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Rechtsprechung MedR 2003, Heft 3 169 Anforderungen an die Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers BGB § 823; ZPO § 286 Der Tatrichter darf einen groben Behandlungsfehler nicht ohne ausreichende Grundlage in den medizini- schen Darlegungen des Sachverständigen bejahen (im Anschluss an die ständige Rechtsprechung des BGH, zuletzt BGH, Urt. v. 3. 7. 2001 – VI ZR 418/99 –, NJW 2001, 2795 = VersR 2001, 1116 m.w.N.). BGH, Urt. v. 28. 5. 2002 – VI ZR 42/01 (OLG Karlsruhe) Zum Sachverhalt: Der Bekl., ein niedergelassener Orthopäde und Sportarzt, behandelte den Kl. ab dem 1. 9. 1993 nach dessen Ent- lassung aus dem Krankenhaus, wo der Kl. wegen mehrerer Frakturen des rechten Sprunggelenks operativ mittels Osteosynthese (Platten und Schrauben) versorgt worden war. Nachdem der Bekl. am 2. 11. 1993 im Krankenblatt „Auflockerung am Innenknöchel, distaler Außenknöchel ebenfalls aufgelockert“ vermerkt hatte, überwies er den Kl. zur „Metallentfernung“ ins Krankenhaus. Der Kl. stellte sich am 3. 11. 1993 in der Ambulanz der chirurgischen Klinik vor, ohne das vom Bekl. gefertigte Röntgenbild und dessen „Verordnung von Krankenhauspflege“ mit Diagnose und entsprechendem Therapievor- schlag (Metallentfernung) vorzulegen. Eine Assistenzärztin im 1. Aus- bildungsjahr diagnostizierte einen Infekt mit Fistel. Sie nahm eine Ul- traschalluntersuchung und einen Abstrich vor. In dem an den Bekl. gerichteten Arztbericht empfahl sie eine antibiotische Therapie mit Sobelin; die Metallentfernung sei nach einem halben Jahr oder bei vollständigem knöchernen Durchbau möglich. Am 4. 11. 1993 kehrte der Kl. in die ambulante Behandlung des Bekl. zurück, der sich ent- sprechend der im Arztbrief des Krankenhauses ausgesprochenen Emp- fehlung – ohne dort Rücksprache zu halten – auf eine Therapie mit Antibiotika beschränkte und den Kl., obwohl ab Ende November 1993 auf dessen Krankenblatt „Entzündung, offene Wunde, Eiter, Fi- stelbildung“ vermerkt sind, erst im März 1994 zur Metallentfernung ins Krankenhaus überwies. Dabei wurde aufgrund einer infizierten Osteosynthese ein Knochendefekt festgestellt. In der Folge mußte sich der Kl. einer Vielzahl von operativen Revisionen und schließlich einer Gelenkversteifung (Arthrodese) unterziehen. Das LG hat die auf Zahlung materiellen und inmateriellen Scha- densersatzes gerichtete Klage abgewiesen, das OLG hat ihr stattgege- ben. Die Revision des Bekl. führte zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG. Aus den Gründen: I. […] II. […] 1. Das Berufungsgericht ist allerdings ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, daß dem Bekl. ein schuldhafter Be- handlungsfehler zu Lasten des Kl. dadurch unterlaufen ist, daß er sich trotz seiner richtigen Diagnose und der Über- weisung des Kl. in das Krankenhaus zur operativen Entfer- nung des Metalls im Sprunggelenk ohne Rücksprache mit der [Klinikambulanz] mit deren Arztbrief v. 3. 11. 1993 zu- frieden gegeben und sich auf die darin empfohlene Thera- pie mit Antibiotika beschränkt hat. a) Für einen vergleichbaren Sachverhalt hat der Senat (vgl. Senatsurt. v. 8. 11. 1988 – VI ZR 320/87 –, VersR 1989, 186, 187 f.) zu den Anforderungen an einen Hausarzt entschieden, dieser dürfe sich zwar im allgemeinen darauf verlassen, daß die Klinikärzte seine Patienten richtig behan- delt und beraten haben, und dürfe meist auch auf deren bessere Sachkunde und größere Erfahrung vertrauen. An- ders sei es aber dann, wenn der Hausarzt ohne besondere weitere Untersuchungen aufgrund der bei ihm vorauszuset- zenden Kenntnisse und Erfahrungen erkenne oder erken- nen müsse, daß ernste Zweifel an der Richtigkeit der Kran- kenhausbehandlung und der dort seinem Patienten gegebe- nen ärztlichen Ratschläge bestehen. In einem solchen Fall dürfe er im Rahmen seiner eigenen ärztlichen Sorgfalts- pflichten