe.

»Christian ... Christian heiße ich.« Sie war erneut ein Mann. »Wir sind gerade dabei, eine Art Fleisch zu essen, und wir trinken Bier dazu. Es ist dunkel und schmeckt sehr bitter. Sie salzen es.«

Sie konnte keine Jahreszahl sehen. »Sie sprechen von einem Krieg, über Schiffe, die irgendwelche Häfen blo­ckieren! Doch ich kann nicht hören, wo es ist. Wenn sie ruhig sein würden, könnten wir es hören, aber alle reden sie und machen Lärm.«

Ich fragte sie, wo sie sei. »Hamstead ... Hamstead [pho­netische Schreibweise]. Es ist ein Hafen am Meer, ein Hafen in Wales. Sie sprechen englisch.« Sie schritt zu dem Zeitpunkt vor, als Christian auf seinem Schiff war. »Ich rieche etwas, etwas brennt. Es ist ein schrecklicher Geruch. Brennendes Holz, aber auch was anderes. Es brennt in der Nase ... Etwas in der Ferne steht in Flammen, eine Art Schiff, ein Segelschiff. Wir laden! Wir laden etwas mit Schwarzpulver.« Catherine regte sich zusehends auf.

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»Es hat etwas mit Schießpulver zu tun, sehr schwarz. Es bleibt an den Händen kleben. Man muss sich schnell be­wegen. Auf dem Schiff ist eine grüne Flagge. Die Flagge ist dunkel ... Es ist eine grüngelbe Flagge. Ich sehe eine Art Krone mit drei Punkten darauf.«

Plötzlich verzog sie das Gesicht vor Schmerz. Sie litt große Qualen. »Au«, stöhnte sie, »meine Hand, meine Hand tut weh! Es ist ein Stück Metall, ein Stück heißes Metall in meiner Hand. Es brennt. Au! Au!«

Ich erinnerte mich an das Traumfragment und verstand jetzt, was die rote Flosse in ihrer Hand zu bedeuten hatte. Ich blockierte den Schmerz, aber sie stöhnte immer noch.

»Es sind Metallsplitter ... Das Schiff, auf dem wir uns befanden, wurde zerstört ... Backbord. Sie haben das Feuer unter Kontrolle. Viele Männer sind getötet worden ... , viele. Ich habe überlebt ... , nur meine Hand ist verletzt, doch sie heilt mit der Zeit.<<

Wieder führte ich sie in der Zeit voran und bat sie, die nächste wichtige Begebenheit auszusuchen.

»Ich sehe eine Art Druckerei, wo etwas mit Druck­stöcken und Tinte gedruckt wird. Sie drucken und binden Bücher ... Die Bücher haben lederne Einbände und Schnü­re, die sie zusammenhalten, Lederschnüre. Ich sehe ein rotes Buch ... Etwas über Geschichte. Ich kann den Titel nicht lesen; sie sind noch nicht fertig mit dem Drucken. Die Bücher sind wunderschön. Ihre Einbände sind so glatt ... , das Leder. Es sind wunderbare Bücher,. sie lehren dich.«

Offensichtlich sah und berührte Christian die Bücher gern, und er hatte eine vage Ahnung dessen, was man auf

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diese Weise lernen könnte, schien jedoch weitgehend un­gebildet zu sein. Ich führte Christian zum letzten Tag sei­nes Lebens.

»Ich sehe eine Brücke über einem Fluss. Ich bin ein alter Mann ... , sehr alt. Das Gehen fällt mir schwer. Ich gehe über die Brücke ... auf die andere Seite ... Ich fühle Schmer­zen in meiner Brust - Druck, einen schrecklichen Druck. Das Herz tut mir weh! Au!« Catherine gab gurgelnde Geräusche von sich und durchlebte anscheinend den Herz­infarkt, den Christian auf der Brücke erlitt. Sie atmete schnell und oberflächlich, ihr Gesicht und ihr Hals waren schweißgebadet. Sie fing an zu husten und nach Luft zu schnappen. Ich war besorgt. War es gefährlich, einen Herz­infarkt aus einem früheren Leben wiederzuerleben? Ich betrat Neuland, niemand wusste die Antwort. Schließlich starb Christian. Catherine lag jetzt friedlich auf der Couch und atmete tief und regelmäßig. Erleichtert seufzte ich auf.

»Ich fühle mich frei ... , frei«, flüsterte Catherine sanft. »Ich schwebe einfach in der Dunkelheit ... , gleite einfach dahin. Irgend wo ist ein Licht ... und Geistwesen, andere Leute.«

Ich fragte sie, ob sie irgendwelche Gedanken zu ihrem Leben als Christian habe, das gerade zu Ende gegangen sei.

»Ich hätte weniger nachtragend sein sollen, aber ich war es nicht. Ich habe den Menschen das Leid nicht vergeben, das sie mir angetan haben, und ich hätte es tun sollen. Ich habe ihnen nicht verziehen, was sie mir angetan haben, sondern habe es geschluckt und viele Jahre mit mir her­umgetragen. Ich sehe Augen ... , Augen.«

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))Augen?((, wiederholte ich, da ich den Kontakt spürte. ))Was für Augen sind das?((

))Die Augen der Meisterwesen((, flüsterte Catherine, ))aber ich muss warten. Es gibt Dinge, über die ich nach­denken muss.(( Minuten verstrichen in angespannter Stille.

))Wann werden Sie wissen, wann jene bereit sind?((, frag­te ich erwartungsvoll, um die lange Pause zu unterbrechen.

))Sie werden mich rufen((, antwortete sie. Es verstrichen mehrere Minuten. Dann begann ihr Kopf plötzlich von einer Seite zur anderen zu rollen, und ihre tiefe und feste Stimme signalisierte die Veränderung.

))Es sind viele Seelen in dieser Dimension. Ich bin nicht die einzige. Wir müssen uns gedulden. Das ist noch etwas, das ich nie gelernt habe ... Es gibt viele Dimensionen ... (( Ich fragte sie, ob sie schon einmal dort gewesen sei und ob sie oft wiedergeboren worden sei.

))Ich bin zu verschiedenen Zeiten auf verschiedenen Ebenen gewesen. Jede stellt eine höhere Bewusstseins­ebene dar. Zu welcher Ebene wir gelangen, hängt davon ab, wie weit fortgeschritten wir sind ... (( Sie war wieder ruhig. Ich fragte sie, welche Dinge sie zu lernen habe, um fortzuschreiten. Sie antwortete sofort.

))Dass wir unser Wissen mit anderen Menschen teilen müssen. Dass wir alle Fähigkeiten haben, die weit über das hinausgehen, was wir einsetzen. Manche von uns ent­decken das früher als andere. Dass man seine Schwächen unter Kontrolle haben sollte, ehe man hier ankommt. Wenn nicht, nimmt man sie mit in ein anderes Leben. Wenn wir uns nur befreien könnten ... von den schlechten Angewohnheiten, die wir annehmen, wenn wir uns im

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physischen Zustand befinden. Die Meister können das nicht für uns übernehmen. Wählt man zu kämpfen und sich nicht davon zu lösen, wird man sie in ein anderes Le­ben hinübertragen. Nur wenn man beschließt, dass man stark genug ist, um die äußeren Probleme zu bewältigen, wird man sie im nächsten Leben nicht länger haben.

Wir müssen auch lernen, nicht nur auf die Menschen zu­zugehen, deren Schwingungen den unseren entsprechen. Es ist normal, sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, der sich auf derselben Ebene befindet wie man selbst. Doch das ist verkehrt. Du sollst auch auf jene Menschen zuge­hen, deren Schwingungen nicht übereinstimmen ... mit den eigenen. Das ist wichtig ... , wenn man diesen Menschen ... helfen will.

Es werden uns Intuitionen gegeben, denen wir folgen sollten, anstatt sie zu blockieren. Jene, die blockieren, be­geben sich in Gefahr. Wir werden nicht immer mit den gleichen Kräften von einer Ebene zurückgeschickt. Man­che von uns haben größere Kräfte als andere, weil sie sie zu anderen Zeiten angesammelt haben; demnach wurden nicht alle Menschen gleich geschaffen. Doch mit der Zeit werden wir einen Punkt erreichen, wo wir alle gleich sein werden.«

Catherine machte eine Pause. Ich wusste, dass diese Ge­danken nicht die ihren waren. Sie hatte keine Ausbildung in Physik oder Metaphysik und wusste nichts von Ebenen, Dimensionen und Schwingungen. Darüber hinaus über­stiegen die Schönheit der Worte und Gedanken und die philosophischen Folgerungen dieser Aussagen Catherines Möglichkeiten. Sie hatte nie auf solch knappe, poetische

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Art gesprochen. Ich spürte, wie eine andere, höhere Kraft mit ihrem Geist und ihren Stimmbändern rang, um diese Gedanken in Worte umzusetzen, die ich verstehen konnte. Nein, das war nicht Catherine.

Ihre Stimme hatte einen träumerischen Klang. »Menschen, die in Koma liegen ... , befinden sich in

einem Zustand der Aufhebung. Sie sind noch nicht bereit, in die andere Ebene einzugehen ... , bis sie entschieden ha­ben, ob sie gehen wollen oder nicht. Nur sie können das entscheiden. Wenn sie das Gefühl haben, sie hätten nichts mehr zu lernen ... im physischen Zustand ... , erlaubt man ihnen, den Übertritt zu vollziehen. Doch falls sie noch mehr zu lernen haben, müssen sie zurückkommen, sogar wenn sie nicht wollen. Das ist eine Ruheperiode für sie, in der ihre geistigen Kräfte sich erholen können.«

Demnach können Menschen im Koma entscheiden, ob sie zurückkehren wollen oder nicht, je nachdem, wie viel sie auf der physischen Ebene noch zu lernen haben. Wenn sie fühlen, sie hätten nichts mehr zu lernen, können sie direkt in die geistige Ebene übergehen, trotzder modernen Medizin. Diese Information stimmte mit den Forschungen überein, die über todesnahe Erlebnisse veröffentlicht wor­den waren, und mit den Gründen, weshalb manche Men­schen gewählt hatten zurückzukehren. Andere wurden nicht vor diese Wahl gestellt; sie mussten zurückkehren, weil sie noch mehr zu lernen hatten. Natürlich sind alle Menschen, die man über ihre todesnahen Erfahrungen be­fragt hat, in ihren Körper zurückgekehrt. Es gibt eine auf­fallende Übereinstimmung in ihren Berichten. Sie lösen sich von ihrem Körper und »beobachten« die Wiederbele-

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bungsversuche von oben. Mit der Zeit werden sie sich in der Ferne eines hellen Lichts oder einer leuchtenden »spi­rituellen« Gestalt gewahr, die manchmal am Ende eines Tunnels steht. Sie empfinden keinen Schmerz. Wenn ihnen bewusst wird, dass ihre Aufgaben auf Erden noch nicht vollendet sind und sie zurückkehren müssen, sind sie augenblicklich wieder mit ihrem Körper vereint und spü­ren wieder den Schmerz oder haben andere physische Empfindungen.

Ich habe mehrere Patienten mit Nahroderlebnissen ge­habt. Der interessanteste Bericht stammte von einem süd­amerikanischen Geschäftsmann, den ich anlässtich meh­rerer konventioneller Psychotherapiesitzungen betreute. Jacob war 1975 in Holland von einem Motorrad überfah­ren worden und hatte das Bewusstsein verloren. Er erin­nerte sich daran, über seinem Körper geschwebt und auf den Unfallort hinabgesehen zu haben, wo er den Kranken­wagen, den Arzt, der sich um seine Verletzungen kümmer­te, und die wachsende Zuschauermenge sah. Er wurde sich eines fernen goldenen Lichts gewahr, und als er sich ihm näherte, sah er einen Mönch, der eine braune Kutte trug. Der Mönch hatte zu Jacob gesagt, dass es für ihn nicht Zeit zum Sterben sei und dass er in seinen Körper zurück­kehren müsse. Jacob spürte die Weisheit und die Stärke des Mönchs, der ihm auch mehrere zukünftige Ereignisse seines Lebens vorhersagte, die später alle eintrafen. Jacob, der dann in einem Krankenhausbett lag, wurde in seinen Körper zurückgeschleudert, kam wieder zu Bewusstsein und war sich zum ersten Mal seiner schrecklichen Schmer­zen bewusst.

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AlsJude besuchte er 1980 an lässlich einer Israelreise die Höhle der Patriarchen in Hebron, die sowohl Juden als auch Moslems heilig ist. Nach seiner Erfahrung in Holland war er gläubiger geworden und hatte begonnen, häufiger zu beten. Er sah die Moschee, die sich in der Nähe der Höhle befand, und setzte sich dort zu den Moslems, um mit ihnen zu beten. Nach einer Weile stand er auf, um zu gehen. Ein alter Moslem kam zu ihm und sagte: »Du bist anders als die anderen. Sie gesellen sich nur selten zu uns, um mit uns zu beten.« Der alte Mann hielt einen Augen­blick inne und sah Jacob prüfend an, ehe er fortfuhr: »Du bist dem Mönch begegnet. Vergiss nicht, was er dir gesagt hat.« Fünf Jahre nach dem Unfall und Tausende von Mei­len entfernt wusste ein alter Mann von Jacobs Begegnung mit dem Mönch, einer Begegnung, die stattgefunden hatte, als Jacob bewusstlos gewesen war.

Als ich in meiner Praxis über Catherines neueste Offen­barungen nachdachte, fragte ich mich, was unsere Kir­chenväter von der Behauptung gehalten hätten, dass alle Menschen nicht gleich geboren würden. Menschen wer­den mit Talenten, Fähigkeiten und Kräften geboren, die ihnen von früheren Leben zufließen. »Doch mit der Zeit werden wir einen Punkt erreichen, wo wir alle gleich sein werden.« Ich vermute, dass dieser Punkt viele, viele Leben vor uns liegt.

Ich dachte an den jungen Mozart und an seine unglaub­liche Begabung als Kind. War das auch ein Übertragen seiner früheren Fähigkeiten? Anscheinend bringen wir sowohl Fähigkeiten als auch Schulden mit.

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Ich sann darüber nach, wie Menschen in homogenen Gruppen zusammenfinden und Augenseiter oft meiden und fürchten. Hier lag die Ursache für Vorurteile und Gruppenhass. »Wir müssen auch lernen, nicht nur auf die Menschen zuzugehen, deren Schwingungen den unseren entsprechen.« Um diesen anderen Menschen zu helfen. Ich spürte die spirituelle Wahrheit ihrer Worte.

>dch muss wiederkehren«, fuhr Catherine fort. >>Ich muss zurückkommen.« Aber ich wollte mehr hören und fragte sie, wer Robert Jarrod sei. Sie hatte seinen Namen wäh­rend der letzten Sitzung erwähnt, und dass er meine Hilfe brauche.

»Ich weiß es nicht ... Vielleicht befindet er sich auf einer anderen Ebene, nicht auf dieser.« Offenbar konnte sie ihn nicht finden.

))Nur wenn er will, nur wenn er beschließt, zu mir zu kommen«, flüsterte sie. >>Er wird eine Botschaft schicken. Er braucht Ihre Hilfe.«

Ich konnte immer noch nicht begreifen, wie ich helfen könnte.

))Ich weiß es nicht«, antwortete Catherine. ))Aber Sie sind derjenige, der belehrt werden soll, nicht ich.«

Das war interessant. War dieses Material für mich, oder sollte ich Robert Jarrod helfen, indem ich belehrt wurde? Wir haben nie etwas von ihm gehört.

>>Ich muss zurückkommen«, wiederholte sie. »Ich muss zuerst zum Licht gehen.« Plötzlich war sie erschrocken. ))Oh, jetzt habe ich viel zu lange gezögert ... Und weil ich gezögert habe, muss ich wieder warten.« Während sie war­tete, fragte ich sie, was sie sehe und empfinde.

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»Nur andere Geistwesen, andere Seelen. Sie warten ebenfalls.« Ich fragte sie, ob wir belehrt werden könnten, während sie wartete. »Können Sie sagen, was wir wissen sollten?<<, fragte ich.

»Sie sind nicht hier, um es mir zu sagen«, erwiderte sie. Faszinierend. Wenn die Meister nicht dort waren und sie sie nicht hören konnte, vermochte Catherine das Wissen nicht unabhängig zu vermitteln.

»Ich fühle mich hier sehr rastlos. Ich möchte gehen ... Wenn die Zeit reif ist, werde ich gehen.« Wieder verstri­chen Minuten in Ruhe. Schließlich muss es die richtige Zeit gewesen sein. Sie war in ein anderes Leben verfallen.

»Ich sehe Apfelbäume ... und ein Haus, ein weißes Haus. Ich lebe in dem Haus. Die Apfel sind verrottet ... Würmer, nicht gut zum Essen. Es gibt eine Schaukel, eine Schaukel am Baum.« Ich bat sie, sich selbst anzusehen.

»Ich habe helles Haar, blond; ich bin fünf Jahre alt. Mein Name ist Catherine.« Ich war überrascht. Sie war in ihr jetziges Leben geschlüpft, war Catherine im Alter von fünf Jahren. Doch sie musste aus irgendeinem Grund dort sein. »Ist damals etwas geschehen, Catherine?«

»Mein Vater ist böse auf uns ... , weil wir nicht draußen sein sollten ... Er ... , er schlägt mich mit einem Stock. Es ist ein großer Stock; es tut weh ... Ich habe Angst.« Sie sprach wie ein weinerliches Kind. »Er hört nicht damit auf, bis es schmerzt. Warum ist er so gemein?« Ich bat sie, ihr Leben von einer höheren Warte aus zu betrachten und ihre Frage selbst zu beantworten. Ich hatte kürzlich gelesen, dass Menschen in der Lage seien, dies zu tun. Manche Autoren nannten diese Perspektive das Höhere oder Größere

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Selbst. Ich war neugierig, ob Catherine diesen Zustand er­reichen konnte, wenn es ihn gab. Wenn sie es konnte, war das eine machtvolle therapeutische Technik, eine Abkür­zung zu Einsicht und Verständnis.

»Er hat uns nie gewollt«, flüsterte sie sehr leise. »Er hat das Gefühl, wir seien Eindringlinge in seinem Leben ... Er will uns nicht.«

»Auch nicht Ihren Bruder?« fragte ich. »Ja, meinen Bruder sogar noch weniger. Er war nicht ge­

plant. Sie waren nicht verheiratet, als er ... gezeugt wurde.« Das war eine überraschende neue Information für Cathe­rine. Sie hatte nie etwas von dieser vorehelichen Schwan­gerschaft gewusst. Ihre Mutter bestätigte später die Rich­tigkeit von Catherines Enthüllungen.

Auch wenn sie ihr eigenes Leben nacherzählte, zeigte Catherine jetzt eine Weisheit und eine Perspektive, die sich bis dahin auf den spirituellen Zustand des Zwischen­bereichs beschränkt hatten. Irgendwie gab es einen ))höhe­ren« Teil ihres Geistes, eine Art Überbewusstsein. Viel­leicht war das das Höhere Selbst, das andere beschrieben hatten. Auch wenn sie nicht in Kontakt mit den Meistern und deren spektakulärem Wissen war, hatte sie in ihrem überbewussten Zustand Zugang zu tiefen Einsichten und Informationen wie der Zeugung ihres Bruders. Die be­wusste Catherine war im Wachzustand viel ängstlicher und beschränkter, viel einfacher und relativ oberflächlich. Sie konnte dann den überbewussten Zustand nicht anzap­fen. Ich fragte mich, ob die Propheten und Weisen der öst­lichen und westlichen Religionen, die man ))verwirklicht« nennt, in der Lage waren, diesen überbewussten Zustand

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einzusetzen, um ihre Weisheit und ihr Wissen zu erlangen. Wenn ja, waren wir alle dazu fähig, denn wir müssten die­ses Überbewusste alle besitzen. Der Psychoanalytiker C. G. Jung wusste von der Existenz verschiedener Bewusstseins­ebenen. Er schrieb über das kollektive Unbewusste, einen Zustand, der Catherines Überbewusstsein glich.

Ich wurde immer frustrierter wegen der unüberbrück­baren Kluft zwischen Catherines bewusstem Intellekt im Wachzustand und ihrem unbewussten Geist auf der Trance­ebene. Während sie hypnotisiert war, konnte ich auf der überbewussten Ebene faszinierende philosophische Dia­loge mit ihr führen. Aber wenn sie wach war, hatte Cathe­rine kein Interesse an Philosophie und verwandten The­men. Sie lebte in einer Welt des alltäglichen Kleinkrams und wusste nichts von ihrem Genie.

Inzwischen plagte ihr Vater sie, und die Gründe dafür wurden immer offensichtlicher. »Er hat wohl viel zu ler­nen«, bemerkte ich.

»Ja ... , das stimmt.« Ich fragte sie, ob sie wisse, was er zu lernen habe. »Die­

ses Wissen ist mir nicht gegeben.« Ihr Ton war losgelöst, entrückt. »Was mir offenbart wird, ist das, was wichtig ist für mich, was mich betrifft. Jeder Mensch muss sich auf sich selbst konzentrieren ... und schauen, dass er ... ganz wird. Es gibt Dinge, die wir lernen müssen ... , jeder von uns. Sie müssen eins ums andere·erfasst werden ... , der Rei­he nach. Nur dann können wir wissen, was unsere Nächs­ten brauchen, was ihnen oder uns fehlt, um ganz zu wer­den.« Sie sprach in einem leisen Flüstern, das ein Gefühl liebevoller Losgelöstheit vermittelte.

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Als Catherine erneut sprach, war die kindliche Stimme zurückgekehrt. ))Er macht, dass mir schlecht wird! Er lässt mich dieses Zeug essen, das ich nicht mag. Es ist Essen­Salat, Zwiebeln, Zeug, das ich hasse. Er zwingt mich, es zu essen, und er weiß, dass ich davon krank werde. Aber es ist ihm gleich!« Catherine begann zu würgen. Sie schnappte nach Luft. Wiederum schlug ich vor, dass sie diese Szene von einer höheren Warte aus betrachtete, um zu verstehen, warum ihr Vater sich so benahm.

Catherine sprach in einem tiefen Flüsterton: ))Wahr­scheinlich füllt es irgendeine Leere in ihm. Er hasst mich für das, was er getan hat. Er hasst mich deswegen, und er hasst sich selbst.« Ich hatte fast vergessen, dass er sie sexuell belästigt hatte, als sie drei Jahre alt war. ))Deshalb muss er mich strafen ... Ich muss etwas getan haben, um ihn dazu zu bringen.« Sie war drei Jahre alt, und ihr Vater war betrunken gewesen. Dennoch hatte sie diese Schuld­gefühle tief in ihrem Innern mit sich umhergetragen. Ich erklärte das Offensichtliche.

))Sie waren nur ein Baby. Sie müssen sich jetzt von dieser Schuld befreien. Sie haben nichts verbrochen. Was könnte ein dreijähriges Kind schon tun. Das waren nicht Sie, sondern Ihr Vater war es.«

))Damals muss er mich schon gehasst haben«, flüsterte sie sanft. ))Ich habe ihn zuvor gekannt, aber ich kann jetzt nicht auf diese Informationen zurückgreifen. Ich muss zu jener Zeit zurückgehen.« Auch wenn schon mehrere Stunden verstrichen waren, wollte ich zu ihrer früheren Beziehung mit ihrem Vater zurückkehren. Ich gab ihr aus­führliche Anweisungen.

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>>Sie befinden sich in einer tiefen Trance. Gleich werde ich rückwärts zählen, von drei bis eins. Sie werden in einer tiefen Trance sein und sich völlig sicher fühlen. Ihr Geist wird frei sein, um zurück zu der Zeit zu wandern, als die Verbindung zu Ihrem gegenwärtigen Vater ihren Anfang nahm, zurück zu der Zeit, die die wichtigste Auswirkung auf das hatte, was in Ihrer Kindheit zwischen ihm und Ihnen passiert ist. Wenn ich >eins< sage, werden Sie zu jenem Leben zurückgehen und sich daran erinnern. Es ist wichtig für Ihre Heilung. Sie können das. Drei ... , zwei ... , eins.« Es gab eine lange Pause.

»Ich sehe ihn nicht ... , aber ich sehe, wie Menschen ge­tötet werden!« Ihre Stimme wurde laut und tief. »Wir haben kein Recht, Menschenleben abrupt Einhalt zu ge­bieten, ehe sie ihr Karma ausgelebt haben. Doch das tun wir. Wir haben kein Recht. Sie werden eine größere Ver­geltung erfahren, wenn wir sie leben lassen. Wenn sie ster­ben und in die nächste Dimension eingehen, werden sie dort leiden. Sie werden in einem sehr ruhelosen Zustand zurückgelassen. Sie werden keinen Frieden finden, und sie werden wiederkehren, aber ihr Leben wird sehr hart sein. Und sie werden ihre Schuld bei den Menschen wieder gut­machen müssen, die sie verletzt oder ungerecht behandelt haben. Sie nehmen das Leben dieser Menschen, wozu sie kein Recht haben. Nur Gott kann sie strafen, nicht wir. Sie werden bestraft werden.«

Eine Minute verstrich in Schweigen. »Sie sind weg«, flüsterte sie. Die Meisterwesen hatten uns heute laut und deutlich eine weitere Botschaft übermittelt: Wir sollen unter keinen Umständen töten. Nur Gott kann strafen.

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Catherine war erschöpft. Ich beschloss, unsere Suche nach der früheren Verbindung zu ihrem Vater zu verschie­ben, und holte sie aus ihrer Trance. Sie erinnerte sich an nichts außer ihrem Leben als Christian und als kleine Catherine. Sie war müde, aber ruhig und entspannt, als hätte man ein riesiges Gewicht von ihren Schultern ge­nommen. Meine Augen trafen auf die Caroles. Wir waren auch erschöpft. Wir hatten gefroren und geschwitzt und uns an jedes Wort geklammert. Wir waren Teil einer unglaublichen Erfahrung gewesen.

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Von nun an setzte ich Catherines wöchentliche Sitzungen am Ende des Tages an, weil sie mehrere Stunden dauerten. Sie wirkte ebenso gelöst wie das letzte Mal, als sie in der darauf folgenden Woche eintraf. Sie hatte mit ihrem Vater telefoniert. Ohne ihn Einzelheiten wissen zu lassen, hatte sie ihm, auf ihre Weise, verziehen. Ich staunte über die Geschwindigkeit ihrer Fortschritte. Es war selten, dass ein Patient mit ihren chronischen Angsten und Befürchtungen sich so schnell erholte. Doch man konnte Catherine natür­lich kaum eine gewöhnliche Patientin nennen. Der Ver­lauf, den ihre Therapie genommen hatte, war bestimmt einmalig.

))Ich sehe eine Porzellanpuppe, die auf einer Art Kamin­sims sitzt.<< Sie war schnell in eine tiefe Trance gefallen. ))Auf beiden Seiten des Kamins sind Bücher. Es ist ein Zim­mer in einem Haus. Neben der Puppe stehen zwei Kerzen­stöcke. Und ein Gemälde ... des Gesichts, vom Gesicht des Mannes. Er ist es ... « Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer streifen. Ich fragte, was sie sehe.

))Es liegt so etwas wie ein Teppich auf dem Boden. Es ist haarig, als wäre es ... , ja, es ist ein Tierfell, das auf dem Boden liegt. Rechts befinden sich zwei Glastüren, die zur Veranda führen. Es sind vier Stufen mit Säulen vor dem Haus - vier Stufen führen nach unten zu einem Pfad.

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Überall stehen große Bäume ... Draußen sehe ich mehrere Pferde. Die Pferde sind an irgendwelche ... rfosten gebun­den, die dort draußen stehen.«

>>Wissen Sie, wo das ist?« erkundigte ich mich. Cathe­rine atmete tief ein.

»Ich sehe keinen Namen«, flüsterte sie, »aber das Jahr, die Jahreszahl muss irgendwo stehen. Wir sind im acht­zehnten Jahrhundert, doch ich weiß nicht - es gibt Bäume dort und gelbe Blumen, wirklich hübsche gelbe Blumen.« Die Blumen lenkten sie ab. »Sie riechen wunderbar süß, diese Blumen ... , eigenartige Blumen, große Blumen ... , gelbe Blumen mit runden schwarzen Mittelpunkten.« Sie hörte zu sprechen auf und war mit den Blumen beschäftigt. Mich erinnerte es an ein Sonnenblumenfeld in Südfrank­reich. Ich fragte sie nach dem Klima.

»Es ist sehr mild, aber nicht windig. Es ist weder heiß noch kalt.« Wir kamen nicht voran mit der Erkundung der Örtlichkeit. Ich führte sie ins Haus zurück, weg von den faszinierenden gelben Blumen und fragte sie, wessen Bild­nis über dem Kamin hinge.

»Ich weiß es nicht ... ich höre immer wieder Aaron ... Sein Name ist Aaron.« Ich fragte, ob ihm das Haus gehöre. »Nein, es gehört seinem Sohn. Ich arbeite dort.« Wieder trat sie als Dienstmagd auf. Sie war dem Status einer Kleo­patra oder eines Napoleons nie auch nur entfernt nahe ge­kommen. Leute, die an der Wiedergeburt zweifeln, mich selbst als Wissenschaftler bis vor zwei Monaten einge­schlossen, weisen oft auf die unrealistische Häufigkeit von Inkarnationen als Berühmtheiten hin. Jetzt befand ich mich in der höchst ungewöhnlichen Situation, dass die

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Reinkarnation mir in meinem eigenen Sprechzimmer in der Psychiatrieabteilung enthüllt wurde.

»Mein Bein ist sehr ... , schwer«, fuhr Catherine fort, »sehr schwer. Es schmerzt. Es fühlt sich fast so an, als wäre es nicht da ... Mein Bein ist verletzt. Die Pferde haben mich getreten.«

Ich sagte ihr, sie solle sich ansehen. »Ich habe braunes Haar, braunes gelocktes Haar. Ich

habe eine Art Haube auf, irgendeine weiße Haube ... , trage ein blaues Kleid mit irgendeinem Latz davor ... , eine Schürze. Ich bin jung, aber ich bin kein Kind mehr. Aber mein Bein tut weh. Es ist gerade passiert. Es tut schrecklich weh.« Sie litt sichtlich unter großen Schmerzen. »Das Huf­eisen ... , Hufeisen. Es hat mich mit seinem Huf getreten. Es ist ein sehr böses Pferd.« Ihr Gesicht wurde weicher, als der Schmerz schließlich nachließ. »Ich rieche Heu, das Futter in der Scheune. Es arbeiten noch andere Leute in den Ställen.« Ich fragte nach ihren Pflichten.

»Ich war für die Bedienung zuständig ... , um im Haupt­haus aufzuwarten. Ich hatte auch etwas mit dem Melken der Kühe zu tun.« Ich wollte mehr über die Besitzer wis-sen.

»Die Frau ist ziemlich dick und sieht sehr schlampig aus. Und es gibt zwei Töchter ... Ich kenne sie nicht«, fügte sie hinzu, indem sie meine nächste Frage vorwegnahm, ob sie schon in Catherines gegenwärtigem Leben aufgetaucht wären. Ich fragte nach ihrer eigenen Familie im achtzehn­ten Jahrhundert.

»Ich weiß es nicht; ich sehe sie nicht. Ich sehe nieman­den bei mir.« Ich fragte sie, ob sie dort lebe. »Ja, ich habe

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dort gelebt, aber nicht im Haupthaus. Sehr klein ... Das Haus wird uns zur Verfügung gestellt. Es gibt Hühner dort. Wir sammeln die Eier ein. Es sind braune Eier. Mein Haus ist sehr klein ... und weiß ... , ein Zimmer. Ich sehe einen Mann. Ich lebe mit ihm. Er hat sehr lockiges Haar und blaue Augen.« Ich fragte sie, ob sie verheiratet seien.

»Nicht deren Verständnis der Ehe, nein.« War sie dort geboren? »Nein. Ich wurde auf das Gut gebracht, als ich noch sehr jung war. Meine Familie war sehr arm.« Ihr Ge­fährte kam ihr nicht bekannt vor. Ich wies sie an, vorwärts in der Zeit zu reisen, bis zum nächsten wichtigen Ereignis in diesem Leben.

