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ANDREÏ MAKINE | Das französische Testament

ANDREÏ MAKINE Das französische Testament · PDF fileAndreï Makine wurde 1957 in Sibirien geboren. Er studierte Philologie in Moskau und Twer. Durch seine französische Großmutter

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ANDREÏ MAKINE | Das französische Testament

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Über das Buch

»›Das französische Testament‹ fügt historische Rückblende, atmosphä-rische Schilderungen und Seelenbilder zu einem großen Ganzen zu-sammen.« Hamburger Abendblatt

»Eine Prosa, die sich in den stärksten Momenten in zarteste Poesie ver-wandelt.« Rheinischer Merkur

»Es bleibt der überwältigende Zauber einer ›Sprache des Staunens‹, mitder hier, in einem allen Moden fernen Roman, europäische Geschichtedes 20. Jahrhunderts unaufdringlich und doch eindringlich gestaltetwird.« Brigitte

»Ein wundervoll poetisches Buch.« Welt am Sonntag

»Mit seiner Sprachmagie vermag Makine den Leser bis zum letztenKapitel zu fesseln.« NDR Kulturtipp

»Ein mitunter geradezu sinnlicher Lesegenuss.« Abendzeitung München

»Makine erzeugt eine atmosphärische Dichte, die so gefangen nimmt,dass es nach dem letzten Buchstaben schwerfällt, sich aus diesem Bannzu lösen.« Süddeutsche Zeitung

»Einer der sensibelsten Romane überhaupt, frisch, süffig, lebhaft, beseeltvon jugendlichem Beben, kurz: ein Wunder.« Nouvel Observateur

Über den Autor

Andreï Makine wurde 1957 in Sibirien geboren. Er studierte Philologiein Moskau und Twer. Durch seine französische Großmutter wurde erschon als Kind mit der Sprache und Kultur Frankreichs vertraut ge-macht. Seit 1987 lebt er in Paris. 1995 wurde er mit dem Roman »Dasfranzösische Testament« international bekannt.

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ANDREÏ MAKINE

Das französischeTestament

Roman

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Le Testament Françaisbeim Verlag Mercure de France, Paris

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Holmen Book Cream liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

Vollständige Taschenbuchneuausgabe 08/2008Copyright © Editions Mercure de France 1995Deutsche Ausgabe: Copyright © 1997 by Hoffmann und Campe Verlag, HamburgCopyright © 1999 by Wilhelm Heyne Verlag, MünchenCopyright © dieser Ausgabe 2008 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHHerstellung | Helga SchörnigUmschlagillustration | © Ralph GibsonUmschlaggestaltung | Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, München –Zürich, Teresa MutzenbachSatz | C. Schaber Datentechnik, WelsDruck und Bindung | GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany 2008978-3-453-35264-3http://www.diana-verlag.de

SGS-COC-1940

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Für Marianne Véron und Herbert LottmannFür Laura und Thierry de MontalembertFür Jean-Christophe

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»… mit kindlichem Vergnügen und tief bewegt nenne ich hier ihren richtigen Namen, stellvertretend für die Namen vieler anderer, die genauso handeln mussten und durch die Frankreich gerettet worden ist …«

Marcel Proust Die wiedergefundene Zeit

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»Soll der Sibirier vielleicht den Himmel um Oliven bitten, und der Provenzale um Klukwa?«

Joseph de Maistre Die Abende von Sankt-Petersburg

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»Ich befragte den russischen Schriftsteller nach seiner Arbeitsweise und war verblüfft, dass er seine Bücher nicht selbst übersetzt hat, denn er sprach ein astreines Französisch, nur ein bisschen langsamer, wegen seines feinsinnigen Geistes.Er gestand mir, dass ihn die Académieund ihr Wörterbuch erschauern ließen.«

Alphonse Daudet Dreißig Jahre in Paris

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Teil 1

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Ich war noch ein Kind, da ahnte ich, dass dieses eigen-tümliche Lächeln einen sonderbaren kleinen Sieg für

jede Frau darstellte. Ja, eine kurzzeitige Revanche für die ent-täuschten Hoffnungen, die Grobheit der Männer, die Selten-heit des Wahren und Schönen im Leben. Wäre ich damalsimstande gewesen, es auszudrücken, ich hätte diese Art zulächeln »weiblich« genannt … Doch zu jener Zeit haftetemeine Sprache noch zu sehr an den Gegenständen. Ich be-gnügte mich damit, in unseren Fotoalben die Gesichter derFrauen zu erforschen und das Aufleuchten der Schönheit ineinigen von ihnen zu entdecken.