dem Patienten gegenüber offenbare Versehen oder ins Auge springende Unrichtigkeiten nicht unter- drücken. Dasselbe muß auch gelten, wenn der Hausarzt nach den bei ihm vorauszusetzenden Erkenntnissen und Erfahrungen jedenfalls gewichtige Zweifel und Bedenken hat, ob die Behandlung im Krankenhaus richtig war. Auch sie hat er, gegebenenfalls nach Rücksprache mit den Kollegen im Krankenhaus, mit seinem Patienten zu erörtern. Kein Arzt, der es besser weiß, darf nämlich sehenden Auges eine Ge- fährdung seines Patienten hinnehmen, wenn ein anderer Arzt seiner Ansicht nach etwas falsch gemacht hat oder er jedenfalls den dringenden Verdacht haben muß, es könne ein Fehler vorgekommen sein. Das gebietet der Schutz des dem Arzt anvertrauten Patienten (zum Sorgfaltsmaßstab vgl. Senatsurt. v. 24. 6. 1997 – VI ZR 94/96 –, VersR 1997, 1357). b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze durfte das Berufungsgericht im vorliegenden Fall ohne Rechtsverstoß davon ausgehen, daß sich der Bekl. als Facharzt für Or- thopädie nicht ohne weiteres mit der seitens des Kranken- hauses übermittelten Diagnose ungeprüft zufrieden geben durfte, nachdem er selbst richtigerweise entsprechend sei- nem Vermerk auf dem Krankenblatt v. 2. 11. 1993 außer Schwellung und Schmerzhaftigkeit aufgrund der von ihm gefertigten Röntgenaufnahme auch eine „Auflockerung“ Problemstellung: Im Arzthaftungsprozess ist für den erforderlichen Nachweis, dass der festgestellte Behand- lungsfehler für den Gesundheitsschaden des Patienten ursächlich geworden ist, meistens die Beweislast prozess- entscheidend. Der Arzt trägt sie nur ausnahmsweise; u. a. bei einem groben Behandlungsfehler. Das ist keine Sanktion für grobe Fahrlässigkeit, sondern ein Ausgleich für die besonderen Erschwernisse, mit denen der Arzt die Aufklärung zum Behandlungsgeschehen belastet hat; es handelt sich also primär um eine juristische Bewer- tung unter dem Postulat der Waffengleichheit im Pro- zess. Indes muss der konkrete medizinische Sachverhalt solche rechtliche Bewertung hergeben. Die maßgeben- den Fakten für die Bewertung eines Behandlungsfehlers als „grob“ kann der Richter wie auch sonst im Arzthaf- tungsprozess in aller Regel nur mit Hilfe des medizini- schen Sachverständigen verlässlich erkennen. Seine For- derung an diese medizinische Unterfütterung der juris- tischen Bewertung hat der BGH in jüngerer Zeit wie- derholt und nachdrücklich präzisiert, um Tendenzen zu einer Herabsetzung der Schwelle für die Beweislastum- kehr wegen eines groben Behandlungsfehlers entgegen zu wirken. Im Streitfall hatte der niedergelassene Orthopäde sein weiteres therapeutisches Vorgehen an der Diagnose und Therapieempfehlung der Klinikambulanz ausgerichtet, in die er seinen Patienten wegen Anzeichen eines entzünd- lichen Prozesses im Bereich der Osteosynthese überwie- sen hatte, obschon diese Empfehlung so eindeutig un- richtig war, dass ihm das auch bei prinzipieller Zubil- ligung von Vertrauen in die Sachkunde und größere Er- fahrung einer Klinik hätte auffallen müssen. Der medizi- nische Sachverständige hatte die kritiklose Weiterbe- handlung als „nicht angängig“, „für undurchdacht“ und „für falsch“ bewertet. Daraufhin hatte das OLG einen groben Behandlungsfehler bejaht. Für den BGH blieben aber bei Würdigung der gutachtlichen Äußerungen im Gesamtzusammenhang Zweifel, ob der Sachverständige nicht nur ein Abweichen vom ärztlichen Standard ver- deutlichen wollte. Für einen groben Behandlungsfehler genügt die Signifikanz des Arztfehlers nicht; die Abwei- chung vom ärztlichen Standard muss elementaren bzw. „Basis“-Charakter haben: es muss sich objektiv um die Verletzung elementarer medizinischer Regeln handeln, die einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Auch diese Feststellung bedarf des medizinischen Sach- verstandes, u. U. eines zweiten medizinischen Gutachters.