»Ich sehe etwas Weißes, weiß mit vielen Bändern drauf. Das muss ein Hut sein. Eine Art Haube mit Federn und weißen Bändern.«

»Wer trägt diesen Hut? Ist es ... « Sie schnitt mir das Wort ab.

»Die Dame des Hauses natürlich.« Ich kam mir ein biss­chen blöd vor. »Eine ihrer beiden Töchter heiratet. Die ganze Gegend feiert mit.« Ich fragte sie, ob etwas über die Heirat in der Zeitung gestanden habe. Wenn ja, hätte ich sie das Datum nachsehen lassen.

»Nein, ich glaube nicht, dass es hier Zeitungen gibt. Ich sehe nichts dergleichen.« Handfeste Hinweise waren in diesem Leben schwer zu finden. »Sehen Sie sich auf der Hochzeit?«, fragte ich sie. Sie antwortete schnell und in einem lauten Flüsterton.

»Wir sind nicht auf der Hochzeit: Wir dürfen lediglich zuschauen, wie die Leute kommen und gehen. Die Be­diensteten dürfen nicht hin.«

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»Was empfinden Sie?« »Hass.« »Warum? Werden Sie schlecht behandelt?« »Weil wir arm sind«, antwortete sie leise, »und wir sind

von ihnen abhängig. Wir haben so wenig im Vergleich zu dem, was sie haben.«

»Verlassen Sie das Gut überhaupt jemals? Oder verbrin­gen Sie Ihr Leben dort?«

Versonnen antwortete sie: »Ich verbringe mein ganzes Leben dort.« Ich konnte ihre Traurigkeit spüren. Ihr Leben war schwer und hoffnungslos. Ich führte sie bis zu ihrem Todestag.

»Ich sehe ein Haus. Ich liege im Bett ... , auf dem Bett. Sie flößen mir etwas zu trinken ein, etwas Warmes. Es riecht wie Pfefferminze. Meine Brust ist schwer. Das Atmen fällt mir schwer ... Ich habe Schmerzen in der Brust und im Rücken ... Es ist ein schlimmer Schmerz ... Mühe beim Sprechen.« Sie atmete schnell und oberflächlich und litt große Schmerzen. Nach ein paar Minuten des Todes­kampfs wurde ihr Gesicht weicher, ihr Körper entspannte sich, und ihr Atem ging wieder normal.

»Ich habe meinen Körper verlassen.« Ihre Stimme klang lauter und tiefer. »Ich sehe ein wunderbares Licht ... Es kommen Leute auf mich zu. Sie kommen, um mir zu helfen. Wunderbare Leute. Sie haben keine Angst ... Ich fühle mich sehr leicht ... « Es gab eine lange Pause.

»Haben Sie irgendwelche Gedanken zum Leben, das Sie gerade durchlebt haben?«

»Das kommt später. Im Augenblick spüre ich einfach den Frieden. Es ist eine Zeit des Trostes. Der Betroffene

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muss getröstet werden. Die Seele ... findet hier Frieden. Man lässt alle seine Körperschmerzen hinter sich. Die Seele ist zufrieden und ruhig ... Es ist ein wunderbares Gefühl, als würde die Sonne auf dich scheinen. Das Licht ist so hell! Alles kommt vom Licht! Energie kommt aus diesem Licht. Unsere Seele geht sofort dorthin. Es ist bei­nahe wie eine magnetische Kraft, von der wir angezogen werden. Es ist wunderbar. Es ist wie eine Kraftquelle. Es versteht zu heilen.«

»Hat es eine Farbe?« »Es besteht aus vielen Farben.« Sie hielt inne und ruhte

sich in diesem Licht aus. »Was empfinden Sie?«, wagte ich zu fragen. »Nichts ... , nur Frieden. Man ist bei seinen Freunden.

Sie sind alle dort. Ich sehe viele Leute. Manche sind mir bekannt, andere nicht. Aber sie sind dort und warten.« Sie fuhr fort zu warten, während die Minuten langsam ver­strichen. Ich beschloss, das Tempo voranzutreiben.

»Ich habe eine Frage.« »An wen?«, fragte Catherine. »lrgendwen - Sie oder die Meister«, wich ich aus. »>ch

denke, es wird uns helfen, wenn wir das verstehen. Die Frage lautet: Wählen wir die Zeiten und Arten unserer Geburt und unseres Todes? Können wir unsere Lage aus­wählen? Können wir den Augenblick bestimmen, wenn wir wieder sterben? Ich glaube, es würde uns viel von unseren Angsten nehmen, wenn wir das verstehen könn­ten. Gibt es dort jemanden, der diese Frage beantworten kann?« Das Zimmer fühlte sich kalt an. Als Catherine wieder sprach, war ihre Stimme tiefer und voller. Es war

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eine Stimme, die ich nie zuvor gehört hatte, die Stimme eines Dichters.

»Ja, wir wählen, wann wir in die physische Ebene ein­treten und wann wir sie wieder verlassen werden. Wir wissen, wann wir das erreicht haben, weswegen wir hier­hergesandt wurden. Wir wissen, wann unsere Zeit abge­laufen ist. Auch du wirst deinen Tod akzeptieren. Denn du weißt, dass es nichts mehr aus diesem Leben herauszu­holen gibt. Wenn du Zeit hast, wenn du die Zeit gehabt hast, dich auszuruhen und deine Seele mit neuer Energie zu füllen, wird dir erlaubt, deinen Wiedereintritt in den physischen Zustand auszusuchen. Die, die zögern und sich ihrer Rückkehr dorthin nicht sicher sind, könnten die Gelegenheit verpassen, die ihnen gegeben wurde: die Chance zu erfüllen, was sie erfüllen müssen, wenn sie sich auf der physischen Ebene befinden.«

Ich wusste sofort mit aller Sicherheit, dass es nicht Catherine war, die da sprach. )) Wer spricht zu mir«, flehte ich, »wer spricht?«

Catherine antwortete mit ihrem üblichen leisen Flüs­tern: »Ich weiß es nicht. Die Stimme von jemand sehr ... , jemand, der die Dinge kontrolliert, aber ich weiß nicht, wer es ist. Ich kann lediglich seine Stimme hören und ver­suche, Ihnen zu erzählen, was er sagt.«

Sie wusste auch, dass dieses Wissen nicht von ihr kam, weder vom Unterbewussten noch vom Unbewussten. Nicht einmal vom überbewussten Selbst. Sie hörte irgend­wie auf die Worte und Gedanken von jemand sehr Beson­derem, die sie dann an mich weitergab, von einem Wesen, das »die Dinge kontrolliert«. Es war ein weiterer Meister

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aufgetaucht, verschieden von dem - oder denen -, von dem die vorherigen weisen Botschaften gekommen waren. Dies war ein neuer Geist, mit einer charakteristischen Stimme und einem eigenen Stil, poetisch und gelassen. Es war ein Meister, der ohne zu zögern über den Tod sprach, dessen Stimme und Gedanken jedoch voller Liebe waren. Diese Liebe fühlte sich warm und wirklich an und den­noch losgelöst und universal. Es fühlte sich glückselig an, ohne erdrückend, emotional oder einschränkend zu wirken. Es vermittelte ein Gefühl warmer Losgelöstheit oder objektiver liebevoller Güte, und es fühlte sich durch­aus vertraut an.

Catherines Flüstern wurde lauter: »Ich habe kein Ver-trauen in diese Leute.«

»Kein Vertrauen in welche Leute?«, forschte ich. »In die Meister.« »Kein Vertrauen?« »Nein, mir fehlt es an Vertrauen. Deshalb ist mein Leben

so schwierig gewesen. Ich hatte in diesem Leben kein Ver­trauen.« Ruhig beurteilte sie ihr Leben im achtzehnten Jahrhundert. Ich fragte sie, was sie in diesem Leben ge­lernt habe.

»Ich lernte Wut und Ärger kennen und wie man seine Gefühle vor anderen Menschen verschließt. Ich musste ebenfalls lernen, dass ich keine Kontrolle über mein Leben habe. Ich wollte Kontrolle, aber ich habe keine. Ich muss­te den Meistern vertrauen. Sie werden mich immer führen. Aber ich hatte dieses Vertrauen nicht. Ich hatte von An­fang an das Gefühl, verdammt zu sein. Ich betrachtete die Dinge nie von der angenehmen Seite. Wir müssen Ver-

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trauen haben ... , wir müssen Vertrauen haben. Und ich zweifle. Ich wählte zu zweifeln, anstatt zu glauben.« Sie schwieg.

»Was sollten Sie und ich tun, um besser zu werden? Sind unsere Wege dieselben?« Die Antwort kam von dem Meis­ter, der in der vergangeneo Woche von intuitiven Kräften und von der Rückkehr aus dem Koma gesprochen hatte. Stimme, Stil und Ton unterschieden sich sowohl von Catherines als auch von denen des poetischen Meisters, der gerade gesprochen hatte.

»Wir haben alle grundsätzlich denselben Weg und müs­sen alle bestimmte Einstellungen lernen, wenn wir uns auf der physischen Ebene befinden. Manche von uns können sie schneller akzeptieren als andere. Dienen, Hoffnung, Glaube, Liebe ... wir müssen alle diese Dinge wissen und gut kennen. Es gibt nicht nur eine Hoffnung, einen Glau­ben oder eine Liebe - so viele Dinge hängen daran. Es gibt so viele Wege, um sie auszudrücken. Dennoch haben wir nur ein kleines bisschen von allen dreien berührt ...

Menschen in religiösen Orden sind ihnen näher gekom­men als wir alle, weil sie diese Gelübde von Keuschheit und Gehorsam abgelegt haben. Sie geben so viel, ohne etwas zurückzuverlangen. Der Rest von uns verlangt weiterhin nach Belohnungen - Belohnungen und Recht­fertigungen für unser Verhalten ... , wenn es doch keine Belohnungen gibt, die wir wollen. Oie Belohnung liegt in der Tat selbst, ohne etwas dafür zu erwarten ... , in selbst­losem Handeln. - Das hatte ich nicht begriffen«, fügte Catherine in ihrem leisen Flüstern hinzu.

Das Wort »Keuschheit« verwirrte mich einen Augen-

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blick, doch dann erinnerte ich mich, dass dessen Wurzel »rein« bedeutet, was auf einen ganz anderen Zustand hin­wies als lediglich den der sexuellen Enthaltsamkeit.

» ... Maß zu halten(<, fuhr sie fort. »Alles, was im Über­maß getan wird ... , im Übermaß. Sie werden es verstehen. Sie verstehen es wirklich.(( Wieder machte sie eine Pause.

»Ich versuche es«, fügte ich hinzu. Dann beschloss ich, mich auf Catherine zu konzentrieren. Vielleicht waren die Meister noch nicht fortgegangen. >>Was kann ich tun, um Catherine am besten zu helfen, ihre Angste und Befürch­tungen zu überwinden? Ist dies der beste Weg, oder sollte ich etwas ändern? Oder in einem bestimmten Bereich nachfragen? Wie kann ich ihr am besten helfen?«

Die Antwort kam in der tiefen Stimme des poetischen Meisters. »Was du tust, ist korrekt. Aber du tust es für dich, nicht für sie.« Wieder lautete die Botschaft, dass es mehr zu meinem Nutzen als für Catherine geschah.

»Für mich?« »Ja. Was wir sagen, gilt dir.« Nicht nur sprach er von

Catherine in der dritten Person, sondern er sagte »wir«. Es waren tatsächlich mehrere Meisterwesen zugegen.

»Darf ich erfahren, wie ihr heißt?(<, fragte ich und schrak sofort vor der Oberflächlichkeit meiner Frage zurück. >>Ich brauche Führung. Ich habe so viel zu lernen.«

Die Antwort war ein Liebesgedicht, ein Gedicht über mein Leben und meinen Tod. Die Stimme war sanft und zärtlich, und ich spürte die liebevolle Objektivität eines universalen Geistes. Ehrfurchtsvoll hörte ich zu.

»Du wirst durch die Zeit geführt, wirst geführt werden ... durch die Zeit. Und wenn du erreichst, wozu du aus-

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gesandt wurdest, es zu erreichen, wird dein Leben zu Ende sein. Doch nicht davor. Du hast viel Zeit vor dir ... viel Zeit.<<

Ich war gleichzeitig verängstigt und erleichtert. Ich war froh, dass er nicht spezifischer wurde. Catherine war ruhe­los und sagte mit einer kleinen Stimme:

»Ich falle, falle ... , versuche mein Leben zu finden ... , falle.« Sie seufzte und ich auch. Die Meister waren fort. Ich dachte über die wunderbaren Botschaften nach. Sehr per­sönliche Botschaften aus einer sehr spirituellen Quelle. Die Folgerungen waren überwältigend. Das Licht nach dem Tode und das Leben nach dem Tode, unsere Wahl, wann wir geboren werden und wann wir sterben, die sichere und unbeirrbare Führung der Meister, Leben, die nicht in Jahren gemessen wurden, sondern auf Grund von gelernten Lehren und erfüllten Aufgaben, an Wohltätig­keit, Hoffnung, Glaube und Liebe, an Tun, ohne etwas dafür zu erwarten- dieses Wissen war für mich übermittelt worden. Doch zu welchem Zweck? Wozu war ich hierher geschickt worden?

Die dramatischen Botschaften und Ereignisse, die in mei­nem Arbeitszimmer auf mich niederprasselten, spiegelten sich in tiefen Veränderungen in meinem persönlichen und familiären Leben. Die Transformation schlich sich allmäh­lich in mein Bewusstsein. Zum Beispiel landete ich eines Tages in einem riesigen Stau, als ich mit meinem Sohn zum Baseballmatch einer College-Mannschaft fuhr. Ich hatte mich sonst immer über Verkehrsstaus aufgeregt, und jetzt würden wir die ersten ein oder zwei Spielzüge verpassen.

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Mir war bewusst, dass ich diesmal nicht verärgert war. Ich schrieb die Schuld nicht irgendeinem inkompetenten Fahrer zu. Mein Nacken und meine Schultern waren ent­spannt. Ich ließ meine Verärgerung nicht an meinem Sohn aus, und wir verbrachten die Zeit damit, miteinander zu reden. Mir wurde bewusst, dass ich einfach nur einen glücklichen Nachmittag mit Jordan verbringen und ein Spiel sehen wollte, das wir beide mögen. Das Ziel des Nachmittags war, Zeit miteinander zu verbringen. Wenn ich mich aufgeregt hätte und wütend geworden wäre, wäre der ganze Ausflug verdorben gewesen.

Ich sah meine Frau und meine Kinder an und fragte mich, ob wir schon früher zusammen gewesen waren. Hatten wir gewählt, die Prüfungen, Freuden und Leiden dieses Lebens miteinander zu teilen? Waren wir alterslos? Ich empfand ein starkes Gefühl von Liebe und Zärtlichkeit ihnen gegenüber. Ich erkannte, dass ihre Schwächen und Fehler unwichtig waren, dass allein Liebe wichtig ist.

Es geschah sogar, dass ich aus den gleichen Gründen über meine eigenen Fehler hinwegsah. Ich brauchte nicht zu versuchen, perfekt zu sein oder die Kontrolle zu be­halten. Es gab wirklich keinen Grund, irgendwen beein­drucken zu wollen.

Ich war sehr glücklich, dass ich diese Erfahrung mit Carole teilen konnte. Oft sprachen wir über alles nach dem Abendessen und entwirrten dabei meine Gefühle und Reaktionen auf Catherines Sitzungen. Carole hat einen analytischen Verstand und steht mit beiden Füßen auf dem Boden. Sie wusste, wie sehr ich getrieben war, die Erfah­rung mit Catherine in einen wissenschaftlichen Rahmen zu

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stellen, und sie spielte die Rolle des Advocatus Diaboli, um mir zu helfen, diese Daten objektiv einzuordnen. Als die Beweise zunahmen, dass Catherine tatsächlich höchs­te Wahrheiten offenbarte, spürte und teilte Carole meine Zweifel und meine Freuden.

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Als Catherine eine Woche später zu ihrer nächsten Sitzung kam, war ich bereit, ihr das Band von dem erstaunlichen Dialog der letzten Wochen vorzuspielen. Schließlich lie­ferte sie mir nicht nur Erinnerungen an frühere Leben, son­dern auch himmlische Poesie. Ich erklärte ihr, sie habe Zugang zu Wissen, das sich auf Erfahrungen nach dem Tode beziehe, auch wenn sie keinerlei Erinnerung an die­sen jenseitigen oder spirituellen Zustand hätte. Sie hörte mir nur widerstrebend zu. Da es ihr überwältigend besser ging und sie viel glücklicher war, brauchte sie dieses Mate­rial vielleicht nicht zu hören. Überdies war ihr das alles ein bisschen ))unheimlich«. Ich bewegte sie trotzdem zum Zuhören. Die Botschaft war wunderbar und erhebend und wurde durch sie vermittelt. Ich wollte sie mit ihr teilen. Sie hörte ihrem leisen Flüstern nur ein paar Minuten zu und hieß mich dann, das Band abzustellen. Sie sagte, es sei ein­fach zu seltsam, und ihr sei nicht wohl dabei. Ohne es aus­zusprechen, erinnerte ich mich: ))Dieses Material ist für dich. Es ist nicht für sie.«

Ich fragte mich, wie lange diese Sitzungen fortdauern würden, denn es ging ihr jede Woche besser. Jetzt blieben nur ein paar kleine Wellen auf dem einst stürmischen See. Sie fürchtete sich immer noch vor geschlossenen Räumen, und ihre Beziehung zu Stuart war nach wie vor ein stän-

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diges Auf und Ab. Abgesehen davon, waren ihre Fort­schritte bemerkenswert.

Wir hatten seit Monaten keine traditionellen psycho­therapeutischen Sitzungen mehr durchgeführt. Es war nicht nötig. Wir plauderten jeweils ein paar Minuten, um die Ereignisse der Woche zu rekapitulieren, und gingen dann schnell zur hypnotischen Rückführung über. Ob es an den tatsächlichen Erinnerungen wichtiger Traumata oder täglicher Minitraumata oder am Prozess des Wieder­erlebens dieser Erfahrungen lag, Catherine war praktisch geheilt. Ihre Phobien und Panikanfälle waren beinahe ver­schwunden. Sie fürchtete sich nicht länger vor dem Tod oder dem Sterben. Psychiater setzen gegenwärtig hoch­dosierte Beruhigungsmittel und Antidepressiva ein, um Menschen mit Catherines Symptomen zu behandeln. Zusätzlich zu den Medikamenten befinden sich die Patien­ten auch oft in intensiver Psychotherapie oder begleiten­den Gruppensitzungen gegen die Angst. Viele Psychiater glauben, dass Symptome wie die von Catherine eine bio­logische Ursache haben, dass es Mängel an einer oder mehreren Gehirnsubstanzen sind.

Als ich Catherine in einen tiefen Trancezustand hypno­tisierte, dachte ich darüber nach, wie bemerkenswert und wunderbar es war, dass sie innerhalb von Wochen, ohne Einsatz von Medikamenten, traditioneller Therapie oder Gruppentherapie beinahe geheilt war. Dies geschah weder durch eine Unterdrückung der Symptome noch durch ein Zusammenbeißen der Zähne, um es auszuhalten und dann ein von Angsten gequältes Leben zu führen. Es war eine Heilung, die Abwesenheit von Symptomen. Ihr Strahlen,

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ihre Ausgeglichenheit und ihre Zufriedenheit übertrafen meine kühnsten Hoffnungen.

Ihre Stimme war wieder ein leises Flüstern: »Ich befinde mich in einem Gebäude, etwas mit einer Kuppel. Die Decke ist blau und golden. Es sind andere Menschen bei mir. Sie tragen ... alte ... eine Art Roben, sehr alt und schmutzig. Ich weiß nicht, wie wir dort hingekommen sind. Es sind so viele Gestalten in dem Raum. Es gibt auch einige Figuren, einige Figuren, die auf irgendwelchen Steinsockeln stehen. Am Ende des Raums ist eine große goldene Gestalt. Sie erscheint ... Sie ist sehr groß und hat Flügel. Sie ist sehr böse. Es ist sehr heiß in diesem Raum, sehr heiß. Es ist heiß, weil es in diesem Raum keine Öff­nungen gibt. Wir müssen uns vorn Dorf fern halten, denn mit uns stimmt etwas nicht.«

»Sind Sie krank?« »Ja, wir sind alle krank. Ich weiß nicht, was wir haben,

aber unsere Haut stirbt. Sie wird ganz schwach. Mir ist sehr kalt. Die Luft ist sehr trocken, sehr abgestanden. Wir können nicht in das Dorf zurückkehren, müssen draußen bleiben. Manche Gesichter sind entstellt.«

Diese Krankheit klang schrecklich, sie erinnerte an Lepra. Wenn Catherine jemals ein schönes Leben gehabt hatte, so waren wir noch nicht darauf gestoßen. »Wie lange müssen Sie dort bleiben?«

»Auf immer und ewig«, antwortete sie düster, »bis wir sterben. Es gibt kein Mittel gegen diese Krankheit.«

»Kennen Sie den Namen der Krankheit? Wie nennt man sie?«

»Nein. Die Haut ist sehr trocken und schrumpft ein. Ich

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bin schon seit Jahren hier. Es gibt andere, die gerade erst angekommen sind. Es gibt keinen Weg zurück. Wir sind ausgestoßen worden ... , um zu sterben.«

Sie führte ein trauriges Leben in einer Höhle. »Wir müssen unser Essen selbst suchen. Ich sehe irgend­

ein wildes Tier, dem wir nachjagen ... mit Hörnern. Es ist braun und hat große Hörner.«

»Kümmert sich irgendwer um Sie?« »Nein, sie dürfen nicht in unsere Nähe kommen, oder

sie werden an derselben Seuche leiden. Wir sind ver­dammt ... wegen irgendwelcher Sünden, die wir begangen haben. Und dies ist unsere Strafe.« Im Stundenglas ihres Lebens rieselte der Sand ihrer Glaubensvorstellungen ständig von einer Seite zur anderen. Nur nach dem Tode gab es freudiges Willkommen und beruhigendes Gleich­maß.

»Wissen Sie, welches Jahr es ist?« »Wir haben unser Zeitgefühl verloren. Wir sind krank

und warten nur auf unseren Tod.« »Gibt es keine Hoffnung?« Ich spürte die ansteckende

Verzweiflung. »Nein, es gibt keine Hoffnung. Wir werden alle sterben.

Und meine Hand tut sehr weh. Mein ganzer Körper ist schwach. Ich bin alt. Es ist schwer für mich, mich zu be­wegen.«

»Was passiert, wenn Sie sich nicht mehr bewegen kön­nen?«

»Man wird in eine andere Höhle gebracht und dort ge­lassen, um zu sterben.«

»Was machen sie mit den Toten?«

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»Sie versiegeln den Eingang zur Höhle.« »Haben sie je eine Höhle versiegelt, ehe der Betreffende

tot war?« Ich suchte nach einem Hinweis für ihre Angst vor geschlossenen Räumen.

»Ich weiß es nicht. Ich bin nie dort gewesen. Ich bin in dem Raum, wo auch alle anderen sind. Es ist sehr heiß. Ich liege an der Wand, liege einfach nur dort.«

»Wofür wird dieser Raum gebraucht?« »Er ist für die Andacht ... viele Götter. Es ist sehr

heiß.« Ich führte sie in der Zeit voraus. »Ich sehe etwas Weißes.

Ich sehe etwas Weißes, irgendeine Bahre. Sie transportie­ren jemanden ab.«

»Sind Sie es?« »>ch weiß es nicht. Ich werde meinen Tod willkommen

heißen. Mein Körper leidet so sehr.« Catherines Lippen waren vor Schmerz nur noch dünne Striche, und sie keuch­te wegen der Hitze in der Höhle. Ich führte sie zu ihrem Todestag. Sie keuchte immer noch.

»Fällt Ihnen das Atmen schwer?«, fragte ich. »Ja, so heiß hier ... Es ist ... , so heiß, sehr dunkel. Ich

kann nichts sehen ... , und ich kann mich nicht bewegen.« Die Öffnung der Höhle war bereits versiegelt worden. Sie hatte Angst und fühlte sich schrecklich. Ihr Atem ging schneller und unregelmäßiger. Zum Glück konnte sie ster­ben und ihr angsterfülltes Leben beenden.

»Ich fühle mich sehr leicht ... , als würde ich schweben. Es ist sehr hell hier. Es ist wunderbar!«

»Leiden Sie Schmerzen?« »Nein!« Ich machte eine Pause, denn ich erwartete die

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Meister. Stattdessen wurde sie fortgetragen. »Ich falle sehr schnell. Ich gehe in einen Körper zurück!« Sie schien eben­so überrascht zu sein wie ich.

»Ich sehe Gebäude, Gebäude mit runden Säulen. Es sind viele Gebäude. Wir stehen draußen. Es gibt Bäume dort -Olivenbäume. Es ist sehr schön. Wir sehen uns etwas an ... Die Leute tragen eigenartige Masken, die ihr Gesicht be­decken. Es ist irgendeine Feier. Sie tragen lange Gewänder und Masken, die ihr Gesicht bedecken. Sie geben vor, etwas zu sein, was sie nicht sind. Sie stehen auf einer Bühne ... über unseren Sitzplätzen.«

»Sehen Sie ein Theaterstück?« »Ja.« »Wie sehen Sie aus? Schauen Sie sich an.« »Ich habe braunes Haar. Mein Haar ist geflochten.« Sie

wartete. Ihre Beschreibung von sich und die Gegenwart von Olivenbäumen erinnerte mich an Catherines griechi­sches Lehen fünfzehnhundert Jahre vor Christus, als ich ihr Lehrer war, Diogenes. Ich entschloss mich zu einer Untersuchung.

»Wissen Sie das Datum?« »Nein.« »Sind Leute bei Ihnen, die Sie kennen?« »Ja, mein Mann sitzt neben mir. Ich kenne ihn nicht [in

ihrem jetzigen Leben].« »Haben Sie Kinder?« »Ich trage eine Frucht in mir.« Ihre Wortwahl war inte­

ressant, irgendwie altertümlich und gar nicht wie Cathe­rines bewusster Stil.

»Ist Ihr Vater dort?«

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))Ich sehe ihn nicht. Sie sind irgendwo dort ... , aber nicht

bei mir.« Also hatte ich Recht. Es war vor fünfunddreißig

Jahrhunderten. )) Was machen Sie dort?« )) Wir sehen nur zu, aber Sie lehren. Sie lehren ... Wir

haben Dinge von Ihnen gelernt ... , Vierecke und Kreise, witzige Dinge. Diogenes heißen Sie dort.«

))Was wissen Sie sonst noch von mir?«

))Sie sind alt. Wir sind irgendwie verwandt ... Sie sind der Bruder meiner Mutter.«

))Kennen Sie auch andere Mitglieder meiner Familie?« ))Ich kenne Ihre Frau ... und Ihre Kinder. Sie haben

Söhne. Zwei von ihnen sind älter als ich. Meine Mutter ist gestorben. Sie starb sehr jung.«

))Sind Sie bei Ihrem Vater aufgewachsen?«

)) Ja, aber jetzt bin ich verheiratet.« ))Und Sie erwarten ein Kind?«

))Ja. Ich habe Angst. Ich möchte nicht sterben, wenn das Baby geboren wird.«

))Ist das Ihrer Mutter passiert?« ))Ja.«

))Und Sie haben Angst, es würde Ihnen auch so gehen?« ))Es geschieht sehr oft.« ))Ist es Ihr erstes Kind?«

))Ja, ich habe Angst. Ich erwarte es bald. Ich bin hoch­schwanger. Es ist sehr unbequem für mich, wenn ich mich bewege ... Es ist kalt.« Sie war zeitlich etwas fortgeschrit­

ten. Das Baby wurde gerade geboren. Catherine hatte nie ein Kind geboren, und ich hatte in den vierzehn Jahren, seit ich an der medizinischen Fakultät meinen Pflichtauf-

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enthalt in der gynäkologischen Abteilung hinter mich ge­bracht hatte, keines entbunden.

»Wo sind Sie?«, erkundigte ich mich. »Ich liege auf etwas sehr Kaltem. Es ist sehr kalt. Ich

habe Schmerzen ... Jemand muss mir helfen. Jemand muss mir helfen.« Ich sagte ihr, sie solle tief atmen und dass das Kind ohne Schmerzen geboren würde. Sie keuchte und stöhnte. Ihre Wehen dauerten noch einige qualvolle Minu­ten, dann wurde ihr Kind geboren. Es war eine Tochter.

»Fühlen Sie sich jetzt besser?« »Sehr schwach ... , so viel Blut!« »Wissen Sie, wie Sie sie nennen werden?« »Nein, ich bin zu müde ... Ich will mein Baby.« »Ihr Baby ist bei Ihnen«, improvisierte ich, »ein kleines

Mädchen.« »Ja, mein Mann ist erfreut.« Sie war erschöpft. Ich wies

sie an, ein kleines Schläfchen zu machen und erfrischt zu erwachen. Nach ein oder zwei Minuten weckte ich sie.

»Fühlen Sie sich jetzt besser?« »Ja ... Ich sehe Tiere. Sie tragen etwas auf dem Rücken.

Sie haben Körbe auf dem Rücken. Es sind viele Dinge in den Körben ... Essen ... , irgendwelche roten Früchte ... «

»Ist es ein schönes Land?« »Ja, mit viel Nahrung.« »Kennen Sie den Namen dieses Landes? Wie nennen Sie

das Dorf, wenn ein Fremder Sie danach fragt?« »Cathenia ... , Cathenia.« »Es klingt wie eine griechische Stadt«, hakte ich nach. »Das weiß ich nicht. Aber Sie wissen es. Sie haben das

Dorf verlassen und sind wieder zurückgekehrt. Ich nicht.«

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Das war ziemlich heikel. Da ich in diesem Leben ihr alter und weiser Onkel war, fragte sie mich, ob ich nicht die Antwort auf meine eigene Frage wüsste. Leider war mir dieses Wissen nicht zugänglich.

»Haben Sie Ihr ganzes Leben in diesem Dorf gelebt?«, fragte ich. »Ja«, flüsterte sie, »aber Sie reisen, damit Sie das lernen können, was Sie lehren. Sie reisen, um zu lernen, um das Land kennenzulernen ... , die verschiedenen Han­delsstraßen, damit Sie sie festhalten und Karten herstellen können ... Sie sind alt. Sie gehen mit den jüngeren Leuten, weil Sie etwas von Karten verstehen. Sie sind sehr weise.«

»Was für Karten meinen Sie, Sternkarten?« >>Ja. Sie verstehen die Symbole. Sie können ihnen dabei

helfen ... , die Karten anzufertigen.« »Erkennen Sie andere Leute aus dem Dorf?« »Ich kenne sie nicht ... , aber ich kenne Sie.« »ln Ordnung. Wie ist unsere Beziehung?« »Sehr gut. Sie sind sehr gütig. Ich sitze gerne einfach nur

neben Ihnen, es ist sehr tröstlich ... Sie haben uns geholfen. Sie haben meinen Schwestern geholfen ... «

»Es wird aber eine Zeit kommen, da ich Sie verlassen muss, denn ich bin alt.«

»Nein.« Sie war nicht bereit, sich mit meinem Tod aus­einander zu setzen. »Ich sehe Brot, Fladenbrot, sehr flach und dünn.«

»Wird dieses Brot gegessen?« »Ja, von meinem Vater, meinem Mann und mir. Und von

anderen Leuten im Dorf.« »Zu welchem Anlass?« »Es ist eine Art ... , eine Art Fest.«

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»Ist Ihr Vater dort?« »Ja.« »Ist Ihr Baby dort?« »Ja, aber es ist nicht bei mir. Es ist bei meiner Schwes­

ter.« »Schauen Sie sich Ihre Schwester genau an«, schlug ich

vor, auf der Suche nach dem Erkennen einer wichtigen Person in Catherines gegenwärtigem Leben.