Diese Frauen wussten alle, was sie tun mussten, um schönzu sein, nämlich, kurz bevor das Blitzlicht sie blendete, jenegeheimnisvolle französische Silbenfolge sprechen, derenSinn nur wenige kannten: »pe-tite-pomme …« Statt sich inheiterer Verzückung oder ängstlicher Verkrampfung zu ver-ziehen, rundete sich der Mund anmutig wie durch einWunder. Das ganze Gesicht war wie verwandelt. Die Brauenwölbten sich leicht, die Wangen dehnten sich. Man sagte»petite pomme«, und ein Hauch von träumerischer Abwe-senheit verschleierte den Blick, ließ die Gesichtszüge edlererscheinen, tauchte die Aufnahme in das gedämpfte Lichtverflossener Tage.

Auf diesen fotografischen Zauber hatten sich die unter-schiedlichsten Frauen verlassen. Jene Moskauer Verwandte

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zum Beispiel, die auf der einzigen Farbaufnahme in unserenAlben zu sehen ist. Sie war mit einem Diplomaten verhei-ratet, sprach, ohne den Mund aufzumachen, und stöhnteschon gelangweilt, bevor jemand auch nur ein Wort gesagthatte. Auf dem Foto von ihr bemerkte ich jedoch sofort denZauber des »petite pomme«.

Ich entdeckte seinen Widerschein in den Zügen der unbe-kannten Tante, einer unscheinbaren Kleinstädterin, über dienur gesprochen wurde, wenn von den Frauen die Rede war,die nach dem Männer verschlingenden letzten Krieg keinenEhemann gefunden hatten. Selbst Glacha, die Bäuerin in derFamilie, trug auf den wenigen Aufnahmen, die uns von ihrgeblieben waren, dieses wunderbare Lächeln. Schließlich warda noch ein ganzer Schwarm junger Cousinen, die in denendlos langen Sekunden des Stillhaltens ihre Lippen aufwar-fen beim Versuch, sich den flüchtigen französischen Charmezu geben. Als sie ihr »petite pomme« murmelten, glaubtensie noch, das künftige Leben würde allein aus solchen an-mutigen Augenblicken gewebt sein …

In diese endlose Reihe von Blicken und Gesichterndrängte sich gelegentlich das Bild einer Frau mit ebenmäßi-gen, feinen Gesichtszügen und großen, grauen Augen. Alsjunges Mädchen war ihr Lächeln, in den ältesten Alben, er-füllt vom geheimnisvollen Zauber des »petite pomme«. Mitden Jahren verblasste dieser Ausdruck, und in den immerneueren und näher an unsere Gegenwart rückenden Albenwurde er von einem Schleier aus Melancholie und Schlicht-heit überschattet.

Aber diese Frau, eine in der verschneiten, unermesslichweiten Landschaft Russlands verlorene Französin, hatte ih-nen das Zauberwort beigebracht, das schön machte. Meine

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Großmutter mütterlicherseits … Sie war zu Beginn des Jahr-hunderts in Frankreich geboren worden als Kind von Nor-bert und Albertine Lemonnier. Das Geheimnis des »petitepomme« war wahrscheinlich die allererste Legende, die un-sere Kindheit bezauberte. Und sicher lieferte sie die erstenWorte aus jener Sprache, die meine Mutter scherzhaft meine»Großmuttersprache« nannte.

Eines Tages fiel mir ein Foto in die Hände, das ich nicht hättesehen sollen … Ich verbrachte die Ferien bei meiner Groß-mutter in einer Stadt am Rande der russischen Steppe, in diees sie nach dem Krieg verschlagen hatte. Es war an einemheißen Sommertag, die Sonne neigte sich langsam demAbend entgegen und tauchte das Zimmer in malvenfarbenesRot. Dieser etwas unwirkliche Schein legte sich über dieFotos, die ich am offenen Fenster betrachtete. Es waren dieältesten Aufnahmen in unseren Alben. Sie hatten die Revolu-tion von 1917 überstanden, führten in die unvordenklichenZeiten des Zaren zurück und ließen sie wieder lebendig wer-den, vor allem aber durchstießen sie den damals sehr dichtenEisernen Vorhang und brachten mich einmal zu einer goti-schen Kathedrale, ein anderes Mal auf die Wege eines Gar-tens, dessen vollkommene Geometrie mich ratlos machte.Ich tauchte in die Ahnengeschichte unserer Familie ein …