Anforderungen an die Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers

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Page 1: Anforderungen an die Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers

Rechtsprechung MedR 2003, Heft 3 169

Anforderungen an die Beweislastumkehr wegen eines groben BehandlungsfehlersBGB § 823; ZPO § 286

Der Tatrichter darf einen groben Behandlungsfehlernicht ohne ausreichende Grundlage in den medizini-schen Darlegungen des Sachverständigen bejahen (imAnschluss an die ständige Rechtsprechung des BGH,zuletzt BGH, Urt. v. 3. 7. 2001 – VI ZR 418/99 –,NJW 2001, 2795 = VersR 2001, 1116 m.w.N.).BGH, Urt. v. 28. 5. 2002 – VI ZR 42/01 (OLG Karlsruhe)

Zum Sachverhalt: Der Bekl., ein niedergelassener Orthopädeund Sportarzt, behandelte den Kl. ab dem 1. 9. 1993 nach dessen Ent-lassung aus dem Krankenhaus, wo der Kl. wegen mehrerer Frakturendes rechten Sprunggelenks operativ mittels Osteosynthese (Plattenund Schrauben) versorgt worden war. Nachdem der Bekl. am 2. 11.1993 im Krankenblatt „Auflockerung am Innenknöchel, distalerAußenknöchel ebenfalls aufgelockert“ vermerkt hatte, überwies erden Kl. zur „Metallentfernung“ ins Krankenhaus. Der Kl. stellte sicham 3. 11. 1993 in der Ambulanz der chirurgischen Klinik vor, ohnedas vom Bekl. gefertigte Röntgenbild und dessen „Verordnung vonKrankenhauspflege“ mit Diagnose und entsprechendem Therapievor-

schlag (Metallentfernung) vorzulegen. Eine Assistenzärztin im 1. Aus-bildungsjahr diagnostizierte einen Infekt mit Fistel. Sie nahm eine Ul-traschalluntersuchung und einen Abstrich vor. In dem an den Bekl.gerichteten Arztbericht empfahl sie eine antibiotische Therapie mitSobelin; die Metallentfernung sei nach einem halben Jahr oder beivollständigem knöchernen Durchbau möglich. Am 4. 11. 1993 kehrteder Kl. in die ambulante Behandlung des Bekl. zurück, der sich ent-sprechend der im Arztbrief des Krankenhauses ausgesprochenen Emp-fehlung – ohne dort Rücksprache zu halten – auf eine Therapie mitAntibiotika beschränkte und den Kl., obwohl ab Ende November1993 auf dessen Krankenblatt „Entzündung, offene Wunde, Eiter, Fi-stelbildung“ vermerkt sind, erst im März 1994 zur Metallentfernungins Krankenhaus überwies. Dabei wurde aufgrund einer infiziertenOsteosynthese ein Knochendefekt festgestellt. In der Folge mußte sichder Kl. einer Vielzahl von operativen Revisionen und schließlicheiner Gelenkversteifung (Arthrodese) unterziehen.