»Ja, aber ich kenne sie nicht.« »Erkennen Sie Ihren Vater?« »Ja ... , ja ... , Edward. Es gibt Feigen, Feigen und Oliven

... und rote Früchte. Und Fladenbrot. Sie haben einige Schafe geschlachtet. Sie rösten die Schafe.« Es gab eine lange Pause. »Ich sehe etwas Weißes.« Wieder hatte sie einige Zeit verstreichen lassen. »Es ist eine weiße, vier­eckige Schachtel. Dort hinein legen sie die Leute, wenn sie sterben.«

»Dann ist also jemand gestorben?« »Ja ... , mein Vater. Ich möchte ihn nicht anschauen. Ich

will ihn nicht sehen.« »Müssen Sie hinsehen?« »Ja. Sie werden ihn mitnehmen, um ihn zu begraben.

Ich bin sehr traurig.« »Ja, ich weiß. Wie viele Kinder haben Sie?« Der Bericht­

erstatter in mir wollte sie nicht trauern lassen. »Drei, zwei Knaben und ein Mädchen.« Als sie meine

Frage gehorsam beantwortet hatte, kehrte sie zu ihrer Trauer zurück. »Sie haben etwas über seinen Körper gelegt, eine Art Decke ... «

Sie schien sehr traurig zu sein.

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»Bin ich inzwischen auch schon gestorben?« »Nein. Wir trinken, Trauben, Trauben in einer Tasse.« »Wie sehe ich jetzt aus?« »Sie sind alt, sehr alt.« »Fühlen Sie sich schon besser?« »Nein! Wenn Sie sterben, werde ich allein sein.« »Haben Sie Ihre Kinder überlebt? Sie werden sich um

Sie kümmern.« »Aber Sie wissen so viel.« Sie klang wie ein kleines

Mädchen. »Sie werden zurechtkommen. Sie wissen auch viel. Sie

werden in Sicherheit sein.« Ich tröstete sie, und sie schien friedlich zu ruhen.

»Fühlen Sie sich jetzt ruhiger? Wo befinden Sie sich jetzt?«

»Ich weiß es nicht.« Sie war scheinbar in einen geistigen Zustand übergegangen, auch wenn sie das Ende jenes Lebens nicht erfahren hatte. Diese Woche waren wir zwei Leben in vielen Einzelheiten durchgegangen. Ich erwartete die Meister, aber Catherine ruhte sich weiterhin aus. Nach einigen weiteren Minuten fragte ich sie, ob sie mit den Meisterwesen sprechen könne.

»Ich habe diese Ebene noch nicht erreicht«, erklärte sie. »Ich kann nicht sprechen, bis ich dort bin.«

Doch sie kam nicht dort an. Nach langem Warten führ­te ich sie aus ihrer Trance.

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Bis zu unserer nächsten Sitzung vergingen drei Wochen. Als ich während meines Urlaubs an einem tropischen Strand lag, hatte ich die Zeit und den Abstand, um über das nachzudenken, was mit Catherine geschehen war: eine hypnotische Rückführung in frühere Leben mit detaillier­ten Beobachtungen und Erklärungen von Gegenständen, Prozessen und Tatsachen - von denen sie in ihrem nor­malen, wachen Zustand keine Ahnung hatte; Besserung ihrer Symptome durch die Rückführungen - Besserungen, die durch die konventionelle Psychotherapie in den ersten achtzehn Monaten der Behandlung nicht einmal entfernt erreicht wurden; bestürzend genaue Enthüllungen aus dem jenseitigen, geistigen Zustand, die Wissen vermittelten, zu denen sie keinen bewussten Zugang hatte; spirituelle Poesie und Lehren über die Dimensionen nach dem Tode, über Leben und Tod, Geburt und Wiedergeburt, von Meis­tern, die mit einer Weisheit und in einem Stil sprachen, der Catherines Fähigkeiten bei weitem überstieg. Es gab wirk­lich einiges zu betrachten.

Über die Jahre hatte ich viele Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Psychiatriepatienten behandelt, die das ge­samte Spektrum von emotionalen Störungen aufgewiesen hatten. Ich hatte an vier großen medizinischen Fakultäten stationäre psychiatrische Abteilungen geführt. Ich hatte

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Jahre in psychiatrischen Notaufnahmestationen, ambulan­ten Kliniken und verschiedenen anderen Einrichtungen zugebracht, wo ich ambulante Patienten untersuchte und behandelte. Ich wusste genau Bescheid über die auditiven und visuellen Halluzinationen und Wahnvorstellungen der Schizophrenie. Ich hatte viele Patienten mit BorderBne­syndromen und hysterischen Charakterstörungen behan­delt, darunter auch solche mit gespaltenen oder multiplen Persönlichkeiten. Ich war Dozent für Drogen- und Alko­holmissbrauch gewesen. Die Auswirkungen von Drogen auf das Gehirn hatte ich intensiv studiert.

Catherine wies keine dieser Symptome oder Syndrome auf. Was geschehen war, war kein Ausdruck psychischer Krankheit. Sie war nicht psychotisch oder außer Kontakt mit der Wirklichkeit, und sie hatte nie an Halluzinationen (Dinge sehen oder hören, die nicht wirklich sind) oder Täuschungen (Irrglauben) gelitten.

Sie nahm keine Drogen und hatte keine soziapathischen Züge. Das heißt, sie war sich im Allgemeinen dessen be­wusst, was sie tat oder dachte, sie funktionierte nicht »automatisch« und hatte nie unter einer gespaltenen oder multiplen Persönlichkeit gelitten. Das Material, das sie hervorbrachte, ging sowohl hinsichtlich des Stils als auch des Inhalts oft über ihre bewussten Möglichkeiten hinaus. Manches davon war besonders medial, wie die Anspie­lungen auf spezifische Ereignisse und Tatsachen aus mei­ner eigenen Vergangenheit (zum Beispiel das Wissen über meinen Vater und über meinen Sohn) wie auch aus der ihren. Sie verfügte über Wissen, zu dem sie in ihrem jetzi­gen Leben nie Zugang gehabt hatte oder dort hätte sam-

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mein können. Dieses Wissen wie auch die gesamte Erfah­rung waren ihrer Kultur und Erziehung fremd und wider­sprachen vielen von ihren Überzeugungen.

Catherine ist ein relativ einfacher und aufrichtiger Mensch. Sie ist keine Gelehrte, und sie hätte diese Tat­sachen, Einzelheiten, geschichtlichen Ereignisse, Beschrei­bungen und poetischen Formulierungen nicht erfinden können, die sich durch sie manifestierten. Als Psychiater und Wissenschaftler war ich sicher, dass dieses Material einem Teil ihres unbewussten Denkens entsprang. Für mich stand fest, dass es echt war. Sogar wenn Catherine eine erfahrene Schauspielerin gewesen wäre, hätte sie diese Vorkommnisse nicht inszenieren können. Die Informatio­nen waren zu genau und zu spezifisch. Es überstieg ihre Möglichkeiten, in der Weise zu lügen.

Ich erwog den therapeutischen Sinn und Zweck der Untersuchung von Catherines früheren Leben. Nachdem wir einmal in diesen neuen Bereich hineingestolpert waren, machte sie, ohne jegliche Medikamente, dramatisch schnelle Fortschritte. Hier kommt eine große Heilkraft zum Tragen, eine Kraft, die offenbar viel wirksamer ist als konventionelle Therapie oder moderne Medikamente. Diese Kraft umfasst nicht nur das Erinnern und Wieder­erleben von traumatischen Ereignissen, sondern auch die täglichen Verletzungen unseres Körpers, Verstands und Ego. Beim Durchgehen früherer Leben suchte ich mit meinen Fragen nach den Mustern dieser Verletzungen wie zum Beispiel chronische seelische oder körperliche Miss­handlung, Armut und Hunger, Krankheit und Gebrechen, anhaltende Verfolgung und Vorurteile, wiederhohes Ver-

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sagen und so weiter. Ich hielt ebenfalls Ausschau nach Tragödien wie traumatischem Tod, Vergewaltigung oder Naturkatastrophen und nach anderen entsetzlichen Ereig­nissen, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen könn­ten. Die Technik glich jener der Aufarbeitung der Kindheit in der konventionellen Therapie, nur dass der Zeitrahmen mehrere tausend Jahre umspannte anstatt die üblichen zehn oder fünfzehn. Deshalb waren meine Fragen direkter und direktiver als in der konventionellen Therapie. Doch der Erfolg unserer unorthodoxen Untersuchung war unbe­streitbar. Sie (und andere, die ich später mittels hypnoti­scher Rückführung behandelte) wurde mit unglaublicher Geschwindigkeit gesund.

Gab es noch weitere Erklärungen für Catherines Erin­nerungen aus früheren Leben? Konnten diese Erinnerun­gen in ihren Genen angelegt sein? Diese Möglichkeit ist von sehr geringer wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit. Ein genetisches Gedächtnis bedingt die ungebrochene physische Weitergabe von genetischem Material von einer Generation an die nächste. Catherine hatte auf der ganzen Welt gelebt, ihre genetische Linie war wiederholt unter­brochen worden. Sie starb mit ihren Nachkommen bei einer Überschwemmung oder war kinderlos, oder sie starb in ihrer Jugend. Ihr Genpool endete und wurde nicht über­tragen. Und was war mit ihrem Leben nach dem Tod in den Zwischenbereichen? Es gab dort keinen physischen Körper und bestimmt kein genetisches Material, dennoch waren ihre Erinnerungen ungebrochen. Nein, eine gene­tische Erklärung musste verworfen werden.

Was war mit Jungs Gedanken eines kollektiven Unbe-

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wussten, einem Reservoir aller menschlichen Erinnerun­gen und Erfahrungen, das irgendwie angezapft werden konnte? Verschiedene Kulturen zeigen oft ähnliche Sym­bole, sogar in Träumen. Laut Jung wird das kollektive Unbewusste nicht persönlich erworben, sondern der Ge­hirnstruktur irgendwie »vererbt«. Es umfasst Motive und Bilder, die in jeder Kultur neu auftreten, ohne sich auf his­torische Überlieferungen zu stützen. Ich war der Meinung, Catherines Erinnerungen seien zu spezifisch, um durch den Jung'schen Begriff des kollektiven Unbewussten er­klärt zu werden. Sie enthüllte keine Symbole und univer­sellen Bilder oder Motive, sondern vermittelte detaillierte Beschreibungen von spezifischen Menschen und Örtlich­keiten. Jungs Ideen erschienen hier zu ungenau. Und dann war da immer noch das Zwischenreich, das es einzube­ziehen galt. Alles in allem ergab die Wiedergeburt den größten Sinn.

Catherines Wissen war nicht nur detailliert und spezi­fisch, sondern lag ebenfalls jenseits ihrer bewussten Mög­lichkeiten. Sie wusste Dinge, die man nicht in einem Buch nachlesen und dann vorübergehend vergessen konnte. Ihr Wissen konnte nicht in ihrer Kindheit erworben und dann auf ähnliche Weise aus ihrem Bewusstsein verdrängt oder unterdrückt worden sein. Und was war mit den Meistern und ihren Botschaften? Diese kamen durch Catherine, waren aber nicht Teil von ihr. Aber ihre Weisheit spiegelte sich auch in Catherines Erinnerungen an frühere Leben. Ich wusste dies nicht nur anband vieler Jahre eines sorg­fältigen Studiums des Menschen, seines Bewusstseins, seines Gehirns und seiner Persönlichkeit, sondern ich

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wusste es auch intuitiv, sogar schon vor dem lksud• meines Vaters und meines Sohnes. Mein Gehirn mit seinen vielen Jahren sorgfältiger wissenschaftlicher Ausbildung wusste es, und mein Bauch wusste es auch.

»Ich sehe Töpfe mit irgendwelchem ÖL« Trotz der drei­wöchigen Unterbrechung war Catherine schnell in Trance gefallen. Sie ging in einen anderen Körper und in eine andere Zeit ein. ))Es müssen verschiedene Öle in den Töpfen sein. Es scheint eine Art Lager zu sein oder ein Ort, wo man Dinge aufbewahrt. Sie sind rot ... , rot, aus irgend­einer Art roter Erde gemacht. Sie sind mit blauen Bändern umwickelt, blaue Bänder an den Deckeln. Ich sehe Männer dort ... Es sind Männer in diesem Keller. Sie tragen die Krüge und Töpfe umher, stapeln sie und stellen sie an be-stimmte Orte. Ihre Köpfe sind geschoren ... Sie haben kein Haar auf dem Kopf. Ihre Haut ist braun ... , braune Haut.«

))Sind Sie dort?« ))Ja ... Ich versiegle einige Krüge ... mit einer Art Wachs ...

Ich versiegle die Deckel der Krüge mit dem Wachs.« ))Wissen Sie, wozu die Öle gebraucht werden?« ))Ich weiß es nicht.« ))Sehen Sie sich? Schauen Sie sich an, und sagen Sie mir,

wie Sie aussehen.« Sie schwieg, während sie sich betrach­tete.

))Ich trage einen Zopf. Es ist ein Zopf in meinem Haar. Ich habe eine Art ... langes Kleid an. Es wird von einer goldenen Borte eingefasst.«

))Arbeiten Sie für diese Priester, für die Männer mit den geschorenen Köpfen?«

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»Es isl meine Aufgabe, die Krüge mit dem Wachs zu ver­siegeln. Uas ist meine Arbeit.«

»Aber Sie wissen nicht, wofür die Krüge verwendet werden?«

»Sie scheinen in irgendeinem religiösen Ritual Verwen­dung zu finden. Aber ich bin nicht sicher ... , was für eines. Es wird gesalbt, etwas auf den Köpfen ... , etwas auf deinen Kopf und deine Hände, deine Hände. Ich sehe einen Vogel, einen goldenen Vogel, der sich um meinen Hals befindet. Er ist flach. Er hat einen flachen Schweif, einen sehr dicken Schweif, und sein Kopf zeigt nach unten ... auf meine Füße.«

»Auf Ihre Füße?« »Ja, so muss er getragen werden. Ich sehe eine schwar­

ze ... klebrige Masse. Ich weiß nicht, was es ist.« »Wo ist sie?« »Sie befindet sich in einem Marmorbehälter. Das benut­

zen sie auch. Aber ich weiß nicht, wozu.« »Gibt es etwas in diesem Keller, das Sie lesen können,

um mir zu sagen, in welchem Land Sie sind - den Ort, wo Sie leben, oder das Datum.«

»Es steht nicht an den Wänden; sie sind leer. Ich weiß den Namen nicht.« Ich führte sie in der Zeit weiter.

»Ich sehe einen weißen Krug, irgendeinen weißen Krug. Der Griff auf dem Deckel ist aus Gold, es ist irgendeine goldene Verzierung darauf.«

>>Was ist in dem Krug?« »Eine Art Salbe. Es hat etwas zu tun mit dem Übergang

in die andere Welt.« »Sind Sie die Person, die jetzt hinübertreten wird?«

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»Nein! Es ist niemand, den ich kenne.« »Gehört das auch zu Ihrer Aufgabe? Menschen auf

diesen Übergang vorzubereiten?« »Nein, das müssen die Priester tun, nicht wir. Wir be-

liefern sie nur mit den Salben, dem Räucherwerk ... « »Wie alt scheinen Sie jetzt zu sein?« »Sechzehn.« »Leben Sie bei Ihren Eltern?« »Ja, in einem Steinbaus, irgendeine steinerne Behau­

sung. Sie ist nicht sehr groß. Es ist sehr heiß und trocken. Das Klima ist sehr heiß.«

»Gehen Sie zu Ihrern Haus.« »Ich bin dort.« »Sehen Sie andere Menschen in Ihrer Familie?« »Ich sehe einen Bruder, meine Mutter ist dort und ein

Baby, irgendein Baby.« »Ist das Ihr Baby?« »Nein.« »Was ist jetzt wichtig? Gehen Sie zu etwas Wichtigem,

das Ihre Symptome in Ihrern jetzigen Leben erklärt. Wir müssen es verstehen. Es kann Ihnen nichts passieren, wenn Sie es erfahren. Gehen Sie zu diesen Ereignissen.«

Sie antwortete in einem sehr leisen Flüsterton: >>Alles zu seiner Zeit ... Ich sehe Menschen sterben.«

»Menschen sterben?« »Ja ... Sie wissen nicht, was es ist.« »Eine Krankheit?« Plötzlich ging mir auf, dass sie wieder

Kontakt zu einem uralten Leben aufgenommen hatte, eines, zu dem sie zuvor schon zurückgegangen war. In jenem Leben hatte eine vorn Wasser übertragene Seuche

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Catherines Vater und einen ihrer Brüder getötet. Catherine hatte die Krankheit auch gehabt, aber sie war nicht daran gestorben. Diese Menschen hatten beim Versuch, die Seuche abzuwenden, Knoblauch und andere Kräuter ver­wendet. Catherine war betroffen gewesen, weil die Toten nicht einbalsamiert wurden.

Doch jetzt hatten wir uns diesem Leben von einer ande­ren Seite genähert. ))Hat es etwas mit dem Wasser zu tun?«, fragte ich.

))Sie glauben es. Es sterben viele Menschen.« Ich kannte den Schluss schon.

))Aber Sie sterben nicht daran, nicht wahr?« ))Nein, ich sterbe nicht.« ))Doch Sie werden krank.« ))Ja. Mir ist sehr kalt ... , sehr kalt. Ich brauche Wasser ...

Sie meinen, es käme vorn Wasser ... Und etwas Schwarzes ... Jemand stirbt.«

)) Wer stirbt?« ))Mein Vater stirbt, und einer meiner Brüder stirbt auch.

Meiner Mutter geht es besser, sie erholt sich. Sie ist sehr schwach. Sie müssen die Toten begraben. Sie müssen sie begraben, und die Leute sind verstört, weil es gegen die religiösen Sitten ist.«

))Welche Sitten?« Ich bewunderte ihre gleich bleibende Erinnerung, die Tatsache um Tatsache genau dem ent­sprach, wie sie das Leben mehrere Monate zuvor erzählt hatte. Wieder war sie sehr verstört wegen dieser Abwei­chung von den üblichen Begräbnissitten.

))Die Menschen wurden in Höhlen gebracht. Die Körper wurden in Höhlen aufbewahrt. Doch zuerst mussten sie

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von den Priestern vorbereitet werden. Sie mussten banda­

giert und gesalbt werden. Sie wurden in Höhlen aufbe­wahrt, aber das Land wird überschwemmt. Sie sagen, das Wasser sei schlecht. Ich trinke es nicht.«

»Gibt es etwas, womit man es behandeln kann? Hat irgendetwas funktioniert?«

»Man gab uns Kräuter, verschiedene Kräuter. Die Ge-rüche ... , die Kräuter ... , der Duft. Ich kann ihn riechen!«

»Erkennen Sie den Geruch?<< »Es ist weiß. Sie hängen es an der Decke auf.<< »Ist es wie Knoblauch?<< »Es hängt von den ... Ja, es hat ähnliche Eigenschaften.

Seine Eigenschaften ... Man stopft es in den Mund, in die Ohren, die Nase, überallhin. Der Geruch war scharf. Man glaubte, er würde die bösen Geister davon abhalten, in deinen Körper einzutreten. Violette ... Früchte oder

etwas Rundes, das außen violett ist, mit einer violetten

Haut ... << »Erkennen Sie die Kultur, in der Sie sich befinden?

Kommt Sie Ihnen bekannt vor?<< »Ich weiß es nicht.<< »Ist das Violette eine Art Frucht?<<

»Tannis.<< »Könnte es Ihnen helfen? Ist es gegen Ihre Krankheit?<<

>>Das war es damals.<< »Tannis«, wiederholte ich, wiederum um zu sehen, ob sie

von dem sprach, das wir Tannin oder Gerbsäure nennen.

»Nannten sie es Tannis?« »Ich höre ... Ich höre immer wieder >Tannis<.« >>Was von diesem Leben hat sich in Ihr gegenwärtiges

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Leben eingenistet? Warum kehren Sie dorthin zurück? Was ist es, das daran so unangenehm war?«

»Die Religion«, flüsterte Catherine schnell, »die Re­ligion jener Zeit. Es war eine Religion der Angst ... Angst. Es gab so viele Dinge zu fürchten ... und so viele Götter.«

>>Erinnern Sie sich an die Namen dieser Götter?« »Ich sehe Augen. Ich sehe eine Art ... schwarzes ... Es

sieht aus wie ein Schakal. Er ist in einer Statue. Es ist der Wärter irgendeines ... Ich sehe eine Frau, eine Göttin mit irgendeinem Kopfschmuck.«

»Kennen Sie den Namen der Göttin?« »Üsiris ... Sirus ... ,so etwas. Ich sehe ein Auge. Ein Auge,

nur ein Auge an einer Kette. Es ist aus Gold.« »Ein Auge ... Wer ist Hathor?« »Was?« »Hathor. Wer ist das?« Ich hatte nie von Hatbor gehört, auch wenn ich wusste,

dass Osiris, wenn die Aussprache stimmte, der Bruder­gemahl von lsis war, einer ägyptischen Hauptgottheit. Wie ich später erfuhr, war Hatbor die ägyptische Göttin der Liebe, der Fröhlichkeit und der Freude. »Ist es einer der Götter?«

»Hathor! Hathor.« Es gab eine lange Pause. »Vogel ... Er ist flach ... , flach, ein Phönix ... « Sie war still.

»Gehen Sie zu Ihrem letzten Lebenstag, dem Tag, bevor Sie starben. Sagen Sie mir, was Sie sehen.«

Sie antwortete mit einem sehr leisen Flüstern. »Ich sehe Leute und Gebäude. Ich sehe Sandalen, Sandalen und ein grobes Tuch, irgendein grobes Tuch.«

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»Was geschieht? Gehen Sie jetzt zum Augenblick Ihres Todes. Was passiert mit Ihnen? Können Sie es sehen?«

»Ich sehe es nicht ... Ich sehe mich nicht mehr.<< »Wo sind Sie? Was sehen Sie?« »Nichts ... , nur Dunkelheit ... Ich sehe ein Licht, ein

warmes Licht.« Sie war bereits gestorben, war bereits in den geistigen

Zustand übergegangen. Offenbar brauchte sie ihren eigent­lichen Tod nicht wiederzuerleben.

»Können Sie zum Licht gehen?«, fragte ich. »Ich gehe.« Sie ruhte friedlich und wartete wieder. »Kön­

nen Sie jetzt zurückschauen auf die Lehren dieses Lebens? Sind Sie sich ihrer schon bewusst?«

»Nein«, flüsterte sie. Sie wartete weiter. Plötzlich schien sie wach zu sein, auch wenn ihre Augen geschlossen blieben, wie sie es immer waren, wenn sie sich in einer hypnotischen Trance befand. Ihr Kopf drehte sich von einer Seite auf die andere.

»Was sehen Sie jetzt? Was geschieht?« Ihre Stimme klang lauter. »Ich habe das Gefühl ... ,

jemand spricht zu mir!« »Was sagen sie?« »Sie sprechen von Geduld. Man muss Geduld haben ... « »Ja, weiter.« Die Antwort kam vom poetischen Meister. »Geduld und

Zeitgefühl ... , alles kommt, wenn es muss. Ein Leben kann nicht vorangetrieben werden, kann nicht nach einem Zeit­plan gelebt werden, wie so viele Menschen das möchten. Wir müssen das, was zu einer gegebenen Zeit zu uns kommt, akzeptieren und nicht nach mehr fragen. Aber das

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Leben ist endlos, also sterben wir nie, und wir werden nie wirklich geboren. Wir bewegen uns nur durch verschie­dene Phasen. Es gibt kein Ende. Menschen haben viele Dimensionen. Doch die Zeit ist nicht, wie wir Zeit sehen, sondern sie besteht vielmehr aus gelernten Lektionen.«

Es gab eine lange Pause. Der Meister fuhr fort. »Alles wird dir mit der Zeit klar werden. Doch du musst

die Gelegenheit haben, das Wissen zu verdauen, das wir dir bereits gegeben haben.« Catherine war ruhig.

»Gibt es mehr, das ich lernen sollte?«, fragte ich. »Sie sind weg«, flüsterte sie leise. »Ich höre niemanden.«

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Jede Woche fiel eine weitere Schicht neurotischer Angste und Befürchtungen von Catherine ab. Jede Woche schien sie ein bisschen heiterer, ein bisschen weicher und ge­duldiger zu werden. Sie hatte mehr Selbstvertrauen. Die Menschen fühlten sich von ihr angezogen. Catherine spürte mehr Liebe, und andere gaben ihr diese Liebe zu­rück. Der innere Diamant, der ihre wahre Persönlichkeit war, leuchtete vor aller Augen.

Catherines Regressionen umspannten Jahrtausende. Je­des Mal, wenn sie in eine hypnotische Trance fiel, hatte ich keine Ahnung, welche Fäden ihres Lebens sie zeigen wür­de. Von prähistorischen Höhlen über das alte Agypten bis zur Moderne- sie war dort gewesen. Und alle ihre Leben waren irgendwo jenseits der Zeit von den Meistern liebe­voll überwacht worden. In der heutigen Sitzung tauchte sie im zwanzigsten Jahrhundert auf, aber nicht als Catherine.

»Ich sehe einen Flugzeugrumpf und eine Landebahn, irgendeine Landebahn«, flüsterte sie leise.

»Wissen Sie, wo es ist?« »Ich kann nichts sehen ... Elsässisch?« Dann, bestimm­

ter: »Elsässisch.« »ln Frankreich?« »Ich weiß es nicht, einfach elsässisch ... Ich sehe den

Namen von Marks, von Marks [phonetisch]. Irgendein

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lnauun I leim oder eine Mütze, eine Mütze mit einer Schutt.l>rillc. I )ic Truppe ist zerstört worden. Es scheint eine sehr cmlcgcnc Gegend zu sein. Ich glaube nicht, dass es in der Nähe eine Stadt gibt.«

))Was sehen Sie?« ))Ich sehe zerstörte Gebäude. Ich sehe Gebäude ... Das

Land ist aufgerissen von ... Bomben. Es ist eine sehr gut versteckte Gegend.«

>>Was machen Sie dort?« ))Ich helfe ihnen mit den Verwundeten. Sie tragen sie

weg.« ))Schauen Sie sich an. Beschreiben Sie sich. Schauen Sie

an sich herab, und sagen Sie mir, was Sie anhaben.« ))Ich trage irgendeine Jacke. Ich habe blondes Haar und

blaue Augen. Meine Jacke ist sehr schmutzig. Es gibt viele Verwundete.«

))Sind Sie darin ausgebildet, den Verwundeten zu helfen?<< ))Nein.«

))Leben Sie dort, oder wurden Sie dort hingebracht? Wo wohnen Sie?«

))Ich weiß es nicht.« ))Wie alt sind Sie etwa?« ))Fünfunddreißig.« Catherine selbst war neunundzwan­

zig, und sie hat braune und nicht blaue Augen. Ich be­fragte sie weiter.

))Haben Sie einen Namen? Steht er auf ihrer Jacke?« ))Es sind Flügel auf der Jacke. Ich bin ein Pilot ... , irgend­

ein Pilot« ))Fliegen Sie die Flugzeuge?« ))Ja, ich muss.«

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))Für wen müssen Sie fliegen?« ))Ich bin da, um zu fliegen, das ist meine Aufgabe.<< ))Werfen Sie auch die Bomben ab?« ))Wir haben einen Schützen an Bord. Und es gibt einen

Navigator.« ))Welche Art Flugzeug fliegen Sie?« ))lrgendein Kampfflugzeug. Es hat vier Propeller. Die

Flügel befinden sich direkt am Rumpf.<< Ich war belustigt, weil Catherine nichts von Flugzeugen verstand, und fragte mich, was ))Flügel direkt am Rumpf« wohl für sie bedeu­tete. Doch wie das Herstellen von Butter oder das Ein­balsamieren von Leichen: unter Hypnose verfügte sie über ein großes Reservoir an Wissen. Doch nur ein Bruchteil dieses Wissens stand ihrem Alltagsbewusstsein zur Ver­fügung. Ich drängte weiter.

))Haben Sie eine Familie?« ))Sie ist nicht bei mir.« ))Ist sie in Sicherheit?« ))Ich weiß es nicht. Ich habe Angst ... , Angst, dass sie zu­

rückkommen werden. Meine Freunde sterben!« ))Vor wem haben Sie Angst, dass sie zurückkommen

werden?« ))Der Feind.« ))Wer ist es?«

))Die Engländer ... , die amerikanischen Streitkräfte ... , die Engländer.«

))Ja. Erinnern Sie sich an Ihre Familie?« ))Mich erinnern? Es herrscht ein zu großes Durcheinan­

der.« ))Lassen Sie uns zu einer früheren Zeit in diesem Leben

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zurückkehren, vor dem Krieg, zu einer Zeit mit Ihrer Familie, in Ihrem Zuhause. Sie können es sehen. Ich weiß, dass es schwer ist, aber ich möchte, dass Sie sich entspan­nen. Versuchen Sie sich zu erinnern.«

Catherine war kurze Zeit ruhig, dann flüsterte sie: »Ich höre den Namen Erich ... , Erich. Ich sehe ein blondes Kind, ein Mädchen.«

»Ist das Ihre Tochter?« »Ja, das muss ... Margot sein.« »Ist sie in Ihrer Nähe?« »Sie ist bei mir. Wir machen einen Ausflug. Es ist ein

wunderschöner Tag.« »Ist noch jemand anders bei Ihnen? Außer Margot?« »Ich sehe eine Frau mit braunem Haar auf dem Gras

sitzen.« »Ist es Ihre Frau?« »Ja ... Ich kenne sie nicht«, fügte sie hinzu und meinte

ein Erkennen von jemandem in ihrem jetzigen Leben. »Kennen Sie Margot? Schauen Sie sich Margot genau

an. Kennen Sie sie?« »Ja, aber ich bin mir nicht sicher, woher ... Ich kenne sie

von irgendwo.« »Es wird Ihnen gefallen. Schauen Sie ihr in die Augen.« »Es ist Judy«, antwortete sie. Judy war gegenwärtig ihre

beste Freundin. Sie hatten bei ihrer ersten Begegnung sofort Kontakt zueinander gefunden und waren dicke Freundinnen geworden, die einander vorbehaltlos ver­trauten und die gegenseitig ihre Gedanken und Bedürf­nisse errieten.

»Judy?«, wiederholte ich.

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»Ja, Judy. Sie sieht ihr ähnlich ... Sie hat dasselbe Lächeln.«

»Schön, sehr schön. Sind Sie glücklich zu Hause, oder gibt es Probleme?«

»Es gibt keine Probleme.« [Lange Pause.] »Doch! Doch! Es ist die Zeit der Unruhen. Es gibt ein Problem mit der deutschen Regierung, der politischen Struktur. Zu viele Leute wollen sich in zu viele Richtungen bewegen. Mit der Zeit wird es uns zerreißen. Aber ich muss für mein Land kämpfen.«

»Hegen Sie starke Gefühle für Ihr Land?« »Ich mag den Krieg nicht. Ich glaube, dass es falsch ist,

zu töten, aber ich muss meine Pflicht tun.« >>Gehen Sie jetzt zurück, dorthin, wo Sie waren, zum

Flugzeug auf dem Boden und den Bomben. Es ist später, der Krieg hat begonnen. Die Engländer und die Amerika­ner werfen in Ihrer Nähe Bomben ab. Gehen Sie zurück. Sehen Sie das Flugzeug jetzt wieder?«

»Ja.« »Hegen Sie immer noch dieselben Gefühle, was Ihre

Pflicht, das Töten und den Krieg anbelangt?« »Ja, wir werden umsonst sterben.« >>Was?« »Wir werden umsonst sterben«, wiederholte sie in einem

lauteren Flüsterton. »Für nichts? Warum für nichts? Ist daran nichts Ruhm­

reiches? An der Verteidigung Ihres Landes und der Men­schen, die Sie lieben?«

»Wir werden sterben, um die Ideen einiger weniger zu verteidigen.«

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.. 1\udl Wl'llll l'.' die l'iiluer Ihres Landes waren? Sie kön­nen sich irren ... « Sie fielmir ganz schnell ins Wort.

