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Alter Wein in neuen Schläuchen? Sozialraumorientierung Oder: bedeutsamer Paradigmenwechsel vom „Fall zum Feld“? Blechwort? Verkapptes Sparmodell? Klaus-Peter Judith Fachtag Q8 sozialräumliche Arbeit im Quartier 08.02.2013

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Alter Wein in neuen Schläuchen?

Sozialraumorientierung

Oder:

bedeutsamer Paradigmenwechsel

vom „Fall zum Feld“?

Blechwort?

Verkapptes Sparmodell?

Klaus-Peter Judith

Fachtag Q8 – sozialräumliche Arbeit im Quartier

08.02.2013

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Was sind Sozialräume?

• Der Stadtteil / das Quartier

• Die direkte Nachbarschaft – Einzelne Haushalte

– Eine Straße

• Handlungsraum bestimmter

Gruppen – Aktionsraum von Jugendlichen

(die Parkbank vor dem Bahnhof)

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Industrialisierung schuf eine eine neue Ethik,

die wirtschaftlichen Erfolg zur Tugend machte

Geburtsstunde der helfenden Berufe

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Die „Schwachen“

wurden ausgesondert

• Arbeitshäuser

• Psychiatrie

• Heime

1868 - 1922

1803

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Wurzeln der Behindertenhilfe

• Außerhalb des Gemeinwesens

• Kein Interesse an Ressourcen

• Exklusion

• Das Denken über Menschen mit Behinderungen entspricht auch der

• Finanzierung

• (Defizitärer Blick auf den Hilfebedarf)

• Der Struktur der Hilfen

• (Stationäre Sonderwelten)

• Der sozialhilferechtlichen Grundlage

• (z.B. § 13 SGB XII)

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Erwartungen an

Sozialraumorientierung • Sozialhilfeträger entlasten

• Teilhabe / Teilgabe ermöglichen – Teilnahme

• (passiv, keine Wahlmöglichkeit)

– Teilhabe • (selbstbestimmte Entscheidung, Wahlmöglichkeit)

– Teilgabe • (etwas [für andere] tun)

• Inklusion verwirklichen

• Gemeinwesen stärken

• Fachlichkeit auf neues professionelles Fundament stellen

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Die sozialräumliche Theorie stellt

etablierte Strukturmerkmale

unseres Hilfesystems in Frage:

– Individualisierungskritik • Lassen sich die Probleme einzelner Menschen

durch Einzelfallarbeit lösen?

– Fachkräftemonopolkritik • Können rein professionelle Hilfen „Hilfe zur

Selbsthilfe“ erzeugen?

– Effizienzkritik • Wirken Institutionalisierung und Spezialisierung mit

ihren Kosten wirklich qualitätssteigernd?

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Lebenswelt

Hilfequelle:

Diagnose

Recht

Geld

Hilfequelle:

Betroffenheit

Beziehung

Gemeinschaft

Picasso 1897: Wissenschaft und Nächstenliebe

System

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System und Lebenswelt (HABERMAS 1982: Theorie des kommunikativen Handelns)

• Lebenswelt (unser tägliches Netzwerk)

– Partnerschaften

– Eltern-Kind-Beziehungen

– Freundschaft

– Verwandtschaft

– Nachbarschaft

• Unterstützung entsteht in der Lebenswelt durch

Nähe (normative, emotionale Motive)

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System und Lebenswelt

• Systeme sind gesellschaftliche Gebilde – Wirtschaftssystem

– Rechtssystem

– Verwaltungssystem

– Hilfesystem

• Logik des Helfens – Hilfebedarf / Rechtsanspruch

– Leistungsvereinbarungen

– Entgeltvereinbarungen

• Je mehr Hilfe geleistet wird, desto mehr Geld fließt

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Das Risiko der Kolonialisierung

Die Hilfe durch Hilfeexperten birgt das Risiko, dass

sich die Systemlogik gegenüber der lebensweltlichen

Logik durchsetzt, sie ersetzt oder sogar zersetzt

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• Aussonderung

• Entwertung

• Standardisierung

• Individualisierung

Kolonialisierungseffekte

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Aussonderung

• Sonderwelt Wohnen

• Sonderwelt Arbeit

• Sonderwelten zerschneiden

Beziehungen

• Hinweis in Hilfeplänen:

Ziel ist die Integration in die Gruppe

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Entwertung

• Professionelle Diagnosen

und Interventionen stehen im

Vordergrund

• Eigene Kompetenzen, Erfahrungen,

die Sicht des Menschen auf seine

Situation sind nachrangig

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Standardisierung

• Versäulung der Hilfen

• Nutzung bestimmter Teilleistungen nicht möglich

• Wechsel der Maßnahme = Betreuerwechsel

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Individualisierung

• Therapeutische Konzentration auf den einzelnen Menschen

versucht zu lösen, was individualisiert nicht zu lösen ist

• Strukturelle Ursachen von Problemen werden ausgeblendet

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Inklusion und Teilhabe erfordern

eine Neujustierung der Hilfen

• Kein weiterer Ausbau von Sonderdiensten, sondern: – Öffnung zum Gemeinwesen

– Kommunale Infrastruktur für alle nutzbar machen

• Aufbau sozialer Netze und Einbeziehung der Bürger

• Entwicklung bürgerschaftlichen Engagements

• Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an der kommunalen Sozialplanung

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Ein neuer Paradigmenwechsel?

• Der Paradigmenwechsel von der Institutions-

orientierung zur Personenorientierung ist ein

mühsamer Prozess, der bis heute noch nicht

erfolgreich abgeschlossen ist

• Die personale Perspektive wird durch die

sozialräumliche ergänzt und nicht ersetzt

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„Vom Fall zum Feld“ (HINTE 2011)

• Soziale Arbeit hat sich jahrzehntelang angestrengt, benachteiligte

Menschen zu verändern (heute: zu unterstützen)

• Der Fallbezug bestimmt die soziale Arbeit bis heute

• Soziale Arbeit muss heute in doppelter Hinsicht den Schritt vom Fall

zum Feld vollziehen

– In das räumliche Feld, wo die Menschen leben

– Sie muss sich selbst als Bestandteil eines Feldes professioneller Hilfen

verstehen (HINTE 2011)

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Die fünf Grundprinzipien einer

sozialräumlich orientierten Arbeit (HINTE & TREES 2007; FRÜCHTEL & BUDDE 2010)

• Den Willen herauszufordern, ist die zentrale Aufgabe des Sozialarbeiters

• Aktivieren, nicht Wünsche erfüllen – (Arbeite nie härter als dein Klient!)

• Die Ressourcen des Menschen und des Quartiers stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit

– (nicht: welche Unterstützung brauchen die Menschen? – sondern: was kann der Mensch selbst, was will er erreichen? – ABER: keine neoliberale Sozialarbeit!)

• Sozialräumliche Arbeit ist zielgruppen- und bereichsübergreifende Arbeit

– (statt neue Sondereinrichtungen zu entwickeln, bestehende Regeleinrichtungen nutzen)

• Vernetzung, Abstimmung und Kooperation der verschiedenen sozialen Dienste

– (Doppelbetreuungen, Reibungsverluste vermeiden)

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Welche Aufgaben lassen sich

für die Organisation ableiten?

• Den Einfluss von Menschen mit Behinderungen

auf die Ausgestaltung der Dienstleistung stärken

– Evaluation durch Menschen mit Behinderungen

– (Ehemalige) Nutzer von Dienstleistungen als Berater

beschäftigen

• Die eigene Beratungskompetenz für weitere

Personengruppen zur Verfügung stellen

– Kooperation mit Genossenschaften

• Das persönliche Budget unterstützen

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Welche (neuen) Aufgaben warten

auf den Heilerziehungspfleger? • Die Selbstvertretungskräfte von Menschen mit

Behinderungen unterstützen

– Beiräte

– Interessenvertretungen

– Autonom Leben / People First

• Sich mutig an Sozialpolitik beteiligen

– Sich einmischen

• Stadtteilkonferenzen

• Forum Walddörfer

• Die Schatzkarte des Quartiers entdecken

– Die vielfältigen Ressourcen im Quartier aufspüren

– Kontakte knüpfen, „Leuchttürme“ kennen

– Familiäre / nachbarschaftliche Ressourcen erkennen

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Welche Aufgaben ergeben sich für

die Fachschule für Heilerziehung?

• Eine Aufwertung des Themas Sozialraumorientierung – Querschnittsthema für alle Semester

• Die neuen Herausforderungen für den HEP als fester Bestandteil der Ausbildung – Was weiß ich über meinen Stadtteil?

(Freizeit- Beratungs-, Serviceangebote)

– Wie rede ich mit dem Pastor?

– Wie kann ich mich in die Stadtteilgremien einbringen?

– Wie öffne ich den Treffpunkt für alle Bürger?

• Verknüpfung mit der Praxis – Stärkere Betonung sozialräumlicher Arbeit im Praktikum

– größere Bedeutung sozialräumlicher Arbeit im Projekt

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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit

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Literatur Sozialraumorientierung • Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns.

Zweiter Band. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt.

• Hinte, W. (2009): Eigensinn und Lebensraum – zum Stand der Diskussion um das Fachkonzept „Sozialraumorientierung“. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 1/2009, S. 20-33

• Früchtel, F., Cyprian, G., Budde, W. (2007): Sozialer Raum und Soziale Arbeit: Textbook: theoretische Grundlagen. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007.

• Früchtel, F., Cyprian, G., Budde, W. (2007): Sozialer Raum und Soziale Arbeit: Fieldbook: Methoden und Techniken. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007.

• http://www.atempo.at/evaluationen/de/Nueva_Katalog/