Das LG hat die auf Zahlung materiellen und inmateriellen Scha-densersatzes gerichtete Klage abgewiesen, das OLG hat ihr stattgege-ben.

Die Revision des Bekl. führte zur Aufhebung des Urteils und zurZurückverweisung der Sache an das OLG.

Aus den Gründen: I. […] II. […]1. Das Berufungsgericht ist allerdings ohne Rechtsfehler

davon ausgegangen, daß dem Bekl. ein schuldhafter Be-handlungsfehler zu Lasten des Kl. dadurch unterlaufen ist,daß er sich trotz seiner richtigen Diagnose und der Über-weisung des Kl. in das Krankenhaus zur operativen Entfer-nung des Metalls im Sprunggelenk ohne Rücksprache mitder [Klinikambulanz] mit deren Arztbrief v. 3. 11. 1993 zu-frieden gegeben und sich auf die darin empfohlene Thera-pie mit Antibiotika beschränkt hat.

a) Für einen vergleichbaren Sachverhalt hat der Senat(vgl. Senatsurt. v. 8. 11. 1988 – VI ZR 320/87 –, VersR1989, 186, 187 f.) zu den Anforderungen an einen Hausarztentschieden, dieser dürfe sich zwar im allgemeinen daraufverlassen, daß die Klinikärzte seine Patienten richtig behan-delt und beraten haben, und dürfe meist auch auf derenbessere Sachkunde und größere Erfahrung vertrauen. An-ders sei es aber dann, wenn der Hausarzt ohne besondereweitere Untersuchungen aufgrund der bei ihm vorauszuset-zenden Kenntnisse und Erfahrungen erkenne oder erken-nen müsse, daß ernste Zweifel an der Richtigkeit der Kran-kenhausbehandlung und der dort seinem Patienten gegebe-nen ärztlichen Ratschläge bestehen. In einem solchen Falldürfe er im Rahmen seiner eigenen ärztlichen Sorgfalts-pflichten dem Patienten gegenüber offenbare Versehenoder ins Auge springende Unrichtigkeiten nicht unter-drücken.

Dasselbe muß auch gelten, wenn der Hausarzt nach denbei ihm vorauszusetzenden Erkenntnissen und Erfahrungenjedenfalls gewichtige Zweifel und Bedenken hat, ob dieBehandlung im Krankenhaus richtig war. Auch sie hat er,gegebenenfalls nach Rücksprache mit den Kollegen imKrankenhaus, mit seinem Patienten zu erörtern. Kein Arzt,der es besser weiß, darf nämlich sehenden Auges eine Ge-fährdung seines Patienten hinnehmen, wenn ein andererArzt seiner Ansicht nach etwas falsch gemacht hat oder erjedenfalls den dringenden Verdacht haben muß, es könneein Fehler vorgekommen sein. Das gebietet der Schutz desdem Arzt anvertrauten Patienten (zum Sorgfaltsmaßstabvgl. Senatsurt. v. 24. 6. 1997 – VI ZR 94/96 –, VersR1997, 1357).

b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze durfte dasBerufungsgericht im vorliegenden Fall ohne Rechtsverstoßdavon ausgehen, daß sich der Bekl. als Facharzt für Or-thopädie nicht ohne weiteres mit der seitens des Kranken-hauses übermittelten Diagnose ungeprüft zufrieden gebendurfte, nachdem er selbst richtigerweise entsprechend sei-nem Vermerk auf dem Krankenblatt v. 2. 11. 1993 außerSchwellung und Schmerzhaftigkeit aufgrund der von ihmgefertigten Röntgenaufnahme auch eine „Auflockerung“