»Es sind keine l;ührer. Wenn sie Führer wären, gäbe es in der Regierung nicht so viele ... innere Auseinander­setzungen. Manche Leute sagen, sie seien verrückt. Ver­stehen Sie, was ich meine? Machthungrig. Wir müssen alle verrückt sein, uns von ihnen aufhetzen zu lassen ... , Menschen zu töten. Und uns selbst umzubringen ... «

»Ist von Ihren Freunden noch irgendwer übrig?« »Ja, einige leben noch.« »Ist jemand darunter, der Ihnen besonders nahe steht?

In Ihrer Flugzeugmannschaft? Leben Ihr Schütze und Ihr Navigator noch?«

»Ich sehe sie nicht, aber mein Flugzeug ist nicht abge­schossen worden.«

»Fliegen Sie wieder mit dem Flugzeug?« »Ja. Wir müssen uns beeilen, um das einzige verbleiben­

de Flugzeug vom Landeplatz zu fliegen ... , ehe sie zurück­kommen.«

»Aber Sie müssen es vom Boden kriegen!« »Es ist so sinnlos ... « »Welcher Tätigkeit sind Sie vor dem Krieg nachge­

gangen? Können Sie sich erinnern? Was hat Erich ge­macht?«

»Ich war stellvertretender Kapitän ... auf einem kleinen Flugzeug, ein Frachtflugzeug.«

»Also waren Sie damals schon Pilot?«

»Ja.« »Hat Sie das oft von daheim weggeführt?« »Ja«, antwortete sie leise und sehnsüchtig.

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»Gehen Sie in die Zeit voraus bis zum nächsten Flug«,

wies ich sie an. »Können Sie das tun?« »Es gibt keinen nächsten Flug.« »Ist Ihnen etwas passiert?«

»Ja.« Ihr Atem ging schneller, und sie war ganz auf­geregt. Sie war zu ihrem Todestag fortgeschritten.

»Ich renne vor dem Feuer davon. Meine Partei wird durch das Feuer auseinander gerissen.«

»Überleben Sie es?« »Niemand überlebt ... , niemand überlebt einen Krieg.

Ich sterbe!« Ihr Atem ging schwer. »Blut, überall ist Blut! Meine Brust tut weh. Ich bin in die Brust getroffen worden ... und in mein Bein ... und im Nacken.<< Sie lag im Todes­kampf, aber bald wurde ihr Atem langsamer und regel­

mäßiger, ihre Gesichtsmuskeln entspannten sich, und ein Ausdruck von Frieden kam über sie. Ich erkannte die Ruhe

der Übergangsphase. »Sie sehen zufriedener aus. Ist es vorbei?<< Sie wartete

einen Augenblick und antwortete dann sehr leise.

»Ich gleite von meinem Körper weg. Ich habe keinen Körper. Ich befinde mich wieder im Geist.<<

»Gut. Ruhen Sie sich aus. Sie haben ein schweres Leben hinter sich und sind einen schweren Tod gestorben. Sie müssen sich ausruhen. Erholen Sie sich. Was haben Sie

von diesem Leben gelernt?« »Ich habe über Hass gelernt ... , sinnloses Töten ... , irre­

geführten Hass ... , Menschen, die hassen und nicht wissen,

warum. Wir werden dazu getrieben ... durch das Böse, wenn wir uns im physischen Zustand befinden ... «

»Gibt es eine höhere Pflicht als die gegenüber dem

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Vaterland? Etwas, das Sie davon hätte abhalten können zu töten? Sogar wenn man es Ihnen befahl? Eine Pflicht ge­genüber sich selbst?«

»Ja ... « Aber sie ging nicht weiter darauf ein. »Warten Sie jetzt auf etwas Neues?« »Ja ... Ich warte darauf, in einen Zustand der Erneue­

rung überzugehen. Sie werden mich holen ... Sie werden kommen ... «

»Gut. Ich möchte mit ihnen sprechen, wenn sie kom­men.« Wir warteten noch mehrere Minuten. Dann war ihre Stimme plötzlich laut und tief, und der ursprüngliche Meister, nicht der poetische Meister, sprach.

»Du hattest Recht damit, dass dies die richtige Behand­lung ist für jene, die sich im physischen Bereich aufhalten [gemeint war meine Therapie für Catherine]. Sie müssen die Ängste aus ihrem Bewusstsein auslöschen. Es kommt zum Energieverschleiß, wenn Angst da ist. Sie lähmt sie bei der Erfüllung dessen, wozu sie ausgeschickt wurden. Ziehe deine Schlüsse aus dem, was du um dich herum siehst. Sie müssen erst auf eine sehr, sehr tiefe Ebene zurückgeführt werden ... , wo sie ihren Körper nicht länger spüren können. Dann kannst du sie belehren. Die Prob­leme liegen bloß ... an der Oberfläche. Tief in ihrer Seele, wo ihre Gedanken entstehen, musst du sie erreichen.

Energie ... , alles besteht aus Energie. So viel wird ver­schwendet. Die Berge ... In den Bergen ist es ruhig, es ist ruhig in ihrem Innersten. Doch draußen liegen die Prob­leme. Die Menschen können nur das Äußere sehen, aber man kann viel weiter gehen. Du musst den Vulkan sehen. Um das zu sehen, musst du tiefer eindringen.

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Es ist abnormal, sich in einem Körpt:r zu h~:findcn.

Wenn du in einem geistigen Zustand bist, ist das für dich natürlich. Wenn wir zurückgesandt werden, ist es, als wür­den wir zu etwas zurückkehren, das wir nicht kennen. Wir werden länger brauchen. In der geistigen Welt musst du warten, bis du wieder erneuert wirst. Es gibt einen Zustand der Erneuerung. Es ist eine Dimension wie die anderen Dimensionen, und es ist dir beinahe gelungen, diesen Zu­stand zuerreichen ... «

Das überraschte mich. Wie konnte ich mich diesem Zu­stand der Erneuerung genähert haben? »Ich habe ihn bei­nahe erreicht?«, fragte ich ungläubig.

»Ja. Du weißt so viel mehr als die anderen. Du verstehst so viel mehr. Sei geduldig mit ihnen. Sie haben nicht das Wissen, das du hast. Es werden dir Geistwesen geschickt, um dir zu helfen. Aber was du tust, ist richtig ... , mach weiter. Diese Energie darf nicht verschwendet werden. Du musst die Angst beseitigen. Das wird deine größte Waffe sein ... «

Der Meister schwieg. Ich dachte über die Bedeutung dieser unglaublichen Botschaft nach. Ich wusste, dass ich dabei war, Catherines Angste erfolgreich zu beseitigen, aber diese Botschaft hatte eine umfassendere Bedeutung. Es war mehr als nur eine Bestätigung der Effektivität der Hypnose als therapeutisches Instrument. Es beinhaltete sogar mehr als die Rückführung in frühere Leben, die schwerlich auf jeden einzelnen Menschen anzuwenden war. Nein, ich war der Meinung, es betraf die Angst vor dem Tod, diese verborgene ständige Angst, die weder durch Geld noch durch Macht neutralisiert werden kann-

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das war der Kern. »Das Leben ist endlos, also sterben wir

nie, und wir werden nie wirklich geboren« - wenn die

Menschen das wüssten, würde diese Angst sich auflösen.

Wenn sie wüssten, dass sie bereits zahllose Male zuvor ge­

lebt haben und noch unzählige Male leben werden, wie

getröstet würden sie sich fühlen. Wenn sie wüssten, dass

Geistwesen da sind, um ihnen beizustehen, während sie

sich im physischen Körper und in dem Nahtodesbereich

befinden, im geistigen Zustand, sie würden sich diesen

Geistwesen, zu denen auch ihre verstorbenen Verwandten

gehören, anschließen. Wie gut würde ihnen das tun. Wenn

sie wüssten, dass es die Schutzengel wirklich gibt, wie viel

sicherer würden sie sich fühlen. Wenn sie wüssten, dass

Gewalttaten und Ungerechtigkeiten gegenüber den Men­

schen nicht unbemerkt bleiben, sondern in anderen Leben

abgegolten werden müssen, wie viel weniger Wut und

Rachsucht würden sie hegen. Und wenn es stimmte, dass

wir »durch Wissen Gott näher kommen«, was nützten uns

dann materielle Güter oder Macht, die kein Mittel zu

diesem Zweck sind? Gierig oder machthungrig zu sein hat

überhaupt keinen Sinn.

Doch wie könnte man die Menschen mit diesem Wissen

erreichen? Die meisten Menschen sprechen Gebete in

ihren Kirchen, Synagogen, Moscheen oder Tempeln - Ge­

bete, welche die Unsterblichkeit der Seele verkünden. Aber

wenn die Andacht vorbei ist, kehren sie zu ihren Kämpfen

des Alltags zurück und sind gierig, verschlagen und ichbe­

zogen. Diese Charaktereigenschaften behindern den Fort­

schritt der Seele. Wo der Glaube nicht ausreicht, kann die

Wissenschaft vielleicht helfen. Vielleicht müssten Erfah-

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rungen wie die von Catherine und mir vermehrt von Verhaltens- und Naturwissenschaftlern untersucht, ana­lysiert und publiziert werden. Doch zu jener Zeit war das Verfassen einer wissenschaftlichen Abhandlung oder eines Buchs das Letzte, woran ich dachte; für mich war es eine entfernte und sehr unwahrscheinliche Möglichkeit. Ich wunderte mich wegen der Geistwesen, die mir ge­schickt werden sollten, um mir zu helfen. Mir wobei zu helfen?

Catherine bewegte sich und begann zu flüstern. »Je­mand namens Gideon, jemand namens Gideon ... , Gideon. Er versucht, mit mir zu sprechen.«

>>Was sagt er?« »Er ist überall um mich und wird es immer sein. Er ist

eine Art Beschützer ... oder so etwas. Aber jetzt spielt er mit mir.«

»Ist er einer Ihrer Schutzgeister?« »Ja, aber er spielt ... und springt überall umher. Ich

glaube, er möchte, dass ich weiß, dass er überall um mich ist ... , überall.«

»Gideon«, wiederholte ich. »Er ist da.« »Macht er, dass Sie sich besser fühlen?« »Ja. Er wird zurückkommen, wenn ich ihn brauche.« »Gut. Sind diese Geistwesen um uns?« Sie antwortete in einem Flüstern aus der Warte ihres

Überbewussten. »0 ja ... , viele Geistwesen. Sie kommen nur ... , wenn sie wollen. Wir sind alle Geistwesen. Doch andere ... Manche befinden sich auf der physischen Ebene und andere in einer Phase der Erneuerung. Wieder andere

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sind Wächter. Doch wir werden alle dort hingelangen. Wir sind auch Wächter gewesen.«

))Warum kommen wir zurück, um zu lernen? Warum können wir nicht als Geistwesen lernen?«

))Das sind andere Lernebenen, und wir müssen manche von ihnen in der Inkarnation lernen. Wir müssen den Schmerz spüren. Wenn du ein Geistwesen bist, spürst du keinen Schmerz. Es ist eine Zeit der Erneuerung. Deine Seele wird erneuert. Wenn du dich im physischen Zustand in deinem Körper befindest, kannst du leiden. In der geis­tigen Form spürst du nichts ... Es gibt nur Glück und Wohlgefühl. Aber es ist eine Zeit der Erneuerung ... für uns. Der Umgang miteinander in der spirituellen Form ist anders. Wenn Menschen sich in einem körperlichen Zu­stand befinden ... , können sie Beziehungen erfahren.«

))Ich verstehe. Es wird in Ordnung sein.« Sie schwieg wieder. Minuten verstrichen.

))Ich sehe einen Wagen«, begann sie, »einen blauen Wagen.«

>>Einen Kinderwagen?« ))Nein, eine Kutsche, in der man fährt ... Etwas Blaues!

Oben sind blaue Fransen, außen blau ... « ))Ziehen Pferde die Kutsche?« ))Sie hat große Räder. Ich sehe niemanden darin, nur

zwei Pferde, die davorgespannt sind ... , ein graues und ein braunes. Das eine Pferd heißt A.pple, das graue, weil es Apfel mag. Das andere Pferd heißt Duke. Es sind nette Pferde, sie beißen nicht. Sie haben große Hufe ... große Hufe.«

))Gibt es auch ein böses Pferd? Ein anderes Pferd?«

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»Nein. Sie sind sehr gutmütig.« »Sind Sie dort?« »Ja. Ich kann ihre Nüstern sehen. Sie sind viel größer als

ich.« »Sitzt du in der Kutsche?« Wegen ihrer Art zu antworten

wusste ich, dass sie ein Kind war. »Es sind Pferde dort und auch ein Junge.« »Wie alt bist du?« »Sehr klein. Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass ich

weiß, wie alt ich bin.« »Kennst du den Jungen? Ist er dein Freund? Dein

Bruder?« »Er ist ein Nachbar. Er ist wegen ... eines Festes hierher

gekommen. Jemand heiratet oder so etwas.« »Weißt du, wer heiraten wird?« »Nein. Man sagte uns, wir sollten uns nicht schmutzig

macheiL Ich habe braunes Haar ... , Schuhe, die du entlang der ganzen Seite zuknöpfen kannst.«

»Ist dein Haus in der Nähe?« »Es ist ein großes Haus«, antwortete das Kind. »Und dort wohnst du?«

»Ja.« »Gut. Du darfst jetzt ins Haus schauen, wenn du willst,

es ist in Ordnung. Heute ist ein wichtiger Tag. Die anderen Leute werden sicher auch gut angezogen sein und beson­dere Kleider tragen.«

»Sie kochen Essen, viel Essen.« »Kannst du es riechen?« »Ja. Sie machen eine Art Brot ... , Fleisch ... Man schickt

uns wieder hinaus.« Das belustigte mich. Ich hatte ihr ge-

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sagt, es sei schon in Ordnung hineinzugehen, und jetzt hatte man sie wieder hinausgeschickt.

))Rufen sie deinen Namen?« ... )) ... Mandy ... , Mandy und Edward.« ))Ist das der Junge?« ))Ja.« ))Ihr dürft nicht drinnen bleiben?« ))Nein, sie haben zu viel zu tun.« ))Was meinst du dazu?« ))Uns ist es egal. Aber es ist sehr schwer, sauber zu blei­

ben. Wir können nichts machen.« ))Bist du auch auf der Hochzeit? Später am Tag?« ))Ja. Ich sehe viele Leute. Das Zimmer ist ganz voll. Es ist

heiß, ein heißer Tag. Es ist ein Pfarrer dort; der Pfarrer ist da ... mit einem komischen Hut, ein großer ... schwarzer Hut. Er reicht bis über sein Gesicht ... , ein ganzes Stück.«

))Ist es ein freudiger Anlass für deine Familie?« ))Ja.« ))Weißt du, wer heiraten wird?« ))Meine Schwester.« ))Ist sie viel älter?« ))Ja.« ))Ist sie hübsch?« ))Ja. Sie hat viele Blumen in ihrem Haar.« ))Schau sie dir gut an. Kennst du sie aus einer anderen

Zeit? Schau dir ihre Augen, ihren Mund ... « ))Ja. Ich glaube, es ist Becky ... ,aber kleiner, viel kleiner.«

Becky war Catherines Freundin und Mitarbeiterin. Sie standen sich nahe, aber Catherine verübelte Becky ihre verurteilende Art und ihre Einmischung in Catherines

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Leben und Entscheidungen. Schließlich war sie eine Freundin und nicht ihre Familie. Aber vielleicht war der Unterschied jetzt nicht mehr so klar. ))Sie ... , sie mag mich ... , und ich darf ganz vorne stehen, weil sie dort ist.«

))Gut. Schau dich um. Sind deine Eltern dort?« ))Ja.« ))Mögen sie dich ebenso sehr?« ))Ja.« ))Das ist gut. Schau sie dir genau an. Zuerst deine

Mutter. Schau, ob du dich an sie erinnerst. Schau in ihr Gesicht.«

Catherine atmete mehrere Male tief ein. ))Ich kenne sie nicht.«

))Schau dir deinen Vater an. Schau ihn genau an. Schau dir seinen Ausdruck an ... , seine Augen. Kennst du ihn?«

))Es ist Stuart«, antwortete sie schnell. Also war Stuart wieder einmal aufgetaucht. Das war es wert, dass man ihm nachging.

))Wie ist deine Beziehung zu ihm?« ))Ich liebe ihn sehr ... , er ist sehr gut zu mir. Aber er

denkt, ich sei eine Last. Er denkt, Kinder seien eine Last.« ))Ist er zu ernsthaft?« ))Nein, er spielt gerne mit uns. Aber wir stellen zu viele

Fragen. Aber er ist sehr gut zu uns, außer dass wir zu viele Fragen stellen.«

))Ist er deswegen manchmal ungehalten?« ))Ja, wir sollen vom Lehrer lernen, nicht von ihm. Des­

halb gehen wir in die Schule ... , um zu lernen.« ))Das klingt so, als würde er sprechen. Sagt er das zu

dir?«

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»Ja, er hat wichtigere Dinge zu tun. Er muss sich um die Farm kümmern.«

»Ist es eine große Farm?« »Ja.« »Weißt du, wo sie liegt?« »Nein.« »Erwähnen sie je die Stadt oder den Staat? Den Namen

des Orts?« Sie wartete und hörte genau hin. »Das höre ich nicht.<<

Dann war sie wieder still. »Okay, möchtest du in diesem Leben noch mehr unter­

suchen? In der Zeit vorausgehen oder in dieser ... << »Das reichv<, unterbrach sie mich.

Während des ganzen Prozesses mit Catherine hatte es mir widerstrebt, ihre Enthüllungen mit anderen Fachleuten zu diskutieren. Außer Carole und ein paar anderen, die »sicher« waren, hatte ich dieses bemerkenswerte Wissen überhaupt niemandem mitgeteilt. Ich wusste, dass die Informationen aus unseren Sitzungen sowohl wahr als auch äußerst wichtig waren, doch die Angst vor den Reak­tionen meiner psychiatrischen und wissenschaftlichen Kollegen hatte mich schweigen lassen. Ich machte mir immer noch Sorgen um meinen Ruf, meine Karriere und über das, was andere von mir hielten.

Meine berufliche Skepsis war untergraben worden durch Beweise, die Woche um Woche von Catherines Lippen kamen. Ich hörte mir die Tonbänder oft an und er­lebte die Sitzungen wieder, mit all ihrem Drama und ihrer Direktheit. Doch die anderen mussten sich auf meine Er-

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fahrungen verlassen, die zwar stark, aber nicht ihre eigenen waren. Ich sah mich gezwungen, sogar noch mehr Daten zu sammeln.

Als ich die Botschaften schrittweise akzeptierte und glaubte, wurde mein Leben einfacher und befriedigender. Es hatte keinen Sinn, Spielchen zu spielen, vorzutäuschen, Rollen auszuagieren oder etwas anderes zu sein als man selbst. Meine Beziehungen wurden ehrlicher und direkter. Mein Familienleben war weniger verwirrend und ent­spannter. Mein Widerwillen, die Weisheit, die mir durch Catherine gegeben war, mit anderen zu teilen, nahm lang­sam ab. Erstaunlicherweise waren die meisten Leute sehr interessiert und wollten mehr wissen. Viele erzählten mehr von ihren sehr privaten Erfahrungen parapsychologischer Begebenheiten, seien es nun ASW, Deja-vu, außerkörper­liche Erfahrungen, Träume von vergangenen Leben oder anderes. Diese Menschen hatten beinahe alle die gleiche Angst, dass andere, sogar ihre eigenen Familien und Thera­peuten, sie sonderbar oder eigenartig finden würden, wenn sie ihnen ihre Erfahrungen mitteilten. Dennoch kommen diese parapsychologischen Erscheinungen ziemlich häufig vor, viel häufiger, als die meisten Menschen realisieren. Es ist nur das Widerstreben, anderen von medialen Ereig­nissen zu erzählen, die sie so selten scheinen lässt. Und je gebildeter die Menschen sind, um so unbehaglicher ist es ihnen, darüber zu sprechen.

Der geachtete Chef einer der größten Abteilungen in meinem Krankenhaus ist ein Mann, der wegen seines Fachwissens international bewundert wird. Er steht in Kontakt mit seinem verstorbenen Vater, der ihn mehrmals

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vor ernsthaften Gefahren bewahrt hat. Ein anderer Profes­sor hat Träume, die die fehlenden Schritte oder Lösungen für seine komplexen wissenschaftlichen Untersuchungen liefern. Ein anderer bekannter Arzt weiß meistens, ehe er den Hörer abnimmt, wer ihn am Telefon verlangt. Die Frau des Dekans der psychiatrischen Fakultät einer Uni­versität im Mittleren Westen ist promovierte Psychologin. Sie hatte nie jemandem erzählt, dass sie, als sie das erste Mal in Rom war, in der Stadt umherspazierte, als hätte sie eine Straßenkarte in ihrem Kopf. Sie wusste unweigerlich, was sich hinter der nächsten Straßenbiegung befand. Auch wenn sie zuvor nie in Italien gewesen war und die Sprache nicht kannte, sprachen Italiener sie wiederholt auf Ita­lienisch an, weil sie sie irrtümlicherweise immer wieder für eine Einheimische hielten. Ihr Verstand hatte Mühe, ihre Erfahrungen in Rom zu verarbeiten.

Ich begriff, warum diese hochgebildeten Fachleute ihr Wissen versteckten. Ich war einer von ihnen. Wir konnten zwar unsere Erfahrungen und Sinneswahrnehmungen nicht leugnen. Aber unsere Erziehung war auf vielerlei Arten den Informationen, Erfahrungen und Annahmen, die wir erworben hatten, diametral entgegengesetzt. Also schwiegen wir.

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Die Woche war schnell vergangen. Ich hatte die Ton­bänder der letzten Sitzung immer wieder abgehört. Wie näherte ich mich dem Zustand der Erneuerung? Ich fühlte mich nicht besonders erleuchtet. Und jetzt würden mir Geistwesen gesandt werden, um mir zu helfen. Doch was verlangte man von mir? Wann würde ich es herausfinden? Würde ich dieser Aufgabe gewachsen sein? Ich wusste, dass ich warten und mich gedulden musste. Ich erinnerte mich an die Worte des poetischen Meisters.

»Geduld und Zeitgefühl ... , alles kommt, wenn es kom­men muss ... Alles wird dir mit der Zeit klar werden. Aber du musst erst die Gelegenheit haben, das Wissen zu ver­dauen, das wir dir bereits gegeben haben.« Also würde ich warten.

Am Anfang der Sitzung erzählte Catherine mir ein Bruchstück aus einem Traum, den sie mehrere Nächte zu­vor gehabt hatte. In diesem Traum lebte sie im Haus ihrer Eltern, und in der Nacht war ein Feuer ausgebrochen. Sie hatte die Dinge unter Kontrolle und half, das Haus zu eva­kuieren, aber ihr Vater trödelte herum, scheinbar gleich­gültig gegenüber dem Ernst der Lage. Sie drängte ihn aus dem Haus. Dann erinnerte er sich an etwas, das er im Haus vergessen hatte, und schickte Catherine zurück in das wütende Peuer, um den Gegenstand zu retten. Sie konnte

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sich nicht erinnern, was es war. Ich beschloss, den Traum noch nicht zu interpretieren, sondern zu warten und zu sehen, ob die Gelegenheit sich bieten würde, während sie hypnotisiert war.

Sie fiel schnell in eine tiefe hypnotische Trance. »Ich sehe eine Frau mit einer Kapuze auf dem Kopf, die nicht ihr Gesicht bedeckt, sondern nur ihr Haar.« Dann war sie ruhig.

»Können Sie sie jetzt sehen? Die Kapuze?« »Ich habe sie verloren ... Ich sehe irgendein schwarzes

Material, einen Brokatstoff mit einem goldenen Muster darauf ... Ich sehe ein Gebäude mit irgendwelchen erhabe­nen Punkten darauf ... , weißen Punkten.«

»Erkennen Sie das Gebäude?« »Nein.« »Ist es ein großes Gebäude?« »Nein. Es gibt einen Berg im Hintergrund mit etwas

Schnee darauf. Doch das Gras ist grün ... im Tal, wo wir sind.«

»Können Sie in das Gebäude hineingehen?« »Ja. Es ist aus irgendeinem Marmor gebaut ... , fühlt sich

sehr kalt an.« »Ist es eine Art Tempel oder religiöses Gebäude?« »Ich weiß es nicht. Ich dachte, es könnte ein Gefängnis

sein.« »Ein Gefängnis«, wiederholte ich. »Sind Leute in diesem

Gebäude und darum herum?« »Ja, einige Soldaten. Sie tragen schwarze Uniformen,

schwarz mit goldenen Epauletten ... Goldene Quasten hängen von ihnen herunter. Schwarze Helme mit einer Art

Page 137: Brian L. Weiss - Die zahlreichen Leben der Seele

Gold ... , etwas Spitzes und Goldenes oben ... auf den

Helmen. Und eine rote Schärpe, eine rote Schärpe um die Taille.«

))Sind Soldaten um Sie herum?«

>>Vielleicht zwei oder drei.« ))Sind Sie dort?«

>>Ich bin irgendwo, aber ich bin nicht in dem Gebäude.

Aber ich bin in der Nähe.«

))Schauen Sie sich um. Sehen Sie, ob Sie sich entdecken

können ... Die Berge sind dort und das Gras ... und die

weißen Gebäude. Gibt es auch andere Gebäude?«

))Wenn es andere Gebäude gibt, liegen sie nicht in der

Nähe von diesem. Ich sehe ein ... abgelegenes Gebäude mit

irgendeiner Mauer dahinter, einer Mauer.<<

))Meinen Sie, es sei ein Fort oder ein Gefängnis oder so

etwas?<< ))Vielleicht ... , aber es ist sehr abgelegen.<<

)) Warum ist das wichtig für Sie?<< [Lange Pause.]

))Wissen Sie den Namen der Stadt oder des Bezirks, in dem

Sie sich befinden? Wo die Soldaten sind?<<

>>Ich sehe immer wieder >Ukraine<.<<

>>Ukraine?«, wiederholte ich, fasziniert von der Verschie­

denheit ihrer Leben. ))Sehen Sie ein Jahr? Fällt es Ihnen

ein? Oder einen Zeitraum?«

))Siebzehn-siebzehn«, antwortete sie zögernd und korri­

gierte sich dann. ))Siebzehnachtundfünfzig ... , siebzehnacht­

undfünfzig. Es sind viele Soldaten dort. Ich weiß nicht,

was sie vorhaben. Mit langen krummen Schwertern.«

))Was sehen oder hören Sie sonst noch?«, erkundigte ich

mich.

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))Ich sehe einen Brunnen, einen Brunnen, wo sie die Pferde tränken.«

))Reiten die Soldaten auf den Pferden?« ))Ja.«

))Kennt man diese Soldaten auch unter einem anderen Namen? Wie nennen sie sich?« Sie hörte hin.

))Das höre ich nicht.«

))Befinden Sie sich unter ihnen?« ))Nein.« Wieder antwortete sie wie ein Kind, kurz und

oft einsilbig. Ich musste ein sehr aktiver Befrager sein. ))Aber du siehst sie in deiner Nähe?« ))Ja.« ))Bist du in der Stadt?«

))Ja.«

>>Wohnst du dort?« ))Ich glaube schon.«

>>Gut. Schau mal, ob du dich entdecken kannst und wo du lebst.«

))Ich sehe einige sehr zerlumpte Kleider. Ich sehe ein

Kind, einen Jungen. Seine Kleider sind zerlumpt. Ihm ist kalt ... «

))Hat er ein Zuhause in dieser Stadt?« Es gab eine lange Pause.

))Das sehe ich nicht«, fuhr sie fort. Sie schien einige Mühe

zu haben, mit diesem Leben Verbindung aufzunehmen. Sie war vage in ihren Antworten, irgendwie unsicher.

>>Schon gut. Kennst du den Namen des Jungen?« ))Nein.«

))Was passiert mit dem Jungen? Begleite ihn. Schau, was passiert.«

Page 139: Brian L. Weiss - Die zahlreichen Leben der Seele

»lrgendwie weiß er, dass er im Gefängnis ist.« »Ein Freund? Ein Verwandter?« »Ich glaube, es ist sein Vater.« Ihre Antworten waren

kurz. »Bist du der Junge?« »Ich bin nicht sicher.« »Weißt du, was er empfindet, weil sein Vater im Gefäng-

nis ist?« »Ja ... , er hat Angst, dass sie ihn töten werden.« »Was hat der Vater getan?« »Er hat etwas von den Soldaten gestohlen, irgendwelche

Papiere oder so etwas.« »Der Junge versteht es nicht ganz?« »Nein. Vielleicht sieht er seinen Vater nie wieder.« »Darf er seinen Vater überhaupt besuchen?« »Nein.« »Weißt du, wie lange sein Vater im Gefängnis bleiben

muss? Und ob er leben wird?« »Nein!«, antwortete sie. Ihre Stimme zitterte. Sie war

sehr verstört, sehr traurig. Sie lieferte nicht viele Einzel­heiten, aber sie war sichtlich erregt durch die Zustände, die sie miterlebte und erfuhr.

»Ja, Sie können spüren, was der Junge spürt«, fuhr ich fort, »diese Furcht und Angst. Spüren Sie sie?«

»Ja.« Wieder war sie still. »Was geschieht? Gehen Sie in der Zeit voraus. Ich weiß,

dass es schwierig ist. Gehen Sie in der Zeit voraus. Etwas passiert.«

»Sein Vater wird hingerichtet.« »Wie fühlt er sich jetzt?«

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»Es war wegen etwas, das er nicht einmal getan hatte. Doch sie richten Leute hin, ohne irgendeinen Grund zu haben.«

»Der Junge muss deswegen sehr verstört sein.« »Ich glaube nicht, dass er alles versteht ... , was geschehen

ist.« »Hat er andere Menschen, an die er sich wenden kann?« »Ja, aber sein Leben wird sehr schwer sein.« »Was wird aus dem Jungen?« >>Ich weiß es nicht. Er wird wahrscheinlich sterben ... «

Sie klang so traurig. Sie schwieg wieder, dann schien sie um sich zu schauen.

»Was sehen Sie?« »Ich sehe eine Hand ... , eine Hand schließt sich um

etwas ... Weißes. Ich weiß nicht, was es ist ... « Sie war still. Minuten vergingen.

»Was sehen Sie sonst noch?«, fragte ich. »Nichts ... , Dunkelheit.« Sie war entweder gestorben

oder abgeschnitten vom traurigen Jungen, der vor mehr als zweihundert Jahren in der Ukraine lebte.

»Haben Sie den Jungen verlassen?« »Ja«, flüsterte sie. Sie ruhte sich aus. »Was haben Sie von diesem Leben gelernt? Warum war

es wichtig?« »Leute können nicht schnell beurteilt werden. Man muss

ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Viele Leben wur­den ruiniert, weil wir voreilig in unserer Verurteilung waren.«

»Das Leben des Jungen war kurz und hart wegen dieser Verurteilung ... seines Vaters?«

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»Ja.« Wieder schwieg sie. »Sehen Sie jetzt etwas anderes? Hören Sie etwas?« »Nein.« Wieder diese kurze Antwort und dann das

Schweigen. Aus irgendeinem Grund war dieses kurze Leben besonders entsetzlich gewesen. Ich wies sie an, sich auszuruhen.

»Ruhen Sie sich aus. Fühlen Sie den Frieden. Ihr Körper erholt sich, Ihre Seele ruht sich aus ... Fühlen Sie sich bes­ser? Ausgeruht? Es war schwer für den kleinen Jungen. Sehr schwer. Doch jetzt ruhen Sie wieder. Ihr Geist kann zu anderen Orten gehen, zu anderen Zeiten ... , anderen Erinnerungen. Ruhen Sie sich aus?«

»Ja.« Ich beschloss, das Traumfragment über das bren­nende Haus zu verfolgen, das unbeteiligte Trödeln ihres Vaters und dass er sie in die Feuersbrunst zurückgeschickt hatte, um etwas zu holen, das ihm gehörte.