Und plötzlich dieses Foto!Ich erblickte es, als ich aus reiner Neugier einen großen

Umschlag öffnete, der zwischen der letzten Seite und demEinband herausgerutscht war. Es handelte sich um einen derunvermeidlichen Stapel von Abzügen, die man nicht für werterachtet, auf den spröden Karton der Albumblätter geklebtzu werden: Landschaften, deren Herkunft man nicht mehr

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kennt, Gesichter, an denen niemand hängt oder an die sichkeiner erinnert. Ein Stapel, den man endlich einmal sichtenmüsste, um über den Verbleib all dieser armen Seelen zu ent-scheiden …

Zwischen diesen Unbekannten und den längst in Verges-senheit geratenen Landschaften sah ich sie. Eine junge Frau,deren Kleidung sich auf eigenartige Weise von der Eleganzder Leute unterschied, die auf den anderen Fotos zu sehenwaren. Sie trug eine weite, wattierte Jacke in schmutzigemGrau und eine Tschapka mit heruntergeklappten Ohren-schützern. Sie hatte sich mit einem Baby ablichten lassen, dassie, eingemummt in eine Wolldecke, an die Brust drückte.

»Wie hat sie es nur geschafft«, fragte ich mich, »sich beidiesen Männern und Frauen in Frack und Abendrobe ein-zuschleichen?« Was hatte sie zwischen all diesen Aufnahmenvon Prachtstraßen, diesen Wandelhallen, diesen südländi-schen Ausblicken zu suchen? Sie schien aus einer anderenZeit, aus einer anderen Welt, unerklärlich. In ihrer Aufma-chung, die heutzutage nur noch Frauen tragen, die im Win-ter auf den Straßen den Schnee schippen, schien sie ein Ein-dringling in unserer Ahnengeschichte zu sein …

Ich hatte meine Großmutter nicht hereinkommen hören.Sie legte ihre Hand auf meine Schulter. Ich schreckte auf,dann zeigte ich ihr das Foto und fragte: »Wer ist diese Frau?«

Für einen Augenblick blitzte in dem sonst unerschütter-lich ruhigen Blick meiner Großmutter Bestürzung auf. Aberfast unbekümmert fragte sie zurück: »Welche Frau?«

Wir hielten beide inne und spitzten die Ohren. Ein eigen-artiges Knistern lag im Raum. Meine Großmutter wandtesich um und rief plötzlich und, wie mir schien, voller Freude:

»Ein Totenkopf! Sieh mal, ein Totenkopf!«

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Ich sah einen großen, braunen Falter, eine abendlicheSphinx, die zitternd einen Weg in die trügerische Tiefe desSpiegels suchte. Mit ausgestreckter Hand stürzte ich michauf ihn und fühlte schon das Kitzeln seiner samtigen Flügelin meinen Handflächen … Jetzt erst bemerkte ich die außer-gewöhnliche Größe des Schmetterlings. Ich pirschte michheran und konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken:

»Das sind ja zwei! Es sind siamesische Zwillinge!«Die beiden Falter schienen tatsächlich aneinander zu kle-

ben. Ihre Leiber wurden von fieberhaften Zuckungen ge-schüttelt. Zu meiner Überraschung schenkte mir diese dop-pelte Sphinx keinerlei Aufmerksamkeit und versuchte nichtzu entkommen. Bevor ich sie einfing, konnte ich die wei-ßen Flecken auf ihrem Rücken betrachten, den berühmtenTotenkopf.

Die Frau in der wattierten Jacke war vergessen. Ich ver-folgte den Flug der freigelassenen Sphinx, die sich in der Luftin zwei Schmetterlinge teilte, und mit dem Verständnis einesZehnjährigen begriff ich den Grund für diese Vereinigung.Das erklärte für mich auch die Bestürzung meiner Groß-mutter.