Problemstellung: Im Arzthaftungsprozess ist für denerforderlichen Nachweis, dass der festgestellte Behand-lungsfehler für den Gesundheitsschaden des Patientenursächlich geworden ist, meistens die Beweislast prozess-entscheidend. Der Arzt trägt sie nur ausnahmsweise; u. a. bei einem groben Behandlungsfehler. Das ist keineSanktion für grobe Fahrlässigkeit, sondern ein Ausgleichfür die besonderen Erschwernisse, mit denen der Arztdie Aufklärung zum Behandlungsgeschehen belastet hat;es handelt sich also primär um eine juristische Bewer-tung unter dem Postulat der Waffengleichheit im Pro-zess. Indes muss der konkrete medizinische Sachverhaltsolche rechtliche Bewertung hergeben. Die maßgeben-den Fakten für die Bewertung eines Behandlungsfehlersals „grob“ kann der Richter wie auch sonst im Arzthaf-tungsprozess in aller Regel nur mit Hilfe des medizini-schen Sachverständigen verlässlich erkennen. Seine For-derung an diese medizinische Unterfütterung der juris-tischen Bewertung hat der BGH in jüngerer Zeit wie-derholt und nachdrücklich präzisiert, um Tendenzen zueiner Herabsetzung der Schwelle für die Beweislastum-kehr wegen eines groben Behandlungsfehlers entgegenzu wirken.

Im Streitfall hatte der niedergelassene Orthopäde seinweiteres therapeutisches Vorgehen an der Diagnose undTherapieempfehlung der Klinikambulanz ausgerichtet, indie er seinen Patienten wegen Anzeichen eines entzünd-lichen Prozesses im Bereich der Osteosynthese überwie-sen hatte, obschon diese Empfehlung so eindeutig un-richtig war, dass ihm das auch bei prinzipieller Zubil-ligung von Vertrauen in die Sachkunde und größere Er-fahrung einer Klinik hätte auffallen müssen. Der medizi-nische Sachverständige hatte die kritiklose Weiterbe-handlung als „nicht angängig“, „für undurchdacht“ und„für falsch“ bewertet. Daraufhin hatte das OLG einengroben Behandlungsfehler bejaht. Für den BGH bliebenaber bei Würdigung der gutachtlichen Äußerungen imGesamtzusammenhang Zweifel, ob der Sachverständigenicht nur ein Abweichen vom ärztlichen Standard ver-deutlichen wollte. Für einen groben Behandlungsfehlergenügt die Signifikanz des Arztfehlers nicht; die Abwei-chung vom ärztlichen Standard muss elementaren bzw.„Basis“-Charakter haben: es muss sich objektiv um dieVerletzung elementarer medizinischer Regeln handeln,die einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.Auch diese Feststellung bedarf des medizinischen Sach-verstandes, u. U. eines zweiten medizinischen Gutachters.

Page 2: Anforderungen an die Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers

170 MedR 2003, Heft 3 Rechtsprechung

des Knöchels, ein Zeichen für eine Entzündung des Kno-chens (Ostitis), festgestellt und das hierbei medizinisch Ge-botene veranlaßt hatte, nämlich die Überweisung des Kl.an das Krankenhaus zur operativen Entfernung des Metallsund damit im Ergebnis zur Ausräumung des Abszesses.Entgegen der Auffassung der Revision findet die Bewer-tung des Verhaltens des Bekl. als Behandlungsfehler in denAusführungen des Sachverständigen Prof. Dr. S. eine hin-reichend tragfähige Grundlage. Unabhängig von der Frage,zu welchem Zeitpunkt wegen der zunächst im Kranken-blatt eingetragenen Verbesserung des Heilungsverlaufs eineRückfrage im Krankenhaus geboten war, hat der Sachver-ständige jedenfalls zusammenfassend betont, es könne nichtangehen, daß über die Dauer eines Vierteljahres in dieserWeise konservativ behandelt werde, wenn das angestrebteZiel nicht erreicht werde, wenn also weder die Rötungnoch die Fistelung und die eitrige Sekretion verschwundenseien. Die Revision räumt insoweit selbst ein, daß bereitsEnde November im Krankenblatt wieder eine entsprechen-de Verschlechterung des Zustandes eingetragen ist.