»Ich habe eine Frage zum Traum, den Sie hatten ... mit Ihrem Vater. Sie erinnern sich jetzt; es kann Ihnen nichts passieren. Sie befinden sich in einer tiefen Trance. Erin­nern Sie sich?«

»Ja.« »Sie gingen in das Haus zurück, um etwas zu holen.

Erinnern Sie sich daran?« »Ja ... Es war eine Metallschachtel.« »Was befand sich darin, das er so sehr wollte, dass er Sie

zurück in ein brennendes Haus schickte?« »Seine Briefmarken und die Münzen ... , die er sammelt«,

antwortete sie. Ihre detaillierte Erinnerung des Traum­inhalts unter Hypnose hob sich dramatisch von ihrer bruchstückhaften wachen Erinnerung ab. Die Hypnose ist

Page 142: Brian L. Weiss - Die zahlreichen Leben der Seele

ein m;ichtigcs Instrument, das nicht nur Zugang zu den entferntesten und verstecktesten Bereichen des Bewusst­seins bietet, sondern auch eine detaillierte Erinnerung er­möglicht.

»Waren die Briefmarken und Münzen sehr wichtig für ihn?((

»Ja.((

»Aber sein Leben zu riskieren und in ein brennendes Haus zurückzukehren, nur um Briefmarken und Münzen ... ((

Sie unterbrach mich: »Er dachte nicht, dass es ein Risiko sei.((

»Er dachte, es sei sicher?(( »Ja.((

>>Warum ist er dann nicht selbst zurückgegangen?(( >>Weil er dachte, ich sei schneller.(( »Aha. War es aber riskant für Sie?(( >>Ja, aber das wusste er nicht.(( »Hatte dieser Traum eine größere Bedeutung für Sie?

Was Ihre Beziehung zu Ihrem Vater angeht?(( »Ich weiß es nicht.(( »Er schien es nicht sehr eilig zu haben, aus dem bren­

nenden Haus zu kommen.(( »Warum ließ er sich so viel Zeit? Sie waren schnell und

sahen die Gefahr.(( »Weil er versucht, sich vor Dingen zu verstecken.(( Ich benutzte diesen Augenblick, um einen Teil des

Traums zu interpretieren: »Ja, es ist ein altes Muster von ihm. Sie tun Dinge für ihn, wie diese Schachtel holen. Ich hoffe, er kann von Ihnen lernen. Ich habe das Gefühl, dass das Feuer die Zeit darstellt, die abläuft, dass Sie die Gefahr

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sehen, aber er nicht. Während er trödelt und Sie wegen materieller Gegenstände zurückschickt, wissen Sie viel mehr ... , und haben ihn viel zu lehren, aber er scheint es nicht wissen zu wollen.«

»Nein«, bestätigte sie. »Das will er nicht.« »So sehe ich den Traum. Aber Sie können ihn nicht

zwingen. Er muss es selbst begreifen.« »Ja«, bestätigte sie wieder, und ihre Stimme wurde tiefer

und laut, »es ist unwichtig, wenn unser Körper im Feuer verbrennt, da wir ihn nicht brauchen ... « Ein Meisterwesen hatte dem Traum eine völlig neue Perspektive verliehen. Ich war überrascht durch diesen plötzlichen Einwurf und konnte den Gedanken nur nachplappern wie ein Papagei.

»Wir brauchen unseren Körper nicht?« »Nein. Wir gehen durch so viele Stufen, wenn wir hier

sind. Wir lassen unseren Säuglingskörper hinter uns, wer­den zum Kind, vom Kind zum Erwachsenen, vom Erwach­senen zum Greis. Warum sollten wir nicht einen Schritt darüber hinausgehen und den erwachsenen Körper hinter uns lassen, um in einen geistigen Bereich überzugehen? Das ist es, was wir tun. Wir hören nicht einfach auf, uns zu entwickeln, wir entwickeln uns weiter. Wenn wir auf der geistigen Ebene ankommen, entwickeln wir uns auch dort weiter. Wir machen verschiedene Entwicklungsstufen durch. Wenn wir ankommen, sind wir ausgebrannt. Wir müssen durch eine Erneuerungsphase. Wir beschließen, wann wir zurückkehren wollen, wohin und aus welchen Gründen. Manche wählen, nicht zurückzukehren. Sie wählen, auf eine andere Entwicklungsstufe überzugehen. Manche bleiben länger, manche weniger lang in der geis-

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tigen Welt ... , ehe sie zurückkehren. Alles ist Entwicklung und Lernen ... , fortwährendes Lernen. Es sind unsere Seele und unser Geist, die ewig bestehen.«

Ich erkannte weder die Stimme noch den Stil. Ein

»neuer« Meister sprach und vermittelte bedeutsames Wissen. Ich verlangte mehr über diese geistigen Gefilde zu erfahren.

»Lernt man auf der physischen Ebene schneller? Gibt es

Gründe dafür, dass Menschen nicht im geistigen Zustand bleiben?«

»Nein. Auf der geistigen Ebene lernt man viel schneller, viel geschwinder als auf der physischen Ebene. Doch wir

wählen, was wir lernen sollen. Wenn wir zurückkehren sollen, um an einer Beziehung zu arbeiten, so tun wir das. Wenn wir das beendet haben, gehen wir weiter. In dein~r geistigen Form kannst du, wenn du willst, immer Kontakt

aufnehmen mit denen, die sich im physischen Bereich be­finden. Doch nur, wenn es für sie wichtig ist ... , wenn du ihnen etwas zu sagen hast, das sie wissen müssen.«

»Wie nimmt man Verbindung auf? Wie kommt die Bot­schaft durch?«

Zu meinem Erstaunen antwortete Catherine selbst. Ihr

Flüstern war schneller und steter. »Manchmal erscheinst du vor dieser Person und ... siehst genau so aus wie damals, als du hier warst. Andere Male nimmst du nur geistig Kontakt

auf. Manchmal sind die Botschaften verschlüsselt, doch oft weiß die betreffende Person, worauf sie sich beziehen. Sie versteht. Es ist ein Kontakt von Geist zu Geist.«

Ich sprach zu Catherine. »Das Wissen, das Sie jetzt haben, diese Informationen, diese Einsichten, die so wich-

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tig sind ... , warum sind sie Ihnen nicht zugänglich, wenn Sie wach sind und sich im physischen Zustand befinden?«

»Ich denke, ich würde es nicht verstehen. Ich bin nicht fähig, es zu verstehen.«

»Dann kann ich Sie vielleicht lehren, es zu verstehen, damit es Ihnen keine Angst macht und Sie lernen kön­nen?«

»Ja.« »Wenn Sie die Stimmen der Meister hören, sagen Sie

Dinge, die denen gleichen, die Sie jetzt zu mir sagen. Sie müssen einen Teil dieses Wissens mitbekommen haben.« Mich interessierten die Einsichten, die sie besaß, wenn sie sich in diesem Zustand befand.

»Ja«, antwortete sie einfach. »Und es stammt aus Ihrem eigenen Geist?« »Aber sie müssen es hineingeben.« Also schrieb sie es

den Meistern zu. »Ja«, bestätigte ich. »Wie kann ich es Ihnen am besten

verständlich machen, damit Sie sich entwickeln und Ihre Angste verlieren können?«

»Das haben Sie bereits getan«, antwortete sie leise. Sie hatte Recht; ihre Angste waren beinahe verschwunden. Nachdem die hypnotische Rückführung einmal begonnen hatte, waren ihre gesundheitlichen Fortschritte unglaub­lich schnell gewesen.

»Welche Lektionen müssen Sie jetzt lernen? Was ist das Wichtigste, das Sie in diesem Leben lernen können, um sich zu entwickeln und zu entfalten?«

»Vertrauen«, sagte sie sofort. Sie hatte gewusst, was ihre wichtigste Aufgabe war.

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»Vertrauen«, wiederholte ich, überrascht von der Ge­schwindigkeit ihrer Antwort.

»Ja. Ich muss lernen, Vertrauen zu haben, aber auch an­deren Menschen zu trauen. Ich vertraue ihnen nicht. Ich denke, alle sind darauf aus, mir Böses anzutun. Das hält mich von Menschen und Situationen fern, von denen ich mich wahrscheinlich nicht fern halten sollte. Es bindet mich an andere Leute, von denen ich mich trennen sollte.«

Ihre Einsicht war tief, wenn sie sich in diesem über­bewussten Zustand befand. Sie kannte ihre Schwächen und ihre Stärken. Sie kannte die Bereiche, die Aufmerk­samkeit und Arbeit brauchten, und sie wusste, was sie unternehmen musste, damit die Dinge besser wurden. Das einzige Problem war, dass diese Einsichten ihren bewuss­ten Verstand erreichen und auf ihr bewusstes Leben ange­wandt werden mussten. Überbewusste Einsichten waren faszinierend, aber für sich genommen waren sie nicht genug, um ihr Leben zu verändern.

»Wer sind diese Leute, von denen Sie sich trennen soll­ten?«

Sie wartete. »Ich habe Angst vor Becky. Ich habe Angst vor Stuart ... , dass ich irgendwie Schaden nehmen könnte ... , durch sie.«

»Können Sie sich von ihnen lösen?« »Nicht völlig, aber von einigen ihrer Gedanken, ja.

Stuart versucht, mich gefangenzuhalten, und es gelingt ihm. Er weiß, dass ich Angst habe. Er weiß, dass ich Angst habe, ihn zu verlassen, und er benutzt dieses Wissen, um mich für sich zu behalten.«

»Und Becky?«

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»Sie versucht dauernd, meinen Glauben an die Men­schen zu untergraben, denen ich vertraue. Wo ich etwas Gutes sehe, sieht sie nur Schlechtes. Und sie versucht, diese Samen in mein Bewusstsein einzupflanzen. Ich lerne, Menschen zu vertrauen ... , denen ich vertrauen sollte, aber sie füllt mich mit Zweifeln über sie. Und es ist ihr Problem. Ich kann nicht zulassen, dass sie macht, dass ich so denke wie sie.«

In ihrem überbewussten Zustand war Catherine in der Lage, die wichtigsten Charakterschwächen von Stuart und Becky genau einzukreisen. Die hypnotisierte Cathe­rine gäbe einen ausgezeichneten Psychiater ab, einfühl­sam und von unbeirrbarer Intuition. Die wache Catherine besaß diese Eigenschaften nicht. Es war meine Aufgabe, die Kluft zu überbrücken. Die dramatische Besserung ihres Befindens bedeutete, dass einiges von den Bot­schaften durchsickerte. Ich versuchte, weitere Brücken zu schlagen.

»Wem können Sie vertrauen?«, fragte ich. »Denken Sie darüber nach. Wer sind die Leute, denen Sie vertrauen können, von denen Sie lernen können und deren Nähe Sie suchen können? Welche Menschen sind das?«

»Ich kann Ihnen vertrauen«, flüsterte sie. Ich wusste das, aber ich wusste auch, dass es für sie wichtiger war, Men­schen aus ihrem Alltagsleben zu vertrauen.

»Ja, das können Sie. Sie stehen mir nahe, aber Sie müs­sen anderen Menschen in Ihrem Leben auch näher kom­men, und zwar den Menschen, die mehr Zeit mit Ihnen verbringen können als ich.« Ich wollte, dass sie ganz unab­hängig wurde, nicht abhängig von mir.

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»Ich kann meiner Schwester vertrauen. Die anderen kenne ich nicht. Auch Stuart kann ich trauen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Er macht sich wirklich etwas aus mir, aber er ist verwirrt. In seiner Verwirrung fügt er mir unbewusst Schaden zu.«

»Ja, das stimmt. Gibt es einen anderen Mann, dem Sie vertrauen können?«

»Ich kann Roben vertrauen«, antwortete sie. Er war ein anderer Arzt im Krankenhaus. Sie waren gute Freunde.

»Ja. Vielleicht gibt es noch weitere Menschen, denen Sie vertrauen werden ... , in der Zukunft.«

»Ja((' räumte sie ein. Der Gedanke an zukünftiges Wissen machte mich neu­

gierig und lenkte mich ab. Sie war so präzise gewesen, was die Vergangenheit anbelangte. Durch die Meister hatte sie spezifische, geheime Tatsachen gewusst. Konnte sie auch Tatsachen aus der Zukunft wissen? Wenn ja, konnten wir dieses Vorauswissen teilen? Tausend Fragen kamen mir in den Sinn.

»Wenn Sie wie jetzt den Kontakt zu Ihrem überbewuss­ten Geist finden und über sein Wissen verfügen, ent­wickeln Sie dann auch Fähigkeiten im medialen Bereich? Ist es Ihnen möglich, in die Zukunft zu schauen? Wir haben viel in der Vergangenheit getan.((

»Es ist möglich((' räumte sie ein, »aber jetzt sehe ich nichts.((

»Es ist möglich?((' wiederholte ich. »Ich glaube schon.(( »Könnten Sie es tun, ohne Angst zu haben? Können Sie

in die Zukunft gehen und Informationen mit einem neu-

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tralen Inhalt verlangen, der Sie nicht erschrecken wird? Können Sie in die Zukunft sehen?«

Ihre Antwort kam schnell. »Das kann ich nicht sehen. Sie werden es nicht erlauben.« Ich wusste, dass sie die Meister meinte.

»Sind sie jetzt in Ihrer Nähe?«

»Ja.« »Sprechen sie zu Ihnen?«

»Nein, sie überwachen alles.« Da sie überwacht wurde, durfte sie also keinen Blick in die Zukunft werfen. Viel­leicht konnten wir durch einen solchen Einblick persön­lich nichts gewinnen. Catherine hatte zu große Angst. Vielleicht waren wir noch nicht bereit, mit diesem Wissen umzugehen. Ich drängte sie nicht weiter.

»Der Geist, der letztes Mal um Sie war, Gideon ... « »Ja.« »Was braucht er? Warum ist er in Ihrer Nähe? Kennen

Sie ihn?«

»Ich, ich glaube nicht.« »Aber er schützt Sie vor Gefahr?«

»Ja.« »Die Meister ... «

»Ich sehe sie nicht.« »Manchmal haben sie Botschaften für mich, Botschaf­

ten, die Ihnen und mir helfen. Sind diese Botschaften Ihnen zugänglich, auch wenn sie nicht sprechen? Geben sie Ihnen Gedanken ein?«

»Ja.« »Bestimmen sie, wie weit Sie gehen können? An was Sie

sich erinnern?«

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»Ja.« »Also dient diese Betrachtung früherer Leben einem

Zweck?« »Ja.« »Für Sie und für mich ... , um uns zu belehren. Um uns

Erlösung von der Angst zu bringen.« »Es gibt viele Kommunikationsarten. Sie wählen viele ... ,

um zu zeigen, dass es sie gibt.« Ob Catherine ihre Stimme hörte, Bilder und Landschaften aus der Vergangenheit visualisierte, mediale Phänomene erfuhr oder ob ihr Ge­danken und Ideen eingegeben wurden - das Ziel war das­selbe: zu zeigen, dass es sie gibt und, darüber hinaus, dass sie da sind, um uns zu helfen und uns beizustehen auf unserem Weg, indem sie uns mit Einsichten und Wissen versehen, das uns hilft, durch Weisheit gottähnlicher zu werden.

»Wissen Sie, warum man Sie dazu ausersehen hat ... « »Nein.« » ... ein Medium zu sein?« Das war eine heikle Frage, da die wache Catherine nicht

einmal die Tonbänder hören konnte. »Nein«, antwortete sie leise.

»Macht es Ihnen Angst?« »Manchmal.« »Und andere Male nicht?« »Ja.« »Es kann etwas Tröstendes haben«, fügte ich hinzu. »Wir

wissen jetzt, dass wir ewig leben, deshalb verlieren wir unsere Angst vor dem Tod.«

»Ja«, bestätigte sie. Sie wartete. »Ich muss lernen zu ver-

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trauen.« Sie war zu der wichtigsten Lektion ihres Lebens zurückgekehrt. »Wenn man mir etwas sagt, muss ich glau­ben, was man mir sagt ... , wenn die betreffende Person es besser weiß.«

»Natürlich gibt es auch Leute, denen man nicht trauen soll«, fügte ich hinzu.

»Ja, aber ich bin verwirrt. Und bei den Menschen, von denen ich weiß, dass ich ihnen vertrauen sollte, kämpfe ich dagegen an. Denn ich will niemandem trauen.« Sie war wieder still, während ich ihre Einsicht bewunderte.

»Das letzte Mal haben wir über Sie als Kind gesprochen, als Sie in einem Garten mit Pferden standen. Erinnern Sie sich? Anlässtich der Hochzeit Ihrer Schwester.«

»Ein wenig.« »Gab es aus dieser Zeit noch mehr zu lernen? Wissen Sie

es?« »Ja.« »Wäre es der Mühe wert, jetzt zurückzukehren und es zu

untersuchen?« »Ich werde jetzt nicht dorthin zurückkehren. Es gibt

so viele Dinge in einem Leben ... , so viel Wissen zu erlan­gen ... , in jedem Leben. Ja, wir müssen es untersuchen, aber ich kehre jetzt nicht zurück.«

Also kam ich wieder auf ihre problematische Beziehung zu ihrem Vater zu sprechen. »Ihre Beziehung zu Ihrem Vater ist ein anderer Bereich, der Sie in diesem Leben sehr beeinflusst hat.«

»Ja«, antwortete sie schlicht. »Das ist ein anderer Bereich, den wir weiter untersuchen

müssen. Sie haben von dieser Beziehung viel zu lernen.

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Vergleichen Sie sie mit der des kleinen Jungen in der Ukraine, der seinen Vater schon früh verloren hat. Und diesen Verlust haben Sie diesmal nicht erfahren. Und den­noch, einen Vater zu haben, auch wenn gewisse Nöte eine weniger ... «

»Eine größere Last waren«, meinte sie. »Gedanken<<, fügte sie hinzu, »Gedanken ... «

»Was für Gedanken?« Ich spürte, dass sie in einem neuen Bereich war.

»Über Narkose. Wenn man eine Narkose kriegt, kann man dann immer noch hören? Man kann es!« Sie hatte ihre eigene Frage beantwortet. Sie flüsterte jetzt schnell und aufgeregt. »Ihr Bewusstsein weiß sehr wohl, was vorgeht. Sie sprachen über mein Ersticken, über die Möglichkeit, dass ich ersticken könnte, als sie die Operation an meiner Kehle vornahmen.«

Ich erinnerte mich an Catherines Stimmbänderopera­tion, die nur ein paar Monate vor ihrem ersten Termin mit mir durchgeführt worden war. Vor der Operation hatte sie ein bisschen Angst gehabt, aber sie war voller Entsetzen gewesen, als sie aus der Narkose aufwachte. Das Pflege­personal hatte Stunden gebraucht, um sie zu beruhigen. Jetzt stellte sich heraus, dass das, was die Chirurgen wäh­rend der Operation gesagt hatten, als sie sich in einer tiefen Narkose befand, ihr Entsetzen hervorgerufen hatte. Meine Gedanken kreisten auf einmal um die Klinik und meine Zeit in der Chirurgieabteilung. Ich erinnerte mich an die beiläufigen Gespräche während der Operationen, während die Patienten unter Narkose waren. Ich erinnerte mich an die Witze, das Fluchen, die Streitigkeiten und die Wut-

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ausbrüche der Chirurgen. Was hatten die Patienten auf einer unbewussten Ebene mitgekriegt? Wie viel davon be­einflusste ihre Gedanken und Gefühle, ihre Befürchtungen und Angste, wenn sie wieder aufwachten? Wurde der postoperative Verlauf, die eigentliche Erholung des Patien­ten vom Eingriff, positiv oder negativ beeinflusst von den Bemerkungen, die während der Operation gemacht wur­den? War jemand gestorben wegen negativer Prognosen, die er während der Operation mitgehört hatte? Hatten Patienten einfach aufgegeben, weil sie sich als hoffnungs­loser Fall fühlten?

»Erinnern Sie sich an das, was sie sagten?«, fragte ich. »Dass sie einen Schlauch einführen müssten. Wenn sie

den Schlauch herausnähmen, könnte meine Kehle an­schwellen. Sie dachten nicht, dass ich sie hören konnte.«

»Aber Sie konnten es.« »Ja. Deshalb hatte ich alle diese Probleme.« Nach der

heutigen Sitzung hatte Catherine keine Angst mehr vor dem Schlucken oder Ersticken. So einfach war das. »Die ganze Angst ... «, fuhr sie fort, »ich dachte, ich würde er­sticken.«

»Fühlen Sie sich befreit?«, fragte ich. »Ja. Sie können das, was die anderen getan haben, rück­

gängig machen.« »Kann ich das?« »Ja, das können Sie ... die anderen müssen sehr auf­

passen, was sie sagen. Ich erinnere mich jetzt. Sie steckten einen Schlauch in meinen Hals. Und dann konnte ich nicht mehr mit ihnen sprechen, um ihnen etwas mitzu­teilen.«

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»Jetzt sind Sie davon befreit ... Sie haben sie gehört?«

»Ja, ich habe sie sprechen gehört ... « Sie schwieg ein oder

zwei Minuten, dann begann sie, ihren Kopf von einer Seite

zur anderen zu drehen. Sie schien auf etwas zu hören.

»Sie scheinen Botschaften zu hören. Wissen Sie, wo die­

se Botschaften herkommen? Ich hatte gehofft, die Meister

würden zurückkehren.«

»Jemand hat es mir gesagt«, war ihre knappe Antwort.

»Jemand sprach mit Ihnen?« »Aber sie sind weg.« Ich versuchte, sie zurückzuholen.

»Probieren Sie, ob Sie die Geistwesen zurückrufen

können mit den Botschaften für uns ... , um uns weiterzu­

helfen.« »Sie kommen nur, wenn sie wollen, nicht, wenn ich es

will«, antwortete sie mit Bestimmtheit.

»Sie haben keine Kontrolle darüber?«

»Nein.«

»Einverstanden«, räumte ich ein, »aber die Botschaft

über die Narkose war sehr wichtig für Sie. Das war die

Ursache für Ihre Erstickungsanfälle.«

»Es war wichtig für Sie, nicht für mich«, erwiderte sie.

Ihre Antwort hallte in meinem Kopf nach. Catherine

würde von ihrer Angst vor dem Ersticken geheilt sein,

doch diese Enthüllung war trotzdem wichtiger für mich

als für sie. Ich war der Heiler. Ihre Antworten enthielten

viele Bedeutungsebenen. Ich hatte das Gefühl, dass ich,

wenn ich diese Ebenen wirklich verstand, einen Quanten­

sprung im Verständnis menschlicher Beziehungen machen

könnte. Vielleicht war Hilfe zu geben wichtiger als das

Kurierenwollen.

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>>Damit ich Ihnen helfen kann?<<, fragte ich. ))Ja. Sie können das, was die anderen getan haben, unge­

schehen machen. Sie haben es ungeschehen gemacht ... << Sie ruhte sich aus. Wir hatten beide eine wichtige Lektion gelernt.

Kurz nach ihrem dritten Geburtstag kam meine Tochter Amy zu mir gerannt und umarmte meine Beine. Sie schau­te zu mir auf und meinte: >>Ich liebe dich schon seit vierzig­tausend Jahren.« Ich sah auf ihr kleines Gesicht hinunter und war sehr, sehr glücklich.

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Mehrere Nächte später wurde ich aus einem tiefen Schlummer aufgeschreckt. Ich war sofort hellwach und hatte eine Vision von Catherines Gesicht, das überdimen­sional groß ~rschien. Sie sah verstört aus, als würde sie meine Hilfe brauchen. Ich warf einen Blick auf den Wecker. Es war 3· 36 Uhr. Draußen waren keine Geräu­sche zu hören, die mich geweckt hätten. Carole schlief friedlich neben mir. Ich schob das Ereignis beiseite und schlief wieder ein.

Um etwa 3.30 Uhr an diesem Morgen war Catherine in Panik aus einem Albtraum aufgewacht. Sie war schweiß­gebadet, und ihr Herz raste. Um sich zu entspannen, be­schloss sie zu meditieren und stellte sich dabei vor, ich würde sie in meiner Praxis hypnotisieren. Sie sah mein Gesicht, hörte meine Stimme und schlief allmählich wie­der ein.

Catherine wurde zunehmend medialer und ich offen­bar auch. Ich konnte meinen alten Psychiatrieprofessor über das Thema Übertragung und Gegenübertragung in therapeutischen Beziehungen dozieren hören. Die Über­tragung ist die Projektion der Gefühle, Gedanken und Wünsche des Patienten auf den Therapeuten, der eine Gestalt aus dessen Vergangenheit darstellt. Eine Gegen­übertragung ist das Gegenteil, das heißt die unbewussten

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emotionalen Reaktionen des Therapeuten auf den Pa­tienten. Doch diese Kommunikation um 3· 30 Uhr mor­gens war weder das eine noch das andere. Es war eine telepathische Verbindung auf einer Wellenlänge außer­halb der normalen Kanäle. Auf irgendeine Weise öff­nete die Hypnose diesen Kanal. Oder war es das Pub­likum, eine Gruppe von verschiedenen Geistwesen - von Meistern, Schutzengeln und anderen -, die für die neue Wellenlänge verantwortlich waren? Ich war mehr als über­rascht.

Bei der nächsten Sitzung erreichte Catherine schnell eine tiefe hypnotische Ebene. Sie war sofort beunruhigt. »Ich sehe eine große Wolke ... Sie machte mir Angst, Sie war dort.« Sie atmete schnell.

»Ist sie immer noch dort?« »Ich weiß es nicht. Sie kam und zog schnell vorüber ... ,

etwas hoch oben auf einem Berg.« Sie war immer noch verstört und atmete schwer. Ich hatte Angst, sie würde eine Bombe sehen. Konnte sie in die Zukunft blicken?

»Können Sie den Berg sehen? Ist er wie eine Bombe?<< »Ich weiß es nicht.« »Warum hat es Ihnen Angst gemacht?« »Es geschah sehr plötzlich. Sie war einfach nur da. Es ist

sehr rauchig ... , sehr rauchig. Es ist groß. Es ist weit weg. Oh ... «

»Sie sind in Sicherheit. Können Sie näher herangehen?« »Ich will aber nicht näher herangehen!«, antwortete sie

schroff. Es war selten, dass sie so viel Widerstand leistete. »Wovor haben Sie Angst?« fragte ich erneut. »Ich denke, es sind irgendwelche Chemikalien oder so

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etwas. Das Atmen fällt schwer, wenn man in der Nähe ist.« Sie atmete mühsam.

»Ist es wie ein Gas? Kommt es aus dem Berg selbst ... wie ein Vulkan?«

»Ich glaube schon. Es ist wie ein großer Pilz. So sieht es aus ... wie ein weißer Pilz.«

»Aber keine Bombe? Es ist keine Atombombe oder so etwas?« Sie wartete und fuhr dann fort.

»Es ist ein Vul ... , irgendeine Art Vulkan oder so etwas, glaube ich. Es ist sehr beängstigend. Man kann kaum atmen. Staub ist in der Luft. Ich will hier nicht sein.« Lang­sam wurde ihr Atem wieder ruhig und gleichmäßig -wie immer unter Hypnose. Sie hatte diese beängstigende Szene hinter sich gelassen.

»Fällt das Atmen l~nen jetzt leichter?« »Ja.« »Gut. Was sehen Sie jetzt?« »Nichts ... Ich sehe eine Halskette, eine Halskette um

einen Hals ... Sie ist blau ... , silbern mit einem blauen Stein als Anhänger und kleineren Steinen unter ihm.«

»Ist etwas in dem Stein?« »Nein, er ist durchsichtig. Man kann durch ihn hin­

durchsehen. Die Dame hat schwarzes Haar und einen blauen Hut ... mit einer großen Feder, und ihr Kleid ist aus Samt.«

»Kennen Sie diese Dame?« »Ich weiß es nicht.« »Aber Sie sehen sie?« »Ja. Ich bin nicht diese Dame.« »Wie alt ist sie?«

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»ln den Vierzigem. Aber sie sieht älter aus, als sie ist.<< »Macht sie irgendetwas?« >>Nein. Sie steht nur neben dem Tisch. Es ist eine Par­

fumflasche auf dem Tisch. Sie ist weiß mit grünen Blumen darauf. Es liegen eine Bürste und ein Kamm dort mit silbernen Griffen.« Ich war beeindruckt von ihrem Sinn für Details.

»Ist es ihr Zimmer, oder ist es in einem Laden?« »Es ist ihr Zimmer. Es steht ein Bett darin ... , mit vier

Bettpfosten. Es ist ein braunes Bett. Auf dem Tisch steht ein Wasserkrug.«

»Ein Krug?« >>Ja. Es sind keine Bilder im Zimmer. Es hat eigenartige,

dunkle Vorhänge.« »Ist noch jemand anderes dort?« »Nein.« »Welche Beziehung hat diese Dame zu Ihnen?« »Ich diene ihr.« Einmal mehr war sie eine Dienstmagd. »Sind Sie schon lange bei ihr?« »Nein ... , erst ein paar Monate.« »Gefällt Ihnen die Halskette?« »Ja, sie ist sehr schön.« »Haben Sie sie je getragen?« »Nein.« Ihre knappen Antworten verlangten eine aktive

Steuerung meinerseits, um grundsätzliche Einzelheiten zu erfahren. Sie erinnerte mich an meinen vorpubertären Sohn.

»Wie alt bist du jetzt?« »Vielleicht dreizehn, vierzehn.« Etwa gleich alt wie mein

Sohn.

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»Warum hast du deine Familie verlassen?« erkundigte ich mich.

»Ich habe sie nicht verlassen«, verbesserte sie mich. »Ich arbeite nur dort.«

»Ich verstehe. Gehst du hinterher nach Hause zu deiner Familie?«

»Ja.« Ihre Antworten waren wenig aufschlussreich. »Wohnst du in der Nähe?« »Nahe genug ... Wir sind sehr arm. Wir müssen arbeiten

... dienen.« »Weißt du den Namen der Dame?« »Belinda.« »Behandelt sie dich gut?«

»Ja.« »Schön. Musst du hart arbeiten?« »Es ist nicht sehr anstrengend.« Teenager zu befragen ist

noch nie leicht gewesen, sogar in früheren Leben. Zum Glück hatte ich viel Übung.

»Gut. Siehst du sie jetzt immer noch?« »Nein.« »Wo bist du jetzt?« »In einem anderen Zimmer. Es steht ein Tisch dort mit

einer schwarzen Decke darauf ... und Fransen. Es riecht nach vielen Kräutern ... , schwüler Duft.«

»Gehört das alles deiner Herrin? Verwendet sie viel Par­fum?«

»Nein, es ist ein anderes Zimmer. Ich bin in einem ande­ren Zimmer.«

»Wessen Zimmer ist es?« »Es gehört irgendeiner dunklen Dame.«

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»Dunkel in welchem Sinn? Kannst du sie sehen?« >>Sie hat viele Tücher auf dem Kopf«, flüsterte Catherine,

>>viele Schals. Sie ist alt und runzelig.« >>Was ist deine Beziehung zu ihr?« »Ich bin zu ihr gegangen.« »Aus welchem Grund?« »Damit sie mir die Karten legen kann.« Intuitiv wusste

ich, dass sie eine Wahrsagerin aufgesucht hatte, die wahr­scheinlich aus den Tarotkarten las. Das war eine ironische Wendung. Hier waren Catherine und ich in ein unglaub­liches mediales Abenteuer involviert, das viele Leben und Dimensionen umspannte und sogar noch darüber hinaus­ging, und dennoch hatte sie vielleicht zweihundert Jahre zuvor ein Medium aufgesucht, um sich von ihm die Zu­kunft voraussagen zu lassen. Ich wusste, dass Catherine in ihrem jetzigen Leben noch nie ein Medium konsultiert hatte. Sie wusste nichts über Tarotkarten oder Wahrsagen. Diese Dinge machten ihr Angst.

