18
VI Stetige Funktionen Von diesem Abschnitt an beschäftigen wir uns mit Funktionen einer reellen Variablen und deren Eigenschaften. Wir beginnen mit der Stetigkeit, wo wir feststellen werden, dass dazu mehr gehört als „keine Sprünge zu haben“. 20 Stetigkeit Im Folgenden sei f eine Funktion zwischen metrischen Räumen (X , d X ) und (Y , d Y ). Dabei sind vor allem die Fälle X = R n , Y = R oder X = Y = C wichtig. In diesem Buch geht es hauptsächlich um Funktionen f : R D f R, wobei X = Y = R mit der euklidischen Metrik d X (x , y )= d Y (x , y )= |x y | versehen und D f meist ein Intervall ist. Es seien (X , d X ) und (Y , d Y ) metrische Räume. Eine Funktion f : X D f Y heißt f stetig in x 0 D f : ⇐⇒ " > 0 ı > 0 x D f : ( d X (x , x 0 ) < ı d Y ( f (x ), f (x 0 ) ) < " ) ; f heißt stetig in D f , wenn f in jedem x 0 D f stetig ist. Definition VI.1 Bemerkung. Speziell für X = Y = R oder Y = C ist f stetig in x 0 ⇐⇒ " > 0 ı > 0 x D f : ( |x x 0 | < ı f (x )− f (x 0 ) < " ) . Erinnern Sie sich an das Spiel bei der Konvergenz von Folgen von Seite 24? Hier ist es ganz ähnlich: Ein Gegenspieler gibt Ihnen ein beliebiges " vor, und Sie gewinnen, wenn Sie immer ein ı finden können, so dass die Differenz der Funktionswerte in Punkten mit Abstand kleiner ı kleiner als dieses vorgegebene " ist. Im Allgemeinen wird es so sein, dass Sie ı um so kleiner machen müssen, je kleiner Ihr Opponent sein " macht, d.h., ı hängt von " ab. Geometrisch heißt Stetigkeit in x 0 , dass es zu jedem Streifen S " um f (x 0 ) ein Intervall I ı um x 0 gibt, so dass der Graph G f von f über I ı im Streifen S " liegt. C. Tretter, Analysis I © Springer Basel AG 2013

Analysis I || Stetige Funktionen

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Page 1: Analysis I || Stetige Funktionen

VI Stetige Funktionen

Von diesem Abschnitt an beschäftigen wir uns mit Funktionen einer reellen Variablenund deren Eigenschaften. Wir beginnen mit der Stetigkeit, wo wir feststellen werden,dass dazu mehr gehört als „keine Sprünge zu haben“.

� 20Stetigkeit

Im Folgenden sei f eine Funktion zwischen metrischen Räumen (X, dX) und (Y , dY ).Dabei sind vor allem die Fälle X = Rn, Y = R oder X = Y = C wichtig. In diesemBuch geht es hauptsächlich um Funktionen

f :R ⊃ Df → R,

wobei X = Y = Rmit der euklidischen Metrik dX (x, y) = dY (x, y) = |x − y| versehenund Df meist ein Intervall ist.

Es seien (X, dX ) und (Y , dY ) metrische Räume. Eine Funktion f : X ⊃ Df → Yheißt f stetig in x0 ∈ Df

:⇐⇒ ∀ " > 0 ∃ ı > 0 ∀ x ∈ Df :(dX(x, x0) < ı �⇒ dY

(f (x), f (x0)

)< "

);

f heißt stetig in Df , wenn f in jedem x0 ∈ Df stetig ist.

Definition VI.1

Bemerkung. Speziell für X = Y = R oder Y = C ist f stetig in x0

⇐⇒ ∀ " > 0 ∃ ı > 0 ∀ x ∈ Df :(|x − x0| < ı �⇒ ∣∣f (x) − f (x0)

∣∣ < ").

Erinnern Sie sich an das Spiel bei der Konvergenz von Folgen von Seite 24? Hier ist esganz ähnlich: Ein Gegenspieler gibt Ihnen ein beliebiges " vor, und Sie gewinnen, wennSie immer ein ı finden können, so dass die Differenz der Funktionswerte in Punktenmit Abstand kleiner ı kleiner als dieses vorgegebene " ist.

Im Allgemeinen wird es so sein, dass Sie ı um so kleiner machen müssen, je kleinerIhr Opponent sein " macht, d.h., ı hängt von " ab.

Geometrisch heißt Stetigkeit in x0, dass es zu jedem Streifen S" um f (x0) ein IntervallIı um x0 gibt, so dass der Graph Gf von f über Iı im Streifen S" liegt.

C. Tretter, Analysis I

© Springer Basel AG 2013

Page 2: Analysis I || Stetige Funktionen

72 VI Stetige Funktionen

Gf

x0

Iδ x0 + δx0 − δ

f(x0)

f(x0) + ε

f(x0) − ε

Abb. 20.1: Stetigkeit von f in x0 ∈ Df

(i) f :R → R, f (x) = x, ist stetig in R:

Sind x0 ∈ R und " > 0 beliebig, so gilt für alle x ∈ Rmit |x − x0| < " =: ı:

|f (x) − f (x0)| = |x − x0| < ".

(ii) f :R → R, f (x) = |x|, ist stetig in 0 (und in ganz R):

Es sei x0 = 0, und " > 0 sei beliebig. Dann gilt für alle x ∈ Rmit |x| < " =: ı:

|f (x) − f (0)︸︷︷︸=0

| =∣∣|x| − 0

∣∣ = |x| < ".

(iii) Ist (X, ‖ · ‖) ein normierter Raum, so ist f : X → R, f (x) = ‖x‖, stetig in X:

Sind x0 ∈ X und " > 0 beliebig, so gilt für alle x ∈ X mit ‖x − x0‖ < " =: ınach der Dreiecksungleichung von unten (Korollar IV.20):

|f (x) − f (x0)| =∣∣‖x‖ − ‖x0‖

∣∣ ≤ ‖x − x0‖ < ".

(iv) f :R → R, f (x) = x2, ist stetig in R:

Es seien x0 ∈ R und " > 0 beliebig. Setze ı := min{

1, "1+2|x0 |

}. Dann gilt

für alle x ∈ Rmit |x − x0| < ı:

|f (x)−f (x0)| = |x2−x20 | = |x − x0||x + x0| ≤|x − x0|︸ ︷︷ ︸

<ı≤ "1+2|x0|

(|x − x0| + 2|x0|)︸ ︷︷ ︸

<ı+2|x0|≤1+2|x0 |

< ".

(v) [x] := max{k ∈ Z: k ≤ x}, x ∈ R (Gauß-Klammer):

Die Funktion x �→ [x] ist stetig auf R \ Z, aber nicht stetig in k ∈ Z. Dennsonst existierte zu " = 1

2 ein ı > 0 mit

∀ x ∈ R:(

|x − k| < ı �⇒ ∣∣[x] − [k]∣∣ =

∣∣[x] − k∣∣ <

1

2

);

speziell für x ∈ (k − ı, k) ist [x] = k − 1, also wäre 1 =∣∣[x] − k

∣∣ < 12 �.

Beispiele VI.2

Page 3: Analysis I || Stetige Funktionen

20 Stetigkeit 73

(vi) f :R → R, f (x) =

{sin

(1x

), x �= 0,

0, x = 0,ist nicht stetig in 0:

Dieses Beispiel zeigt, dass die Vorstellung, „nicht stetig“ heißt „keine Sprün-ge“, nicht zutreffend ist. Hier geht etwas anderes schief (Aufgabe VI.1)!

(vii) D:R → R, D(x) :=

{1, x ∈ Q,

0, x ∈ R \Q,(Dirichlet1-Funktion):

D ist nirgends stetig inRnach AufgabeV.4; tatsächlich zeigt D das schlimmst-mögliche Unstetigkeitsverhalten überhaupt (siehe [4, Beispiel 1.11]).

x

f(x)

x

f(x)

Beispiel VI.2 (ii): f (x) = |x| Beispiel VI.2 (iv): f (x) = x2

x

1

x

h(x)

Beispiel VI.2 (v): Gauß-Klammer Beispiel VI.2 (vi): h(x) = sin(x−1)

Abb. 20.2: Zwei in 0 stetige und zwei in 0 unstetige Funktionen

In Anwendungen, z.B. bei Differentialgleichungen, spielt der folgende stärkere Stetig-keitsbegriff eine wichtige Rolle.

Es seien (X, dX ) und (Y , dY ) metrische Räume. Eine Funktion f : X ⊃ Df → Yheißt Lipschitz-stetig in Df

:⇐⇒ ∃ L ≥ 0 ∀ x, y ∈ Df : dY

(f (x), f (y)

) ≤ L dX(x, y);

L heißt dann Lipschitz2-Konstante von f .

Definition VI.3

1Peter Gustav Lejeune Dirichlet, ∗ 13. Februar 1805 in Düren, damals Frankreich, 5. Mai 1859 inGöttingen, deutscher Mathematiker, der bedeutende Ergebnisse in Analysis, Zahlentheorie und Mechanikerzielte.

2Rudolf Lipschitz, ∗ 14. Mai 1832 in Königsberg, Preußen, 7. Oktober 1903 in Bonn, deutscherMathematiker, Schüler von Dirichlet, arbeitete auf vielen Gebieten der Mathematik.

Page 4: Analysis I || Stetige Funktionen

74 VI Stetige Funktionen

– f :R → R, f (x) = ax + b mit festen a, b ∈ R ist Lipschitz-stetig mit L = |a|,denn für x, y ∈ R ist∣∣f (x) − f (y)

∣∣ = |ax − ay| = |a| · |x − y|.

– f :C → C, f (z) = |z|, Re z, Im z, z, sind alle Lipschitz-stetig mit L = 1,denn für z1, z2 ∈ C gilt z.B. nach Proposition V.4 (i):

| Re z1 − Re z2| = | Re(z1 − z2)| ≤ |z1 − z2|.

Beispiele

Jede Lipschitz-stetige Funktion ist stetig.Proposition VI.4

Beweis. Es seien (X, dX ), (Y , dY ) metrische Räume, f : X ⊃ Df → Y Lipschitz-stetigmit Lipschitz-Konstante L und x0 ∈ Df . Ist " > 0 beliebig, so gilt mit ı := "

L für allex ∈ Df mit dX(x, x0) < ı:

dY (f (x), f (x0)) ≤ L dX(x, x0)︸ ︷︷ ︸<ı

< L · "

L= ".

Ein äquivalentes Kriterium für die Stetigkeit in einem Punkt x0 ist:

Folgenkriterium für Stetigkeit. Es seien (X, dX), (Y , dY ) metrische Räume. EineFunktion f: X ⊃ Df → Y ist stetig in x0 ∈ Df

⇐⇒ ∀ (xn)n∈N ⊂ Df :(xn

n→∞−−−−→ x0 �⇒ f (xn)

n→∞−−−−→ f (x0)

). (20.1)

Satz VI.5

Beweis. „�⇒“: Es sei f stetig in x0 und (xn)n∈N ⊂ Df eine Folge mit xn → x0, n → ∞.Zu beliebigem " > 0 existiert dann ein ı > 0 mit

∀ x ∈ Df :(dX(x, x0) < ı �⇒ dY

(f (x), f (x0)

)< "

).

Da xn → x0, n → ∞, existiert zu diesem ı ein N ∈ Nmit

∀ n ≥ N : dX(xn, x0) < ı

und somit dY

(f (xn), f (x0)

)< " für n ≥ N , also f (xn) → f (x0), n → ∞.

„⇐�“: Angenommen, (20.1) gilt, aber f ist nicht stetig in x0. Dann gilt:

∃ "0 > 0 ∀ ı > 0 ∃ x ∈ Df :(dX(x, x0) < ı ∧ dY

(f (x), f (x0)

) ≥ "0

).

Insbesondere ergibt sich, wenn man ı = 1n , n ∈ N, setzt:

∀ n ∈ N ∃ xn ∈ Df :(dX(xn, x0) <

1

n∧ dY

(f (xn), f (x0)

) ≥ "0

),

d.h., xn → x0, n → ∞, aber f (xn) �→ f (x0), n → ∞, im Widerspruch zu (20.1).

Page 5: Analysis I || Stetige Funktionen

20 Stetigkeit 75

Stetige Funktionen vertauschen mit dem Limes:

limn→∞ f (xn) = f

(lim

n→∞xn

), falls lim

n→∞xn existiert.

Korollar VI.6

Damit wir den Nachweis der Stetigkeit einer Funktion auf die Stetigkeit elementarerFunktionen zurückführen können, sind die folgenden Regeln nützlich.

Es seien X eine Menge, Y ein Vektorraum über einem Körper K (z.B. X = Y = R).Für f : X ⊃ Df → Y , g : X ⊃ Dg → Y und � ∈ K definiere

(i) f + g : X ⊃ Df +g → Y und � · f : X ⊃ D�·f → Y durch

Df +g := Df ∩ Dg , (f + g)(x) := f (x) + g(x), x ∈ Df +g ,

D�·f := Df , (� · f )(x) := � · f (x), x ∈ Df ,

(ii) und für Y = K speziell f · g : X ⊃ Df ·g → Y undf

g: X ⊃ D f

g→ Y durch

Df ·g := Df ∩ Dg , (f · g)(x) := f (x)g(x), x ∈ Df ·g,

D fg

:= {x ∈ Df ∩ Dg : g(x) �= 0},( f

g

)(x) :=

f (x)

g(x), x ∈ D f

g.

Definition VI.7

Bemerkung. Die Menge Y X := {f : X → Y , f Funktion} aller Funktionen von X nachY mit + und · wie oben definiert ist ein Vektorraum über K .

Es seien (X, dX ) ein metrischer Raum, (Y , ‖ · ‖Y ) ein normierter Raum über einemKörper K (z.B. X = Y = R), f : X ⊃ Df → Y , g : X ⊃ Dg → Y , � ∈ K, x0 ∈ Df ∩Dg

(bzw. nur x0 ∈ Df ). Sind f und g stetig in x0, dann sind

(i) f + g und � · f stetig in x0;

ist speziell Y = K, sind außerdem

(ii) f · g stetig in x0,

(iii)f

gstetig in x0, falls g(x0) �= 0.

Satz VI.8

Beweis. Eine gute Übung für die �, ı-Definition der Stetigkeit (Aufgabe VI.2)!

Die Menge aller stetigen Funktionen von X nach Y ,

C(X, Y ) := {f : X → Y , f stetige Funktion},ist ein Untervektorraum des Vektorraums Y X aller Funktionen von X nach Y .

Korollar VI.9

Ist Y = R oder Y = C, schreibt man auch C(X) statt C(X,R) bzw. C(X,C).

Page 6: Analysis I || Stetige Funktionen

76 VI Stetige Funktionen

Es sei K (= R oder C) ein Körper und n ∈N, m ∈N0. Eine Funktion p: K n → Kheißt Polynom vom Grad ≤ m, wenn es ck1...kn ∈K gibt mit

p(x1, . . . , xn) =∑

(k1,...,kn)∈Nn0

k1+···+kn≤m

ck1...kn xk11 · · ·xkn

n , (x1, . . . , xn) ∈ K n;

die ck1...kn heißen Koeffizienten von p. Der Grad von p �≡ 0 ist definiert als

deg(p) := max{

� ∈ N0: ∃ (k1, . . . , kn) ∈ Nn0 mit ck1...kn �= 0,

n∑j=1

kj = �},

und man setzt deg(p) := −∞, falls p ≡ 0. Eine Funktion r: K n ⊃ Dr → K heißtrational, wenn es Polynome p, q gibt mit

r =p

q, Dr = {x ∈ K n: q(x) �= 0}.

Definition VI.10

Bemerkung. Polynome p: K → K (also n = 1) vom Grad ≤ m haben die Form

p: K → K , p(x) =m∑

k=0

ckxk, x ∈ K , mit ck ∈ K , k = 0, 1, . . . , m.

p:R2 → R, p(x1, x2) = x31 + 2x3

1x2 + x1 + 1, ist ein Polynom vom Grad 4.Beispiel

Aus Satz VI.8 ergibt sich nun sofort, indem man ihn z.B. für K = R und n = 1wiederholt anwendet auf die stetigen Funktionen f (x) = 1, g(x) = x, x ∈ R:

Es sei K = R oder C.

(i) Jedes Polynom p: K n → K ist stetig auf K n.

(ii) Jede rationale Funktion r: K n ⊃ Dr → K ist stetig auf Dr .

Korollar VI.11

Es seien (X, dX ), (Y , dY ), (Z, dZ ) metrische Räume (z.B. X = Y = Z = R) undf : X ⊃ Df → Y , g : Y ⊃ Dg → Z sowie x0 ∈ Df mit f (x0) ∈ Dg . Dann gilt:

f stetig in x0, g stetig in f (x0) �⇒ g ◦ f stetig in x0.

Satz VI.12

Beweis. Es sei " > 0 vorgegeben. Da g stetig in f (x0) ist, existiert ı > 0 mit

∀ y ∈ Dg :(dY (y, f (x0)) < ı �⇒ dZ(g(y), g(f (x0))) < "

).

Da f stetig in x0 ist, existiert zu ı ein � > 0 mit

∀ x ∈ Df :(dX(x, x0) < � �⇒ dY (f (x), f (x0)) < ı

).

Also folgt für x ∈ Dg◦f = {x ∈ Df : f (x) ∈ Dg } mit dX(x, x0) < � :

dZ

((g ◦ f )(x), (g ◦ f )(x0)

)= dZ

(g(f (x)), g(f (x0))

)< ".

Bemerkung. Aus g ◦ f stetig folgt nicht, dass g und f stetig sind; dies sieht man, wennman f unstetig (z.B. die Gauß-Klammer) und g ≡ 0 wählt.

Page 7: Analysis I || Stetige Funktionen

20 Stetigkeit 77

Jede Potenzreihe mit Konvergenzradius R > 0 um a ∈ C definiert auf ihrem Konver-genzkreis {z ∈ C: |z − a| < R} = BR(a) eine stetige Funktion.

Satz VI.13

Beweis. Sind (an)n∈N0 ⊂ C die Koeffizienten der Potenzreihe, so setzen wir

f :C ⊃ BR(a) → C, f (z) :=∞∑

n=0

an(z − a)n, z ∈ BR(a).

Es seien z0 ∈ BR(a) und " > 0 beliebig. Wähle r > 0 mit |z0 − a| < r < R. NachSatz V.50 konvergiert die Reihe

∑∞n=0 an(z − a)n absolut für z ∈ BR(a), also existiert ein

N ∈ Nmit ∞∑n=N+1

|an| rn <"

4.

Damit definieren wir

p(z) :=N∑

n=0

an(z − a)n, z ∈ C.

Nach Korollar VI.11 ist p als Polynom stetig in z0, also existiert ein ı > 0 so, dass

∀ z ∈ C:( |z − z0| < ı �⇒ |p(z) − p(z0)| <

"

2

).

Für |z − z0| < min{ı, r − |z0 − a|} ist dann |z − a| ≤ |z − z0| + |z0 − a| < r und damitinsgesamt, mittels verallgemeinerter Dreiecksungleichung (Proposition V.35):

|f (z) − f (z0)| =∣∣∣ ∞∑

n=0

an(z − a)n −∞∑

n=0

an(z0 − a)n∣∣∣

≤ ∣∣p(z) − p(z0)∣∣∣︸ ︷︷ ︸

< "2

+∞∑

n=N+1

|an| ·≤rn︷ ︸︸ ︷

|z − a|n︸ ︷︷ ︸< "

4

+∞∑

n=N+1

|an| ·≤rn︷ ︸︸ ︷

|z0 − a|n︸ ︷︷ ︸< "

4

< ".

exp, sin und cos. Stetig aufCund damit auf ganzR sind die Exponentialfunktionund die trigonometrischen Funktionen Sinus und Cosinus:

– exp:C→ C, exp(z) =∞∑

k=0

zk

k!,

– sin:C→ C, sin(z) :=1

2i(exp(iz) − exp(−iz)) =

∞∑k=0

(−1)k z2k+1

(2k + 1)!,

– cos:C→ C, cos(z) :=1

2(exp(iz) + exp(−iz)) =

∞∑k=0

(−1)k z2k

(2k)!;

für später merken wir uns, dass nach Definition sofort die Eulersche Formel folgt:

exp(ix) = cos(x) + i sin(x), x ∈ R. (20.2)

Beispiele VI.14

Page 8: Analysis I || Stetige Funktionen

78 VI Stetige Funktionen

� 21Grenzwerte und einseitige Stetigkeit

Der Begriff des Grenzwertes einer Funktion ist eng mit der Stetigkeit verwoben. Zu sei-ner Definition benötigen wir den Begriff des Häufungspunktes einer Menge; darunterversteht man Punkte, die im folgenden Sinn nicht isoliert sind.

Es sei (X, d) ein metrischer Raum (z.B. X = R) und A ⊂ X. Ein Punkt x0 ∈ Xheißt Häufungspunkt von A

:⇐⇒ ∀ " > 0 ∃ x" ∈ A, x" �= x0: d(x", x0) < ".

Definition VI.15

Bemerkung. – Häufungspunkte müssen keine Elemente der Menge sein.

– Häufungswerte einer Folge (an)n∈N unterscheiden sich von Häufungspunktender Menge A = {an: n ∈ N} der Folgenglieder durch die Bedingung x" �= x0; z.B.sind für

an :=

{1n , n ungerade,

1, n gerade,

0 und 1 Häufungswerte der Folge (an)n∈N , 0 ist auch Häufungspunkt der MengeA = {an: n ∈ N}, aber 1 ist kein Häufungspunkt von A.

Es seien (X, dX), (Y , dY ) metrische Räume (z.B. X = Y = R), f : X ⊃ Df → Yeine Funktion und x0 ∈ X ein Häufungspunkt von Df . Ein Punkt a ∈ Y heißtGrenzwert oder Limes von f in x0

:⇐⇒ ∀ " > 0 ∃ ı > 0 ∀ x ∈ Df \ {x0}:(dX(x, x0) < ı �⇒ dY (f (x), a) < "

).

Der Grenzwert a ist eindeutig bestimmt, und man schreibt dann:

limx→x0

f (x) = a oder f (x) → a, x → x0.

Definition VI.16

Ist x0 ∈ Df , so gilt (vgl. die Definition VI.1 der Stetigkeit):

f stetig in x0 ⇐⇒ limx→x0

f (x) = f (x0).

Bemerkung VI.17

Es seien (X, dX), (Y , dY ) metrische Räume (z.B. X = Y = R), f : X ⊃ Df → Ystetig und x0 /∈ Df Häufungspunkt von Df . Eine stetige Fortsetzung von f auf

Df ∪ {x0} ist eine Funktion f̃: X ⊃ Df ∪ {x0} → Y mit

f̃ stetig auf Df ∪ {x0}, f̃ |Df = f .

Definition VI.18

f (x) =x2 − 1

x + 1, x ∈ R \ {−1}, hat die stetige Fortsetzung f̃ (x) = x − 1, x ∈ R.Beispiel VI.19

Page 9: Analysis I || Stetige Funktionen

21 Grenzwerte und einseitige Stetigkeit 79

Es seien (X, dX ), (Y , dY ) metrische Räume, f : X ⊃ Df → Y eine stetige Funktionund x0 �∈ Df Häufungspunkt von Df . Existiert ein a ∈ Y mit

limx→x0

f (x) = a,

so besitzt f eine eindeutige stetige Fortsetzung f̃ : X ⊃ Df ∪ {x0} → Y , nämlich

f̃ (x) =

{f (x), x ∈ Df ,

a, x = x0.

Satz VI.20

Beweis. Nach Konstruktion ist f̃ stetig. Angenommen, es gibt eine weitere stetige Fort-

setzung f̂ von f auf Df ∪ {x0}. Dann gilt

∀ x ∈ Df : f̂ (x) = f (x) = f̃ (x).

Da f̂ und f̃ in x0 stetig sind und f̃ |Df = f̂ |Df = f , folgt mit Bemerkung VI.17:

f̂ (x0) = limx→x0

f̂ (x) = limx→x0

f (x) = limx→x0

f̃ (x) = f̃ (x0).

Die nächsten beiden Sätze liefern Kriterien, um mit Hilfe von Folgen zu entscheiden,ob eine Funktion in einem Punkt einen Grenzwert hat.

Folgenkriterium für die Existenz eines Limes. Es seien (X, dX) und (Y , dY )metrische Räume, f : X ⊃ Df → Y eine stetige Funktion und x0 �∈ Df Häufungspunktvon Df . Dann hat f in x0 den Grenzwert a ∈ Y

⇐⇒ ∀ (xn)n∈N ⊂ Df :(

limn→∞ xn = x0 �⇒ lim

n→∞ f (xn) = a).

Satz VI.21

Beweis. Die Behauptung folgt aus Satz VI.5, angewendet auf die stetige Fortsetzung f̃von f aus Satz VI.20.

Wie bei Folgen muss man den Limes nicht kennen, um seine Existenz zu zeigen. Dazumuss aber der Raum Y vollständig sein, wie z.B. Y = R oder Y = C.

Cauchy-Kriterium für die Existenz eines Limes. Es seien (X, dX ), (Y , dY ) metri-sche Räume, Y vollständig, f : X ⊃ Df → Y eine Funktion und x0 ∈ X Häufungs-punkt von Df . Dann hat f einen Grenzwert in x0

⇐⇒ ∀ " > 0 ∃ ı > 0 ∀ x, y ∈ Df \ {x0}:(dX(x, x0) < ı ∧ dX(y, x0) < ı �⇒ dY

(f (x), f (y)

)< "

).

Satz VI.22

Beweis. „�⇒“: Es sei a := limx→x0 f (x). Zu jedem ">0 gibt es dann ein ı > 0 mit

∀ x ∈ Df :(

dX(x, x0) < ı �⇒ dY (f (x), a) <"

2

).

Mit der Dreiecksungleichung folgt für x, y ∈ Df mit dX(x, x0) < ı, dX(y, x0) < ı:

dY (f (x), f (y)) ≤ dY (f (x), a) + dY (f (y), a) <"

2+

"

2= ".

Page 10: Analysis I || Stetige Funktionen

80 VI Stetige Funktionen

„⇐�“: Es sei " > 0 vorgegeben. Nach Voraussetzung existiert ein ı > 0 mit

∀ x, y ∈ Df :(

dX(x, x0) < ı ∧ dX(y, x0) < ı �⇒ dY

(f (x), f (y)

)<

"

3

).

Da x0 Häufungspunkt von Df ist, existiert eine Folge (xn)n∈N ⊂ Df mit xn �= x0 undxn → x0, n → ∞. Also existiert ein N ∈ Nmit

∀ n ≥ N : dX(xn, x0) < ı.

Damit ergibt sich

∀ n, m ≥ N : dY (f (xn), f (xm)) <"

3, (21.1)

d.h.,(f (xn)

)n∈N ⊂ Y ist eine Cauchy-Folge. Da Y vollständig ist, existiert der Grenzwert

a := limn→∞ f (xn), und mit der Dreiecksungleichung folgt

∀ n ≥ N : dY (f (xn), a) <2"

3.

Insgesamt gilt für x ∈ Df mit dX(x, x0) < ı:

dY (f (x), a) ≤ dY (f (x), f (xN ))︸ ︷︷ ︸< "

3

+ dY (f (xN ), a)︸ ︷︷ ︸< 2"

3

< ".

Für Funktionen auf X = R kann man auch einseitige Grenzwerte betrachten. Dabeinähert man sich x0 ∈ Df nur von einer Seite:

Es seien (Y , dY ) ein metrischer Raum, f :R ⊃ Df → Y eine Funktion und x0 ∈ Rein Häufungspunkt von Df . Dann heißt a ∈ Y linksseitiger Grenzwert von f in x0

:⇐⇒ ∀ " > 0 ∃ ı > 0 ∀ x ∈ Df :(x ∈ (x0 − ı, x0) �⇒ dY (f (x), a) < "

)bzw. rechtsseitiger Grenzwert, wenn man (x0 − ı, x0) durch (x0, x0 + ı) ersetzt; manschreibt dann:

limx�x0

f (x) = f (x0−) = a bzw. limx�x0

f (x) = f (x0+) = a.

Ist x0 ∈ Df , so heißt f linksseitig stetig (bzw. rechtsseitig stetig) in x0

:⇐⇒ limx�x0

f (x) = f (x0)(bzw. lim

x�x0

f (x) = f (x0)).

Definition VI.23

– f (x) = [x] := max{k ∈ Z: k ≤ x}, x ∈ R (Gauß-Klammer):

f ist rechtsseitig stetig in x0 ∈ Z, aber nicht linksseitig (Abb. 20.2):

limx�x0

[x] = x0 = [x0], limx�x0

[x] = x0 − 1 �= [x0], x0 ∈ Z.

– f (x) =x2 − 1

x + 1, x ∈ R \ {−1}, ist links- und rechtsseitig stetig in −1 mit

limx�−1

x2 − 1

x + 1= lim

x�−1(x − 1) = −2 = lim

x�−1

x2 − 1

x + 1.

Beispiele

Page 11: Analysis I || Stetige Funktionen

21 Grenzwerte und einseitige Stetigkeit 81

Ist (Y , dY ) metrischer Raum, f :R ⊃ Df → Y und x0 ∈ Df , so gilt:

f ist stetig in x0 ⇐⇒ f ist links- und rechtsseitig stetig in x0.

Proposition VI.24

Beweis. Die Äquivalenz folgt direkt aus den Definitionen der Stetigkeit und der links-bzw. rechtsseitigen Stetigkeit.

Die Existenz von einseitigen Grenzwerten für Funktionen von R nachR kann man mitHilfe ihres Wachstumsverhalten untersuchen.

Eine Funktion f :R ⊂ Df → R heißt monoton wachsend (bzw. fallend),

:⇐⇒ ∀ x, y,∈ Df :(x < y �⇒ f (x) ≤ f (y) (bzw. f (x) ≥ f (y))

),

und streng monoton wachsend (bzw. fallend)

:⇐⇒ ∀ x, y,∈ Df :(x < y �⇒ f (x) < f (y) (bzw. f (x) > f (y))

),

f heißt (streng) monoton, wenn f (streng) monoton wachsend oder fallend ist.

Definition VI.25

Bemerkung. f (streng) monoton fallend ⇐⇒ −f (streng) monoton wachsend.

– f (x) = x2, x ∈ [0,∞), ist streng monoton wachsend;

– f (x) = x2, x ∈ R, ist weder streng monoton noch monoton;

– f (x) = [x], x ∈ R, ist monoton wachsend, aber nicht streng (Abb. 20.2).

Beispiele

Es seien (X, dX ), (Y , dY ) metrische Räume. Eine Funktion f : X ⊃ Df → Y heißtbeschränkt

:⇐⇒ f (Df ) = {f (x): x ∈ Df } beschränkt in Y ;

speziell ist eine Funktion f :R ⊃ Df → R oder f :C ⊃ Df → C beschränkt

⇐⇒ ∃ M > 0 ∀ x ∈ Df : |f (x)| ≤ M.

Definition VI.26

Eine monotone beschränkte Funktion f :R ⊃ (a, b) → R besitzt in jedem x0 ∈ [a, b]einseitige Grenzwerte.

Proposition VI.27

Beweis. Wir beweisen z.B. für monoton wachsendes f und x0 ∈ (a, b], dass der links-seitige Grenzwert in x0 existiert. Dazu sei " > 0 beliebig. Setzt man

s := sup {f (x): x ∈ (a, x0)},

Page 12: Analysis I || Stetige Funktionen

82 VI Stetige Funktionen

so existiert nach Proposition III.15 ein x" ∈ (a, x0) mit s − " < f (x") ≤ s. Wegen derMonotonie von f und der Supremumseigenschaft von s folgt für x ∈ (x", x0):

s − " < f (x") ≤ f (x) ≤ s,

also |f (x) − s| < ". Daher ist s linksseitiger Grenzwert von f in x0.

Als Nächstes betrachten wir für Funktionen auf R Grenzwerte bei ±∞ und für Funk-tionen nach R uneigentliche Grenzwerte, d.h., ±∞ als Grenzwerte.

Es seien (Y , dY ) ein metrischer Raum, f :R ⊃ Df → Y eine Funktion und Df nachoben (bzw. unten) unbeschränkt. Dann heißt a ∈ Y Grenzwert von f bei ∞ (bzw.bei −∞)

:⇐⇒ ∀ " > 0 ∃R > 0 ∀ x ∈ R:(x > R (bzw. x < −R) �⇒ dY

(f (x), a

)< "

);

man schreibt dann:

limx→∞ f (x) = a

(bzw. lim

x→−∞ f (x) = a).

Definition VI.28

Bemerkung. Grenzwerte bei ±∞ sind einseitige Grenzwerte bei 0 vermöge

limx→∞ f (x) = lim

��0f( 1

)bzw. lim

x→−∞ f (x) = lim��0

f( 1

).

Uneigentliche Grenzwerte. Es seien (X, dX ) ein metrischer Raum sowief : X ⊃ Df → R eine Funktion und x0 ∈ X ein Häufungspunkt von Df . Dann hatf in x0 den Grenzwert ∞ (bzw. −∞)

:⇐⇒ ∀ R ≥ 0 ∃ ı > 0 ∀ x ∈ Df :(dX (x, x0) < ı �⇒ f (x) ≥ R (bzw. ≤ −R )

);

man schreibt dann:

limx→x0

f (x) = ∞ (bzw. limx→x0

f (x) = −∞)

und definiert analog limx�x0 f (x) =±∞, limx�x0 f (x) =±∞, limx→±∞f (x) =±∞.

Definition VI.29

limx→∞ exp(x) = ∞, limx→−∞ exp(x) = 0, denn für x > 0 ist:

exp(x) ≥ 1 + x → ∞, x → ∞, exp(−x) =1

exp(x)→ 0, x → ∞.

Beispiel VI.30

Wegen des Folgenkriteriums für die Existenz des Limes (Satz VI.21) gelten fürGrenzwerte von Funktionen analoge Rechenregeln wie für Folgen.

Bemerkung VI.31

Page 13: Analysis I || Stetige Funktionen

22 Sätze über stetige Funktionen 83

� 22Sätze über stetige Funktionen

Für stetige Funktionen von R nach R beweisen wir nun zwei zentrale Sätze, den Zwi-schenwertsatz und den Satz vom Minimum und Maximum.

Zwischenwertsatz. Es seien a, b ∈ R, a < b, und f : [a, b] → R stetig. Dannexistiert zu jedem � ∈ R zwischen f (a) und f (b) ein c ∈ [a, b] mit

f (c) = � ,

d.h., f nimmt auf [a, b] jeden Wert � ∈ R zwischen f (a) und f (b) an.

Satz VI.32

Beweis. Ohne Einschränkung sei f (a) ≤ f (b) (sonst betrachte −f ). Dann ist � ∈[f (a), f (b)

]. Definiere eine Folge von Intervallen In := [an, bn] , n ∈ N0, durch

[a0, b0] := [a, b] , [an+1, bn+1] :=

{[an,

an+bn

2

], � ≤ f

(an+bn

2

),[

an+bn

2 , bn

], � > f

(an+bn

2

).

Dann ist f (an) ≤ � ≤ f (bn), n ∈ N0, und bn − an = 2−n(b − a) → 0, n → ∞. NachSatz IV.48 über die Intervallschachtelung gibt es genau ein c ∈ Rmit

c ∈⋂

n∈N0

[an, bn] ,

also limn→∞ an = limn→∞ bn = c. Da f stetig ist, folgt nach Satz VI.5:

f (c) = limn→∞ f (an)︸ ︷︷ ︸

≤�

≤ � , f (c) = limn→∞ f (bn)︸ ︷︷ ︸

≥�

≥ � , also f (c) = � .

Ist f : [a, b] → R eine stetige Funktion mit f (a) < 0 und f (b) > 0, so hat f in[a, b] eine Nullstelle, d.h., es gibt ein c ∈ [a, b] mit f (c) = 0.

Korollar VI.33

Jedes Polynom ungeraden Grades auf R hat eine reelle Nullstelle. Korollar VI.34

Beweis. Es seien n ∈ Nund p(x) = a2n+1x2n+1+a2nx2n+· · ·+a0 ein Polynom mit ak ∈ R,k = 0, 1, . . . , 2n + 1, so dass a2n+1 �= 0. Da sich die Nullstellen von p nach Divisiondurch a2n+1 nicht ändern, können wir ohne Einschränkung a2n+1 = 1 annehmen,

p(x) = x2n+1 + a2nx2n + · · · + a0 = x2n+1(

1 +a2n

x+ · · · +

a0

x2n+1

), x ∈ R \ {0}.

Wegen limx→∞ 1/x = 0, kann R > 0 so groß gewählt werden, dass

1 +a2n

(±R)+ · · · +

a0

(±R)2n+1≥ 1 −

|a2n|R

− · · · −|a0|

R2n+1≥ 1

2und damit

p(R) ≥ R2n+1 · 1

2> 0, p(−R) ≤ (−R)2n+1 · 1

2< 0.

Da p als Polynom stetig ist, liefert Korollar VI.33 die Behauptung.

Page 14: Analysis I || Stetige Funktionen

84 VI Stetige Funktionen

Die folgende Eigenschaft von Teilmengen metrischer Räume benutzen wir hier nur fürR oder C; wir kommen in Analysis II ([28, Abschnitt I.2]) allgemeiner darauf zurück.

Eine Teilmenge K ⊂X eines metrischen Raums (X, dX ) heißt kompakt, wenn jedeFolge (xn)n∈N ⊂ K eine in K konvergente Teilfolge (xnk )k∈N hat.

Definition VI.35

Ein Intervall I ⊂ R ist kompakt ⇐⇒ I = [a, b] mit a, b ∈ R, a ≤ b.Proposition VI.36

Beweis. „⇐�“: Ist I = [a, b] und (xn)n∈N ⊂ I , so ist wegen a ≤ xn ≤ b, n ∈ N, die Folge(xn)n∈N beschränkt. Nach Satz V.10 von Bolzano-Weierstraß existiert eine konvergenteTeilfolge (xnk )k∈N . Setzt man x := limk→∞ xnk , so gilt wegen a ≤ xnk ≤ b, k ∈ N, nachKorollar IV.37 auch a ≤ x ≤ b, also x ∈ I = [a, b].

„�⇒“: Angenommen, es wäre z.B. I = (a, b]. Dann hat die Folge xn := a + 1n , n ∈ N,

keine in I konvergente Teilfolge, da a /∈ I .

Intervalle sind sehr spezielle kompakte Teilmengen. Sehr viel exotischer ist:

Cantorsches Diskontinuum. Definiere

C0 := [0, 1], C1 := C0 \ ( 13 , 2

3

), C2 := C1 \ (( 1

9 , 29

) ∪ ( 79 , 8

9

)), . . . ,

d.h., man entfernt in jedem Schritt jeweils die mittleren offenen Drittel der vorigenIntervalle (siehe Abb. 22.1). Das Cantorsche Diskontinuum C ist definiert als

C :=⋂

n∈N0

Cn.

Man kann zeigen, dass C kompakt ist, weil es beschränkt ist und der Durchschnittder abgeschlossenen Mengen Cn (siehe [28, Satz I.34 von Heine-Borel]).

Beispiel

C0

C1

C2

C3

C4 etc.

Abb. 22.1: Cantorsches Diskontinuum

vom Minimum und Maximum. Ist K ⊂ R kompakt und f : K → R stetig, sonimmt f auf K Minimum und Maximum an, d.h., es gibt x∗, x∗∈ K mit

f (x∗) ≤ f (x) ≤ f (x∗), x ∈ K .

Satz VI.37

Beweis. Es reicht, die Existenz des Maximums zu zeigen (sonst betrachte −f ). Setze

s := sup f (K) = sup {f (x): x ∈ K}.

Page 15: Analysis I || Stetige Funktionen

22 Sätze über stetige Funktionen 85

Zu zeigen ist, dass s < ∞ und dass es ein x∗ ∈ K gibt mit f (x∗) = s. Da s Supremumist, gibt es nach Proposition III.15 zu jedem n ∈ N ein xn ∈ K mit{

s − 1n < f (xn) ≤ s, falls s < ∞,

n < f (xn), falls s = ∞.

Dann ist limn→∞ f (xn) = s. Da K kompakt ist, gibt es eine in K konvergente Teilfolge(xnk )k∈N , und wir setzen

x∗ := limk→∞

xnk ∈ K .

Da f stetig ist, folgt s = limk→∞ f (xnk ) = f (x∗) < ∞.

(i) Es seien K ⊂ R kompakt und f : K → R stetig. Ist f (x) > 0, x ∈ K , danngilt sogar inf f (K) > 0, d.h., es existiert ein ˛ > 0 mit

f (x) ≥ ˛ > 0, x ∈ K .

(ii) Ist f : (a, b) → R stetig, x0 ∈ (a, b) und f (x0) > 0, so gibt es ı, ˛ > 0 mit

f (x) ≥ ˛ > 0, x ∈ [x0 − ı, x0 + ı] ⊂ (a, b).

Korollar VI.38

Zusammengenommen liefern der Zwischenwertsatz und der Satz vom Minimum undMaximum die folgende Strukturaussage für stetige Funktionen:

Es seien I ⊂ R und f : I → R stetig. Dann gilt:

I (kompaktes) Intervall �⇒ f (I) (kompaktes) Intervall.

Korollar VI.39

Neben Stetigkeit und Lipschitz-Stetigkeit gibt es noch eine weitere Verschärfung desStetigkeitsbegriffs, die sog. gleichmäßige Stetigkeit.

Es seien (X, dX ), (Y , dY ) metrische Räume. Eine Funktion f : X ⊃ Df → Y heißtgleichmäßig stetig auf Df

:⇐⇒ ∀ " > 0 ∃ ı > 0: ∀ x, y ∈ Df :(dX (x, y) < ı �⇒ dY (f (x), f (y)) < "

).

Definition VI.40

Bemerkung. Der Unterschied zur Stetigkeit besteht darin, dass ı hier nur von " ab-hängt und nicht von einem speziellen Punkt x0 in Df !

– Lipschitz-stetige Funktionen sind gleichmäßig stetig (vgl. Beweis von Pro-position VI.4).

– f (x) =√

x, x ∈ [0, 1], ist gleichmäßig stetig (obwohl nicht Lipschitz-stetig).

– f (x) = 1x , x ∈ (0, 1], ist stetig, aber nicht gleichmäßig stetig;

Abb. 22.2 illustriert, dass im letzten Fall für " > 0 fest ı → 0 für x0 → 0 gilt!

Beispiele VI.41

Page 16: Analysis I || Stetige Funktionen

86 VI Stetige Funktionen

Abb. 22.2: f (x) = 1x , x ∈ (0, 1], ist nicht gleichmäßig stetig

Ist K ⊂R kompakt und f : K → R stetig, so ist f gleichmäßig stetig.Satz VI.42

Beweis. Angenommen, f ist nicht gleichmäßig stetig auf K . Dann gilt:

∃ "0 > 0 ∀ n ∈ N ∃ xn, yn:(|xn − yn| <

1

n∧ |f (xn) − f (yn)| ≥ "0

).

Da K kompakt ist, enthält(xn)n∈N⊂K eine in K konvergente Teilfolge (xnk )k∈N. Wegen|xnk − ynk | < 1

nk→ 0, k → ∞, ist dann

� := limk→∞

xnk = limk→∞

ynk .

Da f stetig ist, folgtf (�) = lim

k→∞f (xnk ) = lim

k→∞f (ynk )

und damit der Widerspruch 0 < "0 ≤ |f (xnk ) − f (ynk )| → 0, k → ∞ �.

Zum Schluss des Abschnitts sehen wir noch, dass sich Stetigkeit und Monotonie aufdie Umkehrfunktion übertragen, falls diese existiert.

Es seien I ⊂ R ein Intervall und f : I → R eine stetige streng monotone Funktion.Dann ist f : I → f (I) bijektiv, und die Umkehrfunktion

f −1: f (I) → I

ist stetig und streng monoton im selben Sinn wie f .

Satz VI.43

Beweis. Der Beweis ist eine gute Übung, um die Definition der Stetigkeit und derMonotonie zu festigen (Aufgabe VI.6).

Bemerkung. Die Notation f −1 wird sowohl für die Umkehrfunktion benutzt als auchmanchmal für 1

f ; die Unterscheidung muss jeweils der Zusammenhang liefern.

Page 17: Analysis I || Stetige Funktionen

22 Sätze über stetige Funktionen 87

und Beispiel. Die Funktion exp:R→ (0,∞) ist stetig, streng monoton wachsendund bijektiv. Ihre Umkehrfunktion

ln := (exp)−1: (0,∞) → R,

der natürliche Logarithmus, ist stetig und streng monoton wachsend mit

(i) ln(x · y) = ln(x) + ln(y), ln(xn) = n ln(x), x, y ∈ (0,∞), n ∈ N;

(ii) ln(1) = 0, ln(e) = 1;

(iii) limx↘0 ln(x) = −∞, limx→∞ ln(x) = ∞.

Satz VI.44

Beweis. Als Potenzreihe ist exp:R → R stetig (Beispiel VI.14). Weiter gilt:

x > 0 �⇒ exp(x) = 1 +∞∑

n=1

xn

n!> 1, x < 0 �⇒ exp(x) =

1

exp(−x)< 1.

Damit folgt mit Hilfe der Funktionalgleichung (Satz V.47 (ii)) für x, y ∈ R:

x < y �⇒ x − y < 0 �⇒ exp(x) = exp(y)︸ ︷︷ ︸>0

· exp(x − y)︸ ︷︷ ︸<1

< exp(y).

Als streng monotone Funktion ist exp injektiv auf R. Aus dem Zwischenwertsatz(Satz VI.32) und limx→−∞ exp(x) = 0, limx→∞ exp(x) = ∞ (Beispiel VI.30) folgtexp(R) = (0,∞). Die Behauptungen ergeben sich dann alle aus Satz VI.43 und denEigenschaften der Exponentialfunkion (Satz V.47, Beispiel VI.30).

Bemerkung. Der natürliche Logarithmus ln (logarithmus naturalis, auch log) ist derSpezialfall des Logarithmus loga zu einer Basis a > 0, wenn man als Basis e wählt;dabei ist loga die Umkehrfunktion der Funktion

R→ (0,∞), x �→ ax := exp(x ln(a)). (22.1)

Übungsaufgaben

VI.1. Für welche k ∈ N0 sind die Funktionen fk :R→ R definiert durch

fk(x) :=

{xk sin

(1x

), x �= 0,

0, x = 0,

stetig? Skizziere die Graphen für ein stetiges und ein unstetiges fk!

VI.2. Beweise die Stetigkeitsregeln aus Satz VI.8.

VI.3. Zeige, dass für alle x, y ∈ R folgende Identitäten gelten:

a) exp(ix) = cos(x) + i sin(x);

b) sin2(x) + cos2(x) = 1;

c) sin(x + y) = cos(x) sin(y) + cos(y) sin(x);

d) cos(x + y) = cos(x) cos(y) − sin(x) sin(y).

Page 18: Analysis I || Stetige Funktionen

88 VI Stetige Funktionen

VI.4. Beweise die Aussagen

a) {x ∈ (0, ∞) : cos(x) = 0} �= ∅;

b) 1 − x2

2 ≤ cos(x) ≤ 1 − x2

2 + x4

24 , x ∈ (0, 3].

Setze� := 2 · inf{x ∈ (0,∞) : cos(x) = 0},

und zeige die Äquivalenzen:

c) sin(x) = 0 ⇐⇒ ∃ k ∈ Z: x = k�;

d) cos(x) = 0 ⇐⇒ ∃ k ∈ Z: x = k� + �2 .

VI.5. Zeige, dass gilt:

a) 7.8mmf (x) =√

x, x ∈ [0, 1], ist gleichmäßig stetig, aber nicht Lipschitz-stetig;

b) f (x) = 1x, x ∈ (0, 1], ist nicht gleichmäßig stetig.

VI.6. Beweise Satz VI.43 über die Stetigkeit und Monotonie der Umkehrfunktion.