2. Die Revision rügt jedoch mit Erfolg, daß die Beurtei-lung des Verhaltens des Bekl. als groben Behandlungsfehlerals Voraussetzung für eine Beweislastumkehr zu seinen La-sten von der gutachterlichen Stellungnahme des Sachver-ständigen Prof. Dr. S. nicht getragen wird.

a) Zwar richtet sich die Einstufung eines ärztlichen Fehl-verhaltens als grob nach den gesamten Umständen des Ein-zelfalls, deren Würdigung weitgehend im tatrichterlichenBereich liegt. Revisionsrechtlich ist jedoch sowohl nachzu-prüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff des groben Be-handlungsfehlers verkannt, als auch, ob es bei der Gewich-tung dieses Fehlers erheblichen Prozeßstoff außer Betrachtgelassen oder verfahrensfehlerhaft gewürdigt hat (st. Rspr.;vgl. etwa Senatsurt. v. 29. 5. 2001 – VI ZR 120/00 –,VersR 2001, 1030 m.w.N.).

Ein grober Behandlungsfehler ist nicht bereits bei zwei-felsfreier Feststellung einer Verletzung des maßgeblichenärztlichen Standards gegeben; er setzt vielmehr nebeneinem eindeutigen Verstoß gegen bewährte ärztliche Be-handlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnissedie Feststellung voraus, daß der Arzt einen Fehler begangenhat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich er-scheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlau-fen darf. Auch wenn es insoweit um eine juristische, demTatrichter obliegende Beurteilung geht, muß diese doch invollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigenmitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die me-dizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durchden Sachverständigen stützen können; es ist dem Tatrichternicht gestattet, ohne entsprechende Darlegungen oder garentgegen den medizinischen Ausführungen des Sachver-ständigen einen groben Behandlungsfehler aus eigenerWertung zu bejahen (vgl. etwa Senatsurt. v. 3. 7. 2001 –VI ZR 418/99 –, VersR 2001, 1116, 1117; v. 19. 6. 2001– VI ZR 286/00 –, VersR 2001, 1115, 1116; und v. 29. 5.2001 – VI ZR 120/00 –, a.a.O., jew. m.w.N.).

b) Die Revision weist mit Recht darauf hin, daß sichder Beurteilung des Sachverständigen sowohl vom Inhalther als auch nach den von ihm verwendeten Formulierun-gen nicht entnehmen läßt, daß er das Versäumnis des Bekl.als Fehler ansehen wollte, der aus objektiver Sicht nichtmehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechter-dings nicht unterlaufen darf. Entgegen der Auffassung desBerufungsgerichts läßt sich eine solche Bewertung auchnicht daraus herleiten, daß der Sachverständige das Unter-lassen einer Rückfrage des Bekl. in der Ambulanz desKrankenhauses und darüber hinaus auch die Weiterführungeiner rein konservativen Behandlung trotz bleibender bzw.immer wieder auftretender Rötung und Fistelung mit eitri-ger Sekretion aus medizinischer Sicht „als nicht angängig“

bezeichnet und sie wegen der der eigenen diametral entge-gengesetzten, eindeutig unrichtigen Beurteilung der Kran-kenhausambulanz für undurchdacht und falsch gehalten hat.Da der Sachverständige zuvor bemerkt hatte, es sei „keinStandard“, diesen Infekt nur zu beobachten, es habe etwasgeschehen müssen, lassen die nachfolgenden Äußerungenauch in ihrem Gesamtzusammenhang nicht mit hinreichen-der Sicherheit den Schluß auf einen groben Behandlungs-fehler zu. Insoweit ist auch von Bedeutung, daß das Beru-fungsgericht zuvor bei der Befragung des Sachverständigenzur Schwere eines Behandlungsfehlers der [Klinikambulanz]gezielt nach dessen Einstufung als grob gefragt und derSachverständige daraufhin geantwortet hatte, es handle sichzweifellos um eine „Abweichung vom Standard“, er könneaber die Frage nicht beantworten, ob er solches Verhaltenwegen der Nichtvorlage der Überweisung und der Rönt-genbilder durch den Kl. als unverständlich bezeichnensolle. Hieraus geht hervor, daß der Sachverständige –durchaus zutreffend – allein in einer Abweichung vom me-dizinischen Standard noch keinen groben Behandlungsfeh-ler gesehen hat, sondern sich über das Erfordernis zusätz-licher Kriterien im Klaren war, ohne sich jedoch bezüglichder [Klinikambulanz] für den konkreten Fall festlegen zuwollen.

Da sich der Sachverständige auch zur Schwere des Be-handlungsfehlers des Bekl. nicht eindeutig geäußert hat,wäre das Berufungsgericht gehalten gewesen, durch einegezielte Befragung des Gutachters auf die Beseitigung dersich hieraus ergebenden Zweifel und Unklarheiten hinzu-wirken, zumal es dies ja hinsichtlich der [Klinikambulanz] –wenn auch erfolglos – versucht hatte. Kann sich der Sach-verständige in einem solchen Fall nicht festlegen und liegendie Voraussetzungen für eine zusätzliche Begutachtungnicht vor, darf der Tatrichter sich nicht über verbleibendeZweifel hinwegsetzen, wenn er nicht ausnahmsweise übereigene Sachkunde verfügt (vgl. Senatsurt. v. 27. 3. 2001 –VI ZR 18/00 –, VersR 2001, 859, 860).

3. Mangels hinreichender Anhaltspunkte in der bisheri-gen medizinischen Beurteilung des Sachverständigen kanndeshalb die tatrichterliche Bewertung des Behandlungsfeh-lers als grob keinen Bestand haben. Sollte das Berufungsge-richt nach Ergänzung der Beweisaufnahme erneut zu einerBewertung des Verhaltens des Bekl. als groben Behand-lungsfehler gelangen, so stünde eine Mitverursachung desBehandlungsfehlers durch den Kl. – entgegen der Auffas-sung der Revision – dem Eingreifen einer Beweiserleichte-rung im Rahmen der Kausalität nicht grundsätzlich entge-gen. Die von der Revision zur Begründung ihrer gegentei-ligen Auffassung herangezogenen, vom Senat durch Nicht-annahmebeschl. v. 19. 2. 1991 – VI ZR 224/90 – und v. 20. 1. 1998 – VI ZR 161/97 – gebilligten obergericht-lichen Entscheidungen (vgl. KG, VersR 1991, 928; OLGBraunschweig, VersR 1998, 459) sind von dem ihnen zu-grundeliegenden Sachverhalt her dem vorliegenden nichtvergleichbar.

[…]

(Bearbeitet von VorsRiBGH i. R. Dr. iur. Erich Steffen, Kriegsstraße 258, D-76135 Karlsruhe)

Zum Rückforderungsanspruch bei bezahltenWahlleistungsentgelten im Krankenhaus, wenn eine Wahlleistungsvereinbarung wegen Nichteinhaltung der Schriftform nichtig istBGB §§ 812 Abs. 1 S. 1, 814; BPflV § 22 Abs. 2

Zur Rückforderung von Wahlleistungsentgelten, dieein Krankenversicherer an den seinen Versicherungs-