»Sagt sie die Zukunft voraus?«, fragte ich. »Sie sieht Dinge.« »Hast du eine Frage für sie? Was möchtest du sehen?

Was willst du wissen?« »Wegen irgendeines Mannes ... , den ich vielleicht heira­

ten werde.« »Was sagt sie, wenn sie die Karten liest?« »Die Karte mit ... irgendwelchen Stangen darauf. Stan-

gen und Blumen ... , jedenfalls Stangen, Speere oder irgend-eine Art Striche. Ich sehe eine andere Karte mit einem Kelch darauf, einer Tasse ... Ich sehe eine Karte mit einem Mann oder einem Jungen, der einen Schild trägt. Sie sagt,

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dass ich heiraten werde, aber nicht diesen Mann ... , ich sehe nichts anderes.«

>>Siehst du die Frau?« ))Ich sehe einige Münzen.« ))Bist du immer noch bei ihr, oder ist dies ein anderer

Ort?« ))Ich bin bei ihr.« ))Wie sehen die Münzen aus?«

. ))Sie sind aus Gold. Die Ränder sind nicht glatt. Sie sind abgekantet. Auf einer Seite ist eine Krone.«

>>Schau, ob ein Jahr auf den Münzen geprägt ist. Etwas, das du lesen kannst ... in Buchstaben.«

>>Irgendwelche fremden Zahlen«, antwortete sie. ))Mit mehreren X.«

))Weißt du, welches Jahr das ist?« ))Siebzehn ... irgend was. Ich· weiß nicht, wann.« Sie war

wieder still. ))Warum ist diese Wahrsagerin wichtig für dich?« ))Ich weiß es nicht .. ))Treffen ihre Voraussagen ein?« >> ... Aber sie ist weg«, flüsterte Catherine. ))Es ist weg. Ich

weiß es nicht mehr.« >>Sehen Sie jetzt irgendetwas?« ))Nein.«

))Nein?« Ich war überrascht. Wo war sie? ))Wissen Sie Ihren Namen in diesem Leben?«, fragte ich in der Hoff­nung, den Faden ihres Lebens vor mehreren hundert Jahren wieder aufzunehmen.

>>Ich bin weg von dort.« Sie hatte dieses Leben verlassen und ruhte. Sie konnte das jetzt von sich aus tun. Es war

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nicht nötig, dass sie erst starb, um es zu können. Wir war­teten mehrere Minuten. Dieses Leben war nicht so spek­takulär gewesen. Sie hatte sich nur an einige Höhepunkte und an den interessanten Besuch bei der Wahrsagerin er­innert.

»Sehen Sie jetzt etwas?«, fragte ich wieder. »Nein«, flüsterte sie. »Ruhen Sie?« »Ja ... Juwelen in verschiedenen Farben ... « >>Juwelen?« »Ja, in Wirklichkeit sind es Lichter, aber sie sehen wie

Juwelen aus ... « >>Was sonst?« »Ich bin nur ... « Sie war still, doch dann klang ihr Fliis­

tern laut und bestimmt. »Viele Worte und Gedanken fliegen umher ... Es geht um die Koexistenz und um Har­monie ... , das Gleichgewicht der Dinge.« Ich wusste, dass die Meister in der Nähe waren.

»Ja«, drängte ich. »Ich möchte über diese Dinge mehr erfahren. Können Sie es mir sagen?«

»Im Moment sind es nur Worte«, antwortete sie. »Koexistenz und Harmonie«, erinnerte ich sie. Als sie

wieder sprach, war es mit der Stimme des poetischen Meis­ters. Ich war hocherfreut, wieder von ihm zu hören.

»Ja«, antwortete er. »Alles muss ausgewogen sein. Die Natur ist ausgewogen. Die Tiere leben in Harmonie. Die Menschen haben das nicht gelernt und zerstören sich immer noch gegenseitig. Es gibt keine Harmonie, keinen Plan in dem, was sie tun. In der Natur ist das ganz anders. Die Natur ist ausgewogen. Sie ist Energie und Leben ...

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und Erneuerung. Menschen zerstören nur. Sie zerstören die Natur. Sie zerstören einander. Mit der Zeit werden sie sich sogar selbst zerstören.«

Das war eine unheilvolle Vorhersage. In einer Welt, in der ständig Chaos und Aufruhr herrschten, hoffte ich, dass das nicht so bald eintreffen würde. ))Wann wird das sein?«, fragte ich.

))Es wird schneller kommen, als sie denken. Die Natur wird überleben. Oie Pflanzen werden überleben. Aber wir nicht.«

))Können wir etwas tun, um diese Zerstörung zu verhin­dern?«

))Nein, alles muss ausgeglichen werden ... « )) Wird diese Zerstörung in unserer Zeit stattfinden?

Können wir sie abwenden?« >>Es wird nicht in unserer Zeit sein. Wir werden uns auf

einer anderen Ebene befinden, in einer anderen Dimen­sion, aber wir werden es sehen.«

))Gibt es keinen Weg, die Menschheit zu erreichen?« Ich suchte ständig nach einem Ausweg, nach einer weniger schlimmen Alternative.

))Es wird auf einer anderen Ebene stattfinden. Wir werden davon lernen.«

Ich sah das Gute daran: ))Dann werden unsere Seelen also zu anderen Orten gehen?«

))Ja. Wir werden nicht länger ... hier sein, so wie wir es kennen. Wir werden es sehen.«

))Ja«, räumte ich ein. ))Ich habe das Bedürfnis, es den Leu­ten beizubringen, aber ich weiß nicht, wie ich sie erreichen soll. Gibt es einen Weg, oder müssen sie es selbst lernen?«

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»Du kannst nicht alle erreichen. Um der Zerstörung Ein­halt zu gebieten, musst du alle erreichen, und das kannst du nicht. Man kann es nicht stoppen. Sie werden lernen. Wenn sie fortschreiten, werden sie lernen. Es wird Frieden herrschen, aber nicht hier, nicht in dieser Dimension.«

»Mit der Zeit wird Frieden sein?« »Ja, auf einer anderen Ebene.« »Das scheint aber sehr weit weg zu sein«, klagte ich.

»Die Leute kommen mir jetzt schon so kleinlich vor ... , so gierig, machthungrig, ehrgeizig. Sie vergessen Liebe, Ver­ständnis und Wissen. Es gibt so viel zu lernen.«

»Ja.« »Kann ich etwas schreiben, um diesen Menschen zu

helfen? Wäre das ein Weg?« »Du kennst den Weg. Wir brauchen es dir nicht zu

sagen. Es wird alles nichts nützen, denn wir werden alle diese Ebene erreichen, und wir werden sehen. Wir sind alle gleich. Niemand ist besser als der andere. Es sind alles nur Lehren ... , und Strafen.«

»Ja«, bestätigte ich. Es war eine sehr tief schürfende Lektion, und ich brauchte Zeit, um sie zu verdauen. Catherine schwieg wieder. Wir warteten, während sie sich ausruhte und ich die dramatischen Erklärungen der letzten Stunden gedanklich in mir aufnahm. Dann durchbrach sie den Zauber.

»Die Juwelen sind weg«, flüsterte sie. »Die Juwelen sind weg. Die Lichter sind ... auch weg.«

»Die Stimmen auch? Die Worte?« »Ja. Ich sehe nichts.« Während sie wartete, begann ihr

Kopf hin- und herzu rollen. »Ein Geistwesen ... schaut.«

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»Schaut es Sie an?« »Ja.« »Erkennen Sie das Geistwesen?« »Ich bin nicht sicher ... Ich glaube, es könnte Edward

sein.« Edward war im vergangenen Jahr gestorben. Er war wirklich allgegenwärtig. Immer schien er um sie zu sein.

>>Wie sah das Geistwesen aus?« »Nur ein ... , nur weiß ... wie Lichter. Er hatte kein Ge­

sicht, nicht, wie wir es kennen, aber ich wusste, dass er es war.«

»Kommunizierte er überhaupt mit Ihnen?« »Nein, er sah nur zu.(( »Hörte er dem zu, was ich sagte?(( »Ja((, flüsterte sie. »Aber jetzt ist er weg. Er wollte nur

sicher sein, dass es mir gut geht.(( Ich dachte über den populären Gedanken an Schutzengel nach. Edward in der Rolle des wachenden, liebevollen Geistwesens, das auf sie aufpasste, damit es ihr gut ging, kam einer solchen Rolle nahe. Und Catherine hatte auch schon über Schutzengel gesprochen. Ich fragte mich, wie viel von unseren Kinder­märchen eigendich in einer dunkel erinnerten Vergangen­heit wurzelte.

Ich machte mir auch Gedanken über die Hierarchie der Geistwesen, wer ein Schutzgeist und wer ein Meister wurde, und über die, die weder das eine noch das andere waren und nur lernten. Es musste Abstufungen geben, die aufWissen und Weisheit basierten, mit dem letztendlichen Ziel, gottähnlich zu werden und sich Gott zu nähern oder vielleicht irgendwie in ihn einzugehen. Das war das Ziel,

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das von Mystikern über die Jahrhunderte hinweg in eksta­tischen Begriffen beschrieben worden war. Sie hatten Momente einer solchen göttlichen Vereinigung erlebt. Wo diese persönlichen Erfahrungen fehlten, bot ein Medium wie Catherine mit ihrem außergewöhnlichen Talent einen anderen Zugang.

Edward war weg, Catherine still geworden. Ihr Gesicht war friedlich. Ruhe umhüllte sie. Was für ein wunderbares Talent besaß sie doch - die Fähigkeit, über das Leben und den Tod und alles, was uns nach dem Tod erwartete, hi­nauszugehen, um mit den »Göttern« zu sprechen und an ihrer Weisheit teilzuhaben. Wir aßen vom Baum der Er­kenntnis, der nicht länger verboten war. Ich fragte mich, wie viele Apfel übrig waren.

Caroles Mutter, Minette, starb an einem Krebsgeschwür, das sich von ihrer Brust in ihre Knochen und Leber aus­gebreitet hatte. Das Leiden dauerte schon vier Jahre und konnte jetzt nicht mehr mit Chemotherapie behandelt werden. Sie war eine tapfere Frau, die Schmerz und Schwäche stoisch erduldete. Doch die Krankheit schritt fort, und ich wusste, dass ihr Tod bevorstand.

Die Sitzungen mit Catherine fanden zur selben Zeit statt, und ich hatte meine Erfahrungen und Catherines Enthüllungen mit Minette besprochen. Ich war etwas überrascht, dass sie, eine pragmatische Geschäftsfrau, dieses Wissen ohne weiteres akzeptierte und mehr darüber erfahren wollte. Ich gab ihr Bücher zu lesen, die sie gierig verschlang. Sie fand und besuchte mit Carole und mir einen Kurs über die Kabbala, die Sammlung uralter mysti-

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scher jüdischer Schriften. Wiedergeburt und Zwischen­welten sind Grundannahmen der kabbalistischen Weis­heit, aber die meisten modernen Juden sind sich dessen nicht bewusst. Während ihr Körper zerfiel, wurde Minettes Geist stärker. Ihre Angst vor dem Tod nahm ab. Sie begann sich darauf zu freuen, bald wieder mit Ben, ihrem geliebten Mann, vereint zu sein. Sie glaubte an die Unsterblichkeit ihrer Seele, und das half ihr, den Schmerz zu ertragen. Sie klammerte sich nur an das Leben, um auf die Geburt eines weiteren Enkels zu warten, das erste Kind ihrer Tochter Donna. Sie war Catherine anlässtich einer ihrer Behand­lungen im Krankenhaus begegnet, und sie hatten freund­lich miteinander gesprochen. Catherines Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit halfen Minette.

Eine Woche bevor sie starb, ging Minette in die Onko­logie-Abteilung des Krankenhauses. Carole und ich konn­ten viel Zeit mit ihr verbringen und sprachen mit ihr über Leben und Tod und über das, was nach dem Tod auf uns alle wartete. Mit ihrem großen Sinn für Würde beschloss sie, in einer Klinik zu sterben, wo die Krankenschwestern sich um sie kümmern konnten. Donna, ihr Mann und ihre sechs Wochen alte Tochter kamen, um sie zu besuchen und Abschied zu nehmen. Wir waren beinahe ständig bei ihr. An dem Abend, als Minette starb, empfanden Carole und ich beide um sechs Uhr, als wir gerade aus dem Kranken­haus nach Hause gekommen waren, einen starken Drang, gleich wieder dorthin zu fahren. Die nächsten sechs oder sieben Stunden waren voller Frieden und einer trans­zendenten geistigen Energie. Auch wenn ihr Atem schwer ging, empfand Minette keine Schmerzen mehr. Wir spra-

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eben über den Übergang in die Zwischenwelt, vorn hellen Licht und den spirituellen Wesen. Sie ließ ihr Leben, hauptsächlich schweigend, Revue passieren und rang mit sich, um dessen negative Teile zu akzeptieren. Sie schien zu wissen, dass sie nicht loslassen konnte, bis dieser Prozess vollendet war. Sie wartete auf einen ganz bestimmten Moment, um zu sterben, arn frühen Morgen, und wurde ungeduldig, bis es so weit war. Minette war der erste Mensch, den ich je auf diese Weise bis zum Tod und durch ihn hindurch begleitet hatte. Sie war gestärkt, und unser Leid wurde durch diese Erfahrung gemindert.

Ich entdeckte, dass meine Fähigkeit, meine Patienten zu heilen, bedeutend größer geworden war, nicht was Pho­bien und A.ngste anbelangte, sondern was den Tod, Ster­ben und Trauerarbeit betraf. Ich wusste intuitiv, was fehlte und welche Richtung in der Therapie einzuschlagen war. Ich war in der Lage, Gefühle von Frieden, Ruhe und Hoff­nung zu vermitteln. Nach Minettes Tod suchten viele Ster­benskranke oder Patienten, die den Tod eines geliebten Menschen erlebt hatten, bei mir Hilfe. Viele von ihnen wollten nichts über Catherine und die Literatur über das Leben nach dem Tod hören. Doch auch ohne solch spezi­fisches Wissen zu vermitteln, hatte ich das Gefühl, dass ich die Botschaft trotzdem weitergeben konnte. Einen Ton in der Stimme, ein ernpathisches Verständnis des Prozesses und ihrer A.ngste und Gefühle, ein Blick, eine Berührung, ein Wort - alles konnte auf einer gewissen Ebene durch­kommen und eine Spur von Hoffnung, vergessener Spiri­tualität, gerneinsamer Menschlichkeit oder sogar noch mehr anklingen lassen. Denen, die für mehr bereit waren,

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Lesestoff vorzuschlagen und meine Erfahrungen mit Catherine und anderen zu teilen, war, als würde man ein Fenster öffnen, um frische Luft einzulassen. Diejenigen, die bereit waren, wurden wiederbelebt. Noch viel schneller erlangten sie Einsichten.

Ich bin fest davon überzeugt, dass Therapeuten einen offenen Geist behalten müssen. So, wie mehr wissen­schaftliche Forschung nötig ist, um Erfahrungen von Tod und Sterben wie die von Catherine festzuhalten, bedarf es auch auf diesem Gebiet mehr experimenteller Arbeit. Therapeuten müssen die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod in Betracht ziehen und in ihre Arbeit aufnehmen. Sie brauchen nicht auf hypnotische Rückführungen zurückzugreifen, aber sie sollten offenbleiben und ihr Wis­sen mit ihren Patienten teilen, anstatt deren Erfahrungen abzuwerten.

Viele Menschen sind heute verzweifelt, da sie mit ihrer Sterblichkeit stark konfrontiert werden. Die Seuche Aids, ein nuklearer Holocaust, Terrorismus, Krankheiten und viele andere Katastrophen hängen über unseren Köpfen und plagen uns täglich. Viele Teenager glauben, sie wür­den keine dreißig werden. Das ist schlimm, und es reflek­tiert den ungeheuren Druck, der auf unserer Gesellschaft lastet.

Auf der individuellen Ebene war Minettes Reaktion auf Catherines Botschaften ermutigend. Ihr Geist war gestärkt worden, und sie hatte Hoffnung gespürt trotz großer körperlicher Schmerzen und körperlichen Zerfalls. Doch diese Botschaften gehen uns alle etwas an, nicht nur die Sterbenden. Auch für uns gibt es Hoffnung. Wir brauchen

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mehr Arzte und Wissenschaftler, die über andere Cathe­rines berichten, um ihre Botschaften zu bestätigen und zu erweitern. Die Antworten sind da. Wir sind unsterblich. Wir werden immer zusammen sein.

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Dreieinhalb Monate waren seit unserer ersten Hypnose­sitzung verstrichen. Nicht nur waren Catherines Symp­tome beinahe verschwunden: Sie hatte Fortschritte ge­macht, die über eine bloße Heilung hinausgingen. Sie strahlte und verbreitete eine friedvolle Energie. Die Men­schen fühlten sich von ihr angezogen. Wenn sie im Kran­kenhaus ihr Frühstück einnahm, eilten Männer und Frauen herbei, um sich zu ihr zu setzen. ))Du siehst sehr gut aus, das wollte ich dir nur sagen«, bemerkten sie. Wie ein Fischer zog sie sie an einer unsichtbaren telepathischen Schnur an Land. Dabei hatte sie jahrelang unbemerkt in dieser Cafeteria gegessen.

Wie üblich versank sie in meinem Behandlungszimmer schnell in eine tiefe hypnotische Trance, wobei ihr blondes Haar in lockigen Strähnen auf das alte beige Kissen fiel.

))Ich sehe ein Gebäude ... Es ist aus Stein. Und oben­drauf ist etwas Spitzes. Es ist in einer sehr bergigen Gegend. Es ist sehr feucht ... , es ist sehr feucht draußen. Ich sehe einen Wagen. Ich sehe einen Wagen ... vorne vor­beifahren ... Auf dem Wagen ist Heu, irgendeine Art Stroh oder Heu oder etwas, das die Tiere fressen. Es sind einige Männer dort. Sie tragen eine Art Fahnen, etwas, das am Ende eines Stocks fliegt. Sehr bunte Farben. Ich höre sie über die Mauren sprechen ... , die Mauren. Und dass es

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Krieg gibt. Eine Art Metall, etwas Metallisches bedeckt ihren Kopf ... , irgendeine Kopfbedeckung aus Metall ...

Wir sind im Jahre 1483. Etwas über Dänen. Kämpfen wir gegen die Dänen? Irgendein Krieg wird ausgetragen.«

»Sind Sie dort?«, fragte ich. »Das sehe ich nicht«, entgegnete sie leise. »Ich sehe die

Wagen. Sie haben zwei Räder ... , zweirädrig sind sie und hinten offen. Sie sind offen, an den Seiten sind offene

Bretter, eine Art Holzbretter hält sie zusammen. Ich sehe ... etwas Metallisches, das sie um den Hals tragen ... , sehr schweres Metall in Form eines Kreuzes. Aber die Enden sind krumm, die Enden des Kreuzes ... sind rund. Es ist das Fest irgendeines Heiligen ... Ich sehe Schwerter. Sie haben

eine Art Messer oder Schwert ... , sehr schwer, vorne sehr stumpf. Sie bereiten sich auf irgendeinen Kampf vor.«

»Schauen Sie, ob Sie sich entdecken können«, wies ich sie an. »Schauen Sie sich um. Vielleicht sind Sie ein Soldat. Sie beobachten sie von irgendwoher.«

»Ich bin kein Soldat.« Darüber war sie sich klar. »Schauen Sie sich um.« »Ich habe einen Teil der Vorräte mitgebracht. Es ist ein

Dorf, irgendein Dorf.« Sie schwieg. »Was sehen Sie jetzt?«

»Ich sehe ein Banner, eine Art Banner. Es ist rot und weiß ... , weiß mit einem roten Kreuz.«

»Ist es das Banner Ihrer Leute?«, fragte ich. »Das Banner der Soldaten des Königs«, erwiderte sie. »Ist es Ihr König?«

»Ja.« »Kennen Sie den Namen des Königs?«

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»Das kann ich nicht hören. Er ist nicht hier.« »Können Sie nachsehen, was Sie anhaben? Schauen Sie

an sich hinunter, um zu sehen, wie Sie gekleidet sind.« » Irgendetwas Ledriges ... , eine Ledertunika über ... , über

einem sehr groben Hemd. Eine kurze ... Ledertunika. Irgendwelche Schuhe aus Tierhäuten ... , nicht Schuhe, mehr wie Stiefel oder Mokassins. Niemand spricht mit mir.«

»Ich verstehe. Welche Haarfarbe haben Sie?« »Mein Haar ist hell, aber ich bin alt, und es sind graue

Strähnen darin.« »Was meinen Sie zu diesem Krieg?« »Er ist zu meinem Leben geworden. Ich habe in einem

früheren Scharmützel ein Kind verloren.« »Einen Sohn?« »Ja.« Sie war traurig. »Wen haben Sie noch? Wer von Ihrer Familie ist übrig

geblieben?« >>Meine Frau ... und meine Tochter.« »Wie hieß Ihr Sohn?« »Ich sehe seinen Namen nicht. Ich erinnere mich an ihn.

Ich sehe meine Frau.« Catherine war in vielen Leben auch ein Mann gewesen. Kinderlos in ihrem jetzigen Leben, hatte sie in ihren anderen Existenzen viele Kinder gehabt.

»Wie sieht Ihre Frau aus?« »Sie ist sehr müde, sehr müde. Sie ist alt. Wir haben ein

paar Ziegen.« »Lebt Ihre Tochter noch bei Ihnen?« »Nein, sie ist verheiratet und schon seit einiger Zeit

fort.«

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»Also sind Sie mit Ihrer Frau allein?«

»Ja.« »Wie ist Ihr Leben?« »Wir sind müde. Wir sind sehr arme Leute. Es ist nicht

leicht gewesen.« »Nein. Sie haben Ihren Sohn verloren. Vermissen Sie

ihn?« »Ja«, antwortete sie schlicht, aber ihr Leid war spürbar. »Waren Sie ein Bauer?« Ich wechselte das Thema. »Ja. Ich sehe Weizen ... , Weizen, so etwas wie Weizen.« »Hat es in Ihrem Land während Ihres Lebens viele

Kriege gegeben mit vielen Tragödien?« »Ja.« »Dennoch sind Sie alt geworden.« »Aber sie kämpfen außerhalb des Dorfes, nicht im

Dorf«, erklärte sie. »Sie müssen dorthin reisen, wo sie kämpfen ... , über viele Berge.«

»Kennen Sie den Namen des Lands, in dem Sie leben? Oder des Dorfs?«

»Ich sehe ihn nicht, aber es muss einen Namen haben. Ich sehe ihn nicht.«

»Leben Sie in einer sehr religiösen Zeit? Die Soldaten tragen Kreuze.«

»Für andere ja. Nicht für mich.« »Lebt noch jemand anderes von Ihren restlichen Ver-

wandten außer Ihrer Frau und Ihrer Tochter?« »Nein.« »Ihre Eltern sind gestorben?« »Ja.« »Keine Brüder und Schwestern?«

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»Ich habe eine Schwester. Sie lebt. Ich kenne sie nicht((' fügte sie hinzu und meinte ihr Leben als Catherine.

»ln Ordnung. Schauen Sie, ob Sie irgendjemand ande­ren im Dorf oder in Ihrer Familie erkennen.(( Wenn Men­schen in Gruppen wieder geboren wurden, war es wahr­scheinlich, dass sie jemanden dort finden würde, der auch in ihrem jetzigen Leben eine Bedeutung hatte.

»Ich sehe einen Steintisch ... Ich sehe Schüsseln.(( »Es ist Ihr Haus?(( »Ja. Etwas aus Ker ... , etwas Gelbes, etwas aus Mais ...

oder etwas ... Gelbes. Wir essen es ... (( »Gut((' sagte ich in einem Versuch, das Tempo zu stei­

gern. »Dieses Leben ist schwer für Sie gewesen, ein sehr schweres Leben. Woran denken Sie?((

»Pferde((' flüsterte sie. »Halten Sie Pferde? Oder hat jemand anderes Pferde?(( »Nein, Soldaten ... , manche von ihnen. Vor allem gehen

sie zu Fuß. Aber es sind keine Pferde, es sind Esel oder etwas Kleineres als Pferde. Sie sind vor allem wild.((

»Gehen Sie jetzt in der Zeit voraus((' wies ich sie an. »Sie sind sehr alt. Versuchen Sie zum letzten Tag in Ihrem Leben als alter Mann zu gehen.((

»Aber ich bin nicht sehr alt((' wandte sie ein. Sie war in diesen früheren Leben nicht sehr offen für Suggestionen. Was geschah, geschah. Ich konnte die tatsächlichen Erin­nerungen nicht wegsuggerieren und konnte sie nicht dazu bringen, die Einzelheiten dessen zu verändern, was ge­schehen und erinnert worden war.

»Wird in diesem Leben viel passieren?((' fragte ich und änderte meine Taktik. »Es ist wichtig, dass wir das wissen.((

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»Nichts von Bedeutung«, antwortete sie gleichmütig. »Dann gehen Sie, gehen Sie in der Zeit weiter nach

vorne. Lassen Sie uns herausfinden, was Sie zu lernen hatten. Wissen Sie es?«

»Nein. Ich bin immer noch dort.« »Ja, ich weiß. Sehen Sie etwas?« Ein bis zwei Minuten

verstrichen, ehe sie antwortete. »Ich schwebe einfach nur«, flüsterte sie leise. »Haben Sie ihn jetzt verlassen?« »Ja, ich schwebe.<< Sie war wieder in den geistigen Zu­

stand übergegangen. »Wissen Sie jetzt, was Sie zu lernen hatten? Es war ein

weiteres schweres Leben für Sie.« »Ich weiß es nicht. Ich schwebe einfach nur.« »Einverstanden. Ruhen Sie ... , ruhen Sie sich aus.«

Weitere Minuten vergingen in Schweigen. Dann schien sie auf etwas zu hören. Plötzlich sprach sie. Ihre Stimme war laut und tief. Das war nicht Catherine.

»Es gibt im Ganzen sieben Ebenen, sieben Ebenen, wobei jede aus vielen Stufen besteht, von denen eine die Stufe der Erinnerung ist. Auf dieser Ebene wird dir erlaubt, deine Gedanken zu sammeln. Man erlaubt dir, dein Leben zu sehen, das gerade vergangen ist. Denen auf höheren Ebenen wird erlaubt, den Verlauf der Geschichte zu sehen. Sie haben die Möglichkeit, zurückzukehren und uns über die Geschichte zu belehren. Doch wir auf den unteren Stufen dürfen nur unser Leben sehen ... , das gerade ver­gangen ist.

Wir haben Schulden, die bezahlt werden müssen. Wenn wir diese Schulden nicht bezahlt haben, müssen wir sie in

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ein anderes Leben hinübertragen ... , damit sie aufgearbeitet werden können. Durch das Bezahlen deiner Schulden ent­wickelst du dich. Manche Seelen machen schnellere Fort­schritte als andere. Wenn du dich in einem Körper befin­dest und du arbeitest deine Schulden auf, bewegst du dich durch ein ganzes Leben ... Um diese Schuld abzugelten, musst du zur Ebene der Erinnerung zurückkehren, und dort musst du warten, bis die Seele, in deren Schuld du stehst, dich aufgesucht hat. Erst wenn ihr beide gleichzeitig zur körperlichen Form zurückkehren könnt, wird euch er­laubt, euch wieder zu verkörpern. Aber du bestimmst, wann du zurückkehrst. Du musst entscheiden, was zu tun ist, um deine Schuld abzuzahlen. Du wirst dich nicht an deine anderen Leben erinnern ... , nur an das, von dem du gerade gekommen bist. Nur den Seelen auf der höheren Ebene - den Weisen - ist es erlaubt, sich auf die Ge­schichte und auf vergangene Ereignisse zu berufen ... , um uns zu helfen und uns zu zeigen, was wir zu tun haben.

Es gibt sieben Ebenen ... , sieben, die wir durchwandern müssen, ehe man uns zurückschickt. Eine von ihnen ist die Ebene des Übergangs. Dort wartest du. Auf dieser Ebene wird entschieden, was du in dein nächstes Leben mit­nimmst. Wir haben alle eine ... Haupteigenschaft. Das kann Gier oder auch Lust sein, doch was immer beschlossen wird, du musst deine Schuld an den Menschen gutmachen. Dann musst du sie in diesem Leben überwinden. Du musst lernen, die Gier zu überwinden. Wenn dir das nicht gelingt, musst du in deinem nächsten Leben nicht nur diese, son­dern auch eine zusätzliche Eigenschaft auf dich nehmen. Die Bürden werden schwerer. Für jedes Leben, das du

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durchlebst, ohne diese Schulden abzugelten, wird das nächste schwerer sein. Wenn du sie bezahlst, gibt man dir ein leichtes Leben. Also wählst du, welches Leben du haben wirst. In der nächsten Welt bist du verantwortlich für das Leben, das du lebst. Du wählst es.« Catherine schwieg.

Das kam scheinbar nicht von einem Meister. Diese Stimme sprach von sich selbst als »wir von den unteren Ebenen« im Vergleich mit den Seelen der oberen Ebenen­»den Weisen«. Doch das vermittelte Wissen war sowohl klar als auch praktisch. Ich machte mir Gedanken über die fünf anderen Ebenen und ihre Eigenschaften. War die Ebene der Erneuerung eine von ihnen? Und was war mit der Lern- und der Entscheidungsebene? Alles Wissen, das durch diese Botschaften von Seelen in den verschiedensten Dimensionen des geistigen Zustands offenbart wurde, stimmte überein. Der Ton des Vortrags, die Satzstellung und die Grammatik änderten sich, der Grad der Poesie und die Wortwahl waren verschieden, aber der Inhalt blieb kohärent. Ich war dabei, einen soliden Grundstock an spirituellem Wissen zu erlangen. Dieses Wissen sprach von Liebe, Hoffnung, Glaube und Klarheit. Es untersuchte Tugenden und Laster und Schulden gegenüber anderen und sich selbst. Es umfasste frühere Leben und spirituelle Ebenen zwischen den Leben. Und es sprach vom Fort­schritt der Seele durch Harmonie, Ausgeglichenheit, Liebe und Weisheit, einem Fortschritt durch eine mystische und ekstatische Vereinigung mit Gott.

Es gab viele praktische Ratschläge auf dem Weg: über den Wert von Geduld und Warten, über die Weisheit in der Ausgewogenheit der Natur, über das Auflösen von

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Angsten, vor allem der Furcht vor dem Tod, über das Be­dürfnis, Vertrauen und Vergebung zu lernen, und wie wichtig es ist, zu lernen, andere nicht zu verurteilen oder ein anderes Leben zu nehmen, über die Mehrung und Nut­zung intuitiver Kräfte und, vielleicht mehr als alles andere, über das unerschütterliche Wissen, dass wir unsterblich sind. Wir sind jenseits von Leben und Tod, jenseits von Raum und Zeit. Wir sind die Götter, und sie sind wir.

»Ich schwebe«, flüsterte Catherine leise. »ln welchem Zustand befinden Sie sich?«, fragte ich. »Nichts ... , ich schwebe. Edward schuldet mir etwas ... ,

er schuldet mir etwas.« »Wissen Sie, was er Ihnen schuldet?« »Nein ... irgendeine Information ... schuldet er mir. Er

hatte mir etwas zu sagen, vielleicht über das Kind meiner Schwester.«

>>Das Kind Ihrer Schwester?«, wiederholte ich. »Ja ... Es ist ein Mädchen. Sie heißt Stephanie.« »Stephanie? Was müssen Sie über sie wissen?« »Ich muss wissen, wie ich mit ihr Verbindung auf­

nehme«, antwortete sie. Catherine hatte diese Nichte mir gegenüber nie zuvor erwähnt.

»Steht sie Ihnen sehr nahe?«, fragte ich. »Nein, aber sie wird sie finden wollen.« »Wen finden?«, fragte ich. Ich war verwirrt. »Meine Schwester und ihren Mann. Das kann sie nur

durch mich tun. Ich bin die Verbindung. Edward weiß es. Ihr Vater ist Arzt; er praktiziert irgendwo in Vermont, im südlichen Teil von Vermont. Die Einzelheiten werden mir kommen, wenn sie gebraucht werden.«

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Später erfuhr ich, dass Catherines Schwester und deren zukünftiger Mann ihre neu geborene Tochter zur Adoption freigegeben hatten. Sie waren damals beide Teenager und noch nicht verheiratet. Die Adoption wurde von einer Kirche arrangiert. Danach war nichts mehr darüber zu er­fahren.

))Ja«, pflichtete ich ihr bei, ))wenn die Zeit gekommen ist.«

))Ja. Dann wird er es mir sagen. Er sagt es mir.« ))Welche anderen Informationen hat er für Sie?« ))Ich weiß es nicht, aber er hat mir Dinge zu sagen. Und

er ist mir etwas schuldig ... , irgendetwas. Ich weiß nicht, was es ist. Er ist mir etwas schuldig.« Sie schwieg.

))Sind Sie müde?«, fragte ich. ))Ich sehe ein Zaumzeug«, lautete ihre geflüsterte Ant­

wort, ))einen Haken an der Wand. Ein Zaumzeug ... Ich sehe draußen vor einem Stall eine Decke liegen.«

))Ist es ein Heuschober?« ))Sie haben Pferde dort. Viele Pferde.« ))Was sehen Sie noch?<< ))Ich sehe viele Bäume- mit gelben Blumen. Mein Vater

ist dort. Er kümmert sich um die Pferde.« Ich merkte, dass ich mit einem Kind sprach.

))Wie sieht er aus?« ))Er ist sehr groß und hat graues Haar.« ))Siehst du dich selbst?« ))Ich bin ein Kind ... , ein Mädchen.« ))Gehören die Pferde deinem Vater, oder pflegt er sie

nur?« ))Er pflegt sie nur. Wir wohnen in der Nähe.«

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>>Magst du Pferde?«

»Ja.« »Hast du ein Lieblingspferd?« »Ja. Mein Pferd. Es heißt Apple.« Ich erinnerte mich an

ihr Leben als Mandy, wo auch ein Pferd namens Apple aufgetaucht war. Wiederholte sie ein Leben, das wir bereits untersucht hatten? Vielleicht ging sie die Sache von einer anderen Seite an.

»Apple ... genau. Lässt dein Vater dich auf Apple reiten?« »Nein, aber ich darf ihm Dinge zu fressen geben. Er wird

benutzt, um den Wagen des Gutsherrn zu ziehen, um seine Kutsche zu ziehen. Er ist sehr groß. Er hat große Hufe. Wenn du nicht aufpasst, tritt er auf dich.«

»Wer sonst ist bei dir?« »Meine Mutter ist da. Ich sehe eine Schwester ... Sie ist

größer als ich. Ich sehe niemand anderes.« »Was siehst du jetzt?« »Ich sehe nur die Pferde.« »Ist es ein glücklicher Augenblick für dich?« »Ja. Ich mag den Stallgeruch.« Sie war sehr spezifisch

und bezog sich auf jenen Moment in der Zeit, als sie im Stall war.

»Riechst du die Pferde?« »Ja.« »Das Heu?« »Ja ... , ihr Gesicht ist so weich. Es gibt auch Hunde

dort ... , schwarze, einige schwarze Hunde und einige Katzen ... , viele Tiere. Die Hunde werden für die Jagd ge­braucht. Wenn sie Vögel jagen, dürfen die Hunde mit.«

»Passiert etwas mit dir?«

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»Nein.« Meine Frage war zu ungenau. »Bist du auf diesem Bauernhof aufgewachsen?« »Ja. Der Mann, der sich um die Pferde kümmert ... ist

nicht mein richtiger Vater, nein. Aber er ist wie ein Vater zu mir. Er ist mein Stiefvater. Er ist sehr gut zu mir. Er hat grüne Augen.<<

»Sieh ihm in die Augen - in seine grünen Augen -, und schau, ob du ihn erkennen kannst. Er ist gut zu dir. Er liebt dich.«

»Es ist mein Großvater, mein Großvater. Er hat mich sehr geliebt. Er ist immer mit uns ausgegangen. Wir gingen mit ihm dorthin, wo er gerne etwas trank. Uns kaufte er Sprudelwasser. Er mochte uns.« Meine Frage hatte sie aus diesem Leben in den beobachtenden, überbewussten Zu­stand befördert.

»Vermissen Sie ihn immer noch?«, fragte ich. »Ja«, antwortete sie leise. »Aber Sie sehen, dass er schon früher bei Ihnen war«, er­

klärte ich und versuchte, ihren Schmerz zu lindern. »Er war sehr gut zu uns. Er liebte uns. Er hat uns nie

angeschrien. Er gab uns immer Geld und nahm uns die ganze Zeit mit. Er mochte das. Aber er starb.«

»Ja. Aber Sie werden wieder bei ihm sein. Das wissen Sie.«

»Ja. Ich bin schon früher bei ihm gewesen. Er war nicht wie mein Vater. Sie sind so verschieden.«

»Warum liebt der eine Sie so sehr und behandelt Sie gut, während der andere so ganz anders ist?«

»Weil der eine gelernt hat. Er hatte die Schuld bezahlt, die noch offen war. Mein Vater hat seine Schuld nicht be-

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zahlt. Er ist zurückgekehrt ... , ohne Verständnis. Er wird es wiederholen müssen.«

»Ja«, bekräftigte ich. »Er muss lernen zu lieben, zu nähren.<<

»Ja«, antwortete sie. »Menschen, die das nicht verstehen«, fügte ich hinzu,

»behandeln ihre Kinder wie ihren Besitz anstatt wie jeman­den, den man liebt.«

»}a«, bestätigte sie. »Ihr Vater muss das noch lernen.«

»Ja.« »Aber Ihr Großvater weiß es schon ... « »Ich weiß«, warf sie ein. »Wir müssen durch so viele

Stufen gehen, wenn wir uns im Körper befinden ... , genau wie die anderen Entwicklungsstufen. Wir müssen die Säuglingsphase durchlaufen, das Babyalter, die Kinder­stufe ... Wir müssen so weit gehen ... , bis wir unser Ziel er­reichen. Oie Stufen im Körper sind schwer. Oie auf der astralen Ebene sind leicht. Wir warten nur und ruhen uns aus. Das sind die einfachen Stufen.«

»Wie viele Stufen gibt es auf der astralen Ebene?« »Es sind sieben«, antwortete sie. »Worin bestehen sie?«, fragte ich auf der Suche nach Be­

stätigung für die zwei, die zuvor in der Sitzung erwähnt worden waren.

»Man hat mir nur zwei gesagt«, erklärte sie. »Die Über-gangsphase und die Stufe der Erinnerung.«

»Das sind die beiden, die ich auch kenne.« »Wir werden die anderen später erfahren.« »Sie haben zur gleichen Zeit gelernt wie ich«, bemerkte

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ich. »Wir haben heute über Schulden gelernt. Das ist sehr wichtig.«

»Ich werde mich an das erinnern, an das ich mich erin­nern sollte«, erwiderte sie geheimnisvoll.

»Werden Sie sich an diese Ebt;nen erinnern?«, erkundig­te ich mich.

»Nein. Sie sind nicht wichtig für mich. Sie sind wichtig für Sie.« Das hatte ich schon einmal gehört. Die Botschaft war für mich gedacht. Damit ich ihr helfen konnte, aber nicht nur das: um mir zu helfen, aber auch mehr als das. Dennoch konnte ich nicht ganz fassen, worin dieser höhe­re Sinn bestehen sollte.

»Es scheint Ihnen jetzt sehr viel besser zu gehen«, fuhr ich fort. »Sie lernen so viel.«

»Ja«, bestätigte sie. >>Warum fühlen sich so viele Menschen zu Ihnen hinge­

zogen?« »Weil ich von vielen Ängsten befreit worden bin und

ihnen helfen kann. Sie fühlen sich seelisch von mir ange­zogen.«

»Können Sie damit umgehen?« »Ja.« Es bestand kein Zweifel daran. »Ich habe keine

Angst«, fügte sie hinzu. »Gut. Ich werde Ihnen helfen.« »>ch weiß«, sagte sie. >>Sie sind mein Lehrer.«

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Catherine hatte sich ihrer quälenden Symptome entledigt. Sie war mehr als nur gesund. Ihre früheren Leben began­nen sich zu wiederholen. Ich wusste, dass wir uns einem Endpunkt näherten, aber was ich an diesem Herbsttag nicht wissen konnte, als sie wieder tief in ihre hypnotische Trance versank, war, dass fünf Monate verstreichen wür­den zwischen dieser Hypnosesitzung und der nächsten, die ihre letzte sein würde.

»Ich sehe Schnitzereien«, hob sie an. »Manche von ihnen sind vergoldet. Ich sehe Ton. Die Leute machen Töpfe. Sie sind rot ... , irgendein rotes Material, das sie benutzen. Ich sehe ein braunes Gebäude, irgendein brauner Bau. Dort befinden wir uns.«

»Sind Sie im braunen Gebäude oder in der Nähe?« »Ich bin drinnen. Wir arbeiten an verschiedenen Din­

gen.« »Können Sie sehen, was Sie anhaben? Schauen Sie an

sich hinab. Wie sehen Sie aus?<< »Ich habe eine Art roten ... , einen langen roten Stoff an.

Ich trage komische Schuhe, wie Sandalen. Ich habe brau­nes Haar. Ich arbeite an irgendeiner Art Figur. Es ist die Figur eines Mannes ... , eines Mannes. Er hat eine Art Stock, einen Stab in der Hand. Die anderen Leute machen Dinge aus ... , Dinge aus Metallen.«

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»Sind Sie in einer Fabrik?« »Es ist nur ein Gebäude. Ein Gebäude aus Stein.« »Die Statue, an der Sie arbeiten, der Mann mit dem

Stab, wissen Sie, wer das ist?« »Nein, es ist einfach nur ein Mann. Er kümmert sich um

das Vieh ... , die Kühe. Es stehen viele von ihnen [Statuen] herum. Wir wissen einfach, wie sie aussehen. Es ist ein sehr eigenartiges Material, schwer zu bearbeiten. Es zer­bröckelt ständig.«

»Sehen Sie den Namen des Materials?« »Das kann ich nicht sehen. Nur Rot, etwas Rotes.« »Was passiert mit der Statue, wenn Sie damit fertig

sind?« »Sie wird verkauft. Manche von ihnen werden auf dem

Markt verkauft. Manche werden den verschiedenen Ade­ligen geschenkt. Der Rest wird verkauft.«

»Haben Sie je mit diesen Adeligen zu tun?« »Nein.« »Sind Sie bei der Arbeit?« »Ja.« »Arbeiten Sie schon lange dort?« »Nein.« >>Können Sie es gut?« »Nicht sehr.« »Brauchen Sie mehr Erfahrung?« »Ja, ich lerne es erst.« »Ich verstehe. Wohnen Sie immer noch bei Ihrer Fami­

lie?« »Ich weiß es nicht, aber ich sehe braune Schachteln.« »Braune Schachteln?«, wiederholte ich.

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»Sie haben kleine Öffnungen. Es ist eine Tür in ihnen, und manche Statuen sitzen im Eingang. Die Schachteln sind aus Holz gemacht, irgendeinem Holz. Dafür müssen wir die Statuen machen.«

»Was ist die Funktion der Statuen?« »Sie sind religiös«, antwortete sie. »Welche Religion gibt es dort- die der Statue?« »Es gibt viele Götter, viele Beschützer ... , viele Götter.

Die Leute haben große Angst. Hier werden viele Dinge hergestellt. Wir machen auch Spiele ... , Spielbretter mit Löchern darin. Tierköpfe passen in die Löcher.«

»Sehen Sie noch etwas anderes?« »Es ist sehr heiß, sehr heiß und staubig ... , sandig.« »Gibt es Wasser in der Nähe?« »Ja, es kommt von den Bergen herab.« Dieses Leben be­

gann ebenfalls, bekannt zu klingen. >>Haben die Leute Angst?«, forschte ich. »Sind es aber­

gläubische Leute?« »Ja«, antwortete sie. »Es gibt viel Angst. Alle haben

Angst. Ich habe auch Angst. Wir müssen uns schützen. Es gibt eine Krankheit. Wir müssen uns schützen.«

»Was für eine Krankheit?« »Etwas bringt alle um. Viele Leute sterben.« >>Wegen des Wassers?«, erkundigte ich mich. »Ja. Es ist sehr trocken ... , sehr heiß, weil die Götter böse

sind und uns strafen wollen.« Sie besuchte erneut das Leben mit dem Tannis als Heilmittel. Ich erkannte diese Religion der Furcht, die Religion von Osiris und Hathor.

»Warum sind die Götter böse?«, fragte ich, während ich die Antwort bereits wusste.

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>>Weil wir die Gesetze nicht befolgt haben. Sie sind böse.«

»Welche Gesetze haben sie nicht befolgt?« »Die Gesetze, die von den Adeligen festgelegt worden

sind.« »Wie können sie die Götter besänftigen?« »Man muss gewisse Dinge tragen. Manche Leute tragen

Dinge um den Hals. Sie helfen dir gegen das Böse.« »Gibt es einen bestimmten Gott, den die Leuteam meis-

ten fürchten?(( »Sie fürchten sie alle.(( »Kennen Sie die Namen dieser Götter?(( »Ich weiß ihre Namen nicht. Ich sehe sie nur. Einer hat

einen menschlichen Körper, aber den Kopf eines Tieres. Ein anderer sieht wie die Sonne aus. Dann gibt es einen, der wie ein Vogel aussieht; er ist schwarz. Sie legen ihm eine Schnur um den Hals.((

»Überleben Sie das alles?(( »Ja, ich sterbe nicht.(( »Aber Mitglieder Ihrer Familie sterben((' erinnerte ich

sie. »Ja ... , mein Vater. Meiner Mutter geht es gut.(< »Ihr Bruder?« »Mein Bruder ... ist tot«, entsann sie sich. »Warum überleben Sie? Ist an Ihnen etwas Besonderes?

Etwas, das Sie getan haben?(( »Nein((' antwortete sie, dann verlagerte sie ihre Auf­

merksamkeit. »Ich sehe etwas mit Öl darauf.(< »Was sehen Sie?<( »Etwas Weißes. Es sieht beinahe wie Marmor aus. Es

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ist ... Alabaster ... , eine Art Becken ... , es ist Öl darin. Es wird benutzt, um die Köpfe zu salben.«

» ... der Priester?«, fügte ich hinzu. »Ja.« >>Was für eine Aufgabe haben Sie jetzt? Helfen Sie mit

dem Öl?« »Nein, ich mache die Statuen.« »Sind Sie in demselben braunen Gebäude?« »Nein ... Es ist später ... Ein Tempel.« Aus irgendeinem

Grund sah sie bekümmert aus. »Gibt es dort ein Problem für Sie?« »Jemand hat etwas im Tempel gemacht, das die Götter

erzürnt hat. Ich weiß es nicht ... « >>Waren Sie es?« »Nein, nein ... Ich sehe nur Priester. Sie bereiten irgend­

ein Opfer vor, ein Tier ... Es ist ein Lamm. Ihre Köpfe sind kahl. Es ist überhaupt kein Haar auf ihnen, auch nicht auf ihren Gesichtern ... « Sie schwieg. Die Minuten verstrichen langsam. Plötzlich wurde sie aufmerksam, als würde sie auf etwas hören. Als sie sprach, hatte sie eine tiefe Stimme. Ein Meister war zugegen.

»Es ist auf dieser Ebene, dass es manchen Seelen erlaubt ist, sich Menschen zu zeigen, die noch im Körper weilen. Es ist ihnen erlaubt zurückzukehren ... , aber nur, wenn sie noch irgendeine Vereinbarung nicht erfüllt haben. Auf dieser Ebene ist eine Kommunikation gestattet. Aber die anderen Ebenen ... Dort wird dir erlaubt, deine medialen Fähigkeiten einzusetzen, um mit verkörperten Menschen zu kommunizieren. Es gibt viele Arten, dies zu tun. Man­chen wird die Macht des Gesichts verliehen. Sie können

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sich Menschen zeigen, die in einem materiellen Körper sind. Anderen wird die Macht der Bewegung gegeben. Sie können Gegenstände telepathisch bewegen. Du gelangst nur auf diese Ebene, wenn es dir etwas nutzt, dorthin zu gehen. Wenn du ein Versprechen hinterlässt, das nicht ein­gelöst wurde, kannst du wählen, hierher zu kommen, und auf irgendeine Weise Kontakt aufnehmen. Aber das be­zieht sich alles nur ... auf Versprechen, die eingelöst wer­den müssen. Wenn dein Leben ein abruptes Ende fand, wäre das ein Grund für dich, zu dieser Ebene zurückzu­kehren. Viele Leute wählen, hierher zu kommen, weil ihnen erlaubt wird, jene zu sehen, die sich noch in einem Körper befinden und die ihnen nahe stehen. Doch nicht jeder wählt, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Für manche Leute kann es zu beängstigend sein.« Catherine schwieg und schien sich auszuruhen. Dann begann sie sehr leise zu flüstern.

»Ich sehe das Licht.« »Gibt das Licht Ihnen Energie?«, fragte ich. ))Es ist wie ein Neuanfang ... ,eine Wiedergeburt.« )) Wie können Menschen in physischer Form diesen Zu­

stand erreichen?« »Sie müssen sehr entspannt sein. Man kann sich durch

Licht erneuern ... , durch Licht. Sie müssen sich entspan­nen, damit Sie nicht länger Energie abgeben, sondern die Ihre erneuern. Auch wenn Sie schlafen, werden Sie erneu­ert.« Sie befand sich in ihrem überbewussten Zustand, und ich beschloss, die Befragung auszudehnen.

»Wie viele Male sind Sie wiedergeboren wor­den?«, fragte ich. »Fanden alle diese Wiedergeburten in

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dieser Umgebung, auf der Erde statt oder auch anders­wo?«

»Nein«, antwortete sie, »nicht alle hier.« »Zu welchen anderen Ebenen, zu welchen anderen

Orten gehen Sie?« »Ich bin noch nicht fertig mit dem, was ich hier zu tun

habe. Ich kann nicht weiterziehen, bis ich nicht das ganze Leben erfahren habe, und das ist noch nicht der Fall. Es wird noch viele Leben brauchen ... , um alle Versprechen einzulösen und alle Schulden zu bezahlen, die noch offen sind.«

»Aber Sie machen Fortschritte«, bemerkte ich. »Wir machen immer Fortschritte.« »Wie viele Male haben Sie auf der Erde gelebt?« >>Sechsundachtzigmal.« »Sechsundachtzig Leben?« »Ja.« »Erinnern Sie sich an alle von ihnen?« »Ich werde mich an sie erinnern, wenn es wichtig für

mich ist.« Wir hatten entweder Fragmente oder größere Teile von

zehn bis zwölf Leben erfahren, und diese hatten sich in letzter Zeit wiederholt. Offenbar war es nicht nötig, dass sie sich an die weiteren rund fünfundsiebzig erinnerte. Sie hatte tatsächlich große Fortschritte gemacht, wenigstens, was mich anbelangte. Welche Fortschritte sie von hier an machte, von diesem Punkt an, hing vielleicht nicht von der Erinnerung früherer Leben ab. Ihre zukünftigen Fort­schritte hingen vielleicht nicht einmal von mir oder meiner Hilfe ab. Sie begann wieder leise zu flüstern.

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»Manche Menschen kontaktieren die Astralebene durch das Einnehmen von Drogen, aber sie verstehen nicht, was ihnen widerfährt. Ihnen ist erlaubt worden, die Schwelle zu überschreiten.« Ich hatte sie nicht nach Drogen gefragt. Sie belehrte mich und teilte ihr Wissen mit, ob ich speziell danach fragte oder nicht.

»Können Sie Ihre medialen Kräfte nicht einsetzen, um sich bei Ihren Fortschritten zu helfen?«, fragte ich. »Sie scheinen sie immer mehr zu entwickeln.«

»Ja«, bestätigte sie. »Es ist wichtig, aber nicht so wichtig, wie es auf den anderen Ebenen sein wird. Es ist ein Teil der Entwicklung und des Wachstums.«

»Wichtig für Sie und für mich?« »Wichtig für uns alle«, erwiderte sie. »Wie entwickeln wir diese Kräfte?« »Sie entwickeln sich durch Beziehungen. Es gibt

Menschen mit höheren Kräften, die mit vermehrtem Wissen zurückgekehrt sind. Sie werden zu denen sprechen, die diese Entwicklung brauchen, und ihnen helfen.« Sie fiel in ein langes Schweigen. Dann verließ sie ihren überbewussten Zustand und ging in ein anderes Leben ein.

»Ich sehe das Meer. Ich sehe ein Haus am Meer. Es ist weiß. Schiffe kommen und gehen vom Hafen. Ich kann das Salzwasser riechen.«

»Sind Sie dort?« »Ja.« )) Was ist es für ein Haus?« »Es ist klein und hat eine Art Turm obendrauf ... , ein

Fenster, von dem man auf das Meer hinausblicken kann.

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Dort ist so etwas wie ein Teleskop. Es ist aus Messing, aus Holz und Messing.<<

))Benutzen Sie dieses Teleskop?« )) Ja, um nach Schiffen Ausschau zu halten.« ))Was machen Sie?« ))Ich melde die Frachtschiffe, wenn sie in den Hafen

kommen.« Ich erinnerte mich, dass sie dies in einem ande­ren früheren Leben getan hatte, als sie Christian war, der Matrose, dessen Hand während einer Seeschlacht verletzt wurde.

))Sind Sie Matrose?«, fragte ich auf der Suche nach Be-stätigung.

>>Ich weiß es nicht ... Vielleicht.« >>Können Sie sehen, wie Sie gekleidet sind?« ))Ja. Irgendeine Art weißes Hemd, kurze braune Hose

und Schuhe mit großen Schnallen ... Später im Leben bin ich Matrose, aber jetzt nicht.« Sie konnte ihre Zukunft sehen, was allerdings dazu führte, dass sie sofort in der Zeit sprang.

))Ich bin verletzt«, jammerte sie und wand sich vor Schmerzen. ))Meine Hand ist verletzt.« Sie war tatsächlich Christian und erlebte die Schlacht auf dem Wasser noch einmal.

))Gab es eine Explosion?« ))Ja ... Ich rieche Schwarzpulver.« ))Sie werden sich erholen«, tröstete ich sie, da ich die

Fortsetzung bereits kannte. ))Viele Leute sterben!« Sie war immer noch erregt. >>Die

Segel sind zerfetzt ... Teile des Backbords sind weggefegt worden.« Sie suchte das Schiff nach Beschädigungen ab.

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>>Wir müssen die Segel reparieren. Sie müssen repariert

werden.« »Erholen Sie sich?«, fragte ich. »Ja. Es ist sehr schwer, das Segeltuch zu nähen.« »Können Sie mit Ihren Händen arbeiten?« »Nein, aber ich sehe den anderen zu ... Segel. Sie sind

aus Tuch, irgendeinem Wachstuch. Sie sind schwer zu

nähen ... Viele Leute sind gestorben. Sie leiden sehr.« Sie zuckte zusammen.

»Was ist?<< »Der Schmerz ... in meiner Hand.« »Ihre Hand verheilt. Gehen Sie in der Zeit weiter voraus.

Fahren Sie wieder zur See?« »Ja.« Sie wartete. »Wir sind in Südwales. Wir müssen die

Küste verteidigen.« »Wer greift sie an?«

»Ich glaube, es sind Spanier ... , sie haben eine große Flotte.«

»Was geschieht als Nächstes?« »Ich sehe nur Schiffe. Ich sehe den Hafen. Dort gibt es

Laden. In manchen Läden machen sie Kerzen. Es gibt

Läden, wo sie Bücher kaufen.« ))Ja. Gehen Sie je in die Buchläden?« »Ja. Ich mag sie sehr. Die Bücher sind wunderbar ... Ich

sehe viele Bücher. Das rote ist über Geschichte. Sie be­schreiben die Städte ... , das Land. Es gibt Landkarten. Ich mag dieses Buch ... Es gibt einen Laden, wo sie Hüte ver­kaufen.«

))Gibt es einen Ort, wo Sie hingehen, um zu trinken?« Ich erinnerte mich an Christians Beschreibung des Biers.

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»Ja, es gibt viele Tavernen<<, antwortete sie. »Sie schen­ken Bier aus ... , sehr dunkles Bier ... mit einer Art Fleisch ... , Lammfleisch und Brot, sehr großes Brot. Das Bier ist sehr bitter, sehr bitter. Ich kann es schmecken. Sie haben auch Wein und lange Holztische ... <<

Ich beschloss, sie namentlich anzusprechen, um ihre Reaktion zu testen. »Christian!<<, rief ich nachdrücklich.

Sie antwortete laut und ohne zu zögern. »Ja! Was wollen Sie?<<

>>Wo ist Ihre Familie, Christian?« »Sie sind in einer benachbarten Stadt. Wir laufen aus

diesem Hafen aus.« »Wen gibt es in Ihrer Familie?« »Ich habe eine Schwester ... , eine Schwester, Mary.« »Wo ist Ihre Freundin?« »Ich habe keine. Nur die Frauen in der Stadt.« »Niemand Besonderes?« >>Nein, nur die Frauen ... Ich fahre wieder zur See. Ich

kämpfe in vielen Schlachten, aber ich bin in Sicherheit.« »Sie werden alt ... «

»Ja.« »Heiraten Sie je?« »Ich glaube schon. Ich sehe einen Ring.« »Haben Sie Kinder?« »Doch. Mein Sohn wird auch zur See fahren ... Ich sehe

einen Ring, einen Ring mit einer Hand. Es ist eine Hand, die etwas hält. Ich kann nicht sehen, was. Der Ring ist eine Hand, eine Hand, die etwas festhält.« Catherine begann zu würgen.

»Was fehlt Ihnen?«

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»Die Leute auf dem Schiff sind krank ... Es kommt vom Essen. Wir haben etwas gegessen, das schlecht war. Gepökeltes Schweinefleisch«. Sie würgte weiter. Ich führte sie in der Zeit voran, und das Würgen hörte auf. Ich be­schloss, sie nicht wieder durch Christians Herzinfarkt zu

führen. Sie war schon erschöpft, also weckte ich sie aus ihrer Trance.

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Drei Wochen vergingen, ehe wir uns wieder sahen. Meine kurze Krankheit und ihre Ferien hatten die Verzögerung verursacht. Catherine ging es während dieser Zeit weiter­hin gut, aber als wir mit der Sitzung anfingen, schien sie nervös zu sein. Sie erklärte, es ginge ihr hervorragend und sie fühle sich so viel besser, dass sie nicht glaube, die Hyp­nose könne ihr noch mehr helfen, als sie es schon getan hätte. Sie hatte natürlich Recht. Unter gewöhnlichen Um­ständen hätten wir schon vor Wochen mit dem Abschluss der Therapie begonnen. Wir hatten zum Teil wegen meines Interesses an den Botschaften der Meister weitergemacht und weil in Catherines jetzigem Leben einige kleine Prob­leme bestehen blieben. Catherine war beinahe geheilt, die früheren Leben wiederholten sich. Aber was war, wenn die Meister mir noch mehr zu sagen hatten? Wie konnten wir ohne Catherine kommunizieren? Ich wusste, dass sie mit den Sitzungen weitermachen würde, wenn ich darauf be­stand. Aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei, sie zu über­reden. Etwas traurig pflichtete ich ihr bei. Wir plauderten über die Begebenheiten der letzten drei Wochen, aber ich war mit den Gedanken woanders.

Fünf Monate zogen vorbei. Für Catherine blieb es bei der Heilung ihrer Symptome. Ihre Befürchtungen und Angste waren minimal, die Qualität ihres Lebens und ihrer

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Beziehungen war eindeutig gesteigert. Auch wenn es Stuart immer noch gab, ging sie jetzt auch mit anderen Männern aus. Zum ersten Mal, seit sie ein kleines Kind war, spürte sie in ihrem Leben Freude und echtes Glück. Gelegentlich begegneten wir einander im Gang oder in der Warteschlange in der Cafeteria, aber wir hatten keinen formellen Kontakt von Arzt zu Patient.

Der Winter ging vorüber, und der Frühling kam. Cathe­rine machte einen Termin in meiner Praxis aus. Sie hatte einen wiederkehrenden Traum über eine Art religiöses Opfer gehabt, das mit Schlangen in einer Grube zusam­menhing. Menschen, auch sie selbst, wurden in die Grube gestoßen. Sie war in der Grube und versuchte hinaus­zuklettern, indem sie ihre Finger in die sandigen Wände grub. Die Schlangen waren knapp unter ihr. An diesem Punkt des Traums angelangt, wachte sie jeweils mit wild klopfendem Herzen auf.

Trotz der langen Unterbrechung fiel sie schnell in einen tiefen hypnotischen Zustand. Mich überraschte es nicht, dass sie sofort wieder in einem alten Leben war.

»Es ist sehr heiß, wo ich bin«, fing sie an. »Ich sehe zwei schwarze Männer neben kalten und feuchten steinernen Mauern stehen. Sie tragen einen Kopfschmuck Es ist ein Seil um ihren rechten Knöchel. Das Seil ist mit Perlen und Quasten durchwirkt. Sie bauen ein Lagerhaus aus Stein und Ton und bewahren Korn darin auf, eine Art zerstoße­nes Korn. Das Korn wird auf einen Wagen mit eisernen Rädern gebracht. Gewobene Matten liegen auf dem Wa­gen oder bedecken einen Teil davon. Ich sehe Wasser. Es ist sehr blau. Jemand hat die Aufsicht und gibt den ande-

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ren Befehle. Es führen drei Stufen hinunter zum Speicher. Draußen steht die Statue eines Gottes. Er hat den Kopf eines Tieres, eines Vogels, und den Körper eines Mannes. Er ist ein Gott der Jahreszeiten. Die Mauern werden mit irgendeinem Teer versiegelt, damit der Wind nicht hinein­bläst und das Korn frisch bleibt.

Mein Gesicht juckt ... Ich sehe blaue Perlen in meinem Haar. Es sind Käfer oder Fliegen um mich, die mein Ge­sicht und meine Hände zum Jucken bringen. Ich lege etwas Klebriges auf mein Gesicht, um sie fernzuhalten ... , es riecht schrecklich, der Saft eines Baums.

Ich habe Zöpfe und Perlen in den Zöpfen mit goldenen Bändern. Mein Haar ist blauschwarz. Ich gehöre zum königlichen Haushalt. Ich bin hier wegen eines Fests. Ich bin gekommen, um eine Salbung der Priester zu sehen ... , ein Fest für die Götter wegen der kommenden Ernte. Es werden nur Tiere geopfert, keine Menschen. Blut von den geopferten Tieren rinnt von einer weißen Stele in ein Becken ... , es fließt in den Rachen einer Schlange. Die Männer tragen kleine goldene Hüte. Alle sind dunkel­häutig. Wir halten Sklaven aus einem anderen Land, von jenseits des Meeres ... «

Sie schwieg, und wir warteten, als hätte es nie eine monatelange Unterbrechung gegeben. Dann wurde sie munter und schien auf etwas zu hören.

»Alles ist so kompliziert und geht so schnell ... , was sie mir sagen ... über Veränderung und Wachstum und ver­schiedene Ebenen. Es gibt eine Ebene des Bewusstseins und eine Ebene des Übergangs. Wir kommen aus einem Leben, und wenn die Lektionen beendet sind, ziehen wir

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in eine andere Dimension, in ein anderes Leben. Wir müs­sen von allen Seiten Erfahrungen sammeln. Wir müssen die Seite des Wollens kennen, aber wir müssen auch geben können ... Es gibt so viel zu wissen, so viele Geistwesen sind beteiligt. Deshalb sind wir hier. Die Meister ... , das ist nur eine dieser Ebenen.«

Catherine wartete, dann sprach sie mit der Stimme des poetischen Meisters. Er wandte sich an mich.

»Was wir sagen, ist für dich. Du musst durch deine eigene Intuition lernen.«

Nach ein paar Minuten sprach Catherine in ihrem leisen Flüstern. »Ich sehe eine schwarze Umfriedung ... , in ihr sind Grabsteine, Ihrer ist dort.«

»Meiner?«, fragte ich, überrascht durch diese Vision. »Ja.« »Können Sie die Inschrift lesen?« »Sie lautet: >Noble 1668-1724.< Es liegt eine Blume auf

dem Stein ... Es ist in Russland oder in Frankreich. Sie trugen eine rote Uniform ... , wurden von Ihrem Pferd ge­worfen ... Ich sehe einen goldenen Ring... mit einem Löwenkopf ... , der als Siegel verwendet wurde.«

Das war alles. Ich interpretierte die Botschaft des Meis­ters so, dass es keine weiteren Enthüllungen durch Cathe­rines Hypnose geben würde, und das war tatsächlich der Fall. Es folgten keine weiteren Sitzungen mehr. Ihre Hei­lung war vollständig, und ich hatte alles gelernt, was ich durch die Rückführungen lernen konnte. Den Rest, was in der Zukunft lag, hatte ich durch meine eigene Intuition zu lernen.

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Zwei Monate nach unserer letzten Sitzung rief Catherine an und machte einen Termin aus. Sie sagte, dass sie mir etwas Interessantes zu berichten habe.

Als sie in meine Praxis kam, war ich schlichtweg über­rascht von der neuen Catherine, die glücklich aussah, die lächelte und inneren Frieden ausstrahlte. Ich dachte kurz an die alte Catherine zurück und welche Fortschritte sie in so kurzer Zeit gemacht hatte.

Catherine hatte Iris Saltzman aufgesucht, eine bekannte mediale Astrologin, die auf die Deutung früherer Leben spezialisiert ist. Ich war darüber ein wenig verblüfft, aber ich verstand Catherines Neugier und ihr Bedürfnis nach zusätzlicher Bestätigung dessen, was sie erlebt hatte. Ich war erfreut, dass sie den Mut dafür aufbrachte.

Catherine hatte vor nicht langer Zeit über einen Freund von Iris erfahren. Sie rief sie an und verabredete sich mit ihr, ohne jedoch davon zu erzählen, was sie in den Sitzun­gen mit mir erlebt hatte.

Iris hatte Catherine nach Tag, Stunde und Ort ihrer Geburt gefragt. Auf Grund dieser Angaben, so erklärte sie, würde sie eine Horoskopzeichnung anfertigen, anhand derer sie - in Verbindung mit ihren übersinnlichen Fähig­keiten - Einzelheiten aus Catherines früheren Leben he­rausarbeiten könne.

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Es war Catherines erste Begegnung mit einem Medium, und sie wusste nicht genau, was sie erwarten würde. Zu ihrer Verblüffung bestätigte Iris etliches von dem, das Catherine unter Hypnose aufgedeckt hatte.

Iris brachte sich nach und nach durch ihr Sprechen und ihre Notizen auf der rasch skizzierten Horoskopzeichnung in einen anderen Bewusstseinszustand. Kurz nachdem sie diese Ebene erreicht hatte, griff sich Iris an die Kehle und verkündete, dass man Catherine in einem anderen Leben gewürgt und ihr die Kehle durchgeschnitten habe. Der Schnitt durch die Kehle sei in Kriegszeiten passiert, und Iris sah das Abbrennen und Zerstören eines Dorfes vor vielen Jahrhunderten. Sie sagte, dass Catherine ein junger Mann gewesen sei, als sie diesen Tod erlitt.

Iris' Augen schienen glasig zu werden, als sie Catherine dann als jungen Mann sah, der eine Marineuniform mit kurzer schwarzer Hose trug, dazu Schuhe mit merkwürdi­gen Spangen. Plötzlich griff sie nach ihrer linken Hand, da sie dort einen hämmernden Schmerz fühlte, und rief aus, dass etwas Scharfes in ihre Hand eingedrungen sei, sie ver­letzt habe und später eine sichtbare Narbe hinterlassen würde. Es gebe schwere Seegefechte, und das Geschehen spiele sich vor der englischen Küste ab. Sie schilderte dann ein Seefahrerleben.

Iris beschrieb weitere Fragmente früherer Leben. Da gab es ein kurzes Leben in Paris, in dem Catherine wieder ein­mal ein Junge war und in tiefer Armut starb. In einem an­deren Leben war sie eine Indianerio an der Südwestküste Floridas. Hier lebte sie als eine Heilerin, die barfuß um­herwanderte. Sie war dunkelhäutig und hatte seltsame

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Augen. Sie strich Heilsalben aufWunden und verabreichte Kräutermedizin, und sie war sehr medial begabt. Sie trug am liebsten blaue Edelsteine, jede Menge Lapislazuli mit einem roten Stein in der Mitte.

In einem anderen Leben war Catherine eine Spanierin und ging der Prostitution nach. Ihr Name begann mit dem Buchstaben L. Sie lebte mit einem älteren Mann zusam-men.

In einem weiteren Leben war sie die illegitime Tochter eines reichen Vaters mit vielen Titeln. Iris sah das Fami­lienwappen auf den Trinkbechern in dem Herrenhaus. Sie sagte, Catherine sei sehr zart und habe lange, spitz zulau­fende Finger, sie spiele Harfe.

Ihre Hochzeit stand in jenem Leben kurz bevor. Cathe­rine liebte Tiere, vor allem Pferde, und sie behandelte die Tiere besser als die Menschen ihrer Umgebung.

In einem kurzen Leben war sie ein kleiner marok­kanischer Junge, der früh an einer Krankheit starb. Sie lebte auch einst auf Haiti, machte Weissagungen und übte magische Praktiken aus.

In einem ganz frühen Leben war sie eine Agypterin und beschäftigte sich mit den Totenriten jener Kultur. Sie war eine Frau, deren Haar zu Zöpfen geflochten war.

Catherine hatte mehrere Leben in Frankreich und Ita­lien. In einem Leben war sie in Florenz und beschäftigte sich mit Religion. Sie ging dann in die Schweiz, wo sie mit einem Kloster in Berührung kam. Sie war eine Frau und hatte zwei Söhne. Sie liebte Gold und goldene Statuen, und sie trug ein Goldkreuz. In Frankreich war sie an einem dunklen und kalten Ort eingekerkert.

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In einem anderen Leben sah Iris Catherine als Mann in einer Uniform zusammen mit Pferden und Sol­daten. Die Uniform war rot und golden, womöglich russisch. Im nächsten Leben war sie ein nubischer Sklave im alten Agypten, der einmal festgenommen und ins Gefängnis geworfen wurde. Ein weiteres Leben ver­brachte Catherine als Mann in Japan und hatte mit Büchern und Unterrichten zu tun - ein sehr gelehrtes Dasein. Sie arbeitete an Schulen und erreichte ein hohes Alter.

Schließlich gab es ein moderneres Leben als deutscher Soldat, der im Kampf fiel.

Ich war fasziniert von der Schilderung der Details aus früheren Leben, die von Iris gegeben wurde. Die Überein­stimmung mit Catherines eigenen Berichten unter Hyp­nose war bestürzend:

Christians Handverletzung in der Seeschlacht und die Beschreibung seiner Kleidung und Schuhe, Louisas Leben als spanische Prostituierte, Aronda und der ägyptische Totenkult, Johan, der zu einem Stoßtrupp gehörte und dessen Kehle durch eine frühere Inkarnation von Stuart durchgeschnitten wurde, während Stuarts Dorf brannte, Erich, der zum Scheitern verurteilte deutsche Pilot, und so weiter.

Es gab auch Übereinstimmungen mit Catherines jetzi­gem Leben. Zum Beispielliebt Catherine blauen Schmuck, vor allem Lapislazuli. Allerdings trug sie keinen Schmuck während ihrer Sitzung mit Iris. Sie mochte schon immer Tiere, vor allem Pferde und Katzen, und fühlte sich in ihrer Gesellschaft sicherer als mit Menschen. Und wenn sie sich

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einen Ort auf der Welt aussuchen könnte, würde sie Flo­renz besuchen.

Keinesfalls würde ich diese Erfahrung als gesichertes wissenschaftliches Experiment bezeichnen; ich hatte keine Gelegenheit, die Variablen zu kontrollieren. Aber es pas­sierte einfach, und ich denke, dass es wichtig ist, es an dieser Stelle einzubringen.

Ich bin mir nicht sicher, was an diesem Tag vor sich ging. Vielleicht machte Iris unbewusst von telepathischen Fähig­keiten Gebrauch und »las(( Catherines Gedanken, da die Erinnerungen an frühere Leben bereits in Catherines Unterbewusstsein gespeichert waren. Oder Iris war wirk­lich in der Lage, Informationen über frühere Leben durch ihre mediale Begabung zu gewinnen. Wie immer es auch ablief - die beiden erhielten die gleichen Informationen auf verschiedenen Wegen. Was Catherine durch eine Rückführung unter Hypnose erreichte, erfuhr Iris durch mediale Kanäle.

Nur wenige Menschen wären in der Lage, das zu tun, was Iris gelang. Viele Leute, die sich medial nennen, nut­zen lediglich menschliche Ängste wie auch die Neugier auf das Unbekannte aus. Heute springt uns das angeblich Übersinnliche an jeder Straßenecke entgegen. Die Popu­larität von Büchern wie Shirley MacLaines Zwischenleben hat eine Flut von neuen »Trancemedien(( hervorgebracht. Viele von ihnen reisen herum, annoncieren für ihre Sitzun­gen und geben dann in »Trance(( vor ihrem verzückten und von Ehrfurcht ergriffenen Publikum Platitüden von sich wie »Wenn du nicht in Harmonie mit der Natur bist, wird die Natur nicht in Harmonie mit dir sein((. Diese Erklä-

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rungen werden gewöhnlich in einer Tonlage vorgebracht, die sich von der normalen Stimme des ))Mediums« unter­scheidet, manchmal ist auch die Spur eines ausländischen Akzents hineingemischt. Die Botschaften sind vage und können auf eine Vielzahl von Menschen angewendet werden. Meist beziehen sich die Botschaften auf die spiri­tuellen Dimensionen, die schwer einzuschätzen sind. Es ist wichtig, das Falsche vom Wahren zu trennen, so dass die­ser ganze Bereich nicht in Verruf gerät. Seriöse Verhaltens­forscher sind für diese wichtige Aufgabe gefragt. Psychiater sind notwendig, um Diagnosen zu stellen, um Geistes­krankheit, Simulation (Fälschung) und Schwindelei aus­zuschließen. Statistiker, Psychologen und Physiker sind ebenfalls für Auswertungen und weitere Untersuchungen vonnöten.

Die zukünftigen wichtigen Schritte auf diesem Gebiet sollten unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden unternommen werden. In der Wissenschaft wird zunächst eine Hypothese aufgestellt, das heißt eine erste Behaup­tung über eine Reihe von Beobachtungen, um ein Phäno­men zu erklären. Danach muss die Hypothese unter kon­trollierten Bedingungen getestet werden. Die Resultate dieser Tests sind zu bestätigen und zu wiederholen, bevor eine Theorie aufgestellt werden kann. Sobald die Wissen­schaftler etwas in Händen haben, von dem sie glauben, dass es eine Theorie ist, muss diese wieder und wieder von anderen Forschern getestet werden, und die Resultate soll­ten dann identisch sein.

Die detaillierten, wissenschaftlich fundierten Studien von Dr. Joseph B. Rhine der Duke-Universität, von Dr.

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Ian Stevenson vorn Institut für Psychiatrie der Universität von Virginia, von Dr. Gertrude Schrneidler vom New Yorker College of the City und von vielen anderen seriö­sen Forschern zeigen, dass dieses Vorgehen durchführbar ist.

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Beinahe vier Jahre sind vergangen, seit Catherine und ich diese unglaubliche Erfahrung machten. Sie hat uns beide tief greifend verändert.

Manchmal kommt Catherine in meinem Büro vorbei, um hallo zu sagen oder ein Problem zu diskutieren, das sie gerade hat. Sie hat weder jemals das Bedürfnis nach einer Rückführung verspürt, noch wollte sie sich mit einem Symptom auseinander setzen oder herausfinden, wie neue Menschen in ihrem Leben in der Vergangenheit mit ihr umgegangen sind. Unsere Arbeit ist getan. Catherine ist jetzt frei, um ihr Leben voll zu genießen, ohne noch länger durch ihre lähmenden Symptome behindert zu sein. Sie hat einen Zustand von Glück und Zufriedenheit gefunden, den sie nie für möglich gehalten hätte. Sie hat nicht länger Angst vor Krankheit und Tod. Jetzt, da sie ausgeglichen ist und sich in Harmonie mit sich selbst befindet, hat das Leben einen Sinn und einen Zweck für sie. Sie strahlt einen inneren Frieden aus, den sich viele wünschen, doch nur wenige erreichen. Sie fühlt sich spiritueller. Für Cathe­rine ist alles, was geschehen ist, sehr real. Sie zweifelt nicht an der Wahrheit irgendeines Teils davon, und sie akzep­tiert es alles als integralen Bestandteil dessen, wer sie ist. Sie verspürt kein Interesse, sich dem Studium media­ler Phänomene zu widmen, weil sie das Gefühl hat, sie

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))wüsste« es auf eine Art, die nicht aus Büchern oder Vor­lesungen gelernt werden kann. Sterbende Menschen oder Menschen mit einem sterbenden Angehörigen suchen oft ihre Nähe. Sie scheinen sich von ihr angezogen zu fühlen. Sie setzt sich hin und spricht mit ihnen, und es geht ihnen besser.

Mein Leben hat sich beinahe ebenso drastisch verändert wie das von Catherine. Ich bin intuitiver geworden und mir der versteckten, geheimen Anteile meiner Patienten, Kollegen und Freunde mehr bewusst. Ich scheine viel im Voraus über sie zu wissen. Meine Werte und Lebensziele haben sich einer humanistischen und weniger materiellen Orientierung zugewandt. Medien, Heiler und andere tau­chen mit zunehmender Häufigkeit in meinem Leben auf, und ich habe begonnen, ihre Fähigkeiten systematisch aus­zuwerten. Carole hat sich zusammen mit mir entwickelt. Sie ist eine besonders fähige Therapeutin in der Sterbehilfe geworden und leitet heute unterstützende Gruppen für Aidspatienten.

Ich habe angefangen zu meditieren, etwas, von dem ich bis vor kurzem dachte, nur Hindus und Kalifornier täten es. Die Lehren, die durch Catherine vermittelt wurden, sind ein bewusster Teil meines Alltags geworden. Da ich mich an den tieferen Sinn des Lebens und des Todes als natürlichen Bestandteil des Lebens erinnere, bin ich ge­duldiger, einfühlsamer und liebevoller geworden. Ich fühle mich auch verantwortlicher für meine Handlungen, ob negativ oder positiv. Ich weiß, dass immer ein Preis zu zahlen sein wird. Wie du säst, so wirst du wahrhaftig ern­ten.

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Ich werde immer noch wissenschaftliche Abhandlungen und Berichte veröffentlichen und der Psychiatrieabteilung vorstehen, doch heute lebe ich in zwei Welten: in der phä­nomenalen Welt der fünf Sinne, dargestellt durch unseren Körper und dessen Bedürfnisse, und in der größeren Welt immaterieller Ebenen, die durch unsere Seele und durch unseren Geist in uns vertreten wird. Ich weiß, dass diese Welten zusammengehören und dass alles Energie ist, den­noch scheinen sie sehr weit voneinander entfernt zu sein. Es ist meine Aufgabe, sie zu verbinden und ihre Einheit sorgfältig und wissenschafdich zu dokumentieren.

Meine Familie lernt ebenfalls dazu. Es hat sich heraus­gestellt, dass Carole und Amy überdurchschnittliche me­diale Fähigkeiten haben, und wir alle ermutigen die wei­tere Entwicklung dieser Gaben spielerisch. Jordan ist ein kraftvoller und charismatischer Teenager geworden, eine natürliche Führergestalt. Ich werde endlich lockerer und weniger ernst. Und manchmal habe ich ungewöhnliche Träume.

Während der ersten Monate nach Catherines letzter Sitzung war ein besonderes Muster in meinem Schlaf aufgetaucht. Manchmal hatte ich einen lebhaften Traum, in welchem ich entweder einer Vorlesung zuhörte oder dem Vortragenden Fragen stellte. Der Name des Lehrers in meinem Traum war Philo. Wenn ich aufwachte, er­innerte ich mich manchmal an einen Teil des diskutier­ten Materials und schrieb es auf. Im Folgenden gebe ich ein paar Beispiele. Das erste betrifft eine Belehrung, die mich den Einfluss der Botschaften der Meister erkennen ließ.

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» ... Weisheit wird sehr langsam erreicht. Das kommt daher, dass intellektuelles Wissen, das leicht errungen wird, in )emotionales< oder überbewusstes Wissen verwan­delt werden muss. Einmal transformiert, ist der Eindruck bleibend. Einüben des Verhaltens ist der notwendige Kata­lysator dieser Reaktion. Ohne Handlung wird das Kon­zept verblassen und verschwinden. Theoretisches Wissen ohne praktische Anwendung reicht nicht aus.

Ausgewogenheit und Harmonie werden heute vernach­lässigt, dennoch sind sie Quellen der Weisheit. Alles wird bis zum Überdruss getan. Menschen sind zu übergewichtig, weil sie zu viel essen. Sie trinken zu viel, rauchen zu viel, feiern zu viel (oder zu wenig), reden zu viel ohne Inhalt und sorgen sich zu viel. Es gibt zu viel Schwarzweißdenken. Alles oder nichts. Das ist nicht der Weg der Natur.

In der Natur gibt es AusgewogenheiL Tiere sind nur be­grenzt zerstörerisch. Ökologische Systeme werden nicht massenhaft eliminiert. Pflanzen werden verzehrt und wachsen nach. Die Nahrungsquellen werden nur leicht angetastet und erholen sich wieder. Die Blume wird ge­nossen, die Frucht gegessen, die Wurzel eingemacht.

Die Menschheit hat nicht gelernt, was Ausgewogenheit ist, oder gar sie zu praktizieren. Sie wird von Gier und Ehr­geiz getrieben und von Angst gesteuert. Auf diese Weise wird sie sich mit der Zeit selbst zerstören. Aber die Natur wird überleben, zumindest die Pflanzen.

Das Glück liegt in der Einfachheit. Die Tendenz zum Exzess in Gedanken und Handlungen ist dem Glück ab­träglich. Exzesse überschatten grundsätzliche Werte. Gläu­bige Menschen sagen uns, dass Glück entsteht, wenn wir

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unser Herz mit Liebe füllen, wenn Glaube und Hoffnung, Wohltätigkeit und Freundlichkeit zur Anwendung kom­men. Sie haben Recht. Bei dieser Einstellung stellen sich Ausgewogenheit und Harmonie meist sofort ein. Es ist ein kollektiver Seinszustand. Heute aber ist er einem erweiter­ten Bewusstseinszustand zugeordnet. Es ist, als befände sich die Menschheit nicht in ihrem natürlichen Zustand, wenn sie auf Erden weilt. Sie muss einen anderen Zustand erreichen, um sich mit Liebe, Wohltätigkeit und Einfach­heit zu füllen, um die Reinheit zu spüren und sich von ihren chronischen Angsten zu befreien.

Wie erreicht man diesen anderen Zustand, dieses andere Wertsystem? Und wie kann man es aufrechterhalten, wenn man es einmal erreicht hat? Die Antwort scheint einfach zu sein. Sie ist der gemeinsame Nenner aller Religionen. Der Mensch ist unsterblich, und wir sind hier, um zu lernen. Wir sind alle in der Schule. Es ist so einfach, wenn wir an die Unsterblichkeit glauben können.

Wenn ein Teil im Menschen unsterblich ist, und es gibt genügend Beweise und Berichte, um es anzunehmen, wa­rum tun wir uns dann solche schlimmen Dinge an? Warum erniedrigen wir andere und gehen über sie hinweg zu un­serem persönlichen >Gewinn<, wenn wir dabei die eigent­liche Lektion verpassen? Wir scheinen alle letztlich an den­selben Ort zu kommen, wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Kein Mensch ist größer als ein anderer.

Höre auf die Lehren. Intellektuell sind die Antworten immer schon da gewesen, aber das Bedürfnis, das Wissen anzuwenden, den unbewussten Eindruck bleibend zu ma­chen durch >Emotionalisierung< und durch die Einübung

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des Konzepts, ist der Schlüssel. Es in der Sonntagsschule auswendig zu lernen, reicht nicht aus. Ein Lippenbekennt­nis ohne das entsprechende Verhalten hat keinen Wert. Aber um es zu tun und zu fühlen, ist beinahe ein anderer Bewusstseinszustand notwendig. Nicht der voriibergehen­de Zustand, der von Drogen, Alkohol oder unerwarteten Gefühlen hervorgerufen wird. Der permanente Zustand wird durch Wissen und Verständnis erreicht. Er wird auf­rechterhalten durch körperliches Verhalten, durch Tat und Praxis. Man nimmt etwas beinahe Mystisches und ver­wandelt es durch Übung bis zur alltäglichen Gewohnheit, indem man eine Haltung daraus macht.

Verstehe, dass niemand größer ist als ein anderer. Spüre es. Übt, einander zu helfen. Wir sitzen alle im selben Boot. Wenn wir uns nicht zusammenraufen, werden unsere Pflanzen schrecklich einsam sein.«

Während einer anderen Nacht, in einem anderen Traum stellte ich eine Frage. »Wie kann es sein, dass du sagst, wir seien alle gleich, und dennoch schlagen uns die offensicht­lichen Unterschiede ins Gesicht: Ungleichheit, was Tugen­den, Temperamente, Finanzen, Rechte, Begabungen und Talente, Intelligenz, mathematisches Genie und so fort an­geht?«

Die Antwort war eine Metapher. »Es ist, als wäre in je­dem Menschen ein großer Diamant zu finden. Stell dir einen ein Meter großen Diamanten vor. Dieser Diamant hat Tausende Facetten, aber die Facetten sind mit Dreck und Teer bedeckt. Es ist die Aufgabe der Seele, jede Facette zu reinigen, bis die Oberfläche glänzt und in allen Farben des Regenbogens leuchtet.

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Nun haben manche viele Facetten gereinigt und strahlen hell, während es anderen nur gelungen ist, einige wenige zu säubern; sie leuchten nicht so. Dennoch besitzt jeder Mensch unter dem Schmutz in seiner Brust einen leuch­tenden Diamanten mit Tausenden blitzenden Facetten. Der Diamant ist perfekt, ohne jeden Makel. Der einzige Unterschied zwischen den Menschen ist die Anzahl der gereinigten Facetten. Doch jeder Diamant ist gleich, und jeder ist perfekt.

Wenn alle Facetten gereinigt sind und in allen Spektral­farben leuchten, wird der Diamant wieder der reinen Ener­gie zugeführt, aus der er ursprünglich entstand. Das Licht bleibt. Es ist, als würde der Herstellungsprozess des Dia­manten umgekehn und der ganze Druck gelöst. Es ist reine Energie in den Regenbogenlichtern, und diese Lichter ver­fügen über Bewusstsein und Wissen. Und alle diese Dia­manten sind perfekt.«

Manchmal sind die Fragen kompliziert und die Antwor­ten einfach.

»Was soll ich tun?«, fragte ich in einem Traum. »Ich weiß, dass ich Menschen, die leiden, behandeln und heilen kann. Es kommen mehr zu mir, als ich verkrafte. Ich bin so müde. Doch kann ich nein sagen, wenn sie so bedürftig sind und ich ihnen helfen kann? Ist es richtig zu sagen: >Nein- es ist genug<?«

»Deine Rolle ist es, ein Lebenswächter zu sein«, war die Antwort.

Das letzte Beispiel, das ich anführen möchte, war eine Botschaft an andere Psychiater. Ich wurde um etwa sechs Uhr in der Frühe wach aus einem Traum, in dem ich

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vor einem großen Saal voller Psychiater einen Vortrag hielt.

))Während wir in der Psychiatrie immer mehr Medika­mente einsetzen, ist es wichtig, dass wir die traditionellen, wenn auch zugegebenermaßen manchmal vagen Techniken unseres Berufs nicht vergessen. Wir sind diejenigen, die geduldig und mitfühlend mit unseren Patienten reden. Wir können uns immer noch die Zeit nehmen, das zu tun. Wir treten für ein Begreifen der Krankheit, ein Heilen durch Verständnis und durch eine induzierte Selbsterkenntnis ein, anstau mit Laserstrahlen zu operieren. Wir verwenden immer noch das Prinzip Hoffnung, um zu heilen.

In der heutigen Zeit finden andere Zweige der Medizin diese traditionellen Methoden viel zu ineffektiv, zu zeit­raubend und zu substanzlos. Sie ziehen die Technologie dem Gespräch und computergenerierte Blutchemikalien der persönlichen Chemie zwischen Arzt und Patient vor, die den Patienten heilt und den Arzt befriedigt. Idealis­tische, ethische, persönlich befriedigende Methoden in der Medizin verlieren an Grund gegenüber scheinbar wirt­schaftlichen, effektiven, aber isolierenden und Befriedi­gung zerstörenden Techniken. Als ein Resultat fühlen sich unsere Kollegen zunehmend allein gelassen und depri­miert, und ihre Patienten fühlen sich unter Druck gesetzt, leer und nicht umsorgt.

Wir sollten uns nicht durch die Spitzentechnologie ver­führen lassen. Vielmehr sollten wir unseren Kollegen ein Vorbild sein. Wir sollten aufzeigen, was Geduld, Verständ­nis und Mitgefühl sowohl den Patienten als auch uns lhz­ten bringen. Sich mehr Zeit für ein Gespräch zu nehmen,

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aufzuklären, Hoffnung und die Erwartung auf Genesung zu wecken - diese Techniken müssen wir stets selbst an­wenden und darin ein Beispiel für unsere Kollegen sein.

Die Spitzentechnologie ist etwas Wunderbares in der Forschung und um das Verständnis menschlicher Erkran­kungen und Leiden zu vertiefen. Sie kann ein unersetz­liches klinisches Werkzeug sein, aber sie kann nie die an­geborenen persönlichen Eigenschaften und Methoden des wahren Arztes ersetzen. Wir sind die Lehrer. Wir sollten diese Rolle nicht um der Anpassung willen aufgeben, be­sonders heute nicht.«

Ich habe gelegentlich immer noch solche Träume, wenn auch seltener. In der Meditation, während ich auf der Autobahn fahre, oder auch beim Tagträumen fallen mir Sätze, Gedanken und Bilder ein. Diese scheinen häufig sehr verschieden von meiner bewussten und gewöhnlichen Art, zu denken oder Begriffe zu erfassen, zu sein. Sie kom­men oft zur rechten Zeit und lösen Fragen oder Probleme, die ich habe. Ich verwende sie in der Therapie und in meinem Alltagsleben. Ich betrachte diese Phänomene als eine Erweiterung meiner intuitiven Fähigkeiten und fühle mich durch sie gestärkt. Für mich sind es Zeichen, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde, auch wenn es noch ein langer Weg ist.

Ich höre auf meine Träume und Eingebungen. Mache ich das, scheinen die Dinge sich von selbst zu lösen. Wenn nicht, geht irgendetwas unweigerlich schief.

Ich spüre die Meister immer noch um mich. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Träume und Intuitionen von ihnen beeinflusst werden, aber ich vermute es.

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NACHWORT

Das Buch ist jetzt abgeschlossen, aber die Geschichte geht weiter. Catherine ist weiterhin gesund, ohne dass ihre ursprünglichen Symptome erneut aufgetreten wären. Ich bin sehr vorsichtig mit der Rückführung anderer Patienten gewesen. Ich lasse mich von der besonderen Konstellation von Symptomen eines Patienten leiten, von seinem Wider­stand gegenüber anderen Behandlungsformen, von seiner Fähigkeit, sich leicht hypnotisieren zu lassen, von seiner Offenheit gegenüber der Methode und von einem intui­tiven Gefühl meinerseits, dass dies der richtige Weg ist. Seit Catherine habe ich detaillierte Untersuchungen über vielerlei frühere Leben eines weiteren Dutzends von Patienten unternommen. Keiner dieser Patienten war psy­chotisch, halluzinierte oder brachte mehrere Persönlich­keiten zum Ausdruck. Alle machten dramatische Fort­schritte.

Diese zwölf Patienten haben einen sehr unterschied­lichen Hintergrund und äußerst verschiedene Persönlich­keiten. Eine jüdische Hausfrau aus Miami Beach erinnerte sich lebhaft daran, in Palästina kurz nach dem Tode Jesu von einer Truppe römischer Soldaten vergewaltigt worden zu sein. Sie führte ein Bordell im New Orleans des neun­zehnten Jahrhunderts, lebte im Mittelalter in einem Klos­ter in Frankreich und hatte ein schlimmes japanisches

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Leben. Sie ist die einzige dieser Patienten, außer Cathe­rine, die Botschaften aus dem Übergangszustand über­mitteln kann. Sie hat eine sogar noch größere Begabung für das Voraussagen zukünftiger Ereignisse. Ihre Botschaf­ten kommen von einem bestimmten Geistwesen, und ich bin gegenwärtig dabei, ihre Sitzungen sorgfältig zu kata­logisieren. Ich bin immer noch ganz der Wissenschaftler. Das gesamte Material muss untersucht, ausgewertet und gewichtet werden.

Die anderen waren nicht in der Lage, sich an viel mehr zu erinnern, als dass sie starben, ihren Körper verließen und in ein helles Licht schwebten. Niemand konnte mir Botschaften oder Gedanken übermitteln. Doch alle hatten sie lebhafte Erinnerungen an frühere Leben. Ein brillanter Börsenmakler lebte ein angenehmes, aber langweiliges Leben im viktorianischen England. Ein Künstler wurde während der spanischen Inquisition gemartert. Ein Wirt, der nicht über Brücken oder durch Tunnel fahren konnte, erinnerte sich daran, wie er in einer uralten nahöstlichen Kultur lebendig begraben worden war. Ein junger Arzt be­rief sich auf ein Trauma auf hoher See, als er ein Wikinger war. Ein Fernsehproduzent wurde vor sechshundert Jahren in Florenz gefoltert. Die Liste der Patienten ist noch länger.

Diese Menschen erinnerten sich auch an zahlreiche an­dere Leben. Symptome lösten sich in dem Maß auf, wie ihre Leben sich vor ihren Augen entfalteten. Jeder von ihnen glaubt heute fest daran, dass er bereits gelebt hat und wieder leben wird. Ihre Angst vor dem Tod hat sich verringert.

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Es ist nicht nötig, dass jeder eine Reinkarnationsthera­pie macht, Medien aufsucht oder auch nur meditiert. Men­schen mit behindernden oder störenden Symptomen kön­nen diese Lösungen wählen. Für den Rest besteht die wichtigste Aufgabe darin, einen offenen Geist zu behalten und zu erkennen, dass das Leben aus mehr besteht, als das Auge sieht. Das Leben geht über unsere fünf Sinne hinaus. Seien Sie empfänglich für neues Wissen und neue Erfah­rungen. »Unsere Aufgabe ist, zu lernen, durch Wissen gott­ähnlich zu werden.«

Ich mache mir nicht länger Sorgen wegen der Aus­wirkungen, die dieses Buch auf meine Karriere haben könnte. Die Informationen, über die ich verfüge, sind weitaus wichtiger, und wenn darauf gehört wird, wird das der Welt viel zuträglicher sein als alles, was ich auf indivi­dueller Basis in meiner Praxis tun kann.

Ich hoffe, dass Ihnen das, was Sie hier gelesen haben, helfen wird; dass Ihre eigene Angst vor dem Tode geringer geworden ist und dass die Botschaften, die Ihnen über die wahre Bedeutung des Lebens angeboten wurden, Sie be­freien werden, damit Sie Ihr Leben voll ausschöpfen, Har­monie und inneren Frieden finden und liebevoll auf Ihre Mitmenschen zugehen können.