Die Jagd auf die Sphinx der sich paarenden Schmetter-linge rief in mir die Erinnerung an zwei weiter zurücklie-gende Ereignisse wach, die zu den geheimnisvollsten meinerKindheit zählen. Die erste, in mein achtes Lebensjahr zu-rückreichende Erinnerung beschränkt sich auf einige Zeilenaus einem alten Lied, das meine Großmutter manchmalkaum hörbar sang oder vielmehr vor sich hin murmelte,wenn sie über ein Kleidungsstück gebeugt auf ihrem Balkonsaß, einen Kragen flickte oder Knöpfe annähte. Insbeson-dere der letzte Vers des Lieds verzückte mich:

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… Und dort würden wir schlafen bis ans Ende der Welt.

Dieser unendliche Schlaf der Liebenden überstieg meinekindliche Vorstellungskraft. Ich wusste bereits, dass Men-schen, die sterben (wie die alte Nachbarsfrau, deren Ver-schwinden man mir im letzten Winter so ausführlich erklärthatte), für immer einschlafen. War dies der Schlaf der Lie-benden aus dem Lied? In der Folge bildeten die Liebe undder Tod eine seltsame Einheit in meinem Köpfchen. Dieschöne, melancholische Melodie tat das Ihre, um meine Ver-wirrung zu steigern. Die Liebe, der Tod, die Schönheit …Dazu dieser Abendhimmel, der Wind, der Duft der Steppe,den ich mit dem Lied in mir aufnahm, als hätte ich erst indiesem Augenblick zu leben begonnen.

Die zweite Erinnerung reichte noch viel weiter zurück ineine unbestimmte Zeit. Sie war so nebelhaft, dass ich michselbst darin nicht klar erkennen konnte, und bestand nuraus dem überwältigenden Eindruck des Lichts, dem würzi-gen Duft von Kräutern und jenen Silberfäden, die das tiefeBlau des Himmels kreuzten – Jahre später sollte ich daraneinen Altweibersommer erkennen. Obgleich unbegreiflichund verworren, war mir dieser Widerschein eines Herbst-tages doch lieb, denn ich konnte mir einreden, dass es sichdabei um eine vorgeburtliche Prägung handelte. Ja, dass erein Echo meiner französischen Abkunft war. Denn die Be-standteile dieser Erinnerung waren mir in einer Erzählungmeiner Großmutter wiederbegegnet: die Herbstsonne aufihrer Reise in die Provence, der Duft der Lavendelfelder, selbstdas Flimmern des Altweibersommers in der wohlriechendenLuft. Aber ich hätte mich nie getraut, ihr von meinem kind-lichen Wissen um die Vergangenheit zu erzählen. LZ

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Im darauffolgenden Sommer sahen meine Schwester und ichmeine Großmutter eines Tages weinen … zum ersten Mal.

In unseren Augen war sie eine Art gerechte und wohlwol-lende Göttin, immer sich selbst gleich und vollkommen er-füllt von ihrem eigenen heiteren Wesen. Ihre längst sagen-umwobene Lebensgeschichte machte sie erhaben über dieKümmernisse gewöhnlicher Menschen. Wir sahen keineTränen. Nur das schmerzliche Zucken ihrer Lippen, dasleichte Beben auf ihren Wangen, das schnelle Auf und Abihrer Lider …

Wir saßen auf dem Teppich zwischen zerknüllten Papier-chen und waren in ein aufregendes Spiel vertieft: Wir wickel-ten kleine Kieselsteine aus weißen »Tütchen« und verglichensie – mal war es ein Quarzsplitter, mal ein glatter, angenehmin der Hand liegender Kiesel. Auf den Tüten standen Namen,die wir in unserer Ahnungslosigkeit für geheimnisvolle mi-neralogische Benennungen hielten: Fécamp, La Rochelle,Bayonne … In einer dieser Hüllen entdeckten wir auch einenrauen, eisernen Splitter mit Rostspuren. Wir dachten, denNamen dieses eigenartigen Metalls zu lesen: »Verdun« …Viele Steine aus der Sammlung lagen bereits ausgepackt da,als unsere Großmutter hereinkam. In unser Spiel war Bewe-gung gekommen: Wir verhandelten gerade, welche Steine dieschönsten seien, und prüften ihre Härte, indem wir sie anei-nanderschlugen. Manchmal zerbrachen sie dabei. Jene, dieuns hässlich erschienen – der »Verdun« zum Beispiel – wur-den aus dem Fenster geworfen und landeten einen Stock tieferim Dahlienbeet. Schon waren mehrere Tütchen zerrissen …

Großmutter erstarrte, als sie das von zerknüllten, weißenPapierchen übersäte Schlachtfeld erblickte. Wir sahen zu ihrauf. In diesem Augenblick schienen ihre grauen Augen sich

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mit Tränen zu füllen – gerade so viel, dass ihr Blick unerträg-lich für uns wurde.

Nein, sie war keine unerschütterliche Göttin. Auch siekonnte in Bedrängnis geraten, von jäher Traurigkeit ergriffenwerden. Auch sie, von der wir geglaubt hatten, sie bewegesich immer so ruhig und bedächtig durch den Tag, auch siegeriet bisweilen an den Rand der Tränen!

Seit jenem Sommer zeigte mir das Leben meiner Groß-mutter immer neue, unerwartete Facetten. Und vor allemviel persönlichere.

Zuvor erschöpfte sich ihre Vergangenheit in wenigen An-denken und familiären Erbstücken, wie dem seidenen Fä-cher, der mich an ein zartes Ahornblatt erinnerte, oder diedenkwürdige »Tasche vom Pont-Neuf«. Man erzählte sich,Charlotte Lemonnier habe sie im Alter von vier Jahren aufbesagter Brücke gefunden. Sie soll ihrer Mutter vorausgeeilt,dann plötzlich wie angewurzelt stehen geblieben sein undgerufen haben: »Eine Tasche!« Über ein halbes Jahrhundertspäter klang ihre wohltönende Stimme wie ein zartes Echodavon irgendwo in einer Stadt unter der Sonne der endlosweiten Steppen Russlands. In dieser schweinsledernen Ta-sche mit blau emailliertem Bügel bewahrte meine Großmut-ter ihre Sammlung alter Steine auf.

An diese alte Umhängetasche waren ihre frühesten Erin-nerungen geknüpft, und uns eröffnete sie die märchenhafteWelt ihrer Vergangenheit: Paris, Pont-Neuf … Ein im Ent-stehen begriffenes Sternsystem, das uns staunen ließ unddessen noch verschwommene Umrisse sich vor unserem ge-bannten Blick abzeichneten.

Übrigens gab es unter diesen Überresten aus der Vergan-genheit (ich erinnere mich, wie lustvoll wir über den glatten

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Goldschnitt kitschiger Schmöker wie Mémoires d’un caniche,La Sœur de Gribouille etc. streichelten) ein noch älteres Zeug-nis. Das Foto stammte schon aus Sibirien: Albertine, Norbertund vor ihnen, auf einer Erhöhung, einem seltsam hohenGueridon-Tisch – ein Arrangement, wie es bei Fotografenüblich ist –, ein Kind von zwei Jahren in Spitzenhaube undRüschenkleid: Charlotte. Diese Aufnahme auf dickem Pa-pier mit dem Namen des Fotografen und dem Abdruck allerAuszeichnungen, die er jemals erhalten hatte, beschäftigteuns sehr: »Was verbindet diese hinreißende Frau mit denklaren und feinsinnigen, von seidigen Locken umrahmtenZügen mit diesem Greis, dessen weißer Bart in zwei steifeHaarstränge geteilt ist, die aussehen wie die Stoßzähne einesWalrosses?«

Wir wussten bereits, dass der Greis, unser Urgroßvater,sechsundzwanzig Jahre älter war als Albertine. »Als ob er seineeigene Tochter geheiratet hätte!«, wandte meine Schwesterempört ein. Ihre Verbindung erschien uns anrüchig, un-natürlich. Unsere Lesebücher aus der Schule wimmelten vonErzählungen über die Heirat eines jungen Mädchens ohneMitgift mit einem reichen, geizigen Greis, den es nach jun-gem Blut gelüstete. Sie waren so zahlreich, dass wir uns keineandere eheliche Verbindung innerhalb der bürgerlichen Ge-sellschaft vorstellen konnten. Wir gaben uns alle Mühe, inNorberts Gesichtszügen die Spuren einer abgründigen Ver-derbtheit, die Fratze einer kaum verhohlenen Zufriedenheitausfindig zu machen. Doch sein Gesicht blieb unwandelbarschlicht und offen wie das der unerschrockenen Abenteureraus den Bebilderungen unserer Jules-Verne-Bücher. Außer-dem war der alte Mann mit dem langen weißen Bart zur Zeitder Aufnahme gerade einmal achtundvierzig Jahre alt …

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Albertine aber, das mutmaßliche Opfer bürgerlicher Sit-ten, sollte schon bald am abschüssigen Rand eines offenenGrabes stehen, in das bereits die ersten Schaufeln Erde ge-schippt wurden. Angeblich hatte sie sich mit solcher Kraftgegen die sie zurückhaltenden Hände gewehrt und so herz-zerreißende Schreie ausgestoßen, dass selbst die Russen, dieauf dem Friedhof jener abseits gelegenen sibirischen Stadtzur Trauerfeier versammelt waren, wie betäubt davon ge-wesen sein sollen. Zwar waren sie in ihrer Heimat tragischeSzenen bei Begräbnissen gewohnt, auch Tränenströme underschütternde Klagen, doch vor der gemarterten Schönheitdieser jungen Französin standen sie wie versteinert da. Siesoll sich auf das Grab geworfen und in ihrer klangvollenSprache geschrien haben: »Stoßt mich hinunter! Werft michhinterher!«

Dieses entsetzliche Wehklagen hallte noch lange in unse-ren kindlichen Ohren nach.

»Vielleicht … hat sie ihn geliebt …«, sagte eines Tagesmeine Schwester, die älter war als ich. Und dabei errötete sie.

Mehr noch als die ungewöhnliche Verbindung zwischenNorbert und Albertine weckte Charlotte auf diesem Fotovom Beginn des Jahrhunderts meine Neugier. Vor allem ihrenackten, kleinen Zehen. Ob es die Ironie des Zufalls war oderunbeabsichtigte Koketterie, jedenfalls hatte sie mit aller Kraftdie Zehen angezogen. Diese harmlose Beobachtung verliehder Aufnahme, die alles in allem sehr gewöhnlich war, einebesondere Bedeutung. Da ich für meine Gedanken keineWorte fand, begnügte ich mich damit, mir im Stillen immerwieder dieselben Gedanken vorzusprechen: »Ein kleinesMädchen, das an einem für immer vergangenen Sommertag,am 22. Juli 1905, im hintersten Winkel Sibiriens, aus wel-

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chem Grund auch immer auf diesem seltsamen Gueridon-Tisch sitzt. Jawohl, eine winzige Französin, die an jenem Tagihren zweiten Geburtstag feiert, ein Kind, das den Fotografenanblickt und aus einer Laune heraus, ohne erkennbarenGrund seine unglaublich zierlichen Zehen anzieht, und dasmich diesen Tag kosten, seine Wärme, sein Wetter, seineFarbe spüren lässt …«

Das Geheimnis dieses Kindes und seiner Ausstrahlung er-schien mir so schwindelerregend, dass ich die Augen schloss.Dieses Kind war … unsere Großmutter. Dieselbe, die sich anjenem Abend vor unseren Augen bückte und schweigend dieauf dem Teppich verstreuten Bruchstücke der Steine aufhob.Fassungslos und beschämt drückten wir uns mit dem Rü-cken an die Wand, unfähig, ein Wort der Entschuldigunghervorzubringen oder meiner Großmutter beim Einsam-meln der versprengten Andenken zu helfen. Obwohl sie denBlick gesenkt hatte, ahnten wir, dass ihr die Tränen in denAugen standen.

An dem Abend unseres frevelhaften Spiels hatten wirkeine wohlgesinnte Fee aus vergangenen Zeiten mehr voruns, die uns Geschichten von Blaubart oder Dornröschenerzählte, sondern eine verletzte und trotz ihrer Seelenstärkeempfindsame Frau. Für sie war jener bange Augenblick ein-getreten, in dem der Erwachsene sich plötzlich verrät, in demseine Schwäche durchscheint und er wie der König nackt vorden aufmerksamen Augen eines Kindes steht. In diesem Mo-ment erinnert er an einen Seiltänzer, der einen falschenSchritt getan hat und der in den Sekunden, in denen er dasGleichgewicht sucht, nur durch den Blick des ob seiner un-verhofften Macht betretenen Zuschauers vor dem Absturzbewahrt wird.

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Sie schloss die »Tasche vom Pont-Neuf«, brachte sie in ihrZimmer zurück und rief uns dann zu Tisch. Nach einerWeile des Schweigens wandte sie sich mit ausgeglichener undruhiger Stimme auf Französisch an uns, während sie mit denüblichen Handgriffen Tee eingoss:

»Unter den Steinen, die ihr weggeworfen habt, war einer,den ich gerne wiederhätte …«

Und im selben unbeteiligten Tonfall, immer noch aufFranzösisch, wenngleich wir während der Mahlzeiten (dahäufig unverhofft Freunde oder Nachbarn zu Besuch kamen)meistens russisch sprachen, erzählte sie von der Parade derGrande Armée und dem kleinen braunen Kieselstein namens»Verdun«. Wir begriffen kaum etwas von dem, was sie be-richtete – aber wir waren gebannt von ihrem Tonfall. UnsereGroßmutter sprach mit uns wie mit Erwachsenen! Wir hatteneinen hübschen, schnauzbärtigen Offizier vor Augen, der sichaus den Reihen des Siegesmarsches löste, auf eine junge, inder begeisterten Menschenmenge eingezwängte Frau zugingund ihr einen braunen Metallsplitter schenkte …

Mit einer Taschenlampe bewaffnet, durchkämmte ichnach dem Abendessen mehrmals das Dahlienbeet vor unse-rem Haus, aber der »Verdun« blieb verschwunden. Ich ent-deckte ihn am nächsten Morgen auf dem Bürgersteig – einkleiner, rostiger Stein zwischen Zigarettenstummeln, Glas-scherben, Sandspuren. Zu meinen Füßen stach er aus diesemgewöhnlichen Umfeld hervor wie ein Meteorit aus einemunbekannten Sonnensystem, und dabei wäre er beinahe imKies einer Allee verschollen geblieben …

Auf diesem Wege erfuhren wir von den versteckten Tränenunserer Großmutter und konnten uns ihren französischen

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Geliebten vorstellen, der unserem Großvater Fjodor voraus-ging: Ja, der feurige Offizier der Grande Armée, der Mann,der Charlotte den rauen Splitter aus Verdun in die Hand ge-drückt hatte, lebte in ihrem Herzen. Diese Entdeckung warverwirrend. Wir hatten das Gefühl, durch ein Geheimnis,das vielleicht sonst niemand in der Familie kannte, mit ihrverbunden zu sein. Hinter den Jahreszahlen und Geschich-ten unserer Familie sahen wir nunmehr das Leben in seinerganzen schmerzlichen Schönheit hervorscheinen.

Am Abend setzten wir uns zu unserer Großmutter aufden kleinen Balkon ihrer Wohnung. Von Blumen umrankt,schien er über dem heißen Dunst der Steppen zu schweben.Eine glühende Kupfersonne streifte den Horizont, verweilteeinen Moment unentschlossen, bis sie urplötzlich unterging.Die ersten Sterne zitterten am Himmel. Der Abendwind trugstarke, eindringliche Düfte zu uns herauf.

Wir schwiegen. Solange es hell war, stopfte unsere Groß-mutter eine Bluse, die auf ihren Knien lag. Als sich dann derultramarine Schatten über uns gelegt hatte, hob sie den Kopfvon ihrer Handarbeit, und ihr Blick verlor sich in der Weiteder dunstverhangenen Ebene. Ängstlich darauf bedacht, ihrSchweigen nicht zu stören, musterten wir sie von Zeit zu Zeitmit verstohlenen Blicken: Würde sie uns ein neues, nochstrenger gehütetes Geheimnis anvertrauen oder ihre Lampemit dem türkisen Lampenschirm holen und uns, als wärenichts geschehen, einige Seiten von Daudet oder Jules Vernevorlesen, die uns an den langen Sommerabenden häufigbegleiteten? Ohne es uns einzugestehen, lauerten wir auf ihrerstes Wort, darauf, wie es wohl klingen würde. Wie der Zu-schauer auf den nächsten Schritt des Seiltänzers, so wartetenwir mit einer fast unerbittlichen Neugierde und einem unbe-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Andreï Makine

Das französische TestamentRoman

Taschenbuch, Broschur, 336 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-453-35264-3

Diana

Erscheinungstermin: Juli 2008

Poetisch, anrührend, unvergesslich! Jeden Sommer verbringt Aljoscha bei seiner französischen Großmutter Charlotte in Sibirien.Eines Tages findet er einen Koffer, angefüllt mit Bildern und Erinnerungsstücken aus ihrerKindheit. Und so lässt sie vor den Augen ihres Enkels das Paris des Fin de Siècle auferstehenund entführt ihn aus dem tristen Sowjetalltag in eine faszinierende, versunkene